freiTEXT | Thimo von Stuckrad
Kreis warmer Nässe
Nepomuk, genannt Nepo oder einfach nur Muki, hatte eben seine eng geschlossenen Fäustchen wieder neu ausgerichtet, akkurat die unteren Glieder der beiden Daumen aneinander gepresst, und seinen Kopf zurück auf die kegelige Gebirgskette seiner Mittelhandknochen gelegt, die ihn beruhigend an ein angrenzendes, aus dem Kissen herauswachsendes Gegenköpfchen denken ließ, als er ein felltierhaft wirkendes Räuspern vernahm. Vielleicht ein Bär; oder eine Giraffe en miniature. Beides würde ihn, anders als das Wort en miniature, nicht verwundern, hatten sich doch die sonst nur an wenigen Festtagen im Jahr flüchtig synchronisierten Gegengewichte von physischer Realität und Wunsch schon in seinem Traum heillos ineinander aufgehoben: ein plötzlich im Garten aufgetauchtes, zusätzliches Gebäude, das nur ein einziges Zimmer beherbergt hatte. Der Boden bestand aus einer Art dunkelgrauer, kurz geschnittener Watte und an den Wänden des Zimmers waren an jedem freien Quadratzentimeter Basketballkörbe unterschiedlicher Größe und Umfänge so sorgfältig befestigt, dass der Raum wie ein einziger, in Länge, Breite und Höhe gezogener Vorwurf wirkte.
Später hatte Nepo von zwei Aufzügen in einem Hochhaus geträumt, die jeweils nur dann aufwärtsfuhren, wenn man zunächst mit dem jeweils anderen mindestens ein Stockwerk nach unten gefahren war, was dazu führte, dass sich alle Insassen des Hauses und deren Besucherinnen stets auf der Treppe oder im öffentlichen Kellervorraum begegneten; darunter seine Mutter im Kimono. Bis auf einige Verstörungen also, die Kinder im Allgemeinen aber entweder gleich aufwachen lassen oder an die unauflösliche Gleichzeitigkeit des Sterbens gewöhnen, war das Träumen alles in allem ein guter Spaß gewesen.
Da hörte er wieder das Geräusch. Dieses Mal aber als ein anderes, denn es klang ungeduldiger jetzt und saftig. Wie ein Schluck lauwarmen Tees, der in der spitz verschlossenen Mundhöhle durch das Halbrund ungleichförmiger Zähne immer wieder erst gesogen, dann gedrückt, gesogen und gedrückt wird, so als sollte ein unentschlossenes Gehen auf Kies imitiert werden. Nepo strich die Bettdecke zurück, richtete sich auf, stützte sich auf seine Unterarme und streckte das Kinn in Richtung seiner Knie, sodass er aussah wie eine rückwärtig umgekippte Eins. Eigentlich waren es doch zwei Geräusche, die sich gleichmäßig gegeneinander getaktet beantworteten; und keines der beiden Geräusche kam aus ihm selbst. Da war einmal jenes lampionhafte Schwingen und Papierknistern, das Nepo erst an ein Räuspern hatte denken lassen, dann einige Momente danach, nach Nepos Zählung reichte die Zeit für ein genau dreimaliges Einatmen, das Mundhöhlenteegeräusch, das erst wie sich zickzackend nähernde Schritte anschwoll, um dann plötzlich wie verschluckt zu verschwinden. Viermal atmen, und die Folge der Geräusche begann wieder von Neuem.
Nepo beschleunigte sein Atmen, dann verlangsamte er es. Auch setzte er einige Atemzüge einfach aus, ließ die Luft nur noch durch seine Nasenlöcher strömen, danach nur durch den Mund. Und je länger Nepo durch allerlei Umstellungen und Veranstaltungen zwischen sich und den beiden Geräuschen versuchte, deren Abstand und Rhythmus unter seine Kontrolle zu bringen, desto mehr regte sich in ihm eine lustig anschwellende, blaugelb züngelnde Wut. Zuletzt sagte er in dem grimmigen, halbvollen Ton, den Kinder üblicherweise anschlagen, wenn sie mit nach innen begradigten Blicken jene grammatikalisch klingenden Entschuldigungsformeln der Erwachsenen nachsprechen: jetzt. Doch es geschah nichts.
Und weil nun Nepo zu jenen seltener werdenden Kindern gehörte, die begreifen, dass Zauberei und Geheimnisse nur dann wahr sind, wenn sie sie selbst bewirken, schlug er die Bettdecke ganz zurück und stand auf, um dem Fall auf den Grund zu gehen.
Die Geräusche blieben weiter in der Mechanik ihres Zwiegesprächs und hatten sich dabei auch weiterhin nichts zu sagen. Nepos Blick tastete durch sein Zimmer. Er lehnte sich nach vorne auf seine Zehenspitzen und winkelte die Knie dabei leicht an; geduckt und absprungbereit, so als suchte er nach kleineren Abweichungen im Raum. Vielleicht ein Flackern oder eine verdreht stehende Spielfigur, die nicht nur belegen würden, dass er ungefragt in einen fremden Kopf oder Traum geraten war, sondern auch auf einen Ausweg oder eine Art Portal hinwiesen. Aber alles war in der üblichen Ordnung: die nach unterschiedlichen Ernährungsklassen sortierten japanischen Plastikfiguren – phytophag, zoophag, pantophag, autophag – starrten aus ihren in Richtung Unendlichkeit polierten Augen durch sein Zimmer, über dem Schreibtischstuhl hing ein bleicher Regenbogen verschiedenfarbiger Fußballtrikots und hinter den seit dem vergangenen Sommer grünbeklecksten Vorhängen pixelte das erste Licht der Dämmerung auf die tiefschwarze Mauer des nächtlichen Vorstadthorizonts.
Nepo machte einen Schritt in Richtung der Zimmertür, um in seine hinter dem Fußende des Betts liegenden Pantoffeln zu schlüpfen. Er hatte dabei das Gefühl, etwas zählen zu müssen. Da fiel sein Blick auf den unregelmäßigen Spalt zwischen Tür und Bodenschwelle, durch den Nepo jeden Abend nach dem Zubettbringen das langsam schwindende Licht, die vergnügt eigenständigen Schatten seiner Eltern am oberen Ende der Stiege und die kurz vor dem Einschlafen immer langsamer werdende Zeit beobachtete. Vor wenigen Tagen erst hatte er sich vorgestellt aufzustehen, durch die Tür zu gehen und, plötzlich erwachsen, gemeinsam mit seinen Eltern ihren sich auf dem Flur kugelnden, ineinander auflösenden und jäh sich wieder spaltenden Schatten beim Ausbleichen zuzusehen. Er war darüber dann aber eingeschlafen und in einen nebligen Traum geraten, an dessen Ende ein Handydisplay eine Rolle spielte, das immer dann schwarz wurde, wenn er darauf zu schauen versuchte.
Nepo nahm einen weiteren Schritt in Richtung der Zimmertür und ging in die Hocke. Je länger er in das ungefilterte, blaugräuliche Licht des nahenden Morgens schaute, das sich vor seiner Zimmertür staute, desto breiter schien der Spalt selbst zu werden; wie die sich weitende, schlitzförmige Pupille eines riesigen, vor ihm liegenden Raubtiers. Ohne jede Vorankündigung verdunkelte sich der Spalt. So als würde das riesige Raubtierauge blinzeln, war mit einem Mal alles nächtliche Licht wie aufgesaugt und ein tiefer schwarzer Schatten floss nun über die Schwelle hinein in Nepos Zimmer.
Nepo hatte sich schon von dem inneren Abzählreim seines Atmens entkoppelt. Deshalb kippte er vor Schreck beinahe nach vorne um, als das schmatzende Kiesgeräusch wieder ertönte. Das Geräusch, in Nepos Verständnis von der Mechanik der Ereignisse: das zweite, antwortende Geräusch, musste sich genau vor seiner Tür befinden. Langsam richtete er sich auf, ging sacht bis zur Türe und strich dabei mit der Zungenspitze über die weichen Moorlandschaften, die die zwei zuletzt ausgefallenen Backenzähne in seinem Kiefer hinterlassen hatten. An einer Stelle spürte er die Umrisse eines keimenden Zahnkegels, der aus dem Zahnfleisch aufragte wie ein sehr kleines, angewinkeltes Knie. Nepo legte die Hand auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt breit, indem er seine Hand langsam der Schwerkraft überließ.
Vor der Tür lag der Länge nach hingestreckt eine dicke weiße Katze. Sie wandte ihm ihren Bauch zu und fuhr unbeeindruckt damit fort, in einer Art Automatenbewegung die Zwischenräume ihrer Finger mit der Zunge zu reinigen. Erst als Nepo die Tür bis auf die Breite seiner Schultern geöffnet hatte, froren die Bewegungen der Katze ein und die letzten Reste des Antwort-Geräuschs rieselten zu Boden. Nepo bemerkte, dass die Katze über den gesamten Körper dunkel, ja beinahe schwarz gesprenkelt war, als hätte jemand sie gleichermaßen erfolgreich wie erfolglos mit Dreck beworfen: sie musste zwar getroffen worden sein, war dann aber nicht davongelaufen. Die Katze streckte noch immer einen Finger abgespreizt vor ihr leicht geneigtes Kinn und blickte dabei quecksilbern in Richtung des Rahmenwinkels der Zimmertür, als wäre von dort ein gütiges Nicken zu erwarten, das sie in der Ausführung ihrer Pläne bestärken könnte. Gerade als Nepo ein wenig in die Hocke gehen wollte, um mit den Flächen seiner Fingernägel über den Katzenbauch zu streichen, sprang die Katze auf. Das heißt, eigentlich wirkte es so, als ob die beiden Bilder der erst liegenden und dann vor ihm stehenden Katze übereinander geblendet worden wären. Nepo fühlte sich mit einem Mal auf seine Hände reduziert und begann, seine Pyjamahose nach Taschen abzutasten.
In diesem Moment setzte wieder das Lampion-Geräusch ein. Es musste aus der Wohnstube im Erdgeschoss kommen. Die Katze war bereits einige Stufen der Stiege hinabgesprungen, Nepo fiel dabei das Schwingen des tiefhängenden Katzenbauchs auf, das ihn an die Zöpfe Tennis spielender Mädchen erinnerte. Auf der letzten Treppe machte sie Halt und blickte sich nach ihm um. Dabei schien ihr ungewöhnlich breiter Mund ein O zu formen. Nepo war bereits in der Mitte der Stiege angelangt. Seine Schritte waren ungewöhnlich zielstrebig, als würde er im Innern einer Kompassnadel auf einen Ausgang in deren Spitze zugehen.
Schon auf der Stiege, noch mehr aber im unteren Flur und aus Richtung des Wohnzimmers herrschte ein ungewöhnlicher Geruch. Eine Mischung aus Zimt und jenem Geruch blauer, ledergesäumter Sportmatten, wenn sie zum ersten Mal nach den langen Sommerferien aus den Archiven der Schulsporthallen gezogen werden. Die Tür zur Wohnstube war geschlossen. Auch war es, nachdem das Knistern wieder verstummt war, völlig still und halb dunkel. Die Katze markierte mit ihrer Wange und Flanke den Türrahmen und reckte ihren Schwanz senkrecht nach oben als könnte sie so die verschiedenen Frequenzbereiche der Räume miteinander koppeln. Auch diesmal schienen die Bilder – die Katze mit gesenktem und gestrecktem Schwanz – unvermittelt aufeinander zu folgen. Als Nepo die Hand auf die Türklinke legte, drückte die Katze bereits ihre Nase in den Winkel zwischen Tür und Rahmen. Es war ihm früher nie aufgefallen, wie perfekt Katzengesichter in rechte Winkel hineinpassten. Sicher wegen der Evolution, dachte er.
Nachdem Nepo die Tür zur Wohnstube geöffnet hatte, wich er zunächst einen Schritt zurück, kratzte sich an einigen Stellen rund um den Bauchnabel, die plötzlich zu jucken begonnen hatten, und grub seine Zehenspitzen so tief in die Hornhaut seiner Pantoffeln, dass die Zehennägel zu schmerzen begannen. Die Wohnstube war verschwunden. Stattdessen befand sich hinter der Tür ein deutlich kleinerer Raum, sicher nicht mal so groß wie sein Kinderzimmer. In der Mitte des Raums befand sich ein großer roter Ohrensessel, vor der rechten Armlehne, die Nepo zugewandt war, ein Kindergartenstuhl, auf dessen Sitzfläche eine lindgrüne Maschine stand. Aus der Maschine liefen allerlei Schläuche mit grünlichen und gelben Substanzen, die an einen Arm angeschlossen waren, der unbekleidet auf der Armlehne lag. Tief in den Ohrensessel gelehnt saß ein Mann in einem Trainingsanzug, dessen Stoff an die Außenhaut von Heißluftballons erinnerte. Nepo erkannte darin seinen Onkel mütterlicherseits. Arno Kosswode. Zwar hatte er Onkel Arno seit einigen Jahren nicht mehr gesehen, aber Nepo erinnerte sich an die Nase, die einer der Länge nach halbierten Variante jener Sektkorken glich, die Tante Paula und Onkel Arno ihm bei ihren Besuchen früher zuhauf mitgebracht hatten – zum Werfen, wie Arno immer streng bemerkt hatte -; Arno blickte starr aus einem Fenster, das beinahe die gesamte rechte Wand des Raums ausmachte. Die restlichen Wände waren zu etwa zwei Dritteln ihrer Höhe, also etwa bis zu Nepos Scheitel, mit einer Holzvertäfelung verkleidet, deren Maserung ihn an die Darstellung der Gesichter mittelalterlicher Könige denken ließ. Oberhalb der Vertäfelung waren die drei Wände mit Fotografien von weißäugigen Katzenkindern, viele davon mit überschlagenen Beinen, behängt. Auf einigen Aufnahmen war auch die gesprenkelte Katze zu erkennen. Der Anschlag auf ihr Fell musste sich demnach schon in ihrer Kindheit ereignet haben. Obwohl er keinerlei Angst spürte, blickte Nepo über seine Schulter zurück in den Flur. Alles war dort an den gewohnten Plätzen: die gleichfarbige Reihe der Schuhe seines Vaters, die körperlosen Mäntel seiner Mutter an der Garderobe, der stets leere Schirmständer und der Jagdschein des Großvaters mütterlicherseits, der in einem unpassend metallischen Rahmen an der Wand gegenüber der Wohnstube hing.
Plötzlich richtete sich Onkel Arno in dem Ohrensessel auf, beugte sich mit dem Kinn beinahe bis auf die Höhe seiner Knie und begann damit, in kreisenden Bewegungen seiner Hände erst seine Unterschenkel, dann seine Oberschenkel zu massieren. Zu dem so entstehenden Lampionknistern gab der Apparat neben dem Ohrensessel ein langgezogenes Stöhnen von sich und durch die Schläuche schoben sich stoßweise die verschiedenfarbigen Flüssigkeiten voran.
„Dich brauch ich ja gar nicht, oder?“.
Onkel Arno hatte seinen Kopf nach Abschluss der Massage zu Nepo umgewandt. In seinem Mund standen aussichtslos einige Zähne wie Figuren einer Schachpartie kurz vor dem Unentschieden. Über sein Gesicht liefen breite, rote und weiße Streifen. Überhaupt wirkte sein Gesicht schraffiert, wie es nicht selten der Fall ist bei Dingen, in die lange Zeit nicht hineingeschaut worden ist.
„Hallo Onkel Arno, ich hab dich gar nicht, also, Mama hat gar nicht gesagt, dass du wieder kommst“.
Nepo entschied sich, einige Schritte in den Raum hinein und in Richtung des Ohrensessels zu machen. Dabei bemerkte er, dass das Fenster, durch das Arno gestarrt hatte, den Blick auf ein gewaltiges Bergpanorama frei gab: zwischen zwei Bergrücken – etwas zu weit gespreizte, dunkelgrüne Schenkel eines V, auf denen trostlos einige Windräder steckten - erstreckte sich ein langer, blauer See. Dahinter zu viel Licht. Hinter dem Ohrensessel bemerkte er den auf dem Korkboden des Zimmers zickzackenden Schwanz der Katze.
„Arno ist tot. Seilbahnunglück. Aber dich brauch ich gar nicht erst, oder?“.
Arnos Sprache klang stoßweise. Nepo stellte sich vor, dass die Stimme sich in einer der Flüssigkeiten befinden würde, und erst in Onkel Arnos Arm gepumpt werden musste. Er entschied sich für den Schlauch, durch den unzählige Luftbläschen in einem blass lilafarbenen Gel schwammen. Sprechbläschen.
„Ja, äh, ich weiß nicht. Also vielleicht kann ich dir helfen. Oder brauchst du was? Vielleicht was zu trinken?“, stammelte Nepo.
„Ja, helfen willst du! Helfen wollen immer alle. Gut sein.“ Arnos Stimme erinnerte nun an Nepos Vater, wenn er über seine Schulter hinweg über die Großtaten seines Schwiegervaters, des Jägers, sprach. Großtaten.
„Gut. Gut. Dann frage ich dich mal, wenn du schon so großzügig bist: bist du immer schon hier gewesen?“
Unwillkürlich streckte Nepo seine Hände aus und betrachtete seine Handinnenflächen. „Ja also ich bin hier, weil ich die Katze zu dir lassen wollte, also weil die Katze zu dir rein wollte, da hab ich aufgemacht. Ich wollte aber nicht ...“
Nepo hörte wie Arnos Finger auf dem Ballonstoffoberschenkel die Pumpgeräusche der Maschine zeitversetzt nachahmten.
„Das hast du schon letztes Jahr gesagt. Und die Jahre davor. Immer an Weihnachten bringst du mir diese Katze. Aber ich weiß es jetzt. Ich weiß, dass die Katze nur ausgedacht ist so wie die Begründungen deiner Tante, mich hier allein zu lassen.“ Arno blickte wieder nach vorne durch das Fenster. Die Augenlider zitterten wegen des übermäßigen Lichts. „Ihren eigenen Mann allein zu lassen“, ruckte Arno im Takt der Maschine, nun aber merklich leiser. Er sank in die Rückenlehne des Sessels und schloss die Augen.
Nepos Bauch hatte wieder zu jucken begonnen. Es musste etwas mit der Luft in diesem Raum zu tun haben, jedenfalls fiel ihm auch das Atmen zunehmend schwer. Er machte zwei rückwärtige Schritte und beschloss, bis zum Verlassen des Raums an sich hinabzusehen. „Ich würde dann…“
„Muki!“ Als Nepo aufblickte bemerkte er, dass Arno sich von der Sessellehne aufgerichtet und bis an den Rand der Sitzfläche vorgeschoben hatte. Es war aber nicht er, den Onkel Arno gemeint hatte. Die weiße, gesprenkelte Katze war offenbar auf die Oberschenkel des Onkels gesprungen, hatte sich dort abgesetzt und ließ sich nun mit den Daumenspitzen an den Wangen massieren. Arno und die Katze blickten sich einige Momente an. Es schien beinahe so, als nickten sie einander zu.
„Nepomuk.“ Arno wandte seinen Blick von der Katze weg auf Nepo zu. „Nimm sie bitte mit. Und sei gut zu ihr, ja?“
Nepo nickte. Gerade als er, gemeinsam mit der Katze im Flur angekommen, die Tür hinter sich schließen wollte, hörte er ein leises, gespielt wirkendes Wimmern aus dem Zimmer. Er schaute durch den verbliebenen Spalt. Onkel Arno wandte ihm sein Gesicht zu. Es wirkte verzerrt wie bei Kindern, die gewohnt sind, stets ihren Willen zu bekommen.
„Kannst du bitte die Tür einen Spalt offenlassen?“
Nepo nickte langsam und sagte ein tonloses „Gute Nacht“ in Richtung des Zimmers. Dann glitt er die Stiege hinauf, es wirkte beinahe so als würden die Stufen unter ihm in die exakt gegenläufige Richtung mitsteigen und seine Füße geräuschlos nach oben heben. Er stieg in sein Bett, zog die Decke bis an jene winzige Kerbe unterhalb seines Kinns, in der sich seit einigen Tagen ein verhaltener Druckschmerz aufhielt. Das letzte Geräusch, das er vernahm, war das langsame, spitzfingrige Schreiten der Katze über seine Matratze, bis sie sich auf Höhe seines Bauchnabels auf der Bettdecke einrollte.
Als Nepo aus traumlosem Schlaf am nächsten Morgen aufwachte, die Sonne stand schon hell über der Vorstadtsiedlung, lag sein Kopf in seinen wie zu einem Nest geformten Händen. Und unter der Stelle der Bettdecke, auf der am Ende der Nacht die Katze gelegen hatte, sickerte langsam ein Kreis nasser Wärme.
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freiVERS | Jakob Leiner
mittelgroßes vøglbuch
1
kennt ihr schon
den kleiber das
ist ein vogel
der aussieht wie
ein mini dachs
in der luft.
.
2
am leistenband verfängt
sich eine überzeugung
kleiner wandervogel
stechende trillerschar.
.
3
und
im
fluchtpunkt
der
vedute
meißelt
trommelt
etwas
buntes
ohne
kopfweh
zu
erwecken.
.
4
alle suchten
auch jenen zinnoberroten vogel
der aufflog um in der sonne zu singen.
.
5
eine schwalbe stürzt sich panisch
in den efeu der stadtmauer
la tour des esprits
zurück in die luft
und lässt eine feder tropfen.
.
6
wir
sind das stratum basale
eulenwetter
lauerjäger unter einer decke
aus spukhafter anmut
bleibt weiß und ziegelrot der schräge blick sieh
flügelschlag
ein sprung
im glas im tann.
.
7
weil sie schön ist sind 2 schubidus
verrückt in die verliebte welt.
.
8
grasmücke
das ist kein grund
paranoid
aufzutreten
erde tut gut
und man wage
tausendmal neu
mit einem zwitschern
im gesicht.
.
9
im see stellt ein erpel
seinen motor an
der kleine runabout
schafft
tatsächlich einen wasserstart
vor begeisterung
schnatternd.
.
10
unter donnernder bläue
gellen des obersten reihers
der sich in die adria stürzt.
.
11
da im gebüsch
hantiert ein zaunkönig und singt
herzerweichend dazu
(der unterschnabel muss ordentlich vibrieren)
doch es war eine list
der weg endet blind als
große flusswiese auf der
.
12
rempelt
der buch den gold
der gold den grün
der grün den buchfink
freut sich die meise
am knödel.
.
13
künftig
wird der wald zusammenwachsen
und der kuckuck
den man nicht umsonst
um die zahl der lebensjahre fragt
sein ei in fremde nester
legen.
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14
ich strecke mich aus
und denke an vögel
vor allem den adlern
gedenke ich.
.
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POEDU - Text des Monats Jänner
Mein Zimmer
ein Himmelbett wie Piratenschätze,
ein Klavier, das weich wie Wolken ist,
eine „Sternchenpracht“ die laut und leise sein kann,
süß am goldenen Himmelszelt entfacht,
zu Hause wie weiße Schokolade,
ein Klackern...klack...klack, der schönste und gemütlichste Ort,
ein Kakao wie der Schnabel meines Vogels,
ein Zitronenkuchen, der warm und süß schmeckt,
der Abend, der gelb ist,
gold so unendlich lang, weil ich nicht einschlafen kann.
Felina
(8 Jahre alt)
POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.
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.Die Aufgabe diesmal kam von Christoph Wenzel:
Stell dir vor, du müsstest anderen dein Zimmer beschreiben, dürftest dafür aber nur einen Gegenstand, eine Farbe, ein Geräusch usw. benutzen: „Wenn mein Zimmer ein Geräusch wäre, dann wäre es …“ Vervollständige die Sätze. Versuche nun die gefundenen Beschreibungen noch etwas genauer zu fassen, indem du z.B. einen „Relativsatz“ anfügst: „Mein Zimmer ist eine Blume, die das ganze Jahr blüht“. Jetzt verschiebst die Halbsätze jeweils um einen nach unten. Und schaust, was passiert ist.
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>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder
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freiTEXT | Katharina Wulkow
Sonst wirkt es nicht
Eine Hand auf dem Geländer. Fingerspitzen ertasten Sandkörner. Risse im Holz. Am Himmel kreisen Möwen, unter den gellenden Rufen wogt die Ostsee.
Kristin überspringt die letzten zwei Stufen. Für einen Atemzug hängt der Schwimmreifen um ihre Taille. Sie ist bereit. Über den Strand zu wetzen, sich ins Wasser zu stürzen. Die Luft riecht wie damals. Das Ufer voller Algen, alle finden’s ekelhaft. Nur Kristin nicht. Sie denkt an Spinat. Spinat und Kartoffelpüree.
Turnschuhe versinken im Sand. Sie bückt sich, gräbt die Finger hinein, sieht dabei zu, wie er zu Boden rieselt. Weich, wie Puderzucker, nur schwerer.
Sandburgen und Burggräben, den ganzen Tag, weil die Augen ihres Bruders dabei blauer leuchten. Haare von der Sonne gebleicht, fast weiß. Geschmolzenes Eis läuft an Fingern entlang. Die Haut bitter von der Sonnencreme.
Sie winken ihr zu. Manchmal ist es unheimlich. Der Blick, die Sommersprossen, die Art, wie sie gehen. Mama eingehakt neben Jens, der sie um einen Kopf überragt. Lachend kommen sie näher. Das gleiche Grübchen. Links. Kristin fährt sich über die Wange, bohrt den Finger in die kleine Vertiefung. Die zwei lassen sich neben ihr nieder, das Meer in den Augen. Wellen wischen die Jahre fort.
Sie sitzt zwischen Menschen. Erahnt, was mal war. Wie auf einem alten, verblassten Foto. Gegenüber ihre Großeltern. Omas Gesicht gerötet, wie immer, wenn sie sich einen Schnaps genehmigt hat. Neben ihr haut Opa mit der Hand auf den Tisch. Dieser Hand. Lange, breite Finger, Schwielen von der Landarbeit.
Kristin ist sieben, als er sie eines Morgens aufweckt, den Zeigefinger auf den Lippen. Es dürfe nicht gesprochen werden, das hat er am Abend zuvor erklärt. Sonst wirke es nicht. Er hilft ihr beim Anziehen, im Halbschlaf wankt sie die dunkle Holztreppe hinunter.
Die Sonne ist noch hinterm Horizont versteckt. Sie überqueren den Hof, aus dem Stall kommt ein Schnauben. Gräser und Bäume schlafen unter Morgenreif, auf den Feldern liegen letzte Schneereste verteilt.
Opa hält Kristins Hand. So fest, dass sie schmaler ist, als er an der Quelle wieder loslässt. Die beiden ziehen Jacke und Schuhe aus, krempeln die Hosen hoch. Das Wasser sticht auf der Haut. Kristin presst den Mund zusammen, watet hinter Opa in den Fluss. Sie waschen sich Gesicht, Hals und Arme.
Bis ihre Füße klirren. Da hebt er Kristin aus dem Wasser, setzt sie auf der Böschung ab und rubbelt sie mit einem Handtuch trocken. Die Haut brennt, unter den Händen kitzelt das Gras. Opa streicht ihr über den Kopf, während die Sonne am Himmel emporkriecht.
Die Menschen am Tisch gewinnen an Farbe. Kristin entdeckt Mama in Omas Zügen, Onkel Peer in Opas Bewegungen. Puzzlestücke ihrer selbst um den Tisch herum verteilt. Hier, zwischen ihnen, ist sie der Wildfang, der jeden Abend Matsch im Flur verteilt. Die Frau, die frisch geschieden ist. Eben erst geboren.
Im Hafenkanal liegt ein Boot. Am Bug ist ein Schild festgenagelt, auf dem Lütte steht. Kristin lauscht dem Wasser, das an die Schiffswand schwappt.
Die Fenster im Dach der Pension gegenüber sind schwarz.
Vielleicht liegen sie noch wach, Mama und Jens.
Denken an Oma und Opa, wie sie ins Taxi steigen, immer wieder winkend. An Onkel Peer, der bei Umarmungen zur Planke wird. Er weiß nicht so recht, was das alles soll mit dieser Nähe und den Küsschen.
Kristin schlendert zur Lütten hinüber, sieht sich um und klettert über den schmalen Steg aufs Boot. Verharrt vor dem Steuerhaus. Geht die Reling entlang. Backsteinhäuser säumen den Kanal, eines davon sieht aus wie das, in dem sie früher gewohnt haben.
Ein Vierteljahrhundert nistet sich ein in ihrem Bauch.
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freiVERS | Alexandra Regiert
Geranien hegen im Auge des Sturms
Die Welt
war ein lindgrüner Acker.
Mehr Farbe als Frucht.
Auf ihm der Weizen
mehr Licht als Korn.
Geschlossene Geranienblüten
sonnten sich in seinem Schatten.
Über den Ulmen
glitten weiße Tauben
mit purpurnen Kehlen,
die gurrten blassrosa
über dem Vieh,
das in den Norden strömte:
hin zu fragilen Gliedern
einer heiligen Ordnung,
die zerbrach, verschmolz
und wieder zerbrach.
Die Welt
ist ein leeres Blatt
auf einer schneebedeckten
Hemisphäre.
Ein weißes Gesicht
im mäandrierenden Fluss.
Wandelnde Gestalten
zwischen Lamm und Lindwurm
füttern die Tauben
mit dunklen Oratorien,
beschwören den Wind,
der die Farben birgt
und die Ulmen krümmt
im eigenen Grün.
Verweilen weltlos
am Ende der Landschaft.
Hegen Geranien
im Auge des Sturms.
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POEDU - Neujahrstext
E EL
L EF
E AN
F T
A
N
T
In Zeilen kann man
ein Wort
trennen
Eine Zeile
ist
ein Puzzle.
Regenbogenfarben
Eine Zeile
ist ein Bild in Strichen.
Fairuz
(6 Jahre alt)
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Die Aufgabe diesmal kam von Brigitta Höpler:
Die Wiener Dichterin Elfriede Gerstl (1932 – 2009) hat nachgedacht, was sich mit Gedichtzeilen alles machen lässt. Ich mag dieses Gedicht sehr, und schreibe auch immer wieder auf, was sich mit Zeilen alles machen lässt. Ich wärme mich z.B. gerne mit einer Zeile, wie mit einem Schal. Stell dir vor, was du mit Zeilen alles tun kannst.
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freiTEXT | Sonja Kettenring
Grün ist die Hoffnung
Sie steht in der Einfahrt. Eingehüllt in die dicke Jacke mit der Fellmütze, den großen Koffer neben sich, sieht sie die Straße hinunter. Als warte sie auf jemanden.
Was hat sie vor?, fragst du dich. Wo will sie nur hin?
Eine Stunde später steht sie noch immer da. Die Jacke hat sie mittlerweile ausgezogen, es ist warm geworden.
Du gehst hinaus. Musst sowieso zur Mülltonne.
Hallo, sagst du und fragst, was sie vorhat. Willst du vereisen?
Während sie nach einer Antwort sucht, folgst du ihrem Blick die Straße hinunter. Ein Auto fährt vorbei, noch eins.
Ich werde abgeholt, sagt sie irgendwann und du nickst, als wären damit alle Fragen beantwortet. Du bleibst noch eine Weile neben ihr stehen, den leeren Mülleimer in der Hand. Schließlich gehst du wieder hinein ins Haus.
Alle Viertelstunde siehst du aus dem Fenster, dem zur Straße hin. Sie steht noch immer da.
Irgendwann hörst du die Haustür, in letzter Zeit hast du gelernt, auf die Geräusche des Hauses zu hören. Du siehst erneut aus dem Fenster. Die Einfahrt ist leer. Im Haus fällt eine weitere Tür ins Schloss. Die weiße Tür mit dem grünen Glaswindspiel. Wenn du leise bist, hörst du es klingen.
Du überlegst, ob du jemanden anrufen solltest. Müsstest. Aber du hast längst alle angerufen, sie können auch nichts anderes tun als du.
Nichts könnt ihr tun.
Früher hat es auch schon mal länger gedauert, bis sie eine Antwort für dich hatte. Früher hast du gedacht, das ist richtig, das ist gut so. Wie oft hast du selbst falsche Antworten gegeben, einfach nur, weil du zu schnell warst, weil du die erstbeste Antwort gegeben hast. Die erstebeste ist nicht immer die richtige.
Später dauert es fünf Minuten, bis sie antwortet. Obwohl die Frage doch ganz einfach ist, deiner Meinung nach.
Später antwortet sie gar nicht mehr, später sieht es so aus, als verliere sie die Frage auf dem Weg zur Antwort.
Früher warst du oft mitten in der Arbeit, wenn sie geklingelt hat. Manchmal hat sie einfach nur geklingelt, um Hallo zu sagen. Das sollte man öfter machen, hast du gedacht. Manchmal war es dir auch zu viel, dieses Klingeln, dieses Hallo. Du bist gern für dich allein.
Später konntest du dich nicht mehr auf deine Arbeit konzentrieren, weil du den Geräuschen des Hauses gelauscht hast. Den fehlenden.
Später bist du es, die bei ihr klingelt. Aber sie macht nicht auf.
Du willst niemand sein, der auf Klospülungen lauscht. Jemand, der sich abends aus dem Fenster lehnt, um herauszufinden, ob bei ihr noch Licht brennt. Der sich Arbeit im Garten sucht, um unauffällig durch Fenster zu spähen. Der Zweite anruft, um mit ihnen über Dritte zu sprechen.
So jemand willst du nicht sein.
Früher hat sie mit jedem gesprochen. Sie hat in zwei Wochen mehr Leute kennengelernt als du in fünf Jahren.
Später fragen dich diese Leute, was mit ihr los sei. Wo sie denn sei, man sehe sie gar nicht mehr? Ist sie etwa ausgezogen?
Nein, sie ist nicht ausgezogen. Das weißt du. Es ist so ziemlich das einzige, was du weißt.
Aber da muss man doch etwas machen, sagt einer und klingelt energisch an ihrer Tür. Sie macht nicht auf. Sie macht niemandem mehr auf. Doch: der Polizei. Einer hat die Polizei gerufen. Die Polizei kommt und versichert sich, dass sie sich nicht umbringen will.
Wie findet man das heraus? Du hättest auch gern so eine Versicherung.
Früher hat sie sich mit einem Topf Reis zu euch auf die Terrasse gesetzt. Niemand hatte mehr Freude an einem Topf Reis als sie. Früher bekam sie eine Lebensmittel-Kiste und hat mit der Lieferantin an der Tür gelacht.
Später bleibt die Kiste vor der Tür stehen, den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend lang. Sie muss doch die Kiste hereinholen? Irgendwann trägst du sie vor ihre Tür.
Später ist in der Kiste nichts weiter als Knäckebrot.
Du willst niemand sein, der in anderer Leute Kisten hineinschaut.
Jemand erzählt dir vom Sozialpsychiatrischen Dienst. Wieder rufst du Zweite an, um über Dritte zu sprechen. Aber was können die machen, nichts. Da können wir leider nichts machen, sagen sie. Die Dritte müsse selbst bei ihnen anrufe. Sie sei schließlich volljährig, es sei ihre Entscheidung.
Du legst eine Postkarte vor ihre Tür, mit einer Telefonnummer darauf.
Irgendwann stehen zwei Frauen vor der Tür, vom Sozialpsychiatrischen Dienst. Noch jemand hat mit ihnen über Dritte gesprochen, jetzt können sie doch etwas tun, können vor dieser Tür stehen. Aber die Tür geht nicht auf.
Früher hat sie geschrien, geweint, getobt und gelacht. Oje, hast du gedacht.
Später ist da nur noch Stille.
Früher hat sie Zitronenkerne in die Erde gesetzt. Vielleicht klappt es, vielleicht wächst etwas, hat sie gesagt und sich über die ersten Blätter gefreut. Früher war sie diejenige, die dort, wo du schon hundert Mal vorbei gelaufen bist, ohne etwas zu sehen, ein Feld voller blühender Krokusse entdeckt hat. Früher hat sie alle Wunder dieser Welt gesehen.
Einmal hast du sie von ihrer Therapeutin abgeholt und in die Psychiatrie gefahren. An der Anmeldung stand ein älterer Herr der nicht mehr wusste, wie er hierher gekommen war. Wo denn sein Zuhause sei, fragte ihn der Mann hinter dem Plexiglas. Das hätte der ältere Herr auch gern gewusst.
Im Warteraum waren viele Menschen, im Warteraum war es laut. „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre“, zitierte sie Rilke. Nicht nur einmal, ihr musstet lange warten. Dann endlich wurde sie aufgerufen.
Soll ich mit reinkommen?, hast du gefragt.
Ja, bitte.
Der Arzt hatte lange, lockige Haare, der Arzt sah müde aus. Neonlicht flackerte, Neonlicht surrte. Dem Arzt ging die Geduld aus, es dauerte ihm zu lange, auf ihre Antworten zu warten. Sie solle doch jetzt bitte antworten, dann müsse er wenigstens nicht mehr das Surren des Lichts ertragen.
Sie wollte nicht bleiben. Sie wollte, dass ich sie wieder mit nach Hause nehme.
Der Arzt vergewisserte sich, dass sie nicht die Absicht habe, sich umzubringen. Er hat sie einfach danach gefragt. So geht das also.
Später fährt sie noch einmal jemand hin. Später bleibt sie dort und jemand räumt ihre Wohnung aus. Du fragst, ob du das Zitronenbäumchen haben kannst.
Heute ruft sie dich manchmal wieder an. Ihr redet über das Wetter, übers Essen und das Fernsehprogramm. Nie musst du lange auf eine Antwort warten.
Du bist ebenfalls umgezogen. In ein Haus, in dem es nur deine eigenen Geräusche gibt. Du warst erleichtert darüber, nicht mehr auf die Klospülung lauschen zu müssen.
Einmal in der Woche gießt du das größer werdende Zitronenbäumchen und fragst dich, ob du vielleicht wirklich einmal Zitronen ernten wirst.
Manchmal wünschst du dir, wieder vor ihrer Tür zu stehen. Der weißen Tür mit dem grünen Glaswindspiel.
Ist es nicht wunderschön?, hörst du sie fragen.
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freiVERS | Carlotta Frei
Überstand
Die Mühseligkeit des Arbeitenden spiegelt sich
im Eifer seiner Vernunft,
welche an Wänden klebt
wie Sprüche übers Leben,
an die man sich gern erinnert,
damit alles nicht so ernst erscheint
und immer denke ich an uns und unsere
Ernsthaftigkeit,ein Eingeständnis daran,
dass wir Menschen sind.
Trostlos und -spendend,
Energie und Sog,
ein Loch,
das Leben verlässt
und dem Tod entspringt oder andersrum?
Was war noch die Träne der Geweinten wert,
als sie fröhlich schien und wem haben wir dein Lachen zu verdanken?
Die zarten Falten, herrliche Streifen, behüten uns
wie eine warme Decke und Dankbarkeit dackelt
in Altersgruppierungen fort und fragt sich nicht,
wie wir auf diese Welt gekommen sind.
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freiTEXT | Simon Bethge
Von dem Raum
Von dem Raum erzählt sie, klein und weiß, und vollkommen schattenfrei, sensorische Deprivation, ja, so nenne man das, wie in diesen Meditationstanks oder den Folterkellern des Guo’anbu, des chinesischen Geheimdienstes, und zwei Stühle standen in ebenjenem Raum, genauso weiß wie der Rest, schwach nach frischem Lack hätten sie geduftet, obwohl sie sich an keine Luftbewegung erinnere, die ihr den Geruch hätte zutragen können.
Sie nahm also Platz, spürte die Linie der Rückenlehne durch ihren Pullover, gerade bis zum Schulterblatt, und als man ihn ihr vorsetzte, den anderen Menschen, den Mann, der die gleichen dicken Kopfhörerschalen auf den Ohren hatte wie sie, weich und dämmend und nur das Rauschen ihres Blutes, den Puls im Ohr, zurückwerfend, ja, da hätte sie sich gefragt, ob das schon alles sei, ob da noch was komme, vielleicht mit den Wänden, die bisher nichts gewesen waren außer weiß, oder ob die Stühle sich vielleicht zu drehen beginnen würden, zu kippen, aber nichts passierte, nichts.
Der Mann habe, so weiter, das alles gleich zu Beginn viel ernster genommen als sie selbst, gibt sie zu, obwohl sie nicht genau festmachen könne, woran sie das erkannt habe, denn sein Blick, der ja den ihren traf und nichts anderes bis zuletzt, war ganz normal, fast gelangweilt, so, als habe er sich schon zig Mal in dieser Situation befunden.
Sie sagt, sie habe eine Weile gebraucht, um sich ans Licht, besser, an seine Allgegenwart, zu gewöhnen, und nachdem es ihr schließlich gelungen sei, sicher, die Helligkeit sei erstmal unangenehm gewesen, aber eben auch authentisch, habe sie die Hände in den Schoß gelegt und ihr Gegenüber einfach betrachtet, habe, wie er, einfach gesehen und, das stelle sie gern zur Diskussion, auch gewartet, dass etwas in ihr vorgehe.
Sich löse vielleicht und hinüberschwebe, das Lächeln hätte sie sich deshalb einige Male verkneifen müssen, derart surreal sei ihr das Ganze und der Gedanke vorgekommen, was sollte sich schon lösen außer den Flusen an ihrem Oberteil oder winzigen Hautpartikeln, die, wie allgemein bekannt, täglich zu Abermillionen vom Körper abgestoßen würden, so natürlich auch jetzt, und sie stellte sich, sagt sie, sie stellte sich vor, allmählich von den Hautschuppen eingeschneit, verdeckt zu werden, wie sie so zu beiden Seiten des Stuhls auf den Boden, im Übrigen sei der weiß gewesen, ob sie das schon, nein, aber das könne man sich ja denken bei der Sorgfalt, mit der der Raum gestaltet worden sei, jedenfalls war ihr Gedanke, ihre bildliche Vorstellung, die von zwei Haufen, vielleicht auch einem Kreis aus diesen Schuppen und Schüppchen, der sich um sie bilden würde, bis so viele hinuntergetaumelt wären, dass man sie ohne Probleme mit dem nackten Auge sehen könnte.
Der Mann, der, wie sie sagt, dasselbe oder zumindest Ähnliches in verwandten Worten gedacht habe, das nehme sie jetzt einfach mal an, worüber sollte man während des In-die-Augen-Schauens, des dauernden Schauens und Angeschautwerdens auch sonst, übrigens wolle sie an dieser Stelle ein Lob für ihr Gegenüber aussprechen, das nicht etwa, wie man ja hätte erwarten können, irgendwann von ihren Augen abließ, um ihren restlichen Körper, um ihre Nase oder die Wölbungen unter dem Pullover, ganz zu schweigen von dem, was ihre noch immer im Schoß gefalteten Hände verbargen, durch das Verbergen geradezu akzentuierten, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, nein, brav habe der Mann seine Augen dort gelassen, wo sie hin gehörten, und das habe wohl dazu beigetragen, dass sie sich während der ganzen Zeit höchstens für sich, hier legt sie eine Kunstpause ein, nicht wegen sich selbst schämte.
Ihre Disziplin sei dagegen allmählich verpufft, oder, nein, Verpuffung klinge zu plötzlich, aber relativiere man sie durch eine Allmählichkeit in ihrem Ablauf, nun, dann ließe sich das schon so sagen, und als ihre Selbstbeherrschung langsam schwand, was ja eigentlich gegen den Sinn der Übung verstoßen habe, da habe sie angefangen, sich den Mann etwas genauer anzuschauen, von oben beginnend, also dem Scheitel, tatsächlich seinem Scheitelpunkt aus, der ein bisschen nach rechts verlagert war von ihr aus gesehen, und wie ein Schützengraben seine Haare in Freund- und Feindesland teilte, ein für ihr Empfinden ungeschickter Vergleich, aber, das müsse man verstehen, durchaus zutreffend, außerdem beweisbar, hätte sie, der kleine Vorgriff sei gestattet, den Mann danach wiedergesehen und fotografiert.
Nun, die geteilten Haare waren wie gesagt schwarz und mittellang und hinter die Ohren gestrichen, ihr Schnitt habe sie an alte Poster der Backstreet Boys erinnert, diese zum Heraustrennen in Jugendmagazinen, oder, präziser, an Nick Carter, der ja blond gewesen sei und so ein, nein, schon ein Süßer nach damaligen Standards, zwar nicht ihr Lieblingsmitglied der Band, rein vom Aussehen her, aber, da stimme man ihr sicher zu, der Talentierteste der fünf.
Solche Haare habe der Mann vor ihr gehabt, und dort, wo sie nicht von den Kopfhörern, diesen dicken, alles verschluckenden und einbehaltenden Kopfhörern, verdeckt worden seien, da hätten sie geschimmert im Licht, das womöglich von oben kam oder von hinten, wer könne das jetzt noch sagen, ein sehr schöner Glanz sei darin gewesen, passend auch zum Glitzern, denn nun seien ihre Augen weitergewandert, zum Glitzern der Ohrringe, die er trug, zwei auf jeder Seite, ihre Ränder hätten unter den Rändern der Kopfhörer hervorgelugt, je einer im Ohrläppchen, silbern, und einer im Tragus, näher zum Gehörgang, golden, warum sie die nicht früher bemerkt habe, fragte sie sich und antwortete sofort, dass sie sie ja strenggenommen gar nicht hätte bemerken dürfen, weil sie nicht Teil der Situation waren, nicht wie die Augen des Mannes, die weiterhin, das habe sie gespürt und direkt erwidert, auf ihren eigenen oder eher darin geruht hätten.
Derart ermahnt, fährt sie fort, sei ihre Konzentration für eine Weile zurückgekehrt, sie habe angefangen, ihr Blinzeln, von dem es ja, vergeblich habe sie danach gesucht, keinen Plural gebe, jedenfalls keinen ihr bekannten, ihr Blinzeln also zu zählen und es bald anzuhalten, das sei dem Mann nicht entgangen, denn auch er habe aufgehört für die nächsten paar Sekunden, die zusammengenommen nicht mehr als anderthalb Minuten ergeben haben können, alles andere sei ja weltrekordverdächtig und nichts, was sie oder ihr Gegenüber ausgehalten hätten, denn obwohl die Luft, wie gesagt, von nichts Äußerem oder Innerem bewegt worden sei, hätte das Rieseln der Partikel ja nicht aufgehört, und insofern seien auch ein paar in ihre Augen geraten, deshalb hätte sie sie wieder schließen, den Versuch, den Kampf fast schon, aufgeben müssen.
Stattdessen habe sie versucht, auf die, grob geschätzt, zwei Meter Entfernung zwischen den Stühlen und also den Beteiligten, die Augenfarbe des Mannes auszumachen, ein gar nicht so leichtes Unterfangen, trotz des Lichts und ihrer, das habe der Arzt vor Kurzem noch lobend angemerkt, einwandfreien Sicht, die weitaus fernere Zahlen und Buchstaben korrekt identifizieren konnte.
Grün, ja, das sei, sagt sie, die Farbe gewesen, auf die sie sich letztlich festgelegt habe, nicht ohne einen gewissen Restzweifel, aber in Anbetracht der Umstände hätte wohl auch eine eindeutige Erkenntnis zu nichts, jedenfalls nichts Substantiellem, geführt, daher hätte sie sich damit begnügt, sich vorzustellen, dass die Augen des Mannes nun eben grün waren, grün wie, und damit habe sie, wie sie erklärt, eine ganze Reihe von Assoziationen losgetreten, Smaragde, der einfachste Vergleich, das Meer an besonders tiefen Stellen, ein weiterer simpler Sprung, auch grün wie die Tür ihrer ersten Wohnung, deren Dielen, speziell an der Grenze zwischen Flur und Küche, noch spätnachts zum Knarren neigten, sehr zum Missfallen der unteren Nachbarn, einem, ja, wie solle sie sagen, äußerst streitlustigen Ehepaar, das, so glaubte sie damals, wohl in diesen ihren vier Wänden sterben wollen würde, folglich die verbliebene Lebenszeit mit möglichst viel ungestörtem Schlaf zu verbringen gedächte.
Außerdem grün wie die Streifen in Italiens Flagge, in Kenias Flagge, was das anging, wenngleich sie natürlich wisse, dass für die beiden Flaggen erstens unterschiedliche Grüntöne verwendet worden seien und diesen zweitens unterschiedliche Symboliken zugrunde lägen, ersteres Grün etwa gehe auf eine fixe Idee der Jakobiner zurück, die, beeindruckt von der französischen Revolutions-Cockade, das italienische Volk vor die Wahl gestellt hätten, und das italienische Volk habe sich eben für Grün, das Naturrecht, Gleichheit, Hoffnung und Freiheit, entschieden, wohingegen Kenias Grün schlichtweg die savannische Vegetationsvielfalt repräsentiere.
Sie habe, gibt sie zu, nicht in Betracht gezogen, jedenfalls nicht in diesem Moment, höchstens, und nicht einmal da sei sie sicher, hinterher, dass ihr Gegenüber irgendetwas von Vexillologie, Flaggenkunde, verstehen würde, wohl aber, dass ihm der Besitz ebendieser Augen, für den, wenn überhaupt, nur seine Eltern etwas konnten, im Leben einiges erleichtert habe, das Davonkommen mit vergessenen Hausaufgaben zum Beispiel, die Schmierereien an der Turnhallenwand, an Herbstnachmittagen verbrochen und, weil er zu eitel war, um sein Kürzel nicht darunter zu setzen, ihm nächstentags vom Rektor halbernst zur Last gelegt, dann die Suche nach einer Partnerin in der Hochzeit jugendlicher Hormonflüge, kurz, das da im Schädel des Mannes seien Augen gewesen, nach denen sie, seufzt sie, früher und bisweilen noch heute oft gesucht, in die sie sich bereitwillig verliebt hätte, eigentlich noch immer verlieben könne und es zugegebenermaßen ein Stückweit getan habe in jener Situation, ohne Absicht und Angst sei sie in die Vorstellung abgeglitten, zurück, tatsächlich, in die grün betürte Wohnung auf die Couch im Wohnzimmer, nur diesmal eben nicht allein, sondern gemeinsam mit dem Mann gegenüber, der, nach gut der Hälfte ihrer Zeit im weißen Raum, zwar ein wenig müde gewirkt hätte, die Spannung seiner Lider sei nachlässig geworden und die Fältchen im Winkel näher zusammengerückt, so, als sei er drauf und dran, bei einem Film, der ihn seit Längerem verloren habe, einzunicken, er den Impuls aber unterdrücke, um ihr, die den Film, den alten, zuvorderst ausgesucht hätte, mit Meryl Streep und Clint Eastwood, einem erstaunlich natürlichen Leinwandpaar, wenn man bedenke, dass die beiden gut zwanzig Jahre auseinander geboren wurden, dazu an entgegengesetzten Küsten Amerikas mit verschiedenen kulturellen Ausprägungen, und sie habe sich gefragt, wie lange der Andere, der gerade mit dem Einschlafen kämpfte, sein Kopf sank langsam, im Sinken näherte er sich ihrer Schulter, sich wohl noch mit der stillen Übelnahme begnügen würde, dass auch sie ein paar Jahre früher zur Welt, ergo auch länger in den Genuss ihrer Abgründe und Wunder gekommen sei, viel mehr Zeit gehabt habe als er, sich Koordinaten zuzulegen und in diesen einzurichten, denn manchmal, wenn sie von einem Abendessen mit Freunden nachhause spazierten, nicht selten, sie zumindest, beschwipst, da stellte sich so ein Ausdruck auf seinem Gesicht ein, der zu fragen schien, warum sie sich mit einem wie ihm überhaupt abgebe, ihm hingebe, schließlich war sie täglich von Menschen umgeben, deren Geschichten und Ansichten viel eher den ihren entsprachen, und mit denen sich zu unterhalten viel weniger Rücksichtnahme auf intellektuelle Leerstellen erforderte, ganz zu schweigen von seiner Einwärtskehrung, wenn das Gespräch einen bestimmten Punkt erreichte, überschritt, dieser Ausdruck, der, ja, war in manchen Nächten eine regelrechte Anklage, warum sie ihn nicht endlich anschreie, längst angeschrien habe, weil seine Versuche, mit ihr mitzuhalten, dermaßen armselig und durchschaubar waren, weil durch das ewige Vor und Zurück, vor zum Bessernwollen, zurück zu Selbstanklage und Verzicht, doch niemand etwas gewann, und zuletzt, weil sie ihm die Benennung niemals abnehmen konnte, so gerne sie es täte, das ging durch ihren Kopf, während jener des Mannes auf ihre Schulter, die jetzt ganz sanft berührt worden sei, und zwar von einer Hand, die keinem von ihnen gehört habe, sondern der Dame in Bluse und Uniform, sie habe sich zu ihr hinunter gebeugt und sie gebeten, die Kopfhörer abzunehmen, vom Stuhl aufzustehen, denn die Zeit, denn fünfundvierzig Minuten seien nun um, länger dürfe man in der Installation leider nicht, obwohl sie verstehe, wie intensiv das Erlebnis für einige werden könne, dürfe man leider nicht verbringen, da hinter der Tür schon die nächsten Besucher warten würden auf ihre Chance, einem Unbekannten in diesem Raum, weiß und klein, gegenüberzusitzen.
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freiVERS | Natalie Campbell
Zitronenbaumplantagen
Meine Lippen sind maulbeerblau,
unter den Nägeln klebt glitschiger Schneckenfilm,
von Pedralva weht Wüstenwind
lehmfarbene Sandpartikel
über sattgelbe Stoppelfelder, gespickt
mit schwarzen Krähenfedern.
Ein verkrustetes Korallenriff entsteht,
wo das Weizenmeer wogt.
Auf himmelblauem Tanzboden im Studio A
Arsenal ziehe ich sepiafarbene Spuren:
folge ihnen.
Dort, wo der Fluss eine Biegung macht
und Fische mit aufgedunsenen Bäuchen
ans Ufer schwemmt,
spiele ich dir ein Lied
von rot, gold und schwarz.
Sein tieferer Bedeutungsinhalt
entzieht sich deiner oberflächlichen Betrachtung,
und meine Erinnerungslücken treiben flussabwärts,
verborgen unter schwarzen Wassermassen.
Werden Sie endlich erwachsen!
Fordert mich meine Therapeutin auf
und darauf rasiere ich mir die Haare ab,
schmelze Strähne um Strähne ein,
vollziehe eine Metamorphose
von Wikingerbraut zur kindlichen Prinzessin
und betaste staunend den zarten Flaum.
Ich heuer dich an: für ein Kunstprojekt.
Nachts stemmen wir mit einem Presslufthammer
ausgewählte Hauptverkehrsknotenpunkte auf,
und pflanzen Zitronenbäume
in die gähnenden Krater.
Brich die Versiegelung! sprayen wir neongelb
auf Zugwaggone des städtischen Nahverkehrs.
Dann werden wir berühmt, über Landesgrenzen hinaus
und reich, das Geschäft floriert,
denn Autobahnen erweisen sich als fruchtbarer Boden
für Zitronenbaumplantagen.
Prinzessinnen kämmen ihr pinkes Haar
mit pinken Gabeln und essen am Abend
Topfenknödel mit Trüffelkern
auf flambierten Himbeeren
und verdauen das ganze
in ihrem pinkfarbenen Magen.
Wegen der Erderwärmung
speichern Wolken mehr Wasser
und wenn sie sich überm Garten entladen,
schlafe ich seelenruhig im Überschwemmungsgebiet.
Ich weiß, dass der Fluss weiß:
ich bin auf seiner Seite.
(Pocahontas war ohne den weißen Schnösel
eindeutig besser dran)
Auf der Suche nach dem Goldenen Schnitt
verliere ich mich in der fünfzähligen
Symmetrie von Seesternen.
So schön stand der Weizen noch nie,
don’t be apologetic!
Und wenn du dann fällst, fühlt es sich an, wie:
fliegen.
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