freiVERS | Sofie Aeschlimann

der blumentopf mit dem oleander steht am fenster
daneben die orchidee philodendron blattbegonie
aloe amaryllis
und die kakteen
erdkrümel lose auf den untersetzern
auf dem fensterbrett

gieß deine pflanzen
gieß sie nur
damit sie gut wachsen
am fensterrahmen hochklettern
das glas erobern
sie nehmen das licht für sich

draußen sind tannen
farne im schatten
flechten am baumstamm
symbiose mit der föhre dem wind
auf dem waldboden verrottende blätter
abgeknickte äste steine
moos und erde
tiere natürlich käfer insekten würmer maus

was denkst du denn was ich denke
wenn ich durch den wald gehe
dass ich das etwa alles nicht sehe
dass ich nicht nach den wurzeln grabe

lass meine arme frei von deinen grünen schlingen
öffne das fenster
geh in den wald

 

 

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Sofie Aeschlimann

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freiTEXT | Britta Badura

Liebesleben

Es ist Freitag, Donnerstag, Mittwoch, alles durcheinander. Meine Kopfhaut juckt. Der Kaffee am Morgen war bitter, doch zweckdienlich. Dazu ein bisschen vom Kameldung, was ich seit meinen französischen Jahren rauche. Da gab es einmal Blutwurst in Lyon, eine Fahrt mit dem TGV nach Paris und einen Liebeskummer, den ich zwei Ehen später immer noch nicht überwunden habe. Google bestätigte mir, dass er immer noch mit der Frau zusammen war, für die er mich damals verlassen hatte, zwei Söhne, in etwa so alt wie meine. Er gefällt mir auf den Bildern gar nicht mehr. Mein Handy hat einen unbeantworteten Anruf. Soll es sich doch selber darum kümmern. Eine Eidechse sonnt sich auf der Terrasse und mein linkes Bein schläft gerade ein, weil ich es hochgelagert habe, ansonsten würde es beim langen Sitzen anschwellen. Bei beiden Schwangerschaften hatte ich immer schlanke Fesseln und sogar der Primar sagte kurz vorm Kaiserschnitt, als ich halbnackt vor ihm stand und er eine externe Wendung versuchte, zu meinem damaligen Mann: „Sowas schwängert man gerne.“ Andere Männer meinten, ich hätte so tolle Beine, doch sie wüssten nicht, was sie im Bett damit anfangen sollten – als hätte ich ihnen irgendwelche Signale in diese Richtung gesendet. Einmal war ich bei einer Körpertherapeutin, die mir Karten auf den Körper legte, dabei sagte sie, die linke Seite repräsentiere die mütterliche Linie, die rechte die väterliche. Prompt schwoll mein linkes Bein so an wie die Beine meiner Mutter und Großmutter. Verwundert rief ich die Therapeutin an, die allerdings nur meinte, meine körperliche Verfassung sei ihr ein Rätsel – so etwas sei ihr noch nie untergekommen. Ich werde auch nicht schlau aus diesem Körper, der nur aus sehnsüchtigen Schichten besteht. Und all seine Schönheit habe ich an Männer verschwendet, die nur das Programm Schmachtblick, Schmusen und Schuss kannten. Immer wieder habe ich trotzdem einen mit nach Hause genommen, doch ich habe es mir abgewöhnt, deswegen traurig zu sein. Ich will wieder ein Wackelzahnherz. Ich wünschte, ich könnte lieben wie Kinder. Mit Geduld. Mit offenem Auge. Die Nacktschnecken und die Kaulquappen. Kind in der Liebe sein. Wo es reicht, einander verstohlen beim Spielen zu beobachten, ein Herz im Wachstum zu haben. Überhaupt: der Zufall der Zuneigung. Warum nicht irgendjemandes Geliebte sein, ein paar Dinge ausprobieren, sich bloß nicht verlieben, sich um Gottes willen nicht verlieben, sondern ganz im Körper und in der Zeit sein. Welch Wunschgulasch. Wir lieben doch eh nur die Bilder, die wir uns vom anderen machen. So schnell nützt man sich ab und die Jukebox spielt Lügen, versteckt hinter Koseworten und verstreuten Erinnerungen. Ein Mann hat mich ein paar Wochen lang nur gevögelt und eines Nachts merkte ich, dass die Liebe eingefahren war, weil er mich plötzlich aufmerksamer ansah. Als er eine andere Frau kennenlernte, nicht besser als ich, nur anders, brach kurz meine mühsam zusammengezimmerte Welt zusammen. In einer Bar mixte ich nächtelang Caipirinhas. Ein Typ aus Berlin fand meinen Akzent so bezaubernd, dass er bis zum Schluss meiner Schicht blieb, um mich, sein Rad nebenher schiebend, nach Hause zu begleiten, wo er mich zwar mit einem Kuss verabschiedete, doch ohne Nummer oder andere Anknüpfungspunkte. Ein paar Tage später sah ich sein Rad in der Innenstadt und steckte ihm eine Alpenmilchschokolade in den Gepäcksträger. Wir gingen dann tatsächlich miteinander ins Kino, irgendeinen seltsamen isländischen Film, doch nachdem ich bei ihm zuhause aufgewacht war, meinte er, er sei noch nicht über jemanden hinweg und er melde sich. Das E-Mail ein paar Tage später trug den Betreff „Pretty girls make graves“ und hatte sonst keinen relevanten Inhalt zu bieten. Ich verließ die Stadt. Vermutlich muss ich mir eingestehen, dass ich alle meine Lebensentscheidungen aus Liebeskummer getroffen habe. Deswegen kann ich meine Zukunft nicht planen, nicht in das Korsett von Vorstellungen zwängen, doch dieses Warten, dass einmal etwas Spannendes passiert, macht mich mürbe. Und währenddessen schreibe ich Einkaufslisten, erkundige mich über Versicherungen, zahle pünktlich alle Rechnungen, vergesse keine Geburtstage, und versuche, meinen verfallenden Körper instand zu halten. Die vergeblichen Verwobenheiten, die wir unser Leben nennen. Es ist Mittwoch, sehe ich im Kalender, und auf der Kaffeepackung steht: „Nichts für schwache Herzen.“

 

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Britta Badura

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freiVERS | Andreas Köllner

Atempause

Halte
die Luft an, die
Zeit

fest, wie sie nie
war, vorher; die

Erinnerung
braucht
einen langen Atem

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Andreas Köllner

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POEDU - Text des Monats Februar

Früher bin ich durch die Welt geflogen und jetzt
nur über das Papier.
Immer wieder falle ich
vom Himmel und immer
wieder werde ich aufgehoben.
Manchmal nehme ich auch
Duschen, manche lachen
sogar wegen mir
und viele finden mich
schön. Manche
schmücken sich mit mir.
Aber früher wurde mit mir
am meisten gespielt und
immer wieder wurde
ich in ein schwarzes
Loch getunkt
Was bin ich?

Karamelllutscher

(9 Jahre alt)

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POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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.Die Aufgabe diesmal kam von Carl-Christian Elze:

Das geheime Leben der Dinge. Es gibt Naturwissenschaftler*innen, die glauben, dass es gar keine unbelebten Dinge auf der Welt gibt, dass auch Autos, Fahrräder, Kloschüsseln, Kaffeemaschinen und Schreibtischlampen irgendwie lebendig sind, also auch etwas fühlen und denken können. Schreibt ein Gedicht über das geheime Leben eines Gegenstandes. Die Leser*innen dürfen miträtseln und ihre Antworten in die Kommentarspalten schreiben.

>> Alle POEDU Texte des Monats

>> POEDU - das Buch

>> DAS POEDU – Virtuelle Poesiewerkstatt für Kinder

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freiTEXT | Amalie Mbianda Njiki

Rotlicht

Mein Raum befindet sich an einem verborgenen Ort, andere verschlungene Räume falten und winden sich um ihn herum. Manchmal dringen gedämpfte Laute von außen ein, von denen ich mir vorstelle, es seien Mutters Bauchgeräusche in jener Nacht vor meinem Abschied.
Meinen Raum kann jeder besuchen. Ihr tretet ein. Ihr haltet eure Luft an, um durch meine Luft zu tauchen, solange, bis euer Geruch meinen Raum flutet, meine Luft zu eurer wird und ihr schwer auf mich herabsinkt.
Meinen Raum richtet jeder nach seinen eigenen Wünschen ein. Es ist euch egal, ob ihr diesen, oder einen anderen Raum besucht, weil für euch alle Lippen gleich rot glänzen und alle Geschichten gleich sanft klingen.
Mein Raum ist für euch wie ein leeres Gefäß, das erst durch euch als Inhalt seinen Zweck erfüllt. Ihr denkt: Wer seinen Körper verkauft, ist nicht vollständig. Ich versuche mir vorzustellen, wie ihr meinen Raum mit einer meiner Zehen verlasst. Beim nächsten Besuch kauft ihr euch bereits meinen Arm. Oder ein Bein. Ihr kämt und kämt bis nichts mehr übrig wäre.
Noch beschreibe ich mich jedoch anders:
Wer seinen Raum vermietet, ist darin vollständig allein.
Mein Raum kann eure Fassaden so verziehen, dass sie beinahe menschlich wirken. Eure Linien zerfließen, eure Stirnen rillen sich angestrengt. Die Falten erinnern mich an das Wellblech, aus denen die Slums meines Mutterlandes geformt sind. Dorthin, wo Wände fest und aus Stein gefertigt sind, Hitze und Eindringlinge nicht so leicht nach innen gelangen, hat die Madame versprochen. Jetzt sind meine Wände so dick und undurchlässig, dass sich hier jeder Fremde eine Auszeit von der Kälte Deutschlands nehmen will, euer Schweiß perlt über mich hinweg wie Mutters Tränen in der Heimat.
Auch wenn ihr alle Zimmer meines Raumes zu kennen glaubt, kann sich euer schlechtes Gewissen nicht vor mir verstecken. Mein Raum füttert und füttert es, bis es nicht mehr zu übersehen ist, und wenn sich das schlechte Gewissen bereits den Kopf an der Decke stößt, verlässt es meinen Raum leise.

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Amalie Mbianda Njiki

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freiVERS | I. J. Melodia

Schwemmland

Aus dem Schwemmland
deiner flüchtigen Augen
sickert wortloses Sediment
zum Mündungsdelta

Jeder Satz entwässert
das Leben in seinem Fluss
versalzt auch das Land
hinter den Deichen
und der Stirn

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I. J. Melodia

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freiTEXT | Marina Wudy

Sterne einatmen

Wir sitzen am Fenster und schauen in die Sterne. Der Mond muss auch irgendwo sein, aber noch habe ich ihn nicht entdeckt, zu viele Wolken ziehen über den Himmel. In der Nachbarwohnung läuft der Fernseher, die Geräusche dringen dumpf durch die Wand. Uschi, so nenne ich die Frau von nebenan insgeheim. An ihrer Haustür hängt ein Mandala, und durch das Küchenfenster zieht regelmäßig der Geruch von Kreuzkümmel und Kurkuma nach draußen.

Wie geht es dir heute?, fragst du. Du schaust mich dabei nicht an, hast deinen Blick weiter nach draußen in den Himmel gerichtet. Früher hast du dir oft vorgestellt, dass Sterne zwinkern können, und wenn einer einmal heller und wieder dunkler wurde, war das dein Beweis dafür. Sterne haben auch Gefühle, hast du dann gesagt.  

Ich wende meinen Blick von dir ab, zurück zu den Sternen. Gut, sage ich. Gut geht es mir.

Bist du sicher?, fragst du.

Ja, sage ich. Warum?

Ach, sagst du. Du wirkst nicht so.

Warum das denn?

Ich richte mich auf in meinem Stuhl und drehe mich wieder zu dir. Noch immer schaust du mich nicht an. In der Luft hängt noch der Geruch des Chilis, das ich vor ein paar Stunden gekocht habe. Ich reiße das Fenster auf, schließe meine Augen, atme ein.

Naja, sagst du. Früher hättest du jetzt gesagt, komm, lass mal Sterne einatmen. Lass mal das Leben vergessen und einfach sein.

Sterne einatmen?, frage ich und runzle meine Stirn. Noch immer schaust du mich nicht an, hast den Blick starr aus dem Fenster gerichtet.

Ja, Sterne einatmen, sagst du. Die ganze Welt, die ganze Nacht. Alles, was ist, und was sein könnte. Möglichkeiten, Unendlichkeiten.

So ein Quatsch, sage ich. Unendlichkeiten.

Da, sagst du. Genau das ist es. Du denkst nur noch. Du fühlst gar nicht mehr.

Ich höre den Vorwurf in deiner Stimme, und er macht mich wütend.

Das stimmt nicht, sage ich. Ich fühle andauernd.

Aha, sagst du. Wann denn zuletzt?

Wie bitte?

Was war dein letztes Gefühl?

Was ist denn das für eine Frage?

Fragen brauchen Antworten. Auf so eine Logik stehst du doch. Also los jetzt.

Nein, sage ich. Der Vorwurf in deiner Stimme gefällt mir noch immer nicht.

Da hast du es.

Gestern, sage ich schließlich, nur um dir zu beweisen, dass du nicht Recht hast. Natürlich hast du nicht Recht. Natürlich fühle ich.

Gestern habe ich einen Text gelesen. Von einer Kollegin. Der war sehr interessant. Der hat mich zum Nachdenken gebracht. Im gleichen Moment, in dem ich den Satz ausgesprochen habe, merke ich meinen Fehler. Doch du bist schneller.

Ha, sagst du. Siehst du.

Ich mache meinen Mund auf, möchte mich verteidigen, dir sagen, dass das gar nicht stimmt, was du sagst, dass ich sehr wohl fühle, aber die Worte kommen nicht. Sie bleiben in meinem Hals stecken, störrisch, wie die kleinen dornigen Widerhaken, die früher in meinem Wollpullover hängenblieben, wenn ich über die Wiese vom Bauern Thomassun lief.

Eine Weile schweigen wir; ich denke über Theo nach, der mir in der zehnten Klasse das Herz gebrochen hat; über den Tag, als ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, und über den Moment, in dem ich den Anruf von der Polizistin bekommen habe, Frau Hollweg, Ihr Vater.

Aber all das ist Jahre her.

Trotzdem will ich dir nicht Recht geben.

Woran machst du das denn fest?, frage ich dich schließlich. Dass ich nicht fühle?

Du zuckst mit den Achseln. Das ist leicht. Du lachst nicht mehr richtig.

Das stimmt gar nicht, sage ich. Ich lache andauernd.

Vielleicht, sagst du. Aber nicht richtig. Nicht so, dass du nach Luft schnappen musst und deine Bauchmuskeln sich so anspannen, dass du danach Seitenstechen bekommst, und dass du dir dabei fast in die Hose pinkelst.

Ich will protestieren und sagen, dass ich mir auch ganz sicher nicht in die Hose pinkeln möchte vor Lachen, aber dann verliere ich mich in meinen Gedanken. Ich erinnere mich an die Lachanfälle, die ich früher hatte, über die banalsten Dinge. Herr Schmitt mit dem überdimensionalen Schnauzer, der immer mittwochs seinen Rasen gemäht hat und dabei seine Finger ganz merkwürdig abgespreizt hat. Den Fernsehmoderator, dem in der Live-Übertragung des EM-Finales eine widerspenstige Haarsträhne vom Kopf abstand.

Vielleicht hast du Recht, sage ich schließlich und kaue auf meiner Unterlippe herum.

Und die Texte, die du liest, sagst du und schüttelst deinen Kopf.

Was ist damit?, frage ich.

Die sind immer voller tiefsinniger Gedanken, aber frei von Gefühlen.

Ja und, sage ich. Ich mag Texte, die mich zum Nachdenken anregen.

Offensichtlich, sagst du.

Und jetzt?, sage ich und wickle einen losen Faden von meinem Pullover um meinen Zeigefinger. Was soll ich deiner Meinung nach tun?

Gar nichts. Einfach mal gar nichts.

Ich starre dich an, dein vertrautes Profil, das noch immer von mir abgewandt ist. Ich denke an den Nachmittag, als ich ohne Badesachen in der Bucht in Montenegro schwimmen gegangen bin, an den Geschmack von Salzwasser auf meinen aufgesprungenen Lippen und das Kribbeln in meinem Unterleib.

Und dann?, frage ich. Was soll das bringen?

Dann kommen die Gefühle. In der Stille.

Endlich drehst du auch deinen Kopf, siehst mich an, und in deinen Augen tanzt ein ganzes Universum.

Wir sitzen einige Minuten lang schweigend voreinander. Ich verliere mich in deinen Augen, und plötzlich bin ich nur noch Gefühl, bestehe aus kribbelnden Fingerspitzen und tanzenden Atomen und lebendiger Materie. Habe vergessen, wie Denken überhaupt geht, und dass du gar nicht hier bist. Dass dein Profil nur eine flüchtige Verzerrung meines eigenen Spiegelbilds ist, und deine Worte nur der Widerhall meiner eigenen Gedanken.

Ich hebe meine Hand und lasse meine Finger über die Sitzfläche des leeren Stuhls neben mir gleiten. Schaue in die Sterne, die sich in der Unendlichkeit verlieren. Atme noch einmal ein, tief und lange, bis jeder Winkel meiner Lunge mit der kalten Luft gefüllt ist. Bis die Kälte in mir explodiert, sich in Hitze verwandelt, und in ruckartigen Stößen durch meinen Körper schießt.

Ich wehre mich nicht dagegen, lasse es einfach geschehen, gebe mich hin; der Erinnerung an dich, allem, was hätte sein können, was ich nicht fühlen wollte und konnte, was unter der Oberfläche all die Jahre brodelte und mich zu einer leeren Hülle hat werden lassen; einer Hülle, die funktioniert, sehr gut sogar; aber so viel Leere, so viel Kälte. Ich denke an Mandala-Uschi, an den Bauern Thomassun, an meinen Vater, und frage mich, ob sie auch alle dieses Ziehen in sich hatten, wenn sie in die Sterne geschaut haben.

Irgendwann ist es vorbei, und als ich in den Himmel schaue, spüre ich, dass ich es gerade endlich wieder getan habe: Ich habe Sterne eingeatmet. Möglichkeiten, Unendlichkeiten. Alles, was ist, und alles, was sein könnte.

Ich spüre, wie eine Träne meine Wange hinunterläuft. Ich lasse sie laufen, halte sie nicht auf, und schaue weiter in den Himmel.

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Marina Wudy

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freiVERS | Sabine Abt

ausgangslage

jeden morgen die gebeine
aus den laken sammeln, ordnen
knochen aufeinanderstellen

jeden morgen sehnen richten und muskeln austarieren
alleine das aufstehen ein akt der komposition
von unten nach oben

jeden morgen ein kampf gegen die gravitation
ein ringen um den anfang von
allem was ein tag an ringen bringt

ohne zug aus dem erdkern
keine erste erfahrung von widerstand
besiegen können

 

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Sabine Abt

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freiTEXT | Jannik Lober

Der Krieg mit den Käfern

Über den penibel gepflegten Rasen hinweg und vorbei an drei Gartenzwergen – der ganz rechts entblößt schamlos sein Hinterteil – höre ich die Schwengelpumpe im unermüdlichen Takt ächzen. Zug um Zug füllt sich der 10-Liter-Bauch der Plastikgießkanne, deren hellgrüner Tülle sich dabei ein hallendes Gurgeln entringt. Mit dem Handschuhrücken meiner Linken wische ich mir Schweißperlen von der Stirn und bin verblüfft, welch angenehm kühlende Wirkung der Klang von plätscherndem Wasser hat. Das akustische Wohlgefühl verflüchtigt sich allerdings bereits im nächsten Moment, denn während ich den bockelharten Lehmboden mit einer Handhacke bearbeite, weiß ich, ganz tief in mir drin, kniend vorm Gemüsebeet, dass ich im Begriff stehe, den Krieg gegen die Käfer endgültig zu verlieren. Beim Anblick meiner kümmerlichen, zu grauen Bällchen verschrumpelten Tomaten ist mir zum Heulen zumute; mehr aus gekränktem Stolz denn aus echter Trauer. Eine heranwehende Frühnachmittagsbrise ist durchsetzt mit dem Geruch nach gegrilltem Fleisch, Feueranzünder und drohender Niederlage. Ich beiße meine Zähne so fest zusammen, dass meine Kiefergelenke sandig knirschen. Dann drücke ich mir meine Kopfhörer ins Ohr und hacke (Only You von Yazoo auf voller Lautstärke) rachsüchtig weiter, verfalle unmerklich in den Rhythmus der Pumpe im Nachbargarten. Auge um Auge, Fühler um Fühler, ihr kleinen Wichser.

In irgendeiner Illustrierten, die ich einmal in einem stickigen Wartezimmer durchgeschaut haben muss, stand, dass sich alle Zellen im Körper eines Menschen innerhalb von sieben Jahren einmal komplett erneuern. Krass!, habe ich einen ganzen Augenblick gedacht und dann weitergeblättert zu Artikeln über das Mikroklima spröder Kopfhaut, die fünf besten Haftcremes auf dem aktuellen Markt und den anlaufenden Vorbereitungen zur Feier von Florian Silbereisens 40. Geburtstag. Jetzt, da ich aus der aufgelockerten Erde widerspenstige Hahnenfußausläufer ziehe (aus den Augenwinkeln verstohlen nach Eigelegen an runzelig gelbe Blattunterseiten Ausschau haltend), muss ich wieder daran denken. Schon seltsam. Da vollzieht sich im eigenen Inneren, im intimsten Intimbereich, so ein fundamentaler Wandel, aber man bekommt nicht die leiseste Spur davon mit. Wenn es nach den sieben Jahren wenigstens einen hervorspringenden Clown mit Konfettiregen, einen Fanfarentusch, zumindest einen lauten Knall gäbe. Oder ein elektrisch summender Neonröhrenschriftzug, der aus heiterem Himmel über dem Kopf aufploppt und sich in vor Staunen aufgerissenen Augen spiegelt: Herzlichen Glückwünsch! Sie sind ein rundum neuer Mensch! Gehen Sie über LOS, aber ziehen Sie rein gar nichts! Mehr Glück bei nächsten Mal!

„Na“, reißt es mich lautes Rufen jäh aus meinen Gedanken, „heute mal kein Schwarztee?“ Vor der unbarmherzigen Julisonne zeichnet sich unvermittelt die klar umrissene Silhouette eines Mannes mittleren Alters ab. Ich nahm die Hacke von der rechten in die linke Hand und überlege, ob ich knien bleiben oder höflicherweise aufstehen soll. Ich entscheide mich widerwillig für letzteres. Beim Erheben ziehe ich die Kopfhörer betont langsam aus meinen Ohren, atme geräuschvoll durch die Nase ein, schaue ihm erst dann ins beschattete Gesicht. Mit spitzem Mund antworte ich bündig: „Nein, heute nicht.“ Der niedrige Jägerzaun reicht Herrn Schulz gerade bis zur Mitte der stämmigen Oberschenkel. Von da ab aufwärts trägt er eine Art knapper Jeanshotpants, die vom ständigen Waschen schon ausgeblichen ist, ein weißes T-Shirt, unter dem sich die fortgeschrittenen Konturen eines drallen Bauchs wölben, und einen Fischerhut in den Deutschlandfarben. Auf seinen vollen Lippen liegt ein süffisantes Lächeln, aber seine blauen Augen leuchten freundlich, geradezu herzlich.

Dass etwas in meiner Gartenparzelle vor sich ging – genau genommen in meinem Kräuter- und Gemüsebeet – erkannte ich weniger am Regen, der jedes Jahr ein unmerkliches Stückchen dürftiger ausfiel, oder am Farbton des Bodens, der aus irgendeinem Grund Sommer für Sommer einen Hauch blasser zu werden schien; viel mehr kündete das plötzliche Auftauchen der Heerscharen von Käfern biblischen Ausmaßes von einer bisher unbemerkten Veränderung. Ich weiß noch genau, dass ich anfangs dachte, als es nur zwei, drei waren, die ich hier und da auf Gurkenblüten fand, wie schön doch die schwarzen Chitinpanzer mit der feinen weißen Musterung in der Sonne glänzten. Pittoresk hatte ich am gleichen Abend zu meiner Mutter am Telefon gesagt, dazu etwas von Artenvielfalt und NABU gesülzt. Heute schelte ich mich jeden Tag dafür: Pittoresk am Arsch, du blöde Kuh! Hätte ich damals schneller gehandelt, wäre es vielleicht nie so weit gekommen, sicherlich nicht so schnell. Im ersten Jahr befielen sie nur die Gurken, im zweiten vernichteten sie zusätzlich meine gesamte Zucchiniernte, dieses Jahr sind ihnen schon drei Tomatenstauden zum Opfer gefalle. Besser gesagt: Fallen ihnen zum Opfer; und über dem blutrünstigen Präsenz dräut düsterer noch das Futur. Letzten Sommer habe ich schließlich drei besonders fette Exemplare eingetütet und bin, meinen Bedenken und Hochmut zum Trotz, mit der Bahn zu meiner Exfreundin gefahren, die als Biologie-Doktorandin kürzlich eine Anstellung an einer nahen Universität gefunden hatte.

„Nezara viridula! Und was für gesunde Kerlchen auch noch, putzmunter!“ Für ihre wissenschaftliche Euphorie hätte ich ihr am liebsten einen der Schüttelkolben über den Kopf gezogen, die in allen erdenklichen Größen und Graden der Verkalkung neben Plastikterrarien und Blumentöpfen im kleinen Büro wie wahllos verteilt herumstanden. Begnügt habe ich mich dann aber mit einem zwischen Schneidezähnen hervorgepressten, trennscharf in zwei Silben zerlegten: „San-dra!“ „Gemeinsam mit dem Buchsbaumzünsler und der Kirschessigfliege zählt die Grüne Reiswanze wohl zu den größten Gewinnerinnen des Klimawandels.“ „Aber die sind doch ganz schwarz mit ein paar weißen Pünktchen, überhaupt nicht grün,“ bringe ich, meinen linken Arm an den Körper gelegt und an den Fingernägeln meiner rechten Hand kauend, kleinlaut vor, ziehe meine Augenbrauen gekräuselt zusammen. „Auch Südliche Stinkwanze genannt,“ Sandra wirft mir dabei einen Seitenblick zu, „ist die Grüne Reiswanze eigentlich in der Gegend um das Mittelmeer beheimatet und bevorzugt ein mediterranes bis subtropisches Klima. Durch die stetig steigenden Temperaturen und begünstigt durch die rapid schmelzende Eisschicht in den Bergen ist ihnen jedoch vor ungefähr zehn Jahren erstmals eine Alpenüberquerung geglückt. Seitdem dehnen sie als hochgradig invasive Art und sogenanntes Neozoon ihr Verbreitungsgebiet immer weiter nach Norden aus. Hier hast du drei schwarz gefärbte Nymphen, später als ausgewachsene Imago werden sie grün beziehungsweise braun im Winter. In allen Entwicklungsstadien stechen sie, als wählerisch kann man sie daher wirklich nicht bezeichnen, diverse Pflanzen, Samen und Triebe an, was für die befallenen Pflanze meist zu einer letalen Pilzinfektion führt.“ Ganz große Klasse, denke ich mir mit einem Stapel Papiere von Sandras Schreibtisch zornig Luft zufächelnd, ein sechsbeiniger Hannibal ante portas. Ich schaute zu den ausgeschalteten Neonröhren an der grauen Decke auf, kratze meinen Hals: „Was kann ich jetzt gegen die unternehmen?“ „Nun, du könntest es natürlich mit der chemischen Keule versuchen. Oder,“ mit ihrem Daumen schob Sandra die Krümel des Streuselkuchens, den ich als Geste des guten Willens mitgebracht hatte, zu einem säuberlichen Häufchen zusammen, und fuhr in einem Ton fort, der irgendwo zwischen Häme und Genuss lag, „du wartest bis es durch vermeintliches Nahrungsüberangebot zu einer Vermehrungsexplosion kommt, dann saugen sie sich selbst ihre Lebensgrundlage weg und verhungern letztlich.“ Sie schaute aus dem Unifenster in die Ferne, spielt sich gedankenabwesend an ihrem blonden Pferdeschwanz. „Danke, Sandra. Ich ruf dich an.“ Als ich gerade mit einem schwer zu beschreibenden Gefühl zur Bürotür hinauswollte, hörte ich hinter mir: „Und was ist mit denen hier?“ Sie deutete mit einem Stift auf die durchsichtige Zippertüte samt derer fidelen Insassen. Ich ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch zurück und ließ meine Faust in einem einzigen fließenden Bogen auf die Tüte niederfahren. „Ich mache keine Gefangenen.“ Aus den drei aufgeplatzten Nymphenkörpern quoll gelb-beiger, zähflüssiger Schmodder und durch den Aufschlag war der kleine Berg aus Kuchenkrümeln zusammengestürzt.

Im Anschluss hatte ich es mit den unterschiedlichsten Hausmitteln und geheimen Wunderwaffen versucht, über die selbst in online-Gärtnerforen nur mit vorgehaltener Hand spekuliert wurde: Ich hatte Backpulver ausgestreut, mit schalem Bier gefüllte Fallgruben ausgehoben oder auch einen kostspieligen Kupferzaun in Miniaturgröße aufgespannt. Mein Leben bestand nur noch aus einer Verkettung von Finten, Gegenangriffen und verdeckten Offensiven; nur half alles nichts, die Käfer waren zähe, unerbittliche Gegner. Letzt Woche hatte ich schließlich mein gesamtes Beet plus Hecke in einer letzten verzweifelten Aktion stundenlang und literweise mit abgekühlten Schwarztee besprüht; sehr zur Belustigung von Herrn Schulz, der im Nachbargarten gerade den dritten Gartenzwerg (der mit dem nackten, leicht hinausgestreckten Hintern) zu den anderen beiden gestellt hatte. Seit drei Jahren flogen er und seine Frau, von deren stets mit einem freudigen Winken begleiteten Grußworten ich aufgrund ihres starken Dialekts noch nie auch nur ein einziges verstand hatte, im Sommer nach Rhodos. Von ihrem vierzehntägigen Strandurlaub brachten sie jedes Mal einen Gartenzwerg mit – wer weiß, wie es zu dieser idiotischen, mir gänzlich unbegreiflichen Tradition gekommen ist. Zu dritt gruppiert stehen sie jetzt im Halbkreis auf einem etwa Handbreit hohen Erdsockel, dessen Flanken Herr und Frau Schulz mit verschiedenfarbigen, den ägäischen Fluten abgetrotzten Muschelschalen hingebungsvoll dekoriert haben. In diesem Moment umflattert tänzelnd ein Paar aus Kohlweißlingen die eigenwillige Zusammenstellung aus nautischem Zierrat und leuchtend roten Zipfelmützen.

„Nein, der Tee hat leider auch nicht geholfen“, gebe ich kleinmütig, aber offen zu, halte Herrn Schulzes Blick stand. Beide Arme über dem Kugelbauch verschränkt wippt er von den Fersen auf die Zehenspitzen und wieder zurück. Seine Hüfte schwingt dabei so hin und her, dass ich in meinem Kopf unwillkürlich das wuchtige Glockengeläut von Almkühen höre. „Ich hab‘ Ihnen ja gesagt, Sie müssen was spritzen.“ „Wissen Sie, Herr Schulz“, in Kniehöhe wische ich mir ein wenig trockene Erde vom geblümten Sommerkleid, „ich bin mir da nicht so sicher, ob der Einsatz von hochgiftigen, krebserregenden Insektiziden wirklich notwendig ist.“ „Lassen Sie mich raten“, er bleibt mit dem Oberkörper vorgebeugt auf den Zehenspitzen stehen und zieht die buschigen Augenbrauen hoch, „Umweltschutz?“ Er bricht in schallendes Gelächter aus, das von Herzen kommt; sein Bauch und Adamsapfel springen glucksend auf und ab. „Passen Sie nur auf, dass Sie es den Biestern mit Tee und Gebäck nicht zu schön machen. Am Ende kommen die noch zu uns rüber!“ Während er sich hüstelnd mit der Faust auf den massiven Brustkorb klopft, weil er sich beim Lachen verschluckt hat, fällt mein neidischer Blick auf die Tomatenpflanzen der Schulzes: Pralle Tomaten, saftig, rund und fest, hängt dort eine neben der anderen schwer und appetitlich an den kräftigen Stauden. Mehr als einmal habe ich nachts wach in meinem Bett gelegen, war wie getrieben drauf und dran, in die Schrebergartenkolonie zu fahren, über den niedrigen Zaun zu steigen und alle dieser feixenden Früchtchen abzureißen. „Wissen Sie, Herr Schulz“, wie ein stupider Papagei plappere ich Sandras Worte nach, „die Grüne Reiswanze ist eine hochinvasive Art, ein Neozoon, dessen Habitat sich durch die Erderwärmung minütlich, ja selbst in diesem Moment, da wir hier reden, ausbreitet. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sie auch bei Ihnen ist.“ „Oooh“, er hebt die schwieligen Hände, als würde ich eine geladene Pistole auf ihn richten, „der Klimawandel. Die Trixie hat gesagt, der wäre nur eine Erfindung der hysterischen Klimanazis und Gendergagaisten“, er schnalzt geräuschvoll mit der Zunge, trommelt mit den Fingern an beiden Oberarmen, „Wählen würde ich sie natürlich nicht, aber die Frau redet schon Tacheles, das muss man zugeben, nennt die Dinge beim Namen. Die hat Chuzpe, hätte man früher gesagt, Chuzpe! Und intelligent ist sie, kann gescheit reden, erinnert mich manchmal ein bisschen an Sie!“ „Hören Sie, Herr Schulz, die wohl letzte Person auf diesem Planeten, mit der ich verglichen werden will, ist eine Beatrix von…“ Meinen Einwand überhört er und kommt jetzt richtig in Fahrt: „Das Klima hat sich geändert, ja, aber nicht das Wetter, das ist einfach nur sommerlich. Und Hitzewellen“, er macht mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft, verdreht die Augen, „gab es auch schon immer. Nein, das Klima hier“, energisch zeigt er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Boden, „HIER in der Kleingartenkolonie. Das gesellschaftliche Klima mein‘ ich. Früher war das ganz anders. Ja früher, da hat man gegenseitig auf sich Acht gegeben, sich ausgeholfen, war füreinander da, hat sich zugehört“, er zählt die genannten Punkte an den fleischigen Fingern ab, „Aber jetzt“, seine flach ausgestreckte Hand zischt einmal durch die Luft, sein Ehering blitz golden im Licht „ein falsches Wort und sie fallen über dich her, zack, Kopf ab. Dabei weiß man gar nicht, was jetzt schon wieder verkehrt war.“ An besagtes Früher habe ich, wenigstens in Bezug auf die Kleingartenkolonie, keine eigenen Erinnerungen: Mein Großvater väterlicherseits, zu dem ich erstmals den Kontakt herstellen konnte, als ich bei meiner Mutter ausgezogen war, hatte mir die Gartenparzelle erst vor drei Jahren vermacht – das großzügigste, zugleich aber auch nervenaufreibendste Geschenk meines Lebens. „Und neulich“, Herr Schulz rückt näher an den Zaun, schlägt einen so verschwörerisch-vertraulichen Ton an, dass ich es ihm ungewollt gleichtue, „da haben sie kurzzeitig doch wirklich die Wasserleitungen umgelenkt.“ Er deutet mit dem Daumen über seine rechte Schulter auf seine Gattin, die, eine hager, klein Frau mit sonnengegerbter Haut, bereits die dritte Gießkanne an der Pumpe füllt. „Kommt kein Wasser mehr, hat sie gesagt. Ich darauf“, er hebt Blick und Hände zum blauen Himmel, an dem zwei sich kreuzende Kondensstreifen verblassen, „dann pump eben fester, Ulrike. Tja, kam aber wirklich nichts mehr. Seit ein paar Tagen geht alles wieder tadellos. Beweisen kann ich nichts, aber ich bin mir sicher“, er legt die Rückhand an die Lippen, spricht aus dem Mundwinkel, „die da oben hatten ihre Hände im Spiel.“ „Vielleicht, Herr Schulz, liegt es auch am auffallend geringen Niederschlag. Vielleicht“, ich verspüre das dringende, fast körperliche Bedürfnis, ihm eine Lektion zu erteilen, „liegt es daran, dass es zu viele Menschen gibt, die im Unverstand rotes Fleisch essen, Berge von minderwertiger Kleidung kaufen und zu oft hirnlos um die halbe Welt fliegen.“ Halb väterliche, halb jovial entgegnet er: „Aber Sie sind doch noch so jung, Sie müssen die Welt und Ihr Leben genießen, in vollen Zügen! Packen Sie es an!“ Die Sonne brüllt von oben und ich recke, unter den Armen und zwischen den Pobacken furchtbar schwitzend, das Kinn empor: „Weil ich meinen Kindern einmal keine abgebrannte Müllhalde hinterlassen will, tue ich das eben nicht!“ Seine großen, blauen Augen strahlen großväterlich: „Kinder?! Donner und Doria. Hat da jemand etwa endlich einen anständigen Burschen kennengelernt?“ Als er mir zuzwinkert, reißt eine Saite in mir mit lautem Knall; ich kann nicht länger an mich halten und keife: „Vor allem liegt es daran, dass man den Klimawandel in zu vielen Mündern und zu wenig Köpfen finden. Das ist übrigens das, Herr Schulz, wo bei den Leuten früher“, mit den Händen mache ich Anführungszeichen in der Luft, „das Hirn saß, bevor sie es sich in irgendwelchen obskuren Telegram-Chatgruppen weggegrillt haben. Wenn die Leute noch ein Quentchen davon besäßen, hätten Sie noch genug Wasser und ich nicht dieses schwarze Geschmeiß im Garten, das unter dem schicken Panzer eigentlich“, ich kneife die Augen zusammen, „ganz braun ist.“

In Zeitlupe kann ich mitverfolgen, wie sich das breite Lächeln auf seinen Lippen gleich Zuckerwatte im Wasser auflöst und sich die Freude in seinen Augen zu einem waidwunden Ausdruck wandelt; im Hintergrund pumpt Frau Schulz indes unbeirrt weiter. Nach einer halben Ewigkeit sagt Herr Schulz schließlich: „Meine Frau und ich möchten Ihnen“, er nestelt linkisch mit Zeige- und Mittelfinger an der Gesäßtasche seiner Hose herum, „das hier geben. Wie Sie wissen, sind wir keine Studierten“, die mittlere Silbe versieht er mit besonderer Betonung, „Anders als Sie verstehen wir nichts von Ozonlöchern und Neowanzen, aber wir haben festgestellt, dass die hier ausgezeichnet gegen die Krabbelbiester helfen.“ Er macht eine kurze Pause, fährt dann, den Blick gesenkt, in einem leiseren, geradezu grüblerischen Ton fort: „Ich kann nicht erklären wieso, aber irgendwie hält es sie eben fern. Vielleicht der Geruch oder die Farbe oder wer weiß was.“ Über den Zaun hinweg legt er mir behutsam etwas Leichtes in die rechte Hand, das leise raschelt. Daraufhin wendet er sich um und geht, bleibt jedoch nach ein paar Schritten abrupt stehen und sagt, ohne sich umzudrehen: „Wissen Sie, Sie brauchen nicht zu glauben, Sie wären die Einzige, die sich Sorgen um die Zukunft macht.“ Seine Stimme klingt weder gekränkt noch versöhnlich, sondern einfach nur nüchtern, durch und durch sachlich. Im Fortgehen huscht über Herrn Schulzes Körper ein Schwarm Schattentupfer, die die Blätter an den Ästen des alten Kirschbaums in seinem Garten werfen. Da kein Wind geht, verharren sie, nachdem er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, wieder regungslos auf dem Boden. Kurze Zeit darauf wird das Pumpen eingestellt.

Ich betrachte ein sorgfältig aus weißem Brotpapier gefaltetes, dreieckiges Tütchen auf meinem Handteller. Darauf hat jemand mit wenigen grünen und orangenen, fein geschwungenen Linien eine stilisierte Blume gemalt, die ihre Blüte leicht zur Seite neigt. Darunter steht in überraschend eleganter Schreibschrift Ringelblumensamen und für eine Weile hört man nichts als das Sirren von vorbeifliegenden Bienen und metallisch blitzenden Schmeißfliegen. Wie vom Donner gerührt fällt mir auf, dass ich immer noch die Hacke in der linken Hand halte. In der unerträglichen Hitze weiß ich nicht, was ich fühlen oder tun soll; mein Kopf scheint zum Bersten mit einer übelriechenden, gasartigen Substanz gefüllt. Als mein müder Blick auf den sonnendurchglühten Rasen fällt, sehe ich, wie sich ein einzelner Käfer meinen Füßen nähert. Sein pittoresker Panzer mit dem weißen Muster glimmt in der Nachmittagssonne und seine Beinchen sehen aus wie die langen Wimpern einer Kuh.

Nach den Tomaten werde ich die nächste sein, das ist mir jetzt klar. Aber – ich setze meinen Fuß ein paar Zentimeter nach vorne und vernehme, vielleicht auch nur im Geiste, ein feuchtes Knacken – nicht heute.

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Jannik Lober

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Von einer Flucht

Minaturbuchstaben
wabern auf dem Display,
sie sind monumental und
unaufgeregt.

Erreichen zwei Fremde,
die sich steril anfühlen,
die sich im Nichts anrühren,
die im Smalltalk Brücken schüren
in fantasielose Welten des anderen.

Zwei Fremde
füllen wüste Welten
im Blaufilter auf,
legen Spuren
im Nachtmodus
wünschen sich eine warme Leerstelle für die Nacht,
die nicht bis zum Morgen anhält.
Wir sind
zwei Fremde,
vergraben
in Flüchtigkeit.

Die Abscheu in der Dämmerung,
die nur mir gebührt
wälzt sich
auf dem stoppeligen Stoff deines Sofas.
Der Raum
verschlingt
das Taupe,
Es berührt meine Netzhaut,
die verwundert
ihre Innensicht entblößt.
Alles Verklärte
setzt sich in mir ab,
während deine Zuge niedergeht.
Sie schmeckt nach nichts,
nicht verwunderlich.
Dicht an dich
unsere Körper.

Ich bin mir ferner denn je,
denn ich spüre nur
das Nichts,
Gewebe mangelt es an Textur,
als deine Hände einander aufhetzen
von meiner Schulter bis zur Brust,
von der Brust ins Dunkle hinab.
In mir wetzt sich all das, was sich verbarg.

Derweil entgehe ich mir,
ich hintergehe mich
und fühle mich
wie ein übermütiger Dieb,
der seinem Fall ahnungslos entgegen lacht.
Es bringt auch nichts darüber zu verhandeln, wo wir Dinge in uns vergraben,
dein Atem löscht all die Farben
meiner Demut.
Ich habe sie vor deiner Haustür gelassen.

Erlaube es dir,
dass du durch mich hindurch gewälzt bist,
meine Teilnahmslosigkeit
übermannt mich
zwischen Lenkrad und Kupplung.
Wie schön ist der junge Morgen,
die mich umhüllt.
Die Erkenntnis hat mich erfüllt.
Wie belanglos
der Freitagabend klingt.
Stille hallt nach,
als du dich wegdrehst
und eine Zigarette am Fenster rauchst.

Die Gleichgültigkeit ruht in unseren Nacken,
als sich alles
im graublauen Dampf aufbahrt.
Ich habe mir
Verwunderung für den Nachgang aufgespart,
über meine Ziellosigkeit
stolpere ich in das Schweigen.
Dein Blick straft mich ab,
er baut sich vor mir auf
zu Halden
auf die kurze Distanz der betonierten Straße,
in der offenen Autotür,
erreicht mich Geröll.
Ich habe mir erlaubt,
mich abzulagern,
aber nichts trägt mich
durch unser Aufeinandertreffen.

 

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Dea Sinik

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