freiTEXT | Leonard Merkes

Alles ganz normal

Ich nehme das Buch in beide Hände, lege es auf den Teppich und beuge mich darüber. Mein Zeigefinger bewegt sich von Zeile zu Zeile, immer an den Buchstaben entlang. Meine Lehrerin sagt immer, dass ich das nicht brauche. „Nur mit den Augen“, sagt sie. Aber ich traue ihr nicht. Die Wörter, die ich noch nicht kenne, murmele ich vor mich hin, damit ich mich später besser an sie erinnern kann. Sie würde seufzen, wenn sie mich jetzt sähe. Mir ist das egal. Ich bin acht Jahre alt. Ich lese flüssig und schnell.

In dem Buch vor meinen Knien gibt es viele Bilder. Ich blättere kreuz und quer darin, lese etwas über Masern, Mumps, Röteln und die Anwendung von Wadenwickeln. Die Seiten sind aus dickem, matt glänzendem Papier. Es ist ein Ratgeber über Kinderkrankheiten, den Mama und Papa im Bücherregal im Wohnzimmer aufbewahren. Sie holen ihn hervor, wenn es mir schlecht geht, aber sie nicht richtig sagen können warum.

In einem grün umrandeten Infokästchen im Kapitel über Babys steht, dass der menschliche Körper bei der Geburt zu 95 Prozent aus Wasser besteht, dieser Anteil sich aber im Laufe des Erwachsenwerdens um 25 Prozent reduziert. Warum erfahre ich nicht.

Bekommt der Körper beim Wachsen undichte Stellen? Ich überlege, ob es bei allen möglichen Gelegenheiten aus mir heraustropft. Beim Fußball, beim Einkaufen, wenn ich wütend bin. Vielleicht habe ich ja schon 10 Prozent Wasser verloren. Ich gehe in die Küche und fülle ein großes Glas bis zum Rand. Ich trinke es in einem Zug. Nachher ist mir schlecht, aber ich bin irgendwie beruhigt. Ich fühle mich bei 80 Prozent.

Am Abend steht Papa vor mir, er beugt sich zu mir herab. Sein Gesicht ist ganz nah bei meinem. Er schreit mich an und schüttelt mich. Mama drückt sich gegen die Wand und ruft „Stopp“, aber er hört sie nicht. Etwas muss ihn verärgert haben, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig. Ich glaube er hat es sogar vergessen. Die Spuke läuft ihm übers Kinn. Ich würde sie ihm abwischen, aber das traue ich mich nicht. Um mich herum ist so viel Lärm.

Der Blick aus dem Fenster zeigt ein Großstadtpanorama. Leuchtreklame, Bürogebäude, das Dach des Fußballstadions. In der Ferne vier, fünf Hügel. Die Sonne verschwindet hinter der Müllverbrennungsanlage. In der Dämmerung jagen zwei Spatzen einander, stürzen hinunter Richtung Straße. Auf dem Fensterbrett Erdnussschalen und in der Bierflasche ein paar Kippen. Vor dem Café auf der anderen Straßenseite stehen Teenager, trinken Glühwein und lachen. Wind aus allen Richtungen. Die Teenager rücken näher zusammen. Neben dem Café hält ein Bus, dann die Straßenbahn. Ein Streufahrzeug kriecht durch die Straßen. Sirenen, Lichter. Er öffnet die Wohnungstür, atmen.

Später ist es im Flur wie auf dem Bach hinterm Haus, der seit einigen Tagen gefroren ist, aber jetzt zu tauen anfängt. Vorsichtig drücke ich die Kufen ins Eis. Ich bewege mich lautlos. Auf dem Weg zum Badezimmer drehe ich eine Pirouette, drehe mich im Kreis, immer um die eigene Achse, immer schneller werde ich.

„Was machst du da? Komm geh ins Bett!“ Mama steht im Flur, ein paar Schritte von mir entfernt.  Zwischen uns gibt es eine Stelle, da bricht schon das Eis. Deswegen gehe ich lieber nicht näher heran. Sie wünscht mir noch eine gute Nacht und geht dann ins Schlafzimmer zurück. Ich krieche mit Schlittschuhen an den Füßen ins Bett.

Bevor ich einschlafe, frage ich mich, ob der Körper noch immer Wasser verliert, auch wenn man schon erwachsen ist. Ich will nicht weniger werden, sage ich laut vor mich hin und halte die Tränen zurück.

Seine Hand greift nach dem Fahrschein, der ihm ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn zuschiebt, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwendet und zu tippen beginnt. Das Kuppeldach, die Fassade. Der ganze Bahnhof ist aus Glas. Er schlendert an Donut Shops vorbei, an Nagelstudios, an einem Media-Markt. Ein Mann verkauft in einem winzigen Laden Handyhüllen zum halben Preis. Sein Zug geht erst in einer halben Stunde. Er öffnet das Dosenbier, das er im Supermarkt gekauft hat. Es spritzt beim Öffnen und er hält es weit von seinem Körper entfernt. Durch das Kuppeldach kann man schon den Mond sehen. Er trinkt in kleinen Schlucken, trotzdem läuft ihm Bier übers Kinn. Er wischt es am Jackenärmel ab. Als er auf die Uhr schaut, sind es nur noch ein paar Minuten bis zur Abfahrt und er hastet über die Rolltreppen zum Gleis, das unterirdisch liegt.

Ich springe vom Fünfmeterbrett, die Arme eng an den Körper gepresst. Das letzte, was ich sehe sind meine Füße, wie ich sie zwinge einen Schritt in die Luft zu tun. Danach schließe ich die Augen und halte mir die Nase zu. Fast senkrecht tauche ich ins Wasser ein. Ich bin überrascht, dass es kaum weh tut. Ich schwimme nicht sofort zum Beckenrand, ich schaue mir die Welt von unten an, solange bis ich nicht mehr kann und Luft holen muss.

Er stolpert durch den Gang, schiebt sich am Schaffner vorbei, streift die schwammige Brust, den Bauch, der sich unter der Weste spannt. Er ist unsicher wohin, auf welchen Platz, ob im richtigen Abteil, bleibt stehen, wartet, schaut ins Gepäckfach, nach unten. Vor seinen Augen dunkelblauer Teppichboden, übersät mit schwarzen Quadraten, in unterschiedlichen Abständen, ohne Ordnung.

Ich bin allein. Durch einen Schlauch fließt glasklare Flüssigkeit in meinen rechten Arm. Ich sitze aufrecht im Krankenhausbett. Der Leopard mit dem weichen Fell muss mir beim Schlafen aus dem Bett gefallen sein, ich spüre seine Schnurrbarthaare nicht an meinen nackten Beinen. Ich drehe mich um, ich schaue unters Bett. Außer einem alten Müsliriegel ist da nichts. Mein Arm tut weh. Ich dachte es wäre angenehm, wenn sie etwas in dich hineinfließen lassen, was dich wieder gesund macht, wie der Arzt es gesagt hat. Die Krankenschwester trägt mein Frühstück herein. Ein Becher Joghurt und ein paar Cornflakes, in Plastik verpackt. „Bei wie viel Prozent bin ich jetzt“, frage ich und hebe meinen Arm, aber die Krankenschwester versteht meine Frage nicht und zupft die Vorhänge am Fenster zurecht.

Den Leoparden finden wir nicht. Keiner hat ihn gesehen. Ich sage ok, weil ich fühle, dass ich eigentlich zu groß für ein Stofftier bin. Sechs Jahre bin ich schon. Zum Geburtstag habe ich endlich ein Fahrrad bekommen. Es ist gelb, auf dem Rahmen sind schwarze Punkte drauf. Ein bisschen so, wie beim Leoparden, der einfach verschwunden ist. Nächste Woche will ich nicht mehr mit Stützrädern fahren.

Schnee, der wie Asche leere Felder überzieht, auf Hochhausbalkone und Autobahnbrücken fällt. Ein paar Kilometer weiter wieder geschmolzen ist. Nur noch ein paar Gestalten vor ihm. Versunken in ihren Sitzen, die Hälse geknickt, die Münder schlagen gegen das Glas. Ein Taubheitsgefühl in den Knochen. Seine Tasche liegt neben ihm, die Tasche mit den Sachen, den Klamotten und dem Handyladekabel. In der Zugtoilette schwappt Urin und Erbrochenes.

Papa ist auf dem Stuhl zusammengesackt. Er schluchzt. An der Wand hängt die Landkarte mit Ländern, die es so gar nicht mehr gibt. Jugoslawien Rhodesien, Deutsche Demokratische Republik. Er stammelt, dass er nicht mehr kann. Ich schlinge meine Arme um ihn und flüstere: Aber ich, ich bin noch bei mindestens 89 Prozent.

 

Wo bist du jetzt? Kannst du das nochmal sagen? Die Verbindung ist so schlecht. Zu beiden Seiten durchziehen Fabriktürme die Landschaft, stehen in Gruppen zu dritt oder viert. Dazwischen Silos, groß wie Einfamilienhäuser. Was? Nein, du brauchst mich nicht abzuholen. Überall Flutlichtstrahler, wie Tiefseefische im schwarzen Wasser. Seegras wiegt sich vor dem Fenster. Atmen, schon mal an die Tür treten. Noch zehn Minuten, kurz nach Mitternacht. Von hier an nur noch Vororte.

Mein nackter Körper spiegelt sich in der Milchglasscheibe des Badezimmerfensters. Ich hasse euch. Ich hasse euch sosehr. Ich gehe weg von hier, noch heute mache ich das. Ich balle meine Hände zu Fäusten, ich reiße den Heizlüfter aus der Wand. Aber die Gestalt im Milchglas bewegt sich nicht, sie verschwimmt mit der Fassade des Nachbarhauses und dem Baum, der davorsteht.

Unter ihm Zigarettenkippen und gefrorenes Laub. Fahrradständer links und rechts an der grauverschmierten Plakatwand. Zwei Fahrräder parken in einigem Abstand voneinander. Bei einem fehlt das Vorderrad. Die Sporttasche zieht an seinem Schultergelenk. Vor ihm das Haus, das Dorf. Sonst nichts. Er schlägt einen Bogen über den Platz. Nur ein Snackautomat steht im Weg.

Die Wut ist so groß. Viel größer als du und ich. Sie macht mir Angst. Ich weiß nicht wohin mit ihr, ich halte die Luft an. Mir wird schwindelig. Tage später meldet sie sich zurück, sie steckt irgendwo im hinteren Teil meines Kopfes und beschimpft mich. Ich schlage den Kopf gegen die Wand, ganz fest. Ich hoffe, dass die Wut von der Erschütterung Angst kriegt und ganz weit weggeht.

Über ihm Starkstrommasten. Er klettert durch das Gleisbett, schlägt sich durch eine Böschung, ein Brennnesselfeld, bis er zu einem Schotterweg gelangt. Schrebergärten im Mondlicht, dicht an dicht an die Gleise gedrückt. Die einzelnen Parzellen durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt. Er legt den Kopf in den Nacken. Eine Deutschlandfahne zappelt im Wind.

Im Sommer sind wir in Südfrankreich in einem Ferienhaus, das direkt am Meer ist. Am zweiten Tag wirft Papa Mama einen Spüllappen ins Gesicht. Wasser spritzt mir auf die Zehennägel. „Du dumme Sau“, er hat Schaum vor dem Mund. Mama weicht zurück und schreit ihn an. „So lasse ich mich von dir nicht behandeln“. Ich gehe zwischen Pinien auf und ab. Das Meer ist ruhig und der Himmel ganz klar.

Streusalz unter den Sneakern, knirscht wie Sand zwischen den Zähnen. Vorbei am Wohnblock, wo man die Sozialhilfeempfänger untergebracht hat, die Obdachlosen, die Verrückten. Er zündet sich eine Zigarette an. Fernsehlicht in der oberen Etage. Flackert auf und erlischt. Im Gehen den Rauch durch die Nase blasen, durch den Mund atmen. Wie es ist, wenn die Luft an den Fingerknöcheln zieht.

„Geht niemals zu weit rein, wenn ihr im Fluss baden wollt“, sagt meine Lehrerin immer zu uns, „die Strömung reißt euch sonst mit, auch wenn ihr schon gut schwimmen könnt.

Auf dem Weg zum Bäcker bleibe ich bei einer Pfütze stehen. Mir fällt ein, dass man auch in Pfützen wie diese hier ertrinken kann, wenn man nicht aufpasst, weil man gestolpert ist und hineinfällt und mit dem Gesicht im Wasser liegen bleibt, weil man nicht mehr aufstehen kann. Auch wenn Arme und Beine gar nicht im Wasser sind. Das habe ich in einem Film gesehen.

Auf dem Rückweg fällt mir ein, dass ich Mamas Mohnbrötchen vergessen habe. Zu Hause schüttelt sie nur den Kopf. Ich habe nicht aufgepasst, es tut mir leid, dass ich dich vergessen habe, denke ich. Dass mich der Pfützentod abgelenkt hat, erzähle ich nicht. Meine Socken sind ganz nass.

Ein schmales Geländer trennt ihn vom Wasser. Er spuckt über die Metallstreben hinweg auf einen umgekippten Einkaufswagen. Ein Bach, der im Zickzack durch den Ort führt. Windet sich neben dem Vereinsheim, dem Schießstand, dem Grundschulgebäude. Nicht mal knietief ist die trübe Masse. Brodelnd und schäumend ergießt sie sich in den Fluss am Ortsrand. Im Sommer, zwischen Geröll und Plastiktüten, schwimmen winzige Fische in Schwärmen, nutzen Wasserläufer Oberflächenspannung.

 

Ich zertrümmere meinen Tischtennisschläger an der Kellerwand, ich ramme die Spitze des Füllers, den Papa mir gegeben hat ins Notizheft. Bis die Spitze stumpf und verbogen ist, dauert es nicht lang.

„Du bist ganz erschöpft, du gehst heute nicht zum Spielen raus“, sagt Mama später zu mir. „Komm, lege dich ein bisschen hin. Wir schauen einen Film im Bett“.

Er geht entlang der Hinterhoffassaden. Einer dieser Schleichwege, die vom Bach Richtung Hauptstraße führen. Wenn einem hier einer entgegenkommt, muss man sich zwangsläufig an die Betonwand drücken, mit den Schulterblättern am Graffiti schaben. Im Hinterhof der Metzgerei hört er einen Hund bellen. In seinem Kopf kriechen Erinnerungen Richtung Frontallappen wie durch einen Lüftungsschacht. Fast alle Fassaden sind mit Efeu bedeckt. Bloß nicht zu schnell hintereinander atmen. Er überquert die Hauptstraße bei der zweiten Ampel, die ihm entgegenkommt. Der Teer ist noch frisch. Körnig, durchlässig, er glitzert im Bogenlampenlicht. Wie wenig es jetzt zählt, was man in der Zeit gemacht hat, seitdem man von hier fort gegangen ist.

Bei den Partys von Mama und Papa tanze ich zu „Lady Marmelade“ und singe „voulez vous coucher avec moi“, auch als mir jemand erklärt, was dieser Satz bedeutet. Die Erwachsenen schauen zu mir herüber, kichern und lachen. Diese Art von Aufmerksamkeit gefällt mir. Ich tanze um die schönste Freundin meiner Mutter herum.

 

Einen ganzen Vormittag lang bin ich bei einer Frau, die ein Zimmer voller Spielsachen hat. Ich klettere in einer Burg herum, die eine Rutsche hat und verstecke mich hinter einem Bären, der doppelt so groß ist wie ich. Die Frau stellt mir Fragen, die ich mit Ja oder Nein beantworten muss.

Das lenkt beim Spielen ab. Ich nehme ein Gewehr aus Holz in die Hand. Ich weiß nicht, wann welche Antwort die richtige ist. Wild schieße ich in die Luft. Der Schweiß läuft mir über die Stirn.

 Ich frage, ob sie ein Glas Wasser für mich hat. Das mit den Prozenten behalte ich für mich.

Regelmäßig stelle ich mir meine eigene Beerdigung vor. Eine Menschentraube steht um das Grab herum. Mama, Papa, Menschen aus dem Dorf, die ich nur vom Sehen kenne.

Von unten beobachte ich sie, ich kann durch den Sarg hindurchsehen. Alle weinen bitterlich. Sie schluchzen „Warum?“ und fühlen sich schuldig an meinem Tod. Das sehe ich genau.

In der Mitte des Dorfes gibt es einen Platz mit Kopfsteinpflaster, einer Eisdiele, einer Kirche, einer Bank. Im Dunkeln werfen nur die Bogenlampen einen Schatten. Einmal im Jahr Schützenfest, Kirmes. Im Viervierteltakt über den Platz. Die Arme zittern, der Mund trocken. Die Tasche trommelt gegen die Kniekehlen. Er plustert sich auf. Schauen, ob man noch atmen kann in diesem Dorf.

Einmal packt mich Papa in eine Wolldecke, setzt mich in den Bollerwagen, zieht mich durch den Kies beim Parkplatz am Fußballplatz bis zu unserem Haus. Es ist windig und sehr kalt, aber trocken. Ich bin stolz, wir haben gewonnen. Später verbrenne ich mich an der Suppe, die Mama gemacht hatte. Am Abend ist die Zunge immer noch ganz rot und geschwollen, aber das ist wegen des Fiebers und der Lungenentzündung, die ich bekomme.

Sogar Papa bleibt so lange zu Hause, bis ich wieder in die Schule kann.

 

Hab dir Suppe warm gemacht, falls du noch Hunger hast. Er denkt: Arschloch. Schaut wieder vom Handy auf, atmet. Noch diese Straße und dann die nächste rechts und dann ist da schon das Haus. Er wirft sich die Tasche über die Schulter. Er spürt das Gewicht der Tasche. An den Sehnen und Muskeln, wie sie sich dehnen. Wie sie fast reißen. Ein Schmerz. Den wegatmen, den Schmerz. Langsam. Die Häuser sehen alle gleich aus. Noch eine Zigarette anzünden im Licht der Bogenlampe. Kein Geschmack im Mund, nur ein bisschen Rauch. Da vorne ist schon die Villa, da band sich der Arzt einen Strick um den Hals. Im Vorgarten steht das Gras jetzt bis zu den Hüften. Eine Katze schaut ihn an, gelbe Monde im Gebüsch.

Schatten erst wieder im Licht der Bogenlampen.

Mama liegt den ganzen Tag im Bett. Ich weiß nicht warum, aber ich entschuldige mich. „Sorry, tut mir leid, wirklich“. Aber sie dreht sich bloß weg. Eine Weile bleibe ich im Türrahmen stehen und starre auf das Glas neben dem Bett. Dort schwimmen Fliegen im Rotweinrest, Rücken an Rücken, alle Viere von sich gestreckt.

In wenigen Schritten am Park vorbei. Er kann die Bäume zählen. Sechs Stück. Wie eine Schlägertruppe um die Schaukel, die Wippe und die Parkbank. Er leckt sich über die aufgesprungenen Lippen, läuft ein bisschen durchs Gras, feucht. Er spuckt aus, so viel Wasser im Mund. Er tropft über den Asphalt. Wie schwer ihm das Atmen fällt. Sich Kiemen wachsen lassen.

Papa drückt mein Gesicht in die Kissen. Ich wehre mich mit Händen und Füßen. Dann nimmt er mich in den Schwitzkasten. „Noch ein, zwei Jahre und ich bin stärker als du“, ächze ich unter dem Druck und weiß noch im selben Moment, dass das nicht stimmt.

Scheinwerferlicht, ein Auto fährt an ihm vorbei. Er blinzelt, blind fühlt er sich, biegt trotzdem nach rechts. Die Straße ist schnurgerade, ein langer Korridor. Da durch gehen. Der Himmel auf die Häuser gelegt, wie eine Schieferplatte. An den Mülltonnen vorbei, die vor jedem Haus stehen. Die letzten Meter Kraul. Luft anhalten, da rein schwimmen.

Ich schließe den Koffer mit den silbern glänzenden Schnappverschlüssen und dem Bild eines Hasen mit großen Schlappohren darauf. Er ist vollgepackt mit allerhand Klamotten, Gummibären und einer großen Flasche Wasser. Ich schleppe ihn bis zum Ortsrand, bis ein Traktor neben mir hält. Ein Mann beugt sich aus dem Führerhaus und fragt mich, wohin ich denn wolle, so ganz allein. Obwohl ich es mir anders vorgenommen habe, weine ich. Mit dem Traktor werde ich bis zur Haustür gebracht. An der Türschwelle nimmt Mama mich in Empfang. Sie hält mich so fest, dass ich kaum noch atmen kann und knutscht mich ab. „Lass das“, sage ich. Ihre Küsse bedecken meinen ganzen Kopf. Dann geht sie in die Hocke und schaut mich an. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände und wiegt es nach links und nach rechts. „Mein Kind“, sagt sie und sonst sagt sie nichts.

 

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Leonard Merkes

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freiVERS Spezial | Liza Wandermaler

Eine dunkle Nacht

Sonettenkranz

Die Äste des Schneeballstrauches beugten sich.
Mama, zu wem haben wir gebetet?
Wie viele deiner Kinder wird er noch wegnehmen –
der Krieg, der nicht deiner ist?

(Okean Elzy, „Nicht dein Krieg“, 2016)

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I

In den Kirchen verglühen die Kerzen
Und die Kornfelder gehen ein.
Nur der Fallende weiß allein,
Wie Soldaten die Glieder schmerzen.

Und die Monate gehn dahin,
Warme Nächte erlösen die kalten.
„Kind, dich holen die Nachtgestalten,
Wenn du rätselst nach Zweck und Sinn.

Lass dich nicht von den Schüssen stören,
Press das Spielzeug an deine Rippen.
Bald ist wieder der Wind zu hören…“

Doch am Ende des endlosen Tags
Flüstern Söhne aus trocknen Lippen
Und die Mütter verweinen das Wachs.

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II

Und die Mütter verweinen das Wachs
Und verbluten das Herzenseisen.
Morgen sollen die Züge entgleisen
Zu der Feier des Zick- und Zacks.

Dann zerbricht man die runden Brücken,
Alle Ellbogen, jedes Knie
Und dann zieht man so stark wie nie
In den Krieg auf den Zacken-Krücken.

Auch die Augäpfel drückt man platt,
Um nicht nochmal die Tat zu sehen,
Die man gestern begangen hat.

Und die Ältesten beten: „Pax!
Bitte lass sie im Nichts zergehen
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks.“

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III

Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks
Überschreibt man die Weltgeschichte:
Helden-Oden und Fest-Gedichte
In dem Futter des Leichensacks;

Kinder winken mit Stoff-Servietten
Dem Gespenst auf dem roten Thron;
Männer krächzen ins Mikrofon
Und versprechen, die Welt zu retten.

Diesen Film hab ich schon gesehen.
Schalt ihn aus oder spul zum Schluss!
Doch man kann ihn nicht schneller drehen

Und das Band ist nicht auszumerzen.
Schon mit einem erstickten Schuss
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen.

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IV

Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen?
Frag die Mutter am Kindesgrab.
Schau aufs brennende Dorf hinab
Mit den rauchenden Häuserkerzen.

Frag dein eigenes Spiegelbild,
Wenn du Mut hast, dich anzuschauen,
Doch das wirst du dich lang nicht trauen
Und du wünschst dir, du wärest blind.

Niemand schreibt dir und ruft dich an,
So, als seiest auch du gestorben,
Wenn dein Geist das noch immer kann.

Und du suchst nach dem Schein-Indiz
Und du flüsterst: „Wir durften doch morden…“ –
Es bezichtigt ein roter BlitZ.

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V

Es bezichtigt ein roter BlitZ –
Das zerrissene alte Wappen –
Die Bedeutung der Schulterklappen
Und die Freiheit der Selbstjustiz.

Also ziehst du die jungen Frauen
In die Zimmer mit Dämmerlicht.
Und man findet sie lange nicht,
Bis die Schneehaufen schließlich tauen.

Dann verlässt du die toten Wände,
Gibst den Kindern den letzten Rest
Und erlaubst dieser Nacht ihr Ende.

Doch der Mond ist entstellt und dunkel,
Schaut dein Werk an und beißt sich fest
An der faulenden Himmelskuppel.

.

VI

An der faulenden Himmelskuppel
Waren Sternbilder angebracht.
Jemand hat sie kaputtgemacht
Und die Nächte sind hohl und dunkel.

Und die Nächte sind kalt und leer;
Keine Fenster im Bunkerkeller.
Und die Tage sind nicht viel heller,
Ganz als gäbe es keine mehr.

Schon sind Kinder darin geboren –
Kriegeskinder der dunklen Zeit,
Zarte Irrlichter in den Mooren.

Doch das reicht nicht dem Seelenkrüppel,
Denn sein Hunger ist schwarz und weit,
Wie ein uralter Gummiknüppel.

.

VII

Wie ein uralter Gummiknüppel
Fließt der Fluss seinen schwarzen Lauf.
An den Ufern gehn Feuer auf,
Weiber sammeln das Stepp-Gestrüpp, hell

Übergeht die zersprengte Nacht
In die nächste und übernächste.
In den Trümmern der Blutpaläste
Planen Affen die nächste Schlacht,

Schlagen blindlings die Köpfe ein,
Schreien Flüche und schmeißen Steine
Und bepissen das eigne Bein.

Und vom obersten Lagersitz
Keift ihr Führer durch Brutgebeine
Vom berechtigten Grundbesitz.

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VIII

Vom berechtigten Grundbesitz
Hast du Märchen als Kind gelesen.
Und du bist fasziniert gewesen
Von der Inschrift des Blutgranits.

Überzeugt davon, Recht zu haben,
Unbesiegbar und frei zu sein,
Tratst du stolz in die Reihen ein,
Die mit Würde und Weihe warben.

Doch nun scheint dir, man log dich an,
Denn es brennen die weißen Tücher
Und man lügt, wer den Brand begann.

„Geht das etwa schon jahrelang?“
Das bezeugen die fremden Bücher
Und es spiegelt der Klagenklang.

.

IX

Und es spiegelt der Klagenklang
Wie ein Echo die alten Lieder.
Man erholt sich und donnert wieder
Wie ein rastloser Bumerang.

Viel zu alt, um Vernunft zu erlernen,
Also geht man den alten Weg
Und bekräftigt das Sakrileg,
Um das letzte Stück Mensch zu entfernen.

Doch wie lange wird das noch gehen?
Bald fegt nur noch der stille Wind
Durch die grauen Betonalleen.

Doch solange wir hier verharren,
Wird zerstört, denn gedenk: wir sind
Jene Endzeit vor achtzig Jahren.

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X

Jene Endzeit vor achtzig Jahren –
Der zerberstende Höllenzug –
Hat sie scheinbar noch nicht genug
Überzeugt und entsetzt. Sie fahren

Wie berauscht durch die schwarze Nacht
Ohne Bremsen und ohne Schienen,
Stur entschlossen, der Nacht zu dienen
Und dem Ding, das aus ihr erwacht.

Und, erleuchtend die Mordmission,
Zittert oben das dunkle Omen.
Man erwartet die Endstation.

„Wie lang fahren wir?“ „Nicht mehr lang…“
Man muss nur durch die Leichen kommen
An den Ufern der Zeit entlang.

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XI

An den Ufern der Zeit entlang
Schleichen dürre Gestalten… Feuer!
Schau genauer hin. Siehst du – Feuer!
– den entkräfteten, seichten Gang?

Fest der Zombies, der Totenzug…
Und sie singen schon wieder – Feuer!
Die verschimmelten Hymnen – Feuer!
Über Schwindel und Selbstbetrug.

Und sie tanzen im Blumenmeer,
In der Mitte der Menschenherde,
Schwingen lachend das Sturmgewehr…

Und nicht weit von der Fahnenpracht
Fällt ein Mann auf die harte Erde.
Jemand schreit, es sei ausgedacht.

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XII

Jemand schreit, es sei ausgedacht…
Und ich möchte die Welt zerfetzen,
Doch es hängt über allen Plätzen
Diese klebrige Lügen-Nacht.

Sie klebt Lider und Ohren zusammen
Und sie bindet dir Hand an Hand.
Und sie flüstert: „Verehr dein Land,
Sonst zerfleischen dich meine Flammen.“

Also sprichst du mit keiner Seele,
Untersagst dir das Telefon
Und befolgst alle Nacht-Befehle.

Und es ändert sich nichts seit Jahren:
Jemand brennt in der Nacht davon,
Jemand will nichts davon erfahren.

.

XIII

Jemand will nichts davon erfahren,
Jemand rechnet die Toten aus.
Mancher packt und verlässt sein Haus,
Um zum Höllentor hinzufahren.

Mancher fängt die Geschichten ein,
Manche schließen sich ein und weinen.
Manche wollen die Tat verneinen.
Mancher wünscht sich, im Kern zu sein.

Jemand ist nur ein kleines Kind.
Jemand denkt an die Lebensscherben.
Jemand schweigt nur und trinkt Absinth.

Jemand wünscht sich ein wenig Macht.
Einer lächelt und lässt sie sterben.
Es beginnt eine dunkle Nacht.

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XIV

Es beginnt eine dunkle Nacht.
Man verwehrte der Sonne zu scheinen:
„Zu viel Gelb auf den blauen Leinen.“
…Also hat man sie umgebracht.

„Mama, wann sind die Monster weg?
Warum müssen wir uns verstecken?“
„Kind, dich holen die Schatten-Schrecken,
Wenn du rätselst nach Sinn und Zweck.

Lass dich nicht von den Schüssen stören.
Ihre Taschen sind einmal leer
Und der Morgen wird uns gehören…“

Doch es fröstelt in Kinderherzen
Jede Stunde ein Stückchen mehr.
In den Kirchen verglühen die Kerzen.

.

XV

In den Kirchen verglühen die Kerzen
Und die Mütter verweinen das Wachs.
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen.

Es bezichtigt ein roter BlitZ
An der faulenden Himmelskuppel
Wie ein uralter Gummiknüppel
Vom berechtigten Grundbesitz.

Und es spiegelt der Klagenklang
Jene Endzeit vor achtzig Jahren
An den Ufern der Zeit entlang.

Jemand schreit, es sei ausgedacht;
Jemand will nichts davon erfahren.
Es beginnt eine dunkle Nacht.

 

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Liza Wandermaler

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freiVERS | Kameliya Taneva

bildende kunst

erster versuch: ton-
plastik. weitere schichten auf
-tragen, -kleben, -bauen. doch
jedes anständige tonmonster
muss seinen schöpfer
erwürgen.

wenn du überlebt hast,
versuchst du es erneut:
steinskulptur. du fängst an ab-
zutragen: du kratzt, du pellst alle
messgeräte vom leib des lebens weg, uhren,
metronome, navigationssysteme. du brichst
mit der überflüssigkeit, mit der über-
schwere bis ein nacktes, mageres
glück, eine handvoll groß,
deine fingerspitzen wärmt.

 

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Kameliya Taneva

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freiTEXT | Malte Grotendorst

Sich selbst als Content begreifen

Eine gekürzte Version dieses Textes erschien – zusammen mit weiteren Texten zum Thema – in der mosaik37.

Manchmal schaue ich mir die Bilder auf meinem Instagram-Profil an und hoffe, dass das, was ich dort sehe, möglichst auch dem entspricht, wie Menschen mich analog wahrnehmen: Der relatable Typ im bunten Wollsweater mit der cuten Katze auf dem Arm, oder mit Seidenhemd bei 35 Grad in der U-Bahn, beim Versuch, die Kamera gleichzeitig zu ignorieren und mit ihr zu interagieren. Meine Identität kommt mir dann vor wie eine Projektion oder eigentlich sogar eine Hoffnung: Das Selbst ist nicht einfach nur irgendwie da, sondern ich will es gestalten. Die verschiedenen Bilder von mir stehen nicht nur für das, was ich sein will, sondern sie sind das, was ich bin. The filter is the face.

Im Essay “Fear of Content” schreibt Rob Horning, dass wir online ständig Gefahr laufen, uns selbst zu Content zu machen: “The self is a content farm.” Wenn ich auf Instagram poste, dann werde ich literally Content; aber ich glaube, auch analog—oder, um diese Trennung einfach mal aufzugeben: generell kann man die eigene Identität als Content betrachten, als etwas, das produziert und gestaltet wird.

Die Mechanismen, die auf Social Media so obvious sind, funktionieren auch anderswo: Mein Selbst wird produziert, von mir und von anderen; also von den Umständen, in denen ich lebe. Es entwickelt sich mit der Zeit und ändert sich je nach Kontext: Auf Instagram bin ich anders als auf Twitter; in der Schlange, um Snacks zu kaufen, anders als in der Schlange vorm Club. Wie aller Content folgt dabei auch der Content, der meine Identität ist, den Konventionen bestimmter Genres. Das bekannteste Genre ist dabei das des wirklichen Selbst, der authentischen Identität: “When I am trying to be true to myself, I turn ‘myself’ into a genre, with readily recognizable and repeatable tropes. I can never be authentic, only authentically generic”, sagt Horning.

Ich glaube allerdings, dass das Selbst kein original content ist, also zumindest nicht im Sinne von etwas noch nie Dagewesenem. Es ist eher eine Mischung aus bekannten Mustern und Eigenschaften, das Ergebnis von Inspirationen: das sind die Genres, denen ich folge und die mich beeinflussen.

Zu einem Genre zu gehören, das klingt nach Enge, nach Dingen, die erlaubt sind und solchen, die man nicht tun sollte: “‘Man muss’, ‘man darf nicht’ - das sagt ‘Genre’, das Wort ‘Genre’, die Figur, die Stimme oder das Gesetz des Genres” (Jacques Derrida). Aber dieses basic Verständnis von Genre, schreibt Derrida, ist eigentlich nur die Hälfte dessen, was Genres sind: Das Gesetz des Genres, das mir Vorschriften macht und Grenzen setzt, kann immer nur zusammen mit einem Gegen-Gesetz existieren, das die gesetzten Vorschriften und Grenzen wieder überschreitet. Das Muster kann es nur dann geben, wenn man es manchmal reproduziert und manchmal nicht, schon alleine deshalb, damit man es von allem anderen unterscheiden kann.

Genres generieren keinen verlässlichen Output, sie operieren nicht durch copy & paste. Der Modus des Genres, zumindest wenn man es wie Derrida versteht, besteht im Wiedererkennen und Verfremden, in Wiederholung und Veränderung. Genres sind keine Maschinen und Fliessbänder, sondern Meme-Templates, die sich mit jedem Zitat verändern, die niemals wirklich greifbar sind. Genres sind nicht authentisch, sondern inkohärent, fluide und random.

Content ist ein schwieriger Begriff. Content, oder das deutsche Äquivalent Inhalte, steht eigentlich für einen völlig entleerten ästhetischen Ausdruck: “Content on the internet is pure form”, schreibt Horning. Content, in diesem Sinne verstanden, dient nur einem äusseren Zweck, nämlich einer quantitativen Maximierung von views, interactions oder conversions. Aber Content kann sich diesem Zweck auch ganz oder zumindest zum Teil entziehen: Dann, wenn er eine Qualität (und die kann natürlich immer nur subjektiv sein) als ästhetischer Ausdruck annimmt, die über die quantitative Maximierung hinausgeht, sie ignoriert oder sogar unterläuft. Diese Art von Content, für den vielleicht das Label Post-Content besser passen würde, findet sich in Memes, hyperironischen Tweets oder eigentlich jeder Art von Beitrag, die die komplett kommerzialisierte Struktur dieser Plattformen der Gegenwart zwar mangels Alternativen nutzt, aber ihre Motivation der quantitativen Maximierung nicht teilt.

Content bedeutet, die Möglichkeiten für ästhetischen Ausdruck zu multiplizieren. Ich kann Identitäten erschaffen und verwerfen, ich kann sie spalten und verschmelzen. Alles ist irgendwie immer veränderbar und fluide. Content ist allerdings nie absolut. Die Möglichkeiten sind nie unbegrenzt, weil Identitäten immer von aussen bedingt sind. Hannah Arendt schreibt: “Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. Darum sind Menschen, was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen.” Bedingtheiten sind ein fact of nature, sie kommen irgendwie über uns, aber nicht nur: “Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur.” Bedingtheiten entstehen auch durch mein Handeln, durch das Handeln anderer und das, was wir zusammen tun.

In Weltentwerfen schreibt Friedrich von Borries über das Verhältnis von Entwerfen und Unterwerfen in der Gestaltung: “Alles, was gestaltet ist, unterwirft uns unter seine Bedingungen. Gleichzeitig befreit uns das Gestaltete aus dem Zustand der Unterwerfung, der Unterworfenheit.” Von Borries spricht über Design und genau deswegen passt es, glaube ich: Content erlaubt uns das Design unseres Selbst, auch ausserhalb spätkapitalistischer Vorstellungen von Maximierung und Optimierung. Wenn ich Identität als Content betrachte, dann wird sie eben zum Gegenstand von Gestaltung, durch mich und durch andere. Content befreit nicht aus allen Bedingtheiten, aber weil er so random ist und weil er so fluide ist, schafft das Entwerfen des Selbst als Content oder in Content Möglichkeiten, die Bedingtheiten, die für mich und andere gelten, zu verändern, und mich (mehr oder weniger) aus ihnen zu lösen. Natürlich schafft auch Content, wie alles Gestaltete, neue Bedingtheiten. Aber auch sie sind flüchtig und random.

Die Möglichkeiten, sich aus einer Bedingtheit zu lösen, sind immer umso grösser, je privilegierter jemand ist. Marginalisierungen sind Bedingtheiten, denen man sich nie ganz entziehen kann. Doch Identitäten als Content zu betrachten, macht es möglich—glaube ich, denn ich kann nur von aussen darauf schauen—Orte zu schaffen, an denen die Marginalisierungen an Schwerkraft verlieren.

Im Manifest Glitch Feminism schreibt Legacy Russell über das emanzipatorische Potenzial, das das Internet für queere Körper und Identitäten—auch AFK (away from keyboard)—hat. Als queere Schwarze femme Person, sagt Russell, erinnert die Welt sie ständig an diese Identitäten. Die Chatroom-Persona LuvPunk12 dagegen kann in ihrer Performance das Konzept weiblich verwandeln, das Konzept Mann erkunden und das Konzept Frau erweitern. Auf diese Weise Content zu produzieren, heisst für Russell, neue Identitäten zu schaffen, indem man verschiedene Körperlichkeiten anlegt und wieder ablegt.

Die Paradigmen des Content sind die Tools der Emanzipation: Die Story (oder der Snap) betonen die randomness, die Content ausmacht. Ich kann etwas posten und spätestens nach vierundzwanzig Stunden ist es weg. Ich kann etwas sein oder darstellen, so lange ich will und auch einfach wieder damit aufhören. Ich muss mich nicht für das Eine oder das Andere entscheiden.

Durch Filter kann ich das, was ich darstelle, fast beliebig ändern. Alles ist veränderlich, nichts ist endgültig. Es gibt keinen Kern, kein eigentliches Ich, das ich darstellen muss: Jede Identität ist ein Filter.

Lip-Syncing zeigt, dass Content immer über den Bezug zum Anderen funktioniert, in dem man sich nicht verliert, sondern das Material für die eigenen Identitäten findet: “We are not empty signifiers, however, we are not dead-end hyperlinks” (Russell).

Es ist allerdings etwas ironisch, dass die tatsächliche Ideologie des Content relativ oft trotzdem eine des “be yourself” ist. Auf Tinder suchen die meisten entweder nach echten [insert cisgender identity] oder, wenn die Postmoderne etwas stärker gehittet hat (also auf OkCupid), nach authentischen Begegnungen. Jede Instagram-Ad verspricht mir eine authentische Erfahrung. Ein Anspruch von Authentizität ist so ein basic Element von Content, dass man darüber eigentlich nichts mehr schreiben muss.

Der schlechte Ruf von Content kommt auch daher, dass er diesem Anspruch extrem offensichtlich nie gerecht werden kann. Dahinter steht die Vorstellung, es gäbe ein echtes Ich, eine Essenz, die der Content ausdrücken und darstellen soll. Daher kommt die Enttäuschung, wenn er obviously an dieser Aufgabe scheitert: “Everything that is turned into content is extruded from the self and ceases to be a part of it; from this view it is all inauthentic, merely useful, so much signaling” (Horning). Aber Content ist eben kein fehlerhafter Ausdruck einer echten Identität. Die Identität ist halt Content.

Content, der versucht etwas auszudrücken, was nicht da ist (weil es im Content selbst sein müsste), ist tatsächlich leer. Deswegen bringt das Genre des authentischen Selbst eben nur eine entleerte Art von Content hervor, etwas, das “authentically generic” (Horning) ist. Ich glaube, es ist gerade diese Leere, die Menschen dazu bringt, Content zu hassen. Sie versuchen noch authentischeren Content zu produzieren und entleeren ihn dabei noch mehr. Es geht immer so weiter.

Authentizität will absolut sein, nur sie selbst, sie bewegt sich deshalb ins Totalitäre. Content ist relativ, er funktioniert nur über das Zitat, also prinzipiell den Bezug zum anderen. Er ist random, was nicht heisst, dass er irrelevant ist, aber er ist eher low-stakes: Das Leben als Content ist etwas anderes, als das Leben als Kunst zu sehen. Identität als Content zu betrachten, heisst, so eine Art entspannten, wavy Ästhetizismus zu embracen, der die Zeichen- und Formhaftigkeit der Welt erst einmal appreciatet und schaut, was man—abseits irgendwelcher spätkapitalistischen Optimierungs- und Maximierungsvorstellungen—damit machen könnte. Im Prinzip bedeutet es, Mallarmé so zu interpretieren, dass alles auf der Welt existiert, um Content zu werden.

Bei Mallarmé steht allerdings: “Alles auf der Welt existiert, um in einem Buch zu enden” (“Tout, au monde, existe pour aboutir à un livre”). Wenn man Identität als Content betrachtet, dann sieht man die Welt genauso ästhetisch, aber nicht so endgültig. Content ist, weil er random und fluide ist, immer veränderlich; gleichzeitig ist er immer auf anderes bezogen und kann niemals komplett losgelöst existieren: er definiert sich über ein dialektisches Verhältnis von Veränderlichkeiten und Bedingtheiten, also die widersprüchlichen Gesetze des Genres, der Regel und ihrer Überschreitung.

Content ist letztendlich ein Spiel, aber eines, das man aufrichtig und ernsthaft spielen kann. Ich habe jetzt lange versucht, nicht das Wort “subversiv” zu gebrauchen. Ich mag das Wort nicht, weil ich das Konzept von Subversität als relativ schlicht empfinde. Aber der Gedanke, dass es ein subversiver Akt ist, Identität als Content zu produzieren, drängt sich schon irgendwie auf. Es bedeutet aber gerade nicht, Leuten mit Wasserpistolen ins Gesicht zu spritzen für die Revolution oder so. Content ist komplexer, er ist manchmal dagegen und manchmal affirmierend und meistens beides. Identität als Content zu sehen, heisst, das Gute oder das Schöne—oder was immer man sehen und darstellen möchte—eher über das ironische Zitat zu erreichen als über die Illusion, einsam vor einem reinen, leeren Blatt sitzen zu können, das darauf wartet, beschrieben zu werden.

Leben als Content: Das heisst das Veränderliche im Bedingten zu erkennen, bis hin zu dessen Überwindung.

Quellen:
Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart, Kohlhammer, 1960.
Jacques Derrida. Gestade. Herausgegeben von Peter Engelmann, Wien, Passagen Verlag, 1994.
Rob Horning. “Fear of Content.” dis magazine. http://dismagazine.com/disillusioned/78747/fear-ofcontent-rob-horning-2/.
Russell Legacy. Glitch Feminism. A Manifesto. Verso, 2020.
Friedrich von Borries. Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie. Berlin, Suhrkamp, 2019.


freiVERS | Ilona Häring

An einem Tag,
an dem das Hirn ein Weichteil
und
der Nacken Knochen ist,
sollte man
nicht auf das Konto schauen.

An einem Tag,
an dem nichts auf dem Konto ist,
sollte man
keine Bilanz ziehen.

An einem Tag,
an dem die Bilanz rot ist,
sollte man
schleunigst
den Hund nehmen und in den Wald stoben.

In einem Wald
mit Hund und mir
rückt das Grün das Rot ins Schwarz.
Zahlt die Luft mit Wunschgeld ein.
Baut der Baum ein Rückgrat auf.

An einem Abend im Wald
sollte man
ein warmes Feuer machen.

 

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Ilona Häring

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POEDU - Text des Monats Mai

Du Laternenpfahl ganz unten

Du Bürgersteig am Stiel

Du Globuskopf ohne Länder

Du Meer ohne Land

Du Kloinhalt als Burgersauce

Du gemixt braunes Klopapier mit Gartenschlauch

Und Rosenbuschsmoothie

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Wim

(11 Jahre alt)

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POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe diesmal kam von Tim Holland:

Du Maulwurf beim Weitwurf! Manchmal muss man einfach fluchen. Aber wie langweilig und auch doof sind die bekannten Schimpfwörter – wir brauchen neue! Schreibe eine Liste mit deinen neuen Flüchen, Schimpfwörter und Verwünschungen.

 

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freiTEXT | Marcel Pollex

Die perfekte Montage

So trafen sich Vater und Sohn – deren Beziehung schon immer distanziert gewesen war, sie interessierten sich nicht für das Leben des Anderen, hatten einander nichts zu erzählen, und machten sich gegenseitig dafür verantwortlich, dass ihr Leben nicht so war, wie es hätte sein können – zufällig in einem Baumarkt, den der Sohn aus einer Notwendigkeit heraus hatte aufsuchen müssen, in der vergangenen Nacht war ihm im Schlafzimmer ein Regalbrett von der Wand gefallen, das er da so hingepfuscht hatte, er wäre beinahe im Schlaf von einem Buch erschlagen wurden, wegen seiner handwerklichen Unfähigkeit, während sein Vater aus reinem Vergnügen dem Baumarkt einen Besuch abgestattet hatte – er hatte nichts zu reparieren, alle Regalbretter waren sicher montiert und alle Möbel fest verschraubt – er genoss das Flanieren durch die hohen Gänge, kannte alle Dinge und ihre Verwendung und die unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Die beiden erkundigten sich nicht nach dem Wohlbefinden des Anderen, der Sohn fragte seinen Vater nicht nach der Gartenarbeit und der Langeweile der Pension, und der Vater fragte seinen Sohn nicht nach seiner aktuellen Freundin oder seinem unverständlichen Job. Weil er nichts Besseres anzustellen wusste, fragte der Sohn seinen Vater, ob der ihn bezüglich der Montage des Regalbrettes beraten könne, das ihm in der Nacht von der Wand gefallen war und ihn beinahe erschlagen hatte, und der Vater erklärte seinem Sohn darauf das Handwerk und damit die Welt, was die Dinge zusammenhält, führte ihn durch die Gänge, zeigte ihm Holz und Metall, erzählte, wie man die Dinge zusammführt, sprach von der perfekten Montage. Zum Abschied gaben sie einander die Hand, und der Vater klopfte seinem Sohn auf die Schulter. Nicht gänzlich ohne Stolz brachte der Sohn noch am gleichen Tag das Regalbrett an die Wand, und als er in der Nacht davon erschlagen wurde, erwachte zur gleichen Zeit sein Vater aus dem Schlaf, der raus auf die Terrasse ging und in die Dunkelheit starrte, darüber nachdachte, am nächsten Tag die Eiche zu fällen.

 

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Marcel Pollex

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freiVERS | Carl Ensom

insel der möwen

ich habe deine forderungen verstanden
an die landschaft, die wilden möhren,
die disteln und die schreienden kraniche

jetzt komm und leg die ohren
auf das kissen, du willst nicht hören
wie ich die hasen rufe

dort am wasser, wo die schiffe landen
und jeden tag bringen, was die insel
nicht hergibt

so hast du mich hergebracht
hast mich in das gelbe gras gestellt
unter dunklen walnussbäumen

ich habe gelacht
selbst noch als du unter tränen
in den büschen lagst
faules obst im mund

ich hatte vergessen, wie es ist
über kreuze zu wandern
über zugefrorenes wasser
über nackte haut

jeden morgen kamst du
an das ufer, die schwingen
schwer wie blei

erst die lieder der frauen
die hier ihre männer waschen
haben deine last genommen
haben dir den magen gefüllt

ihre angst tropft aus vielen poren
auf dein fell hinab, du pickst
das salz von ihren stirnen

wie oft hast du versucht
in sie hineinzusehen?

dabei habe ich dich beobachtet
im gras, den blick starr
auf die wolken gerichtet

wir haben ihnen namen gegeben
sie haben geleuchtet
wie das rot der sonne

du wolltest wie die wolken sein
hast mich zurückgelassen
hier, wo ich deinetwegen war
auf der insel mit deinem namen

 

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Carl Ensom

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freiTEXT | Peter Zemla

Der Schrank

Entschuldigen Sie, dass ich flüstere. Aber sie ist gerade an meiner Schulter eingeschlafen. Sie atmet so gleichmäßig und tief, dass ich sicher auf Ihr Verständnis zählen kann, wenn ich diesen Zustand nicht unnötig gefährde. Zwangsläufig dringt meine Stimme durch die geschlossene Schranktür nur gedämpft nach außen. Wenn ich, was ich zu sagen habe, nun auch noch in reduzierter Lautstärke vorbringe, muss das für Ihre Aufnahmebereitschaft eine besondere Anstrengung bedeuten. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie eine solche Anstrengung auf sich nehmen. Nicht jeder würde für einen in den Schrank Zurückgezogenen solches tun. Es wäre nur allzu verständlich, wenn der draußen Stehende, der sein Ohr gegen die Schranktür presst, abwinkt und dann eben nicht sagt und davongeht. Sie gehören nicht zu diesem Schlag Mensch. Sie haben Verständnis.

Was mich zu dieser Annahme veranlasst, mögen Sie sich fragen. Ich weiß, dass Sie wissen, dass ich das Schlüsselloch in der Schranktür mit einem Papiertaschentuch ausgestopft habe. Ich kann Sie nicht sehen, nicht einmal Fragmente von Ihnen. Wie also soll ich jemanden einschätzen, den ich noch nie gesehen habe? Ich versichere Ihnen, dass es weitaus verlässlichere Beurteilungskriterien gibt als die vom Augensinn gelieferten Daten.

Möglicherweise ist das ein Grund, warum ich mich in den Schrank zurückgezogen habe. Möglicherweise habe ich geahnt, mehr intuitiv gespürt als gewusst jedenfalls, als ich in den Schrank hineingegangen bin, als ich mich dem Schrank anvertraut habe, dass im Schrank andere Voraussetzungen herrschen als außerhalb des Schrankes. Dass, was ich im Schrank vorfinden werde, mir gemäß sein wird. Dass ich gewissermaßen aufleben kann im Schrank, was mir außerhalb des Schrankes nicht möglich gewesen ist.

Und dabei, das möchte ich betonen, habe ich nicht ansatzweise daran gedacht, als ich mich entschlossen habe, in den Schrank zu gehen, im Schrank jemanden vorzufinden. Wenn man sich entscheidet, in den Schrank zu gehen, damit Sie mich richtig verstehen: nicht den Schrank zu öffnen und etwas im Schrank Verwahrtes herauszuholen, sondern sich selbst im Schrank zu verwahren, rechnet man nicht mit dergleichen. Zum einen ist man mit der eigenen Entscheidung, einer weitreichenden, wie Sie sich vorstellen können, vollumfänglich beschäftigt. Zum anderen ist es ja schon abwegig genug, sich selbst in den Schrank zu begeben, wie abwegig erscheint es da erst, dass bereits vor einem jemand diesen Schritt getan haben soll. Das will einem nicht in den Kopf. Und weil es nicht Inhalt des Kopfes gewesen ist, dieser Gedanke ein gänzlich ungedachter gewesen ist, verstehen Sie, hat er zwangsläufig keinerlei Rolle gespielt.

Wichtig ist einzig die Abschätzung gewesen, ob es zu wagen sei, ob ich es mir zutrauen darf, in den Schrank zu gehen. Natürlich habe ich mir gesagt, du kannst es versuchsweise wagen. Du kannst in den Schrank gehen, dort verbleiben und dann den Schrank wieder verlassen. Du kannst, wer sollte dich daran hindern, habe ich mir gesagt, so naiv bin ich gewesen, Urlaub im Schrank machen und, wenn der Urlaub beendet ist, zurückkehren in die Gewöhnlichkeit. Das Risiko ist ein überschaubares, habe ich mir gesagt. Es wäre folglich nur leichtes Gepäck vonnöten, habe ich mir gesagt. Noch andere Dinge habe ich mir gesagt, Beruhigendes, den Puls und den Strudel im Hirn gleichermaßen Bändigendes.

Doch als ich dann hineingegangen bin, als ich die Schranktür hinter mir zugezogen habe, ist mir unverzüglich klar gewesen, dass ich dergleichen nicht gebraucht hätte. Alle Versicherungen und Absicherungen sind unnötig gewesen. Im Schrank, als ich mich an die Rückwand gekauert habe, als ich zwischen den Wintermänteln und unter den Herbst- und Winterjacken mich niedergelassen habe, die Schals und Mützen und Handschuhe beiseite geschoben habe und es mir zwischen all der für die kälteren Jahreszeiten weggeräumten Garderobe bequem gemacht habe, hat Frieden geherrscht. Ruhe hat geherrscht, eine allgemeine, vielleicht von den Mänteln und Jacken und Mützen ausgehende Dämpfung. Eine Ruhe, wie ich sie mir im Vorfeld meines Rückzuges in einer ungefähren und abstrakten Ausformung vorgestellt und ausgemalt und unter Umständen sogar ersehnt, wie ich sie aber tatsächlich vorzufinden nicht zu hoffen gewagt habe.

Die Chance, eine Ruhe, etwas in diese Richtung Tendierendes, im Kellerschrank zu finden, sollte höher sein, habe ich gedacht, als im Schlafzimmerschrank. Ginge ich in den Schlafzimmerschrank, müsste ich damit rechnen, dass meine Frau jederzeit die Tür des Schlafzimmerschrankes aufreißt, nicht um mich zu suchen, aber um etwas aus dem Schlafzimmerschrank zu holen, ein Handtuch, ein T-Shirt, eine Hose, und vorbei wäre es mit der Ruhe, habe ich gedacht. Nein: Ich habe das nicht gedacht, all das habe ich nicht wirklich gedacht. Ich habe nicht so weit gedacht, aber unbewusst habe ich dergleichen wohl erwogen. Weshalb ich mich für den Kellerschrank entschieden habe, als es soweit gewesen ist, in den Schrank zu gehen.

Als ich drin gesessen bin, nach zwei, drei Minuten bereits, habe ich gewusst, dass diese Wahl die richtige gewesen ist. Überhaupt habe ich mit einem Mal gewusst, dass alles das Richtige ist. Obwohl zugegebenermaßen nicht die beste Luft herrscht im Schrank, habe ich aufgeatmet. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich das getan. Ich habe gewissermaßen die Ruhe eingesaugt in meine Lungen und bin selbst ganz ruhig geworden. Eine Zeitlang habe ich noch an der Schranktür gehorcht. Ich habe geglaubt, entfernt Schritte zu hören, die tapsigen Schritte meiner Frau, die polternden Schritte meiner Tochter. Ganz weit entfernt habe ich geglaubt, jemanden, meine Frau, meine Tochter, eine von beiden, etwas rufen zu hören, was ich aber nicht habe verstehen können. Wahrscheinlich hat es sich um eine Bagatelle gehandelt, um eine Zwecklosigkeit, um ein Rufen, das nur um des Rufens willen gerufen wird. Bald schon habe ich nicht mehr gehorcht. Selbst wenn jemand, meine Frau, meine Tochter, noch gerufen hätte, hätte ich es nicht mehr gehört.

Spätestens nach meinem ersten Tag im Schrank habe ich nichts mehr gehört, was außerhalb des Schrankes vor sich gegangen ist. Irgendwann habe ich mir eingebildet, die Haustür zu hören, den Schlüssel sich drehen zu hören im Haustürschloss, was aber eine akustische Unmöglichkeit ist. Alles, was von außen hereindringen könnte zu mir, wird durch die im Schrank herrschende Leere atomisiert, verströmt in der Leere. Man könnte sagen: Es wird nichtig. Denn so paradox es auch klingen mag: Obwohl der Schrank mit Mänteln und Jacken, mit Mützen und Schals gefüllt ist, herrscht in ihm eine Leere, die ich zuvor nicht für möglich gehalten hätte und die als eine vollkommene bezeichnet zu werden verdient. Nach drei, vier Tagen im Schrank ist mir klar geworden, dass seine vollkommene Leere das Besondere des Schrankes ausmacht. Die vollkommene Leere ist es, die den Schrank wertvoll werden lässt. Wenn ich etwas herauspule aus meiner Nase, meinen Ohren, etwas aus den Winkeln meiner Augen herausschabe, ich weiß nicht was, etwas eben, dann hört es, unmittelbar nachdem ich es aus mir herausgepult habe, auf, etwas zu sein. Alles im Schrank hört auf, etwas zu sein. Wie tröstlich diese Erkenntnis gewesen ist, immer noch ist, kann ich Ihnen gar nicht sagen.

Umso überraschter bin ich gewesen, einen Moment lang bin ich natürlich zuerst erschrocken gewesen, dann überrascht, als ich eine Hand nach mir greifen gefühlt habe. Dass es sich nicht um eine von meinen gehandelt hat, ist für mich außer Frage gestanden. Aber wer hat sich außer mir noch im Schrank befunden? Ist es überhaupt möglich, habe ich mich gefragt, dass die Leere des Schrankes, jemanden, der nicht ich bin, zulässt? Ich habe dieser Frage nicht auf den Grund gehen können, denn die Hand, eine zarte, eine schmeichelnde Hand, hat mir über die Brauen, durchs Haar gestrichen, ist die Konturen meines Gesichts nachgefahren. Ich hätte Ich muss doch bitten sagen können. Schluss damit hätte ich sagen können. Ich hätte die Hand packen und von mir weisen können als etwas Widriges, dem Inneren des Schrankes Zuwiderlaufendes und Zuwiderhandelndes, aber ich bin dazu nicht in der Lage gewesen. Die Hand hat mir etwas in den Mund gesteckt, einen Drops mit Himbeergeschmack. Vielleicht hat sie ihn in einer der Mantel- oder Jackentaschen gefunden, vielleicht ist er darin vom Besuch des Weihnachtsmarktes übrig geblieben. Wie dem auch sei: Der Drops hat, ich gebe es zu, herrlich geschmeckt.

Natürlich ist die Hand nicht nur Hand allein gewesen. Natürlich hat, was einen Körper darüber hinaus ausmacht, zur Hand gehört, wie ich, im gleichen Maße wie die Hand mich tastend erkundet hat, tastend erkundet habe. Am Ende unserer Erkundungen haben wir uns umschlungen gehalten. Ich hätte fragen können, wie lange sie, es handelt sich, ich muss das nicht weiter erläutern, um eine sie, bereits im Schrank hockt, was sie bewegt hat, in den Schrank zu gehen, ob sie die Bedingungslosigkeit des Schrankes in der gleichen Weise wie ich empfindet. Aber das ist überhaupt nicht nötig gewesen. Alles, was gesagt werden kann, ist hinfällig geworden, verstehen Sie? Alles jemals Gesagte, alles, was zu sagen sich noch aufdrängen könnte, ist im Schrank nicht länger von Belang.

Hallo? Hören Sie mich?

 

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Peter Zemla

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freiVERS | Lucia Baierl

8-Uhr Bus

Ein Bus gefüllt mit leeren Menschen fährt eine graue Straße hinab in eine bunte Welt
Die Dunkelheit von außen leuchtet innen im blau und gelb der Wolken hell
Schlafende Augen sind auf nichts gerichtet, das monotone Schweigen ist zu laut für ein Gespräch
Bewegt sich einer wird es übersehen,
kaum registriert, wenn einer fällt.

Kein Armbanduhrenticken weckt die Menschen, die müden Zeiger drehen sich nicht
die Zeit hat sie noch nicht eingeholt
sie wartet draußen vor dem Fenster.

Die Straße wird jetzt schmaler, die Türen springen auf und die Welt springt in den Bus
Sie schnappt sich Zwei oder Drei und frisst sie auf
dann schreit sie einmal laut durch die Lippen eines Motors oder einer Fahrradklingel,
dann sperrt der Bus sie wieder aus
die müden Augen zucken kaum.

Doch die Zeit hat sich hineingeschlichen und gelb besiegt das blau
und einer nach dem anderen flimmern die Menschen auf wie kleine Glühlampen
Denn die Straße ist zu Ende und der Bus verstirbt gemeinsam mit dem ersten Ticken der Zeit.
Er spuckt die Menschen auf die Straße und verblasst im Meer aus leeren Hüllen
Denn die Welt schreit hier noch immer und trübe Augen sind geblendet von grellen Farben

Sie blinzeln zweimal oder drei,
dann fangen sie an, sich zu bewegen,
während das grau von ihren Schultern tropft
wie Wachs von einer Kerze.

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Mosaik

Ich trage den Pullover meines Vaters
und denke, er weiß nicht, wer ich bin.
Er weiß nicht, dass ich in den Pullover passe
und dass ich weiß, wie man ihn richtig wäscht,
ohne dass die Wolle steif wird und anfängt zu kratzen.

Ich trage die Ohrringe meiner Mutter
und denke, sie weiß nicht, dass ich jetzt blond bin
und keine Angst mehr im Dunkeln habe
und dass ich mit ihrem Auto das Fahren gelernt habe.

Ich hänge ihr Portrait an meine Wand
und denke, ich weiß nicht mehr, wer sie ist
damals war sie Mama
Ich weiß, wie ihre Halsbeuge klingt,
und wie ihre Stimme quietscht
wenn sie Musicals singt

Heute ist sie meine Mutter
ich habe ihre Nase geerbt und ihre Pflanzen
ich fotografiere sie mit der Kamera meines Vaters
stelle das Bild auf seinen Schreibtisch
und denke, ich weiß nicht mehr, wer ich bin.

 

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Lucia Baierl

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