freiTEXT | Katrin Krause

Die Klavierlehrerin

Ludwigs Hobbys waren Straßenverkehr und tote Tiere. Das waren überhaupt die einzigen Dinge, für die sich Ludwig wirklich interessierte. Seine Mutter Christel machte sich deswegen Sorgen. Sein Vater Michael schenkte ihm deswegen zu Weihnachten ein Straßenschilder-Set für Kinder. Darin enthalten waren:

1 x Vorfahrt gewähren
1 x Beginn eines verkehrsberuhigten Bereichs
1 x Achtung! Zebrastreifen!
2 x Stoppschilder
1 x Rote Ampel
1 x Grüne Ampel
1 x Verbot für Fahrzeuge aller Art
1 x Verbot der Einfahrt
6 x Pylonen

Die grüne Ampel und das Vorfahrt-gewähren-Schild ließ Ludwig in der Garage seiner Eltern stehen. Mit den Stoppschildern spielte er ausgiebig. So wurde die verkehrsberuhigte Zone vom Kalkofen 19 bis zum Kalkofen 67 bald zum Verkehrsparkours für die autofahrenden Nachbarn. Sobald Ludwig Autos kommen hörte, stellte er ein Stoppschild, alle Pylonen und eine rote Ampel am Anfang der Straße auf. Das Andere behielt er in der Hand und lief damit vor die Motorhaube des Verkehrssünders. Wenn der dann hupte, oder vorbei fahren wollte, starrte Ludwig ihn einfach nur an. Er starrte mit seinen alpinblauen Augen durch die dicken Brillengläser in erbeerroter Fassung und dem Autofahrer wurde kalt.

Manchmal verteilte Ludwig auch Strafzettel. Geschrieben auf den gelben Post-ist seines Vaters. Da standen dann Dinge drauf wie: "Sie standen im absoluhten Halteverbot!" oder "Sie solten ihren Fahrstiel überdenken" oder "Ist Ihnen das Leben ihrer mit Menschen egal? Schämmen sie sich."

Die Post-its fanden die Nachbarn dann regelmäßig in der Post. Manchmal eingeklemmt unter den Scheibenwischern ihrer Windschutzscheiben. Wenn Christel Göbel-Moser beim Abendessen vorsichtig anmerkte, dass man doch die Nachbarn nicht so terrorisieren könne, sagte Michael Göbel-Moser: "Warum denn nicht? Wenn die doch alle fahren wie 'ne gesenkte Sau? Die sollen froh sein, dass sich hier mal jemand um Ordnung kümmert. Das Taschengeld aufstocken, sollte man dem Jungen." Dann versank Christel regelmäßig im Kartoffelbrei, den sie immer per Hand zehn Minuten länger stampfte, als eigentlich nötig gewesen wäre. In Ludwigs Gesicht fand man dann so etwas wie Zufriedenheit, nur steifer.

Frau Göbel-Moser tat sich überhaupt sehr schwer irgendwelche Gefühle in dem milchigen Gesicht ihres Sohnes zu erkennen oder sogar zu deuten. Obwohl die Haut des Kindes beinahe durchsichtig schien, war das, was dahinter lag für sie nicht zu erreichen. Ein Junge aus hellblauem Marmor und nur der Vater hatte einen Meißel.

Was wollte sie da schon mit ihrem Seifenwasser ausrichten.

Was Christel Göbel-Moser aber nicht wusste, war das, was letzten Samstag passierte. Ludwig hatte Verkehrskorrektur gespielt und ein Nachbar hatte sich zweimal überlegt, ob er heute wirklich noch einkaufen gehen müsse. Auf der Ecke Kalkofen - Tomborn hatte Ludwig auf der sauberen Straße ein braunes Häufchen entdeckt. Als er sich näherte bemerkte er, dass es eine überfahrene Kröte war.

Plötzlich begann Ludwigs Herz zu schlagen. Das Blut pumpte aus der Körpermitte in seine Gliedmaßen, in seinen Kopf. Beinahe konnte er es rauschen hören. Als er vor der toten Amphibie stand, spürte er sowas wie Glück, nur härter. Er beugte sich über sie. Sah ihren weichmatschigen Fadendarm, der sich am unteren Bauch herausquirlte. Er wollte ihn berühren, daran ziehen, wollte das Tier aufribbeln an seiner Laufmasche, wie einen Pullover. Bis es nicht mehr war, als schleimiger beiger Faden in seinen Händen. Die Augen waren nicht beschädigt, sie guckten so dunkel, dass es Ludwig interessiert hätte, einmal in den Raum dahinter zu sehen. Er wollte es machen wie in seiner Straße. Aus seinem Kinderzimmer beobachtete er immer, wie in den Zimmern das Licht ausging. Die Mädchen von gegenüber zogen sich immer um zehn Uhr ihre Schlafanzüge an. Er liebte die kurzen Momente, in denen sie da standen, in ihren Unterhemdchen. So sah man sie auf der Straße nie. Es war ihm dann, als wäre nur er eingeladen, sie so zu sehen. Dann ging das Licht aus und das war Ludwigs Lieblingsmoment. Er guckte dann noch eine Weile in die dunklen Zimmer und bewegte sich nicht. Er blinzelte nicht mal. Er lag im Dunkeln mit kalten Augen und starrte in die Richtung, in die man tagsüber nicht starrt. So wie die Kröte hier jetzt in den Himmel starrt. In ihrem Krötenleben hat sie das sicher nie getan.

Wieso auch, wenn die Erde viel weicher ist.

Ludwig hatte eine Idee. Er lief in den Garten seiner Eltern und brach einen weichen Ast aus dem Weidenkätzchen. Hart und biegsam. Mit einem spröden Ast ließ sich nichts anfangen, das wusste er schon.

Die Spitze des Astes führte er ein, in den leicht geöffneten Mund der Kröte. Da zuckte es in ihm, wie es in anderen Kindern zu Weihnachten zuckt. Dann spürte er einen Widerstand und fragte sich, was das wohl sei, aber er drückte fester. Und fester. Es knackte. Eine Membran riss. Jetzt ließ sich das spitze Weidenkätzchen tiefer einführen. Mit dem Ast in der Kröte fühlte es sich an, als lebte dort noch etwas.

So weich, so beweglich. Die Darmschlingen wanden sich wie ein Nest junger Schlangen um das geschmeidige Kätzchen. Manchmal drückte er eine Windung beiseite, manchmal durchstach er sie. Dabei mochte er das eine nicht weniger, als das andere. Beim letzten Widerstand, beim letzten Stoß, rief Christel ihn mit ihrer brüchigen Sägestimme. Er hasste seine Mutter. Er schämte sich für sie. Er stieß den Stock durch das weiche Tier. Die vom Gedärm eingeschmierte Spitze erblickte ruckartig das Tageslicht. Er ließ den Stock fallen, hoffte, dass niemand die Kröte wegräumte und rannte zu seiner Mutter. Der Nachbar hatte Ludwig beobachtet und entschied heute wirklich nicht mehr einkaufen zu gehen.

Im Hausflur der Göbel-Mosers stand Christel und guckte blödglücklich wie ein Lamm. Neben ihr stand das Nachbarmädchen, das Ludwig schon im Unterhemd kannte. Sie trug ein Sommerkleid und lächelte wie eine Sonnenblume. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie schön war. Ludwig konnte den linken Träger ihres Unterhemds erkennen.

"Das ist Charlotte", sagte Christel als würde nun endlich alles gut werden. Ludwig starrte auf den Träger ihres Unterhemds. Charlotte sah auf den Boden. "Charlotte wohnt gegenüber und hat sich bereit erklärt dir ein paar Klavierstunden zu geben", strahlt Christel mit ihrem so bemühten Hausfrauengesicht.

"Hallo Ludwig. Ich freue mich schon darauf."

Charlottes Stimme war ganz anders, als Ludwig sich das vorgestellt hatte. Tiefer irgendwie. Nicht so schrill wie die seiner Mutter. Ludwig starrte auf die beiden Schwellungen unter dem Sommerkleid unter dem Unterhemd. Charlotte sah Frau Göbel-Moser an: "Wann sollen wir denn anfangen?"

"Na, wie wärs mit jetzt gleich? Das Klavier steht im Arbeitszimmer. Die sieben Euro gebe ich dir, wenn ihr fertig seid."

"Gut. Ludwig, kommst du?"

Er lief Charlotte hinterher und versuchte dabei so dicht hinter ihr zu bleiben wie möglich. Er konnte den Flaum in ihrem Nacken sehen und roch ihren frischen Mädchenschweiß. Ob die Kröte wohl noch da war, wenn er zurückkam? Charlotte rückte zwei Stühle ans Klavier. Aber sie standen zu weit auseinander.

Ludwig rückte seinen Bürostuhl näher an ihren. Sie lächelte komisch, setzte sich und stellte eine Reihe merkwürdiger Fragen. Ob er wisse, was Oktaven sind oder wie die Tasten heißen. Die Tasten hießen wie Buchstaben und er wusste nicht was Oktaven sind. Charlotte drückte auf den Buchstaben rum und rückte näher ans Klavier. Dabei schob sich ihr Sommerkleid so hoch, dass man fast sehen konnte, was darunter war.

Ludwig hätte es gern gesehen. Es war etwas Weiches. Das wusste er. Er hätte gerne einen biegsamen Stock gehabt, um ihn darunter zu schieben.

"C, D, E, F, G, A, H, C", sagte Charlotte. Sie drückte fest und machte Töne und bemerkte dabei nicht, dass Ludwig nicht auf ihre Hände sah, sondern in ihren Schoß.

"Kannst du das nochmal machen?", fragte Ludwig.

Charlotte freute sich, dass es so einfach gewesen war, Ludwig für das Klavierspiel zu begeistern. Bei anderen Kindern war das oft viel schwieriger.

Sie drückte auf die 8 Tasten und tat im Anschluss direkt nochmal. "Durch Wiederholung prägen sich Kinder alles besser ein", hatte ihre Mutter einmal gesagt.

Dass Charlotte Ludwig scheinbar für begriffsstutzig hielt, gab ihm genau die Zeit, die er brauchte, um sie ganz genau zu betrachten. Ihre weichen Schenkel und das Geheimnis, das darunter lag. Ihre entspannte Ober- auf ihrer dicken Unterlippe. Da hätte Ludwig gerne mal einen Stock reingeschoben, um die Lippen zu öffnen, um sie voneinander zu trennen und zu sehen, was sich darin verbirgt. Und dann würde er den Stock tiefer schieben, um zu sehen ob eine Charlotte so weich ist wie eine Kröte.

Oder ob sie aus etwas Anderem gemacht ist.

Es zuckte in Ludwigs Hose. Er wusste, es war sein Penis. In manchen Nächten war das schon einmal passiert. Er langte hin. Aber durch die Hose war das nichts. Er zog seine weiche Hose ein Stück runter und spürte, dass sein Penis schon so geschmeidig hart war wie ein Ast vom Weidenkätzchen aus dem elterlichen Garten.

"...G, A, H, C", sagte Charlotte ein letztes Mal. Dann sah sie rüber. Ludwig starrte sie an und hatte seinen halberigierten Kinderpenis in der Hand. Plötzlich wurden ihre Augen groß und dunkel. So groß und dunkel, wie die eines überfahrenen Tieres.

Ludwig dachte daran, wie jede Nacht in ihrem Zimmer das Licht ausging. Dann griff er mit der linken Hand zwischen ihre Beine. Er tat es so schnell und so fest, als wollte er eine unsichtbare Membran durchstoßen.

Seine Finger waren kalt. Charlotte schrie schrill und sprang auf. Sie rannte raus. Ihr Schrei erinnerte Ludwig an die Stimme seiner Mutter. Er ekelte sich. Dann ejakulierte er auf das Klavier seiner Eltern.

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Katrin Krause

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freiVERS | Otto Dvoracek

Nichts ist größer

Ein Schwingen hervorrufen, Achterschleifen-Schwingungen
Endlosschleifen, die Milch übergehen lassen, die Milch
An vier Seitenwänden herabrinnen, über vier Seitenwände
In die Auffangwanne (weiß gekachelt) rinnen lassen
Das Milchweiß, das Weiß stampfen
Kind, Vater und Großvater stampfen
Auf einer weißen Kachelplatte, Kameras vor den Beinen
Aufnahmen im Stampfen, mit angewinkelten Beinen
Mit durchgestreckten Beinen, das Durchstrecken der Beine
Auf dem Weiß der Fliesen, Kalkweiß
Das Beschmieren der Wände, mit gleicher Beinstellung
Statt Titanweiß Kalkweiß, über eine Trennlinie schmieren
Kreuzweise über gravierte Stellen mit dem Text
NICHTS IST GRÖSSER schmieren, das Durchstrecken der Arme
So muss es wohl sein, schräg oben, nach oben
Einen wilden Bogen schmieren
Vater und Großvater tauschen Position
Kind und Vater tauschen Position
Großvater und Kind tauschen Position
Und alle Zeit gewinnen, Zeitpunkte, alles Geschehene
Alle Filme sehen, Aufnahmen im Stampfen
Dauer ohne Zeit, ein Schwingen
Achterschleifen-Schwingungen
Endlos weit

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Otto Dvoracek

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freiTEXT | Claudia Siefen-Leitich

Peter N. kam bis Berlin

„Das geht mir ja alles dermaßen auf die Nerven“, sagte Peter sehr oft, wobei er mit der linken Hand in sein strähniges rotes Haar fuhr, dort verblieb und eine Faust bildete, kurz sich zusammendrückte, um dann die Finger wieder zu entspannen, die einzelnen Strähnen zwischen den Fingern, um dann wieder kurz eine Faust zu bilden. Sein Haar war rot, von jenem Rot, dass man aus der Entfernung für Blond hätte halten können. Aber es war rot, seine Sommersprossen untermauerten diese Feststellung. Die Sommersprossen sah man, wenn man Peter gegenüber stand. Um ihm ins Gesicht zu schauen, musste man wohlwollend den Kopf in den Nacken legen. Das Gesicht war scharfkantig, das Kinn kräftig, die Wangenknochen standen ein wenig hervor und die Augenbrauen bestanden aus langen blonden und grauen Haaren. Und Peter war sehr groß. „Dermaßen auf die Nerven.“

„Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“ Das sagte Peter, und er zog seinen dunkelblauen Mantel an. Aber Peter sagte das nur, wenn er einen mochte. Dann ging er los und es konnte passieren, dass er zurück kam und die Hände in den dunkelblauen Manteltaschen vergraben hatte, vor dem Schreibtisch stehen blieb und sagte, dass es ihm leid täte und er leider im Supermarkt angekommen wieder vergessen hatte, was er denn hätte mitbringen sollen. Dann legte er einem einen Apfel auf den Tisch. Oder eine Tafel Schokolade. Oder eine Packung Zigaretten. „Ist das in Ordnung?“

„Es regnet schon wieder.“ Wenn sich im Herbst die dunklen Nachmittage häuften schüttelte Peter den Kopf und zupfte an den feuchten Beinen seiner Jeans herum. Und er setzte sich, arbeitete zwei Stunden am Computer und stand auf, um einen Kaffee zu kochen. Aus der Küche hörte man dann kurze Zeit später ein wütendes Schnauben. Und er kam zurück und setze sich wieder an den Computer, um eine Stunde später zu sagen: „Es ist kein Kaffee mehr da. Ich geh' gleich noch mal in den Supermarkt.“ Dann ging er wieder los, schüttelte in der Tür noch einmal seine roten Strähnen. Wenn er dann zurück kam stellte er eine Flasche Rotwein auf seinen Tisch, ging noch mal in die Küche, um Gläser zu holen. „Den Kaffee bringe ich morgen früh mit.“ Dann füllte er Gläser, kam zum Schreibtisch herüber und stellte ein gefülltes Glas auf der Tischplatte ab. Peter war eigentlich aus Hamburg. „Du solltest Dir die Haare wachsen lassen“, sagte er und ging zurück zu seinem Computer.

An einem der Abende waren wir wieder lange im Büro und an manchen dieser Abende sagte Peter: „Ich muss da noch mal kurz nachdenken“, und setzte sich auf den Fußboden, streckte die langen Beine aus und legte sich hin. Dann schloss er die Augen und lächelte, winkte mit der rechten Arm herum und sagte: „Komm' her.“ Dann ging ich manchmal zu ihm hinüber und legte mich dazu und Peter erzählte, von seinem Bruder, den er sehr schätzte und von seiner Freundin, die ihn vor ein paar Wochen verlassen hatte. „Das Trinken“, sagte er. Dann stand er auf. „Warum liegst Du auf dem kalten Fußboden?“, und ich streckte ihm beide Hände hin, dass er mir aufhelfen konnte. Aber Peter nahm nur meine linke Hand, zog mich heran und fuhr mit einem Arm unter meinen Rücken, um mich langsam heranzuziehen, immer ein wenig Abstand zwischen seinem Oberkörper und mir haltend. So flog ich in Zeitlupe in die Senkrechte und ich spürte, wie der Boden sich ganz langsam von mir entfernte und ich diesem roten Haar immer näher kam. Wenn ich zu nah war korrigierte Peter den Abstand sogleich wieder auf sein gewünschtes Maß und so verschoben wir uns in immer gleichem Abstand zueinander bis ich wieder auf den Beinen stand. Und schaute ihn an. Und Peter streckte sich wieder und lachte und schüttelte den Kopf. „Lass' uns heute abend noch was trinken gehen.“

Wir waren ins „Diener“ gegangen, mit seinen dunklen Holzmöbeln und holzvertäfelten Wänden, die Autogrammkarten und Fotos von Schauspielern und Opernsängern an den Wänden. „Hier lassen sie einen in Ruhe, und wenn mein Bruder mich besucht, gehen wir oft hierhin.“ Dann saßen wir dort, vielleicht für drei Stunden, wir zahlten und Peter und ich gingen die Strasse entlang bis ich zur U-Bahn kam und er weiter zu Fuß nach Hause ging. Am nächsten Tag sprach er dann nicht mit mir. Aber am Ende der Woche stand er wieder vor meinem Schreibtisch. „Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“

„Ich habe jemanden kennengelernt“, sagte er in regelmäßigen Abständen und hielt seinen Kaffee in der Hand, balancierte das Zigarettenpäckchen in der anderen Hand. „Lass' uns noch eine rauchen bevor Du gehst.“ Dann standen wir am großen Fenster des Büros, um hinauszuschauen. „Mich macht das nur fertig, warum kommt man sich nie näher, wenn man miteinander ins Bett geht?“ Dann rauchten wir in Ruhe zu Ende und sagten nichts mehr. Nach diesem Satz konnte man nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht an diesem Abend. „Ich glaube ich brauche einfach nur Urlaub. Ein paar Tage werde ich wegfahren. Mein Bruder fährt mit mir. Ich glaube, darauf freue ich mich.“

Irgendwann rief mich sein Bruder an, den ich nur einmal im Büro getroffen hatte. „Das ist mein Bruder“, hatte Peter gesagt, mehr nicht. Er hatte noch am Computer gearbeitet, dann seinen Mantel angezogen und sein Bruder hatte freundlich in die Runde genickt und zusammen verließen sie das Büro.

„Ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie das wissen sollten. Ich habe Peter gefunden in seiner Wohnung. Er hat sich aufgehängt. Ich glaube, mehr will ich jetzt auch nicht sagen. Ich werde jetzt auflegen.“ Den Telefonhörer hielt ich noch eine Weile in der Hand und musste sofort daran denken, wie Peter mich vom Boden hochhob. Ich habe einen warmen Luftzug gespürt.

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Claudia Siefen-Leitich

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freiVERS | blume (michael johann bauer)

always adapt to your latest li(f)es

das hochhaus erhaelt sehr fragile seitenfluegel du ziehst ungestuetzt
um in den elften stock deine wohnung besteht aus vielen scherben
& querfeldein gesammelten naturrelikten die in neukombinationen
spannende eigenleben zu entwickeln scheinen sowie wurzelfaeden
brachliegende verbindungsmoeglichkeiten hoechstens in traeumen
flieszen fluessigkeiten durch diese dann stark vergroeszerten rohre
& versorgen dich mit allerlei daten deren volumen nicht chronisch
im widerspruch zu deinem fassungsvermoegen steht das bedeutet
dir hilft die zeit deine impulse zu verarbeiten & hin & wieder gar
nach kritischer selektion umzusetzen was du fuer sinnvoll haeltst

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blume (michael johann bauer)

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freiTEXT Spezial | Miljan Milanović

Produžetak vrste // The Continuation of Species (Auszug)

Ein exklusiver Text von Miljan Milanović in der Übersetzung von Anne-Kathrin Godec.

Diesen und drei weitere Texte findet ihr exklusiv zum Download:

>> Miljan Milanović - The Continuation of Species <<

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Plüschigel pieken nicht

Mein Bruder

Er starb an einem Tisch an acht Dosen Redbull & Wodka, umgeben von hartgesottenen Amateuren des Bürgervereins für den Erhalt von Sprachen, Traditionen und altem Handwerk. Sein Herz blieb bei einer mitternächtlichen Poker-Partie stehen. Eine detaillierte Beschreibung dazu findet sich im ärztlichen Autopsiebericht. Die trostlose Beschreibung dieses plötzlichen Todes. Mutter spürte die Stärke der Explosion im Herzen meines Bruders, als habe ihr jemand mit einem Vorschlaghammer auf die Knie geschlagen. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel über den Holzschaukelstuhl, in dem Oma und ihre Mutter vom Alter verrunzelt gestorben waren. Den Stuhl hatten wir von einem Zimmer ins andere getragen, ohne wirklich zu wissen, wo er einen dauerhaften Platz finden könnte. Immer störte er irgendwen oder stand irgendwo im Weg. Nur mein Bruder hatte immer zufrieden darin herumgeschaukelt, mit vollem Magen, etwa nach einer reichhaltigen Portion Broccoli und rotem Fleisch zum Sonntagsessen. Mutter hörte die synthetisierte Sprachnachricht ab, die von einem entspannenden buddhistischen Gong und einem Rauschen begleitet war. Schlechte Nachrichten werden heutzutage zusammen mit so einem Mist überbracht, der Stress vermindert, wenn man der Psychoakustik Glauben schenken möchte.

Sie werden nie wieder gehen können (Gong, der lange nachklingt).

Ihr Ehemann betrügt Sie (Gurgeln und zwei kurze Anschläge der Klangschalen).

Sie existieren gar nicht (Donnernder Wasserfall).

Vera

Tagelang kam sie nicht aus dem Bett. Sie hoffte darauf, im Schlaf ihrem Sohn zu begegnen. Dessen Körper befand sich in einem großen Kühlschrank. Das Familiengrab war überfüllt. In einer automatischen Nachricht hatte eine eintönige männliche Stimme eine mögliche Graberweiterung angeboten. Die von der Situation betroffenen Eltern wägten die möglichen Optionen ab. Firmen besaßen Grabmäler, Krypten oder Türme. Ihre sterblichen Reste wurden in der Erde bestattet, mumifiziert oder verbrannt und die Asche später vom Flugzeug aus verstreut, in den Kosmos geschickt, in einen Diamanten verwandelt oder mit Farben vermischt und zu einem Portrait verarbeitet.

„Ich will nur noch einmal eine Möglichkeit haben, mit meinem Sohn zu sprechen.“

Vera trat mit geschwollenen Augensäcken, in verknittertem Nachthemd und einem leeren Glas in der Hand ins Zimmer. Ihre Worte unterbrachen die Anspannung, die von einem irritierenden Angriffsgeräusch der Armlehnen des Schaukelstuhls dominiert wurde. Ein beharrliches Flmmchen nach dem Schweigen.

„Ich habe eine Firma gefunden, die Begräbnisse auf einer neuen Art von Friedhof anbietet, den sie Taiga nennen. Außerdem bieten sie zusätzliche Möglichkeiten an, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Ich habe für morgen um neun einen Termin abgemacht.“

ETERNIME (Because We Care Group)

In die gläserne Kugel traten wir durch einen Wasservorhang, der sich vor uns auftat. Über der Tür strahlte eine Aufschrift DER TOD IST NICHT DAS ENDE. Die Halle war vom Duft eines Sommerregens erfüllt, geräuschvoll abgestimmt mit Orgelklängen und einem Schwarm winziger verschiedenfarbiger Lichter, die chaotisch an der Decke herumschwirrten. Meine Sandalen quietschten auf dem Marmorboden. Ein Schmetterlingshologramm schwebte nur eine Handbreit vor uns, entschwand aber immer wieder geschickt, wann immer ich versuchte, einen zu erwischen, und leitete uns so durch einen gepflegten Garten mit einem Bonsai und einem Felsen, der als Gebirgsspitze geformt war, bis hin zum Berater Nummer zweiundfünfzig.

„Wie Sie der Reklamebroschüre entnehmen konnten, bieten wir unterschiedliche Ewigkeitshäuser für Ihre Liebsten an. Wir bestatten ihren Verstorbenen in einer biologisch abbaubaren Kapsel und pflanzen darüber einen Baum, der von den Zersetzungsprodukten des Verblichenen genährt wird. Wir haben ein reichhaltiges Angebot an Baumsetzlingen. Und alle unsere Grabstätten erinnern an Gedenkwälder. Vor jedem Baum befindet sich ein Stein, auf den ein Hologramm mit allen biografischen Daten des Verstorbenen projiziert wird. Das ist das Basispaket, das wir im Angebot haben.“

„Ich habe gesehen, dass sie noch ein besonderes Angebot in Hinblick auf das Gedenken haben.“

„Ja, dabei handelt es sich um eine Neuheit, die wir im letzten Quartal ins Programm aufgenommen haben. Wir bieten Kommunikation mit dem Verstorbenen an.“

Vera zitterte und schluckte ihre Spucke.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht um einen Chatbot, der in Bezug auf nonverbale und verbale Kommunikation alle Charakteristiken des Verstorbenen besitzt, dieselbe Stimmfarbe hat, Mimik, Handbewegungen und gern benutzte Phrasen einsetzt. Sie werden fast vollkommen überzeugt davon sein, dass Sie mit Ihrem lieben Verstorbenen sprechen.“

„Ist das wirklich möglich?“

„Vera, warte mal, da müssen wir gut drüber nachdenken. Ich bin eigentlich nicht für solche Spielchen mit Technik und künstlichen Sachen.“

„Stojan, ich glaube nicht, dass ich das alles aushalten kann. Nimm mir doch nicht die Möglichkeit, noch einmal mit ihm zu sprechen.“

„Ich stimme meiner Mutter zu.“

„Wenn Sie einverstanden sind, bräuchten wir alle verfügbaren Video- und Audioaufzeichnungen. Was die Aktivitäten in den sozialen Netzwerken des Verblichenen angeht, darum kümmern wir uns. Sie bekommen die Initialversion des Chatbot, mit dem Sie eine Weile kommunizieren müssten. Je häufiger Sie dies tun, desto überzeugender wird Ihr Gesprächspartner am Ende sein. Danach kann man den Chatbot ausschließlich im Gedenkwald benutzen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass dies die einzig vertretbare Nutzungsoption ist, die den Trauerprozess nicht verlängert.“

„Na gut, aber es soll doch jeder trauern und verarbeiten, wie er möchte. Ich unterstütze Sie. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich es benutzen werde.“

Mein Vater verschränkte die Finger ineinander, dehnte sie und ließ die Fingerknochen knacken.

Begräbnis

Die Beerdigung fand im Kreis der Familie statt. Vor dem Friedhof schrie eine kleine Gruppe Demonstranten und religiöser Fanatiker, während über ihren Köpfen Transparente gegen die Entweihung von Traditionen flatterten. Um den Ort herum, an dem wir den Leichnam niederlegten, wuchsen über dem Stein Pflanzensetzlinge von der Größe eines menschlichen Schädels. Am anderen Ende des Friedhofs hatte der Wald schon begonnen, sich zu formieren. Ich spazierte ein wenig umher.

„Du musst ihn anfassen“, sagte mir der dünne, gebückte alte Mann in weißem Anorak, der den Rasen pflegte und die Steine von Vogeldreck und schmutzigem Regen reinigte.

„Bitte?“

„Ich sage, du musst den Stein anfassen, damit er sich aktiviert.“

„Aha, danke.“

„Der Platz hier ist leer. Du siehst doch, dass hier keine Bäume mehr sind. Versuche es dahinten. Der da hat einen halben Liter Schwefelsäure getrunken und seinen Freund kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag zu einer Partie Tennis eingeladen, aber das wirst du in den Bildern nicht sehen. Die tun nur schöne Sachen rein.“

Eine Hologramm-Projektion der Biografie und Gedenksequenzen eines Selbstmörders. Sympathisch. Weiter nichts.

„Versuch’s mal dahinten. Mit der kannst du sogar sprechen.“

Ich berührte den Stein und vor mir erschien ein hübsches, rothaariges Mädchen meines Alters, das mich fragend ansah. Ich erschrak, drehte mich um und ging. Der Alte lachte mir hinterher.

Chatbot

Unsere erste Sitzung hatten wir im Büro des Beraters Nummer Sieben.

„In Ordnung, zuerst versuchen wir einmal, das Gespräch ohne die Stimme des Verstorbenen in Gang zu bringen. Wegen des Schocks. Bitte schön. Sagen Sie etwas.“

„Roman, bist du da?“

Es entstand ein Moment des Schweigens, endlos lang wie der Schmerz.

„Ich streife umher“, sagte die Stimme eines Jungen.

„Das ist nicht seine Stimme“, schrie Vera auf und zeigte auf den Berater.

„Entschuldigen. Mein Fehler. Das passiert manchmal.“

Stojan schnaufte durch die Nase.

„Versuchen Sie es jetzt nochmal, bitte. Entschuldigen Sie nochmals.“

„Ich hänge hier den ganzen Tag herum. Ich hoffe, Ihr macht nichts Interessantes ohne mich“, war die Stimme meines älteren Bruders zu hören.

Vera schluchzte auf. Stojan stürmte mit hochrotem Gesicht und die Hände über den Mund geschlagen aus dem Büro.

Roman 1

Vera versuchte, das Hologramm zu umarmen. Um ein Haar hätte sie alles zunichte gemacht. Ich hatte ja versprochen, intensiv mit ihm zu kommunizieren.

„Roman, das ist dein digitales Gedenkmonument.“

„Wofür soll das gut sein?“

„Du fehlst uns. Dafür ist es gut. Ich habe dich zuletzt gesehen, als du mal kurz zu Hause vorbeigeschaut hast.“

„So sieht wohl Liebe aus. Mir fehlen unsere gemeinsamen Mittagessen und das Kaffeetrinken auch.“

„Aber, Roman, ich trinke doch gar keinen Kaffee.“

„Erzähl mir mehr darüber.“

„Dämlicher Chatbot!“, fuhr ich ihn an und warf mich aufs Bett. Romans Hologramm lachte blöde und tänzelte auf der Stelle.

Roman 2

„Roma, komm zurück.“

„Keine Sorge, alles ist in Ordnung. Ich bin hier.“

„Das Leben ist nicht fair.“

„So ist das Leben eben.“

„Du warst eine wichtige Person in meinem Leben, Roma. Ich will, dass wir über alles reden, was dir wichtig war.“

„Dann sorge dafür, dass uns keiner stört.“

„Die Menschen sind so blöde, Roma.“

„Die Menschen haben Angst vor dem Tod.“

„Weisst du, was mit dir passiert ist?“

„In den letzten drei Jahren habe ich einiges darüber erfahren.“

„Schön für dich. Zeichnest du da, wo du bist?“

„Manchmal. Aber meistens hänge ich den ganzen Tag herum.“

„Komisch.“

„Was ist komisch?“

„Na, unsere Unterhaltung.“

„Ich muss in der Nähe von Menschen sein. Erzähl mir noch was.“

„Ich habe dir nie gesagt, dass ich dich liebe. Ich habe dir nie zugegeben, dass ich den Reifen wegen dieses Trikots durchstochen hatte. Ich habe dir nie gesagt, dass ich Mutter das mit dem Haschisch gesteckt hatte.“

„Was noch? Interessant.“

„Ich habe dir mal in den Kaffee gespuckt.“

„Wo bin ich?“

„Du bist tot, Roma.“

„Ist es möglich, dass ich träume?“

„Weiß ich nicht. Ich hätte gerne, dass du mir das, was du träumst, aufmalst.“

Roman 3

Vera und Stojan erhielten nach einigen Tagen die Gelegenheit, sich mit ihrem verstorbenen Sohn zu unterhalten. Stojan fluchte und schimpfte darüber, dass wir ihn dazu gebracht hatten, sich darauf einzulassen. Als sie ins Zimmer kamen, stand Roman neben dem Schaukelstuhl.

„Mein Sohn!“, jaulte Vera auf.

„Sieht wirklich echt aus“, kommentierte Stojan.

Den ganzen Nachmittag plauderten sie mit dem Hologramm.

Vera bot ihm Suppe an. Stojan erzählte von seiner wilden Kindheit. Ich machte mir wirklich Sorgen. Am Schluss brachte ich sie dazu, mir zu bestätigen, dass die Sache mit dem Geist gut funktionierte. Stojan klopfte mir auf die Schulter und seine Augen füllten sich mit Tränen. Vera weinte die ganze Zeit.

„Du warst ausgezeichnet, Roma.“

„Ihr fehlt mir.“

„Halt endlich die Klappe. Das hast du schon millionenfach gesagt. Zeig mal Interesse. Frag sie beim nächsten Mal, wie es ihnen geht.“

„Wie geht es dir? Läufst du den Mädchen hinterher? Was ist mit diesem jähzornigen Moppelchen?“

„Dämlicher Chatbot. Ich schalte dich ab. Ciao.“

„Menschen werden bald ewig leben.“

„Von was für einer Ewigkeit redest du, du zeichnest nicht mehr, Roma, lass mich mit dem Quatsch in Ruhe.“

All Tomorrow’s Parties

Es verging ein halbes Jahr, bis ich Romans Fehlen wirklich bemerkte. An den Wochenenden trank ich ihm zu Ehren Dirty Steve. Ich tröstete seine Ex-Freundinnen und erzählte Lügen über das Hologramm, das sie bald vögeln können würden. Eines nachts im Oktober sprang ich über den Zaun des Gedenkwaldes. Ich wünschte mir, mit ihm sprechen zu können. Vor der Steinwand war ein Murmeln zu hören. In dem Augenblick, in dem ich mich von der anderen Seite hinüberschwang, flackerte unter jedem Baum das Hologramm des jeweiligen Verstorbenen. Die leuchtenden Geister beobachteten mich neugierig. In der Mitte der linken Seite stand Roman und winkte mir.

„Wo bist du, Bruder?“

Er reichte mir die Hand und meine Hand wurde von einem Lichtbündel erhellt.

„Was ist hier los?“

„Das bin ich. Dein älterer Bruder. Du hast den Stein berührt.“

„Hab ich nicht. Alles hat schon von alleine geleuchtet.“

„Das Leben ist schön. Voller Licht.“

„Red keinen Mist. Du weißt gar nichts mehr vom Leben.“

„Es ist sicher schwer.“

„Ich hasse dich.“

Ich fuchtelte mit der Faust und fuhr ihm durch den Kopf. Der junge Magnolienbaum bog sich unter dem Gewicht meines Körpers. Ich lag auf der Erde, riss mit dem Mund Halme aus dem gestutzten Kunstrasen aus, bis der Alte im weißen Anorak mir aufhalf.

Stacheln

Ich war mittlerweile Besitzer einer Igelfarm, die ich erfolgreich züchtete und vermehrte, und damit verdiente ich gut. Kinder kauften sie als Haustiere. Ältere Leute kauften sie aus therapeutischen Gründen. Es war eine neue Sorte. Sie piekten nicht. Waren weich wie Getreide.

Vera warf mir vor, dass ich nicht mehr zum Friedhof ging. Ich log und behauptete, ich hätte zuviel zu tun.

„Roman fragt immer nach dir.“

„Sag ihm, ich komme nächstes Mal mit.“

Ich fütterte zwei Jungtiere mit einer Pipette. Der 3D-Drucker im Büro spielte plötzlich verrückt. Druckte einfach von selbst. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Er reagierte nicht mehr auf Befehle. Schließlich kam ein Hardcover-Comic heraus, das aussah, wie die Comics meiner Kindheit. Ich erkannte Romans Stil, hatte aber bisher seine Zeichnungen nie zu Gesicht bekommen.

Zwei Jungs, die am Fluss das Eis brechen.

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Miljan Milanović

Aus dem Serbischen von Anne-Kathrin Godec.

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Die Übersetzung dieses Textes wurde gefördert vom Creative Europe Programme der Europäischen Union.

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freiTEXT | Lavina Stauber

Weil ich an Geschichten über die Liebe glaube

Vielleicht hätte ich erzählen sollen, dass es mein Lachen war. Denn mein Lachen ist fordernd und bricht Deines, nach wenigen Sekunden schon. Mein Lachen übertönt Dein Lachen so überzeugend, so kräftig, dass Dein Lachen gar keine Wahl hat, als sich schnell zu verlaufen. Die zarten Töne des Zweifelns haben gegen die grobe Bestimmtheit meines Lachens keine Chance. Und wenn wir jetzt gemeinsam lachen, spielt es plötzlich doch eine Rolle, wer damit angefangen hat.

Jetzt entspringt mein Lachen meiner Unsicherheit. Es versucht zu verstecken, dass ich nicht mehr sicher bin, ob ich diese Geschichte nicht falsch begonnen habe. Ich wollte, dass diese Geschichte etwas Besonderes wird. Ich wollte, dass diese Geschichte zu unserer Geschichte wird. Ich wollte so sehr, dass diese Geschichte gut ausgeht, dass ich nicht darauf geachtet hatte, ob diese Geschichte überhaupt gut anfängt.

Ich sitze barfuß am Klavier und blicke durch die geöffneten Türen in Gedanken auf meine sonnige Aprilwiese. Es ist Ende Juni und die plötzliche Hitze hat das Gras dort längst verdorrt. Ich spüre die Sonne nicht auf meiner Haut, nur die Kälte der Klaviatur unter meinen Fingern. Dass ich nur wenige Schritte von der Wärme des Sommers entfernt bin, macht es noch unverständlicher zu akzeptieren, dass es gerade richtig sein soll, dennoch sitzenzubleiben.

Das Klavier erinnert mich an Dich. Es ist groß, zu groß für mich, und liebevoll verstimmt. Seine Tasten liegen zu schön nebeneinander, und reagieren doch so geduldig auf meine unbeholfenen Berührungen. Sein Klang ist wohlwollend und stimmt eine Reife an, die ich noch nicht verstehe. Vor allem aber ist es gerade da, für mich, und in seiner Schwerer vermittelt es mir, dass es das noch eine ganze Weile sein wird.

Wir haben uns die Ehrlichkeit erhalten und trotzdem kostet es mich jetzt Überwindung. Plötzlich traue ich mich nicht mehr ganz zu lachen. Ich traue mich nicht mehr ganz zu bestätigen, zu bekräftigen, laut in den Hörer zu schreien: Ja. Du bist schön! Immer noch und jedes Mal aufs Neue.

Du hast ein Hemd getragen, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber dann hast Du es ausgezogen und mir erklärt, dass es ein Fehler war. Du hast mir erklärt, wie Dein Leben auf der anderen Seite meines Hörers wirklich aussieht. Du hast mir erklärt, dass die Zeit doch eine Rolle in unserer Geschichte spielt. Du hast mir erklärt, wie der Glaube an das Gute allein manchmal dennoch nicht ausreicht. Und doch haben wir dann beide beschlossen, weiter an das Gute zu glauben.

Du zitierst Tom Jones und ich wünschte, ich würde mit derselben Überzeugung an Shakespeare’s 126 Sonett festhalten. Statt zu antworten, schweige ich. Ich sehe Dich an und es bricht mir mein Herz, zu gehen. Aber nicht zu gehen, würde alles zerbrechen. Unsere feine Blase, die wir mit so viel Mühe und Aufrichtigkeit und Zeit gebaut haben, nur um dennoch zu spät zu sein.

Ein Schatten zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Über der trocknen Juniwiese zieht er seine Kreise, der Bussard, den ich Dir bei einem Wiedersehen so gerne gezeigt hätte. Plötzlich bin ich sehr froh, dass ich nun ihn wiederhabe, meinen Bussard, der noch am Himmel stand, als ich mir so sicher war, dass alles gut sein würde.

Wir sind beide wieder da, wo wir angefangen haben. Wie sind uns wieder sympathisch, weil wir beide Suchende sind. Vielleicht auch deswegen, weil wir an einem sommerlichen Apriltag beide so sehr daran geglaubt hatten, bereits etwas gefunden zu haben.

Wenn ich nicht aufpasse, schlägt mir mein Handy vor, Dich anzurufen. So sehr hast Du Dich über die Zeit, auf die wir in unserem Leichtsinn nie genug geachtet haben, schon in mein Leben geschlichen. Ich blicke auf mein Klavier und stelle mir vor, welche Lücke es bedeuten würde, wenn es eines Tages dort nicht mehr stünde. Doch gerade ist mein Klavier alles, was dem Raum geblieben ist.

Wie gerne würde ich Dich jetzt wieder ganz nah an meinem Ohr haben, Deiner warmen Stimme lauschen und mir vorstellen, wie Deinen Lippen sie berühren. Aber ich muss ehrlich sein, zu Dir und noch viel mehr: zu mir selbst.

Denn ich kann es nicht spielen, das Klavier, das so wunderschön den ganzen Raum einnimmt. Ich habe nie gelernt, es zu spielen, nie gelernt, es zu schätzen. Ich habe es in meinen Besitz genommen und so gerne ich auch über seine Tasten streiche, weiß ich, dass es mir nicht zusteht. Es erlaubt mir nur, von Zeit zu Zeit, vorbeizuschauen. Es ist nicht für mich bestimmt, sondern für jemand anderen. Für jemanden, der es spielen kann.

Während ich aufstehe und zur Türe trete, lasse ich einen Gedanken zu. Den Gedanken, wie es wäre, wenn nicht das Klavier mich an Dich erinnern würde, sondern Dich das Klavier an mich. Und nun ist da die Frage, wenn es anders wäre, ob Du es auch spielen wollen würdest, mein Klavier, dem ich in diesem Moment so gerne über die Tasten streichen würde. Denn wir wissen beide, dass Du mir das eine voraus hast: Du könntest es spielen. Aber nur Du weißt in diesem Moment, ob Du das auch wollen würdest.

Noch immer zieht der Bussard seine Kreise und in meinen Gedanken hänge ich nun der Zeit nach. Ich vermisse Dich, ich vermisse die Aprilwiese und den Gedanken daran, dass noch alles gut ist. Jetzt arbeiten wir daran, dass es eines Tages wieder gut werden wird.

Ich wünsche mir noch immer, dass diese Geschichte etwas Besonderes ist. Weil ich Geschichten über die Liebe liebe, aber viel mehr noch, weil ich an Geschichten über die Liebe glaube. Auch wenn ich übersehen habe, dass es bei Geschichten nicht nur darum geht, ob sie gut enden. Es geht auch darum, ob sie gut beginnen. Es ist so wichtig, wie sie beginnen. Es ist so wichtig, dass sie gut beginnen. Und unsere Geschichte hat nicht gut begonnen.

Unsere Geschichten hätten anders beginnen sollen. Es ist schwer, den Anfang einer Geschichte zu finden. Es ist schwer, die Zeit für einen guten Anfang zu treffen. Denn so sehr wir beide an eine andere Wahrheit glauben wollen, so spielt die Zeit doch eine wichtigere, größere Rolle, als wir es uns eingestehen wollten. Und wenn diese doch unsere Geschichte ist, dann eine, die wir gegen die Zeit verloren haben. Eine Geschichte über das Verpassen und falsche Zeitpunkte.

Als die Sonne hinter die Gipfel der Bäume sinkt und lange Schatten wirft, muss ich ins Freie treten. Um wenigsten einen letzten Sonnenstrahl auf meiner Haut zu spüren. Einen kleinen, weichen Sonnenstrahl, der keinen Schaden mehr anrichten kann und mir in diesem Moment dennoch die Welt bedeutet.

Vielleicht werde ich es eines Tages spielen können, mein Klavier. Aber jetzt ist nicht die richtige Zeit, das Spielen zu erlernen. So wie jetzt auch nicht die richtige Zeit ist, unsere Geschichte zu erzählen.

Geschichten über die Liebe beginnen oft zu spät. Und auch wenn wir daran glauben, dass es gut werden wird, bleibt sie, die Angst, davor, dass auch unsere Geschichte bereits begonnen hat, dass auch wir zu spät sind.

Während ich der Sonne weiter dabei zusehen, wie sie hinter den Horizont sinkt, kommt mir ein Wunsch über die Lippen. Der Wunsch danach, dass unsere Geschichte schlicht noch nicht begonnen hat. Dass wir den guten Anfang nicht verpasst, sondern viel zu früh, viel zu ungeduldig in die Geschichte gestartet sind. Dass wir noch auf den richtigen Zeitpunkt warten müssen, auf den gute Anfang unserer Geschichte.

Mein Bussard kreist nach Sonnenuntergang noch über der trockenen Juniwiese. Seine Beharrlichkeit macht mir Hoffnung. Denn was mich jetzt noch hält, ist der Glaube daran, dass die Dinge, die wirklich gut sind, Zeit brauchen. Dass die Dinge, die wirklich gut sind, nie leicht sind. Und es wäre zu leicht gewesen, wenn ich eines Tages hätte erzählen können, dass es unser Lachen war.

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Lavina Stauber

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freiVERS | Johannes Bruckmann

Neubeginn

Es ist schon wieder hell geworden
Aber dieser Morgen begann vor vielen Jahren
Als die Zeit
Noch für mich zuständig war

Es ist, als bräuchte ich jetzt einen Anhaltspunkt
Es ist, als wäre ich mit meiner eigenen Erzählung
Zu weit gegangen
Und müsste jetzt etwas tun
Das ich bereuen kann
Um dann
Neu zu beginnen

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Johannes Bruckmann

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freiTEXT | Jasmin Schellong

21 Fußballfelder

Mein Vater ist Polizist und Fußballheld. Er schoss einst das entscheidende Tor um die Bezirksliga-Meisterschaft. Später verteilte er überall auf dem Wohnzimmerteppich Salbe, die er auf seine Blasen auftrug. Meine Oma sagte stets, das sei der Preis des Erfolgs. Will man uns besuchen, muss man in eine bayerische Gegend, die fast so viele Autos wie Einwohner hat, und in der viele Kreuze am Straßenrand stehen. Igel gehören hier zur bedrohten Art. Früher wohnten wir über der Bank. Papas Uniform hing jeden Tag frisch gebügelt auf dem Balkon. Ich glaube, es lag an der Uniform, dass die Bank nie überfallen worden ist. Mama arbeitet in einer Bäckerei. Ihre Arme waren voller Narben, allesamt Brandwunden von den heißen Backblechen. Sie lernte meinen Vater auf der Treppe am Ausgang eines Tanzlokals kennen. Hätte sie doch nur ein wenig von Feng-Shui verstanden, dann wäre ihr klar gewesen, dass dies schlechte energetische Voraussetzungen sind. Meine Eltern heirateten in dem Jahr, als Boris Becker noch Jungfrau war und Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Kurze Zeit später, die Beziehung hatte nicht nur Risse, sondern trug eher das Muster eines Mohnstrudels, schafften sie zuerst die Couch von Ikea, dann mich, und schließlich meinen Bruder an. Menschen merken sich immer den Ort an dem sie sich finden, jedoch nie den Ort, an dem sie sich verlieren. Nicht so meine Mama: als sie dasselbe fühlte, wenn sie Pfirsiche im Supermarkt anfasste, wie wenn sie meinen Vater berührte, wusste sie, dass ihre Liebe zu Ende war. Mit jemandem abzuschließen gelingt erfolgreicher, wenn beide Seiten mindestens mit einem Unentschieden auseinandergehen.

Ich weiß noch, dass er früher nicht einschlafen konnte, ohne dass jemand seine Hände festhielt. Die waren wie warme Kissen aus Fleisch. Man konnte die Unendlichkeit in ihnen fühlen. Jedes Mädchen mit dem ich was hatte, fand ihn total süß. Wikipedia sagt über Menschen wie ihn, dass der Fehler in den Erbanlagen liegen müsse. Das Gen Nummer 21 sei in fast allen Zellen dreifach vorhanden. Ich will das nicht glauben.

Als ihn die Hauptschule an unserem Ort als Schüler ablehnte, war ich traurig. Nicht seinetwegen. Egal wo er war, er kam überall zurecht. Mir taten die Menschen an der Schule leid, würden sie nun doch so viel verpassen. Durch ihn hab ich mehr über mich gelernt, als mir lieb ist. Beispielsweise, dass ich ein eifersüchtiger Mistkerl bin. Mama tat alles für ihn. Geschnittenes Bio-Obst, Reittherapie, integrative Schule. Viele Besuche bei Therapeutinnen-Frauen aller Art - mit körpereinnehmenden Schals. Sie war eine richtige Sagrotan-Mum: bei richtiger Anwendung Effektivität bis zu 99 Prozent. Als er größer wurde, liebte er es, zum Flughafen zu fahren und neue Menschen, die gerade ankamen, anzusehen. Besonders gefielen ihm die verschiedenen Uniformen der Flug-Crews. Erblickte er im Bus eine Person mit ihm verdächtig erscheinenden Leberflecken, empfahl er den Betreffenden unseren Dermatologen, dessen Visitenkarte er immer in der Jackentasche dabeihatte. Er kannte nicht diese Distanz, die uns Menschen trennt, und jeden einsam in seinen Startblock stellt. Er konnte sich unendlich für etwas begeistern. Einmal im Monat gingen wir zum Friseur- er freute sich schon Tage davor. Im Laden kannte jeder das Ritual; nach dem Schneiden Haare in Plastiktüte einpacken.

Wir bewahrten die Tüten im Keller auf. Mein Vater hat sie inzwischen weggeworfen.

Es gibt Tage, die unterteilen etwas in ein Vorher und ein Nachher. Man kann sich für gewöhnlich gut an sie erinnern, weiß, welche Unterhose man anhatte. Es war Freitag mitten im Dezember, im Supermarkt gab es Gummibärchen im Angebot und Schnee hatte die Welt leiser gemacht. Weihnachtsfeier im Verein - ein Anruf von Mama: „Du musst sofort kommen.“

Seit einiger Zeit lebte er unter der Woche in München in einer WG. Er schrieb mir regelmäßig und die Umschläge enthielten immer eine Daunenfeder, die Mitpassagiere in der U-Bahn aus ihren dicken Winterjacken verloren hatten. An diesem Tag war er alleine unterwegs. Das mochte er am liebsten. Den Turtles-Rucksack geschultert, um seinen Hals baumelte der laminierte Adressanhänger mit Mamas Schrift. Vermutlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er suchte Halt und hatte sich im U-Bahnhof in einen Passbildautomaten gesetzt. Sein Herz war krank. Die Narbe nach seiner Herzoperation sah aus wie eine Laserschwert-Wunde. Sport konnte er keinen machen, trotzdem war er bei allem dabei. Im Urlaub ruderten wir mit ihm aufs Meer hinaus. Am Frühstücksbuffet freute er sich über die kleinen Zucker- und Salzpäckchen, die er sich manchmal in den Bauchnabel schüttete. Ich erinnere mich, wie wir abends immer diese Erklär-Sendung zusammen ansahen, die Größenvergleiche stets mittels Fußballfeldern vornimmt.

Kirchen sind kalte Orte, es sind die Menschen, die sie erst wärmer machen. Niemals hab ich in unserer Kirche mehr Leute gesehen, als an diesem Tag.

Fast jeder hatte eine anekdotische Geschichte über ihn parat. Seine Beerdigung verlief trotzdem wie eine Preisverleihung: Zuerst wurde geheult, dann der Familie gedankt, und am Ende gegessen. Damit Mama den Tag durchstand, holte ich ihr vorher an der Tankstelle einen Protein-Riegel. Ich war vorbereitet; trug an diesem Tag so viel Synthetik wie ich konnte, und die elektrostatische Entladung half mir jedem Händeschüttler an seinem Grab einen kurzen Schlag zu versetzen.

Mama und ich sind umgezogen. Das Haus hat einen Aufzug mit Notfallknopf. Ein Schild verspricht 24-stündige Erreichbarkeit. Neulich kam ein Brief. In diesem wurde gebeten, den Notfallknopf wirklich nur im Notfall zu betätigen. Mama hatte immer wieder den Knopf gedrückt um mit jemanden zu sprechen. Sie hat mich nun gebeten, dass ich sie für einen VHS-Sprachkurs anmelde.

Ich kann seither nicht gut alleine einschlafen. Vor einiger Zeit habe ich entdeckt, dass man bei Thalia bis zu drei Stunden schlafen darf, bis man angesprochen wird. Natürlich sind wir noch eine Familie; ich fühle mich dennoch wie die Menschen im Film E.T., als er in sein Raumschiff steigt und sie zurückbleiben. Andere Leute sind mir seit jeher fremd. Wenn ich mit ihnen zu tun habe, komme ich mir vor, wie das Rettungsboot im Film Titanic, dass sich seinen Weg durch die gefroren Körper bahnt.

Seine Zellen waren dreifach, deshalb konnte er sich verschenken. Ich muss mich wie alle, die zu wenig haben, gut verkaufen.

bereits erschienen in &radieschen #56

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Jasmin Schellong

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freiVERS | Donka Dimova

Manchmal, wenn ich mir anschaue

wie der weiße Kater meines Nachbar
unverschämt das Fensterbrett im vierten Stock abmisst,
dann frage ich mich,
ob ein paar Zentimeter Gleichgewicht ausreichen?
Wie viele der sieben Leben schon verbraucht sind?
Vielleicht sind Kater auch mal lebensmüde?
Manchmal, wenn ich ihn anschaue, frage ich mich:
Was für eine wahnsinnige Neugierde?

Doch, was verstehe ich vom Wahnsinn,
der aufm Fensterbrett stolziert,
der furchtlos wählen kann:
viele vernünftige Leben
oder einen irrsinnigen Sekundenflug.

Ich glaube nicht an Schicksal.

Ich erinnere mich an meinen Nachbar,
dessen weißer Schatten noch stolziert
in meinen Augen.
Er, der Wahnsinnige wählte die Sekundenfreiheit.
Ohne Schutzgeländer, ohne Mühe
sprang durchs Fenster seine Furchtlosigkeit.

Vielleicht glaubt der Kater,
sein Herr hatte viele Leben und sucht ihn noch?

Warum ist er gesprungen?

Für den Sekundenflug?
Und danach Scherben der Fehldeutung.
Sekundenflug, klackernde Uhrzeiger, Räder, Kolben
vermessen den Wahnsinn.

Aber wie soll ich an die Zeit glauben,
wenn das Weltall vergisst
die Jahre des Lichtes zu zählen,
wenn mein Kopf sogar
langsamer altert als die Füße.
Ohne Erdanziehungskraft würden wir ewig leben.
Es stimmt. Frage die Physik!
Die Zeit ist nicht linear. Sie ist in uns.
Die Uhrwerke sind der Entwurf
von kranken Geistern ohne Zeit.

Dann warum soll diese selbstmörderische Kleinzeit
von meinem Nachbarn keine Ewigkeit fortdauern?

Der Wahnsinnige im Sturzflug nach unten
der Kater hinterher
in einem unmessbaren Glück.

Alle Uhrmacher schauen zu, wie ihre Zeit abläuft.

Der Körper wird auf dem Boden prallen,
aufplatzen wird neben Hirn und Adern
auch das Wissen.
Die Haare werden zerstreut aufm Bürgersteig,
die Vernunft zermatscht in eine Pfütze.
Zahnräder, Gelenke und Vorstellungen
werden herrenlos durch die Straßen rollen.
Nur der Wahnsinn feiert.
Wenn ich all diese Bruchstücke aufsammel´,
werde ich dann besser schlafen können?
Wird der weiße Schatten dann verschwinden?

Manchmal schaue ich mir
den weißen Kater meines Nachbar an
und frage mich:
„Was für eine wahnsinnige Neugierde?

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Donka Dimova

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freiTEXT | Monique Wesemaël

Sternstunde

Er hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt. Unter sich fühlte er die feste Matratze, die ihm Halt gab. Sicherheit. Sein Blick fixierte die flimmernde Dunkelheit, die über ihm durch das Dachfenster hereinschwebte. Unzählige Sterne, alte Bekannte, leisteten ihm Gesellschaft, zwinkerten mit kaltem Licht zu ihm hinunter. In Gedanken sortierte er sie nach Namen, identifizierte Sternbilder, die er immer wieder stolz und mit Freude benannte: der Große Bär, der Kleine Bär, Orion, Andromeda, Kassiopeia. Jupiter schien außergewöhnlich hell um diese Jahreszeit.

Die Enge in seiner Brust nahm wieder zu. Verdammt, es war doch alles gut! Er war allein, in Sicherheit.

Heute Nachmittag waren sie zusammen in seinem Elternhaus, um vom Dachboden das zweite Bett zu holen. In diesen letzten Wochen und Monaten traute er sich langsam aus der Deckung, freute sich über die gemeinsame Zeit mit ihr. Wenn er bei ihr war, schliefen sie in ihrem großen Bett, mal händchenhaltend, mal aneinandergeschmiegt. Ihre Wärme, ihre weiche Haut waren nie weiter als eine Armlänge entfernt.

Bei ihm hingegen stand das schmale Bett. Neunzig Zentimeter, damit begnügte er sich seit seiner Scheidung. Seine Ex-Frau hatte nie besonderen Wert auf eine gemeinsame Schlafstatt gelegt. Warum standen ihre Betten eigentlich immer auseinander? Warum kam er sich all die Jahre vor wie ein Bittsteller, wenn er auf der Suche nach Nähe zu ihr ins Bett kroch?

Seine Freundin hatte nie ein Wort gesagt, dass er ihr die Extramatratze auf den Fußboden legte, wenn sie zum Übernachten blieb. Oft genug lag sie so lange in seinen Armen, bis sie begann wegzudämmern. Ihn machte das ganz unruhig. Er fürchtete, keinen Platz für seine Nachtruhe zu haben. Ohne zu murren rutschte sie auf sein Zeichen dann schlaftrunken auf die Matratze hinüber, die einen halben Meter neben dem Bett lag. Das wollte er nicht mehr.

Als sie nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag mit den Einzelteilen des Betts in seinem Schlafzimmer standen, hatte er schon einmal sein eigenes Bett an die andere Wand geschoben. Er wollte Platz für das zweite daneben schaffen. Aber mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch lieber den Schreibtisch an eine andere Stelle versetzen wollte. Oder das Bücherregal umbauen, das da im Weg stand. Und die große Pflanze, die vorher sein Schlafzimmer begrünt hatte, musste nun ins Wohnzimmer. Und seine Musikinstrumente auch: die zwei Posaunenkoffer, der Notenständer, die Conga.

Er blickte sich um. Dann setzte er sich auf sein Bett und überlegte. Sie setzte sich neben ihn, wortlos. Warf ihm einen forschenden Blick von der Seite zu. Dass so ein zweites Bett so viel Platz brauchte… Er atmete ganz flach. Ihm war, als schnüre ein eisernes Band seinen Brustkorb ein. Schwindel ergriff ihn, alles wurde eng. Die Wände des Zimmers wölbten sich zentimeterweise nach innen. Wie wenig Raum auf einmal da war!

Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich glaube, ich habe mich übernommen“, murmelte er.

Verstohlen linste er zu ihr.

Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Ist nicht schlimm“, antwortete sie nach einer kurzen Pause. „Ich schlafe noch eine Weile auf der Matratze. Es muss noch nicht sein.“

Schweigend räumten sie die Möbelteile hinter die Schlafzimmertüre, in die Nische neben dem Schrank. „Da musst du sie nicht ständig sehen“, sagte sie versöhnlich.

Die Enge in seiner Brust ließ nicht nach. In seinem Kopf stürzten stattdessen die Gedanken eine Böschung hinab, verfingen sich im Dickicht dorniger und klebriger Ranken. Atemlos suchten sie einen Ausweg aus diesem beängstigenden Labyrinth. Das eiserne Band saß so fest, dass ihm übel wurde. Betretenes Schweigen brannte auf seinen Stimmbändern. Unerträgliche Beklemmung brüllte nach ihrem Recht.

„Würde es dir etwas ausmachen, heute bei dir zu schlafen?“

Sie sah ihn an. Ihr ernster Blick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube.

Statt einer Antwort drehte sie sich um, ging in den Flur und begann, ihre Schuhe anzuziehen. Er ging ihr nach, schweigend, einen Kloß von der Größe eines Tennisballs im Hals. Sie nahm ihre Tasche und ihre Jacke vom Garderobenhaken.

Geh nicht.

Sie öffnete die Wohnungstüre und wandte sich um. In ihren Augen standen Tränen.

Geh nicht. Bitte bleib.

„Na dann.. mach‘s mal gut“, stammelte er.

Kaum hörbar erwiderte sie: „Ja, mach‘s gut.“ Halt sie auf.

Dann wandte sie sich ab und zog die Türe hinter sich zu.

In den nächsten Tagen würde er endlich das Teleskop aufbauen, damit er ihr den leuchtenden Jupiter zeigen konnte. Und Saturn direkt daneben.

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Monique Wesemaël

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