freiTEXT | Anne Büttner

Für immer Best of

Du hast alles vorbereitet. Prüfst ein letztes Mal, ob du nichts vergessen hast. Hast du nicht. Alles, wie es sein soll: der Sender eingestellt, die C-60 richtigrum im Deck A, neben dir zwei Stifte, falls einer spinnt, die Hülle mit Einleger, auf dem du die bislang gesammelten Trophäen schon ins Reine geschrieben hast, und ein Schmierpapier, auf dem du die heute hoffentlich hinzukommenden notieren wirst. Hinter dir auf dem Tisch Gurkengesichtbrote und Tee aus deiner Lieblingstasse. Eine Doppelstunde lang wirst du hier jetzt nicht wegkönnen.

Du weißt, was zu tun ist. Hast alles beigebracht bekommen. Geduldig, bis du alle Knöpfe und Tasten bedienen konntest, die du brauchst. Du machst das nicht das erste Mal allein. Hast Talent und inzwischen auch Übung. Erwischst häufig den perfekten Einsatz. Der richtige Einsatz ist das Schwierigste. Das lässt sich dann nachher nämlich nicht mehr ändern: Da bleibt, wenn du zu früh einsetzt, die Anmoderation hörbar, oder fehlt, wenn du zu spät bist, der Liedanfang. Beim Ausklang ist das leichter. Jedenfalls, wenn du zu spät stoppst und die Moderation schon wieder eingesetzt hat. Da kannst du zurückspulen und die Stimmen mit der nächsten Aufnahme überspielen. Da geht das. Beim Einsatz bräuchtest du das ganze Lied neu. Auch das musstest du lernen, auch das wurde dir gezeigt. Erst gezeigt und dann beigebracht. Bei Gurkengesichtbroten und Tee aus deiner Lieblingstasse.

Musst kaum noch Fragen stellen. Obwohl du jederzeit könntest, willst du es nicht. Willst es selbst schaffen. Ziehst deinen Stuhl ganz dicht vor die gute Anlage. Obwohl die Kopfhörer kaputt sind, darfst du sie trotzdem anmachen. Nur leiser, damit man den Fernseher noch hört, der auch hier steht. Nachrichten und so. Du musst also ganz genau hinhören. Wird trotzdem gehen. Muss.
Schaust nach links zum Sessel, der Trainerbank. Erntest liebevolle Mimik und motivierende Gestik. Nickst startklar zurück und konzentrierst dich.
Noch eine halbe Stunde bis zu den Platzierungen. Bis dahin Neueinstiege und Re-Entries, was du noch nicht schreiben kannst, aber weißt, was es ist und auch nicht mehr vergisst, weil der Moderator es jede Woche erklärt.
Die halbe Stunde hörst du zum Warmwerden, für dann, wenn es ernst wird. Hast es durchgerechnet: noch zwei Titel Platz. Dafür musst du die Einsätze nicht perfekt erwischen, gut würde reichen. Dir aber nicht. Bist aufgeregt. Zu aufgeregt selbst für Gurkengesichtbrote und Tee aus deiner Lieblingstasse.

Nachrichten. Gleich wird es ernst. Düdü-düdü-düdüüüü-dü, Verkehrsfunk noch. Du beugst dich ran, noch näher ran, so nah, wie es geht, ran. Kneifst die Augen zusammen, weil du so besser hörst. Das linke Ohr hört zu viel Wohnzimmer, also hältst du es zu. Hörst jetzt nur mit rechts und zusammengekniffenen Augen. Legst den Zeigefinger der freien Hand auf die Taste mit dem roten Kreis und den Mittelfinger auf die mit dem weißen Dreieck, um sie im perfekten Moment zeitgleich zu drücken. Hältst sie vor jeder neuen Platzierung in angespannter Bereitschaft.
Bist beides, erleichtert und enttäuscht, wenn ein Titel kommt, den du schon hast. Erleichtert, weil du die Finger kurz lösen kannst, enttäuscht, weil dir noch immer zwei Titel fehlen.
Daumen hoch von der Trainerbank. Wird schon. Schokoriegel? Du nickst. Passgenauer Wurf. Fängst ihn. Grinst. Enttäuschung vergessen. Beißt ab. Dann wieder in Position. Riegel zur Seite. Wirst ihn beim nächsten Titel weiteressen. Außer es kommt einer, den du noch nicht hast. Dann ist keine Zeit. Dann musst du dir merken, was der Moderator gesagt hat, wie er heißt und von wem er ist, während du hochkonzentriert auf den ersten Ton wartest, um genau dann zeitgleich den roten Kreis und das weiße Dreieck zu drücken, bis sie einrasten. Lieber zu viel Druck als zu wenig. Auch das hast du gelernt.

Wirst, während die Aufnahme läuft, notieren, was du dir gemerkt und verstanden hast. Wirst es so aufschreiben, wie du denkst, dass es geschrieben wird und später, wenn mehr Zeit ist, in der rechten Spalte, der für die B-Seite, auf dem kleinzeiligen Einleger nachtragen. Dein Englisch ist noch nicht gut genug und deine Hand noch nicht ausreichend geübt, um richtig und schnell so klein schreiben zu können. Manche Worte hattest du schon, weißt, wie man sie schreibt, bei anderen hilft Sprachgefühl und das Alphabet. Umlaute sind deine Freunde, vor allem ä.

Könntest fragen, immer. Würdest nie enttäuschen. Trotzdem. Willst es allein schaffen. Weißt, wofür du es machst.

Wirst dann dem Ende des Liedes entgegenfiebern, dem Moment, da der letzte Ton verklungen ist und kurz Stille herrscht, bevor die Moderation wieder einsetzt. Das ist der Moment, auf den du hoffst, der Moment, in dem du die Aufnahme stoppst. Da reicht dann Zeige- oder Mittelfinger und leichter Druck auf nur eine Taste – die mit dem weißen Viereck.

Meistens wird dann nochmal wiederholt, wie das Lied heißt und von wem es ist. Dann kannst du vergleichen, ob sich das so anhört, wie sich das, was du auf deinem Schmierblatt notiert hast, liest. Abgleichen ist leichter als Aufschreiben. Zeit bleibt trotzdem kaum, solang nicht alle Platzierungen gespielt sind. Musst dich wieder in Position bringen, Finger auf roten Kreis und weißes Dreieck, linkes Ohr zuhalten, Augen zusammenkneifen, konzentrieren.

Weißt inzwischen, dass du während der Aufnahme normal atmen, sogar sprechen kannst. Weißt, dass nur das, was gerade auf dem Sender läuft, später auf der Kassette zu hören ist. Also hoffst du mit all deiner Kraft, bittebittebittebitte, dass es, solang roter Kreis und weißes Dreieck eingerastet sind, keine Geisterfahrer oder herumliegenden Reifenteile gibt, keine Wildtiere die Fahrbahn kreuzen und auch kein Stauende in einer Kurve liegt oder was sonst den dödö-dödö-dödöööö-dö-Verkehrsfunk mit einer wichtigen Meldung auslöst und deine Aufnahme ruiniert. Denkst egoistisch. Zwei Titel brauchst du noch. Danach kann der dödö-dödö-dödöööö-dö-Verkehrsfunk deinetwegen durchfunken.

Du brauchst diese beiden Titel. Wenigstens einen noch, dann könnte es bis zu den Ferien klappen. Darauf arbeitest du hin. Auf das Daumentrommeln auf dem Lenkrad. Auf das beeindruckte Nicken. Auf das Mitpfeifen, wenn der Text zum Mitsingen fehlt. Auf das Lächeln und das Zuzwinkern im Rückspiegel. Auf das rhythmische Klopfen auf dem Schalthebel. Dafür machst du es. Für die Trainerbank, die dir alles beigebracht hat.

 

Anne Büttner

 

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freiVERS | Karl Johann Müller

an deiner Seite

unsere Zärtlichkeit
gefaltet
mit Sorge hingelegt
ganz nach deinem Erinnern
auf einen Stuhl an deiner Seite
deine Aufgeräumtheit
in meinem Geschenkpapier
wie ein Malbuch aus Kindertagen
ohne Farben
daneben ausgelaufene Stifte
an der Hosennaht
die Taschen mit versprochenen Bonbons
sie hängen wie Knospen an Zweigen
alter Bäume
die Kerben waren einmal frisch
wir waren geschmeidig
mit dünner Haut
die wir behutsam aneinander legten
wie ein Kuss
jetzt rinnt Harz durch dein Haar
ich schaue dir beim Liegen zu
und
bleibe

.

Karl Johann Müller

.

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freiTEXT | Carla Giuseppina Magnanimo

Sisso Love

Ich zerwühle Laken, bis sie nicht mehr erkennbar sind, bis sie sich am Ende meines Bettes zu einem Klumpen zusammengefunden haben, wie alte Kumpel vor einer Bar, schweißgetränkter und bald nicht mehr weißer Stoff, der die gelbe Erinnerung an meine schlaflosen Nächte sein wird, bis ich mich erbarme und sie in die Waschmaschine stopfe, sodass der Kreislauf von vorne losgehen kann.

Ich schlage meine Augen auf, schnell und erbarmungslos, denn Erbarmen darf ich grad nicht haben, nicht in diesem Moment, das weiß ich genau, es ist eine kleine aber feine Art der Bestrafung. Würde mir jemand gegenüber sitzen, würde sie erschrecken, Augen so schnell aufgeschlagen, dass man sich fragen würde, ob sie eventuell schon die ganze Zeit geöffnet waren? Grade eben habe ich noch geschlummert, geschlafen wäre übertrieben, ich war auf dem Weg dorthin, ich war auf dem Weg in die Entspannung, die Ruhe, die endlose Geborgenheit des Schlafes, aber so gnädig war ich heute nicht mit mir. Mein Kopf hat sich seinen eigenen Weg gebahnt, meine Gedanken haben ihre eigene Richtung eingeschlagen, weit weg von schlafen und Augen geschlossen halten.

Ich sehe dein Gesicht ganz nah vor mir, als ich die Augen aufschlage, so ein kleines rundes Gesicht, ein brauner Pony über deiner Stirn, deine Haare schon immer so anders als meine, glatt und dunkelbraun, meine Straßenköter wie man so schön sagt und unordentlich. Ah, wie du mich anschaust, kleine Schwesti, große ungetrübte Augen, voller Vertrauen, endlos, du sagst etwas, aber heute kann ich nicht mehr hören, was es ist, dein Mund öffnet sich stumm, du lachst, deine Zähne, kleine Milchzähne blitzen hervor, ich höre dein Lachen nicht, aber ich kann es mir vorstellen, es klingt wie Kinderlachen nun mal überall klingt.

Ich kann mich selbst nicht sehen, aber mein Körper weiß bereits, was passieren wird. Sie, mein Körper ist eine SIE, durchdrungen vom S vom I vom E, wird steif, mein echter eigener Körper, in meinem Bett mit dem Lakenklumpen, wo ich dein Gesicht sehe, Sisso, nicht mein Erinnerungskörper, der vor dir steht, als du noch Milchzähne hattest.

Ich kann mich selbst nicht hören, in meinem Erinnerungskörper, die stimmlos ist. Aber ich weiß, was ich gsagt habe, es sind die Worte, die dafür gesorgt haben, dass ich meine Augen erbarmungslos aufschlage, es sind die Worte, die mich ebenfalls ohne Erbarmen daran erinnern, wie sich dein Blick weitet, ungläubig. Du hast doch so fest daran geglaubt, an unser schwesterliches Bonding, an unser geteiltes Blut, unsere geteilten Erinnerungen, so fest daran geglaubt, dass ich dich ebenso bedingungslos liebe wie du mich. Ich spreche stimmlos zu dir, ich versuche die Tür zwischen uns zuzudrücken, die Bodenlosigkeit deiner Enttäuschung zwischen uns, wie ein Holzkeil, der die Tür daran hindert, sich vollständig zu schließen.

Ich schlage meine Augen auf, liege dort, dein Schwesterngesicht über mir, deine Augen jetzt leer, kein Lachen mehr im Gesicht, keine weißen Milchzähne mehr. Meine Gliedmaßen kribbeln, mein Körper hat das große Bedürfnis sich zu bewegen, alles daran abzuschütteln, deine Blick auf mir wie eklige Tiere, Ameisen, Spinnen, Käfer, die auf mir hoch- und runterkrabbeln, oh man, fuck, ich muss mich dringend bewegen, ich drehe mich, greife nach gelben Laken, die ich mir überziehen kann, will mein Gesicht bedecken, damit ich nicht mehr sehen muss, wie du von deiner eigenen Schwester verraten wirst, wie deine Liebe ins Nichts fällt, wie sie versucht sich durch den Schlitz in der Tür zu drängen und ich nur noch härter dagegen halte. Du bist ein kleines Kind und ich sehe dich an als Erwachsene und dein Blick reißt Löcher in mich.

Ich muss mich räuspern, husten, aufstöhnen, muss Geräusche erzeugen, um meinen Erinnerungskörper zu entlasten, um meinen Kopf hinters Licht zu führen, das Wichtigste ist vergessen, solange wie es geht, bis sich meine Erinnerung wieder gegen mich wenden. Ich brauche Geräusche, um dich abzuschütteln, deinem Blick zu entkommen, tut mir leid, Schwesterherz. Alles läuft nun rückwärts, alles verwischt, deine Haare braune Schlieren in einem bunten Gewirr, unmöglich zu entschlüssen, deine Milchzähne endgültig weg. Dein Blick wandelt sich, von enttäuscht zu liebevoll, dein Gesicht läuft rückwärts, du wendest dich mir zu, Türen öffnen sich, Liebe kann fließen, was für ein Glück, können wir so stehenbleiben, die offene Tür zwischen uns, kann es bitte aufhören, hier am Anfang?

 

Carla Giuseppina Magnanimo

 

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freiVERS | Greta Köhne

Saragozza-Diaries # 10

LAGERFEUER IN BLECHWÜSTEN

womit soll ich beginnen
wenn lagerfeuergeruch noch spürbar
in den kleidern hängt
hier auf dem balkon

und der balkon ist nur feudel
ist nur leiter
ist nur eine zigarette auf dem plastikstuhl

sehe hinab in den hof
der stolzes autozuhause ist
dicht an dicht glänzende bleche

und womit soll ich beginnen

ich bräuchte eine schürze wie die anderen frauen
die alten, auf den anderen balkonen
auch sie blicken auf den hof, auf die
wartenden autos
wobei nein
vielleicht schweift ihr blick über anderes
er schweift

aber ich habe keine schürze
soll ich kehren

besenstrich
für
besenstrich aber wo

auf dem plastikstuhl nehme ich platz
ich rauche nicht

ich mache lagerfeuer in blechwüsten
als beginn meines tages

.

Greta Köhne

.

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freiTEXT | Verena Lippus

Oben ist die Luft frei

Anna geht den Berg hinauf, mitten in der Sonne. Sie schnauft. Sie schaut nicht zurück, sie geht weiter. Sie schnauft den Berg hinauf und verletzt dabei den Schwur, an der Bergwacht Halt zu machen. Sie klopft nicht dreimal auf Holz. Sie hat nur den Rucksack dabei und die Dinge darin. Das Handy hat sie endgültig nicht mitgenommen und die Trinkflasche im Bus vergessen. Anna steigt und schwer ist der Sack auf den Schultern. Sie sackt zwischen den Schultern in das Kreuz hinein und kriecht schwitzend weiter, ohne Wasser, ohne LTE-Netz zwischen den letzten krummen Bäumen ohne Nadelkleid. Es ist nicht kalt. Es ist nicht weit. Auf der letzten Reise hat ihr Peter den Stock geschenkt, nur einen, den sie stets in der linken Hand hält und ungeübt wie sie es ist, im falschen Rhythmus zu ihrem Gang unregelmäßig in den Boden sticht. Es ist keine Hilfe. Sie stützt sich hin und wieder auf den Stock, wenn sie Halt macht und den Rucksack absetzt, sich benässt mit den wenigen Tropfen des fast ausgetrockneten Baches. Anna ist fertig. Sie ist jetzt fertig und könnte gehen.
An der nächsten Weggabelung stehen wieder die Wanderschilder. Es zeigen vier Schilder in drei Richtungen. Es stehen Rauten darauf in verschiedenen Farben und mit Zahlen und mit Orten. Anna folgt blau. Blau geht nach oben, geht steil, geht auf festem Waldboden, geht auf Gestein, geht bald in der brütenden Hitze ohne Schatten den Berg hinauf. Blau ist Terrain, ist Sonne am Himmel, ist Anna, die geht, ist Anna, die ist frei.
Vorsichtig dreht sie einen Stein um, seine Unterseite ist noch frisch, ist kalt. Sie führt ihn zur Stirn.
Sie sitzt am Boden, mit dem Stein.
Sie ist gefallen, etwas unter dem Knie blutet.
Die Sonne scheint.
Anna nimmt ihn noch einmal in die Hand, den Stein, den halbkühlen Stein, sie dreht ihn sanft, drückt ihn, reibt, wünscht sich einen Geduldsstein, hadert mit dem Blau und dem Weg, spürt den Schweiß in der offenen Wunde brennen, das Gehen, das Liegen, das Fallen, in der offenen Wunde stehen.
Es ist nicht still. Nur, weil keine Autos fahren, weil keine Menschen ihre Kinderwägen durch den Park schieben, weil niemand telefoniert, ist es nicht still.
Es ist eigentlich ziemlich laut. Anna versteht es jetzt: Es ist laut in den Bergen, es ächzt, kreischt, geiert, mäht, es rauscht und reißt, es schreit, hämmert, seufzt, es trampelt, stochert, quietscht, es muht, meckert, zischt. Es ist laut. Und dazu die lauten Gedanken in Annas Kopf und das Badumbadum in ihrer Brust. Es schwielt, es schwärzt sich der Weg.
Vor Schmerz drückt sie die Augen zu, doch sie läuft, das Blau läuft ihr am Bein hinab. Sie geht weiter, nicht zurück. Das gehört dazu. Sie hat den Rucksack irgendwo abgestellt und ihn dort stehen lassen. Sie hat nur noch das Bein dabei, das Bein nimmt den Raum ein, der Schmerz, die Angst, nicht mehr zu sehen, wohin die richtige Raute führt.
Die Sonne scheint. Nur ein leichter Wind deutet an, dass ein Tag zu Ende gehen kann.
Anna schweigt. Alles andere verschwimmt zu einem einzigen Ton in ihrer Bauchspeicheldrüse. Sie kotzt es aus, würgt in das Gras, in der krummen Tanne wundert sich ein Käferlein.
Das LTE-Netz umschlingt ihren Nacken, nestelt an den feuchten Strähnen, die an ihrem Rücken festkleben, es leckt sie genüsslich von allen Seiten.
Aber sie hat kein Endgerät.
Hämisch blinzelt das Netz in der Sonne, hinterlässt Kacheln im Raum, die Anna tapfer durchsteigt. Wo ist der Empfang.
Eventuell steigt ein Berg über den Rand der Sonne und kippt synchron mit der Nacht aus den Stiefeln.
Vielleicht flüchtet ein Zicklein und stolpert über die umgedrehten Wurzeln.
Anna liegt im Gras. Sie hat die Welt als Rucksack, denn sie liegt oben.
Alles ist weich.
Sie hat den Schmerz vergessen.
So finden wir sie vor: weich.

 

Verena Lippus

 

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freiVERS | Ann-Christin Kehrberg

Ein Haushalt am Gang

Auf dem Dachboden sitze ich
an die Wand gelehnt
die Beine von mir gestreckt
die Sonne trifft durch die Luke mein Gesicht
bewegungslos beobachte ich
den tanzenden Staub

Keine Geräusche außer mein eigener Atem
ein Ort an dem der Uhrzeiger still steht
eine Erinnerung steigt in mir hoch
Großvaters Abstellkammer
Kleidung von der Waldarbeit
im eigenen Geruch eingesperrt

Der Dachboden ein friedlicher Ort
Unruhe macht sich in mir breit
der Puls geht schnell
doch ich bleibe weiter regungslos
Bewegung verkörpert Sinnlosigkeit
warum wohin wozu
die Antwort verschließt sich mir
der weite Raum, die große Stille
Hilflosigkeit
Spinnenweben soweit das Auge reicht
eingeschnürt in einem Leben
das ich nicht zu leben weiß

Die Stiegen führen hinunter zum Keller
ohne Tageslicht
biege rechtzeitig zur Wohnung ab
ein Taubennest

.

Ann-Christin Kehrberg

.

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freiTEXT | Katharina Kiening

Fragmente

Weißt du, heute, da habe ich am Straßenrand eine Pflanze entdeckt, ich weiß nicht, wie sie heißt. Das ist eine Hasenohren-Pflanze, erzählte mir als Kind jemand, weil die Struktur so weich ist, und das ist wohl die einzige Info, die ich mir dazu je merken werde, egal wie oft ich versuche, auch den botanischen Namen im Gedächtnis zu behalten. Dort wo die Hasenohren wuchsen, in dem Park, da gab es viele Weiden. Die Äste konnte man schön biegen, wenn sie jung und nass waren, und sie brachen natürlich, wenn man das gleiche mit vertrockneten Exemplaren probierte. Viele Menschen in meinem Leben verstehen das nicht. Dass Härte nicht widerstandsfähig ist. Dass man irgendwann an ihr zerbricht. Ich weiß noch, als ich im Zug saß, um dich zu besuchen, und das Abteil alt und grau und laut war. Ich weiß noch, dass ich mit dir um den See spazierte, dass ich übernachtete, dass du mir die Weidenkörbe zeigtest, die du in den Nachmittagsgruppen basteltest, einer war beige und oval, der andere kreisrund mit roten Striemen. Frühstück nahmen alle gemeinsam zu sich und jeder hatte einen Zettel vor sich liegen mit Platz für Notizen. Bei uns saß keine Aufsicht, am Tisch daneben war das anders. Das mit den Zetteln blieb eine Weile so, ich weiß nicht, ob du nach wie vor tagtäglich Smileys schreibst oder streichst. Aber als du mich von der Wohnung aus anriefst, da waren sie aktuell, es gab zu der Zeit nicht viele. Ich ging den gewohnten Weg und mit dem Extraschlüssel in der Hand zu dir, öffnete die Tür. Und weißt du, das was ich dir hier erzähle, ich weiß, dass alles davon wirklich war. Aber wenn ich Fragmente zusammenfüge und auseinanderreiße und überlagere, dann entstehen Bewegtbilder in einer spezifischen Reihenfolge, von der du nichts wissen kannst, deshalb erzähle ich. Deshalb erzähle ich dir, dass es ein kleines Zimmer ist, in das ich trete, dass der Teppich einen intensiven Eigengeruch hat, der nicht verfliegt. Ich sage dir, dass alles gut wird und streiche über deinen Rücken, sage dir, dass es mir gut geht, das stimmt nicht, aber du bemerkst es nicht. Ich decke dich zu und sage dir, dass ich die Vorhänge und Fenster aufmachen, dass ich die Küche und das Bad putzen werde, dass ich bleibe, bis du dich geduscht und angezogen hast.

Manchmal denke ich, dass wir an unterschiedlichen Punkten unserer Zeitbahn sind, du und ich, und dass das gut ist, dass du manchmal vorne bist und mich nachziehst, und dass ich manchmal weiter bin und dir abgesteckte Routen anbiete. Das denke ich nicht, sagst du dann und erklärst mir Statik und Steigungswinkel von multiversischen Wegen und dass zusammensteigen eine gute Idee ist. Dann holst du deine Geige aus dem Koffer und den Bogen, der neu bespannt ist und spielst mir ein Stück, das sich nur hier und sonst nirgends spielen lässt. Jedes Mal nennst du mir den Titel, und jedes Mal vergesse ich ihn mit dem letzten Ton und kann ihn also nicht recherchieren oder selbst erlernen, sondern warte dann wieder, bis wir uns begegnen, damit ich die Melodie, die ich so gerne höre, zwischen uns habe. Spielst du es noch einmal für mich, frage ich. Natürlich, sagst du, und wiegst mich in einen Welt voller Schiefertafeln und eingerahmter Ausblicke, voller zweirädriger Kutschen und vielschichtiger Klippen. An dieser einen Klippe, da war niemand sonst, und wir hatten alles für uns allein, weißt du noch? Wir lagen drei Meter vor dem Klippenrand auf dem Boden und robbten langsam vor, bis wir hinunterblicken konnten zu den Felsen, so, dass wir sicher sein konnten, dass wir nicht ausrutschend fallen. Und dann robbten wir zurück und freuten uns mit ein paar Möwen über unsere waghalsigen Robbenkünste. Wir liefen Trampelpfaden nach und spazierten über Felder mit Schaukeln an Bäumen, und manchmal setzten wir uns darauf und ließen uns windschaukeln. Und manchmal gingen wir zwei Stunden, um Karottenkuchen zu essen. Dann bestellten wir zwei Stück und bekamen ein drittes geschenkt, setzten uns auf die Mauer und beobachteten, wer gleichzeitig mit uns Karottenkuchenstücke aß. An Wäscheleinen hängten wir bunt-geringelte und bunt-gepunktete Socken auf und vorbeigehenden Menschen erklärten wir Himmelsrichtungen, weißt du noch? Und dann hattest du einmal Halsschmerzen und ich brachte dir eine rohe Zwiebel zum Essen, aber krank wurdest du trotzdem und ich auch. Spielst du es noch einmal für mich, frage ich wieder.

Von einer Situation weiß ich sicher, dass nicht nur ich mich daran erinnere, dass auch du dich daran erinnerst. Wir saßen auf einer Steinbank. In einiger Entfernung vor uns war ein künstlich angelegter Weiher, in der Mitte ein Springbrunnen, auf der gegenüberliegenden Seite Eltern mit spielenden Kindern, die wir gelegentlich beobachteten. Ich weiß noch, dass wir beide ein graues Oberteil trugen, ich weiß noch, dass deine Hose blau und meine schwarz war. Dass deine Haare an dem Tag einen frischen Schnitt hatten. Ich weiß noch, wie dein Pappbecher herunterfiel auf den Kiesboden, wie wir uns beide danach bückten und sich unsere Finger für einen Sekundenbruchteil berührten. Für einen Sekundenbruchteil hielten wir die Luft an und es existierte kurz nichts um uns herum, kein Geräusch, keine Windbrise, nichts. Das ist das Bild in meinem Kopf. Und wenn ich dort hingehe, in dieses Bild eintauche, dann setze ich mich auf die gegenüberliegende Seite, dort wo die spielenden Kindern sind und beobachte dich und mich. Sehe deine weißen Sneaker und meinen Hut, sehe Verwunderung, aber keine Überraschung in unseren Augen. Ich sehe, was wir nicht bemerken, wie eine Person ihren Hund von der Leine lässt, wie eine andere stehenbleibt, um zu telefonieren, Zigarettenstummel neben dem Mülleimer, ein Ball, der in unsere Richtung kullert, Enten, die sich an einer Stelle tummeln, weil jemand Brotstücke verteilt, Lichterketten zwischen Bäumen. Wenn ich dann nach einiger Zeit aufstehe und nachhause gehe, in meine Wohnung, dann lass ich dich und mich dort sitzen, in diesem Moment. Und wenn ich dann die Treppe hinaufsteige, die Tür hinter mir schließe, den Schlüssel umdrehe und den Wasserkessel auf den Herd stelle, dann atme ich tief ein und aus, um sicher zu sein aus dem Bild wieder herausgefunden zu haben, dann setze ich mich mit einer Tasse Tee vor eine Pflanze und begutachte jedes Blatt, das gerade am Sich-freiwachsen ist.

 

Katharina Kiening

 

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freiVERS | Lise Reingruber

was ich dir noch
schreiben wollte

als ich
rote rüben
kochte

sie noch
heiß dann
langsam schälte

und rot
meine hände
eine hielten

dacht ich:
so ists.

diese wärme
gestalt
und gewicht

dein herz.

.

Lise Reingruber

.

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freiTEXT | Carina Plinke

Was ist das für ein Universum

Der Wind rappelt an der Toilettentür, während ich pinkle. Die ersten Tropfen Wodka sind in mein Gehirn gesickert und wabern durch meine Gedanken, verwandeln die Vorstellung davon, wie es ist, dir zum ersten Mal einen zu blasen in eine Erinnerung an einen klebrigen Center Shock. Sehr sauer, eine Kindheitssünde, von der jeder weiß, dass sie scheiße ungesund sein muss und trotzdem irgendetwas Geiles daran ist, wenn die Flüssigkeit so aus dem Inneren in den Mund sickert.
Ich schüttele mich, genauso wie ich versucht habe, die Vorstellung von dir abzuschütteln. Doch das hat nicht mal funktioniert, als wir uns noch gar nicht kannten und ich nur daran dachte, dass es dich gibt.
Also stürze ich mich rein. Ich wähle besoffen deine Nummer und höre jemanden Hilfe schreien. Während der Hilfeschrei besoffen beim Pinkeln in den Rhein fällt und schneller untergeht, als ich es erwartet hätte, sagst du: „Hallo?“
Ich sage: „Ey, hier ist grad vor meinen Augen einer in den Rhein gefallen.“
Und du so: „Krass!“
Dann 10 Minuten gar nichts, bis wir schweigend auflegen und ich ein bisschen weine.
Nochmal 10 Minuten später schreibst du: „Konnte er gerettet werden?“
Ich frage mich, welches Video dich die letzten 10 Minuten abgelenkt haben könnte und schreibe direkt: „Nein. Er ist weg!“
Krass!

Eine Stunde später klingelt es an meiner Tür und ich bin es, die „krass“ sagt, aber Center Schock denkt.
Du zockst, zuckst mit den Schultern: „Hab uns Döner mitgebracht!“
Ich lasse dich rein und weine heimlich auf der Toilette, weil ich denke, dass das ein Herzinfarkt sein muss, was grad in mir abgeht. Mein linker Arm kribbelt und ich meine, das ist doch der, der zum Herzen führt. Dann zittere ich, dann bebe ich und dann küsst du mich.
Bevor du in mich eindringst, erzählst du mir von dieser Maus, die ins Universum fliegen wollte, aber Mäuse dürfen nicht in Universen fliegen, deshalb musste sie das heimlich machen und ich denke, Alter, was für eine scheiß Maus, was hast du geraucht, und muss dabei die ganze Zeit an den Mann denken, der im Rhein verschwunden ist und muss immer und immer weiter ans Verschwinden denken.

„Und? Hat die Maus es geschafft?“
„Keine Ahnung. Aber so n bisschen Universum wäre doch ganz geil, oder?“
„Das Universum ist das größte Geheimnis der Welt! Wusstest du, dass die Atmosphäre nur ein dünner Gasschleier ist, der uns am Leben hält?“
„Hä?“, sagt du.
Ich sage: „Egal!“
Wir liegen im Bett und du hältst mich diese Nacht am Leben. Die letzten zwei Jahre waren einsam. Von zu Hause ausziehen während einer Pandemie ist gewagt. Ich höre deinen Herzschlag und deine Haut ist ganz warm. Letztes Mal hatten wir noch keinen Sex, sondern haben über unsere Familientraumata gesprochen. Traumata sind erblich, haben wir beide mal gelesen. In unserer Kindheit bekamen wir nicht viel körperliche Nähe. Bei mir war das schwer, weil meine Mutter von ihrem Vater vergewaltigt wurde und familiäre körperliche Nähe eine Bedrohung war. Bei dir war das schwer, weil deine Mutter eigentlich keine Kinder wollte, aber 10 bekommen hat. Wir reden darüber, dass wir das anders machen wollen und ich glaube dir. Sonst reden wir nicht viel, dabei ist auf dem Weg vom Mädchen zur Frau viel Platz für den Einfluss junger Männer.
Was soll ich machen? Deine Nähe tut grad so gut nach zwei Jahren ohne Umarmung. Du tust grad so gut nach einem ganzen Leben ohne dich.

Es ist ein habgieriger Morgen. Der graue Himmel frisst meine guten Gefühle. Du hast um vier Uhr gefragt, ob du jetzt gehen sollst. Ich habe gesagt: „Jetzt kannst du auch bleiben!“ und dachte:
nur dafür hab ich dich doch hier behalten, jetzt mach bloß keinen Scheiß, und ergänzte noch: „es ist ja auch kalt geworden.“
Zur Belohnung hast du mich auf die Stirn geküsst und mich wichtig gemacht. Glaub ich. Du liegst noch eine ganz lange Weile neben mir. Das tut gut.
Viel Platz ist in meinem kleinen Apartment nicht, aber ich finde, du passt gut rein. Ich glaube, du findest das nicht, als du zum Gehen aufbrichst und irgendwie weiß ich, dass wir uns nicht wieder sehen werden. Meine Freundinnen sagen zu mir, dass ich ihn schließlich von Tinder kenne und was ich erwartet hätte. Ich kenne Paare, die sich über Tinder gedatet haben und jetzt glücklich sind, verteidige ich mich. Ausnahmen, sagen meine Freundinnen.
Ich wiederhole das Wort und hoffe, es bringt mir Glück: Ausnahme.

Der Regen ist orange. Ich mache das Fenster auf und frage mich, ob Gefühle leichter werden, wenn man älter wird. Oder ob Gefühle einfach verschwinden, wenn man etwas 1000 Mal gemacht hat.
Ich würde dir so gerne etwas hinterher rufen, während du da lässig zum Auto gehst. Deine dunkeln Haare sind im Nacken ganz kurz rasiert, deine Schultern füllen die Jeansjacke gut aus. Ich habe mal gedacht, dass jemand wie du sich niemals für mich interessieren könnte. Der Gedanke, dass ich möglicherweise alles selbst schuld bin, weil ich wieder zu verschlossen war, meldet sich pünktlich zurück. Die Gedankenblasen kommen immer, wenn das Objekt der Begierde weg ist. Mit geschlossenen Augen gehe ich in die Küche, unter meinen nackten Fußsohlen bleiben Essensreste kleben. Ich stelle die leere Flasche Wodka vom Tisch auf die Arbeitsfläche, der Red-Bull-Geruch klebt noch an den Wänden. Mein Handy war gestern Nacht in der Küche liegen geblieben, zwischen der zermürbenden Sehnsucht nach körperlicher Nähe und der abstrakten Erinnerungen an den Sturz eines Betrunkenen in den Rhein.
Dann öffne ich Tinder. Ich probiere zum letzten Mal im Rhein zu schwimmen. Versprochen.

 

Carina Plinke

 

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freiVERS | Charlotte Florack

bis in die glieder reicht der wald
ist ein feld aus senkrechten
inzwischen schläft der abend ein
atmen während die stuben sprechen
und aus den fenstern eingelöstes licht
das bekannte ist blind, wie sonst kann
man nicht unterscheiden, jahrelang
aus oder auf etwas schauen

hätten sie mich
hätte ich ihnen erzählt
es ist immer beides gemeint
dass es brüche im blau gibt
an denen entlang kann man verzeihen

.

Charlotte Florack

.

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