freiVERS | Florian Dietmaier

Zugluft

I

ein Zug von Schotterwägen
passiert eine schräge Wiese
nahe den Gefängnismauern

die nachkommenden Böen
lösen dichte weiße Wolken
von Löwenzahnsamen aus

in der schwülen Luft erstarrt
glühen sie einen Augenblick
in Erwartung des Erblühens

 

II

unter der Eisenbahnbrücke
wird eine Zeitung geblättert
jemand hat sie angezündet

Trauer- sowie Jobanzeigen
und daneben die Chroniken
auf den angesengten Seiten

eine Bedeutung hineinlesen
wäre kein Problem doch ist
dies Feuer bereits erloschen

 

III

auf glimmenden Schienen
donnert eine einsame Lok
am neuen Bahnhof vorbei

die Bänke sind aufgestellt
Uhren und Tafeln montiert
doch fehlen die Passagiere

eine Krähe am Blechdach
richtet ihr Gefieder wieder
das der Wind zerzaust hat

.

Florian Dietmaier

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freiVERS | Johanna Schmidt

Berührungen.

körper

Ich wälze mich in Gefieder fremder Körper,
halte mich warm in Räumen,
die nie meine gewesen sind.
Ich reibe mich an der Bettkante,
ziehe mir einen Splitter ein,
blute ins weiße Leinen
und frage mich,
ob der Fleck jemals wieder verschwindet,
ob wir nun Verwandtschaft sind.

Die Handflächen, die Finger
in Krater schieben;
zersplitterte Gebiete
überziehen nackte Körper
werden zu Unebenen,
ein zerkratztes Relief und du:
legst dich auf mich
und suchst und spürst und gräbst
beinahe alle Narben aus.

Deine Bewegungen radieren alle Schatten weg,
nicht einmal das Gegenlicht weiß
dich einzufangen

Ich würde dich gerne sehen,
wie du deine Initialen
in die Maserung
meines Rückens schnitzt.
Wie du die Härchen brichst,
gefrorenes Gras durchstreifst,
es auftaust
im ersten Frost.
Wie deine Muskeln versteifen,
verästeln, brennen,
bevor sie sich
in andere Richtungen strecken.

An bettwarmen Gesichtern
kaltgewordene Hände reiben,
Münder und Lippen nicht nur
für Unaussprechliches
brauchen
wir
uns noch
oder sind wir längst vergangene Ideen,
verheizt in schneeschwarzen
Winternächten?

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Johanna Schmidt

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freiVERS | Miriam Tag

prien, fuchs

erst schleiche ich mit großem abstand an dir vorbei,
mager und wachsam, mein struppiger pelz aufgerissen
von verwegenen streifzügen.

die erde duckt sich unter mir.

in meinem fell hängen die noch warmen reste des tages.
nun ist es nacht, und mein begehren, diese sanfte rote waffe,
dehnt sich über den gesamten körper aus.

ich bin bereit für ein erneutes kühnes spiel, ich bin bereit
für den riskanten moment, wenn ich im strahl deiner augen
erstarre, bloß, deinem blick ausgesetzt,

selbst beute bin

 

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Miriam Tag

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freiVERS | Anna Arning

dämmerung

da sitzt einer
bei seinem zelt am deich
der wartet
auf den untergang
der sonne

die wohlbehausten düssel
städter schlendern oben
radeln, rennen im letzten licht
allein, zu zweit, in gruppen fit
for fun, für’s business oder
einen nicht schlank genug
geratenen hund der kläfft
ins zelt und hebt sein bein
auf pappkarton steht danke
falls jemand doch mal dosen
oder pet-pfand oder ein paar
ausrangierte sneakers hinterlässt

da unten am rhein
bogen sitzt einer
der blinzelt zur sonne
und wartet
weiter

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Anna Arning

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freiVERS | Alexander Rall

Rheinlandschaft im September

Vor der Staffelei

Der leicht fallende Wind an einem kalten Septembertag
zeigt die Straßengesichter in seinem bläßlichen Blau
wie Papier auch die versprühten Farben

Eine Porzellankatze sieht mich lange an und ihr Besitzer
fürchtet ich würde sie mitnehmen ohne zu bezahlen

Die Tümpel und Kohleschlepper sind
in das gleiche bläuliche Licht getaucht
wie die Berge aus sortiertem Schrott
die Lastkähne und der Uferstein

Es scheint als sei auf diese Landschaft
eine Mündung gerichtet

Zwei Männer sitzen in einem geschlossenen Wagen
und trauen sich nicht nach draußen zu gehen
jemand anders bleibt im Dunkel seines Bürofensters
und ich zeichne die wirkliche Mündung seiner Waffe

Er fuchtelt mit ihr, als wisse er noch nicht
worauf er zielen solle, - vielleicht, denke ich
will er die Landschaft als ganzes zum Verschwinden
bringen
bevor sie ihn zum Verschwinden bringt

Der leicht fallende Wind läßt trockenes Laub blühen
und kleine Stückchen Dunkelheit
finden sich an den Flusssteinen, den Grabsteinen
die jemand zu ihnen ans Ufer geworfen hat
aus Achtlosigkeit oder aus Wut

Ich höre auf das Schlagen des Wassers
Segler schweben nah vor dem schwarzen Dom
fahren unter gezeichneten Brücken
in Farbpunkten, Strichen und dem zittrigen Licht
unterschiedlich bedeutender Zeichen

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Alexander Rall

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freiVERS | Chris Lauer

Paternoster

Glück im Unglück,
Wenn nur der Vater
Und nicht die Mutter,
Sagt sie
Und zieht
Das Ginstergelb fest,
Das vorhin im Briefkasten lag.
Doppelt kann man sie binden
Um den Mädchenarm,
Fast dreifach
Am Ende von allem,
Die Horizontebene,
Die sie teilt

In Himmel und Erde
In Himmel und Erde.

Dein Reich komme.

Sie kocht und wäscht
Für ihre Geschwister;
Das Kleinste schieben sie und ihr Bruder
Wie Jungelterngewordene
In einem Holzwägelchen
Vor sich her.

Es schreit nie.

Manchmal denkt sie Unerhörtes,
An Opulenz, im Einschlagpapier eingewickelt:
Eine Vollkornstulle mit Butter,
Und ihr Mund wundet
Von den ausgespuckten Aprikosenenkernen,
Die sie aufsammelt, wenn niemand hinsieht:

Wie Taler blinken sie zu ihr herauf,
Wie braune Paukanten,
Die mit ihrem eingeritztem Spalt
Zeigen wollen,
Dass sie, ganz anders als Frauen,

Keine Schönheit brauchen; dass man sie
Ja nicht mit Frauen verwechseln sollte,
Dass sie sich vielleicht auch wünschen,
Frauen zu sein, weil sie denken,
Als Frau müsse man, ja ja, gespalten sein.

Sie überkaut die Ahnung von Sommer,
Während sie unweit
Das Blechern von Medaillen hört:
Ein Windspielstapeln,
Das schon an der nächsten Straßenecke
Einknickt.

Für Nelly Kerngut

 

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Chris Lauer

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freiVERS | Samuel Kramer

Ein Vakuum ist unveränderlich ein Vakuum,
es sei denn, es würden Zugänge geschaffen.
Das Gedicht (d. i. das Vakuum) kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, es vor Publikum wiederzugeben,
würde daraus die Zerstörung des Publikums resultieren.

Das Gedicht kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, wäre das Gedicht nicht entstanden.
Wenn es möglich wird, wird das Gedicht unmöglich.

Ich wünsche mir die Zerstörung des Publikums.
Zerteilt, ionisiert, verstreut, auf der Suche nach Notausgängen
bildeten sich heilsame Verweise und Klumpen kohäsiver Expertise.

Das Gedicht kann, nachher, nicht vom Publikum wiedergegeben werden.

Wäre das Publikum möglich, würde daraus ein Gedicht resultieren.
Bitte greifen Sie bei Druckabfall nach der Luft. Halten Sie mich nicht
auf. Und bleiben Sie unter keinen Umständen ruhig.

.

Samuel Kramer

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freiVERS | Enno Ahrens

Erdig

vom Angsthasenpfad
durchs Tal der Erlkönige
ins lichte Leben erscheint mir
alles im Blick meine
Füße so käseschmelzig wie
der Leib eines Neugeborenen

die Nase noch verpfropft rieche
ich mich selbst an kalter Quelle
eine Gehirnwäsche
wandle nun auf
ausgelatschten Wegen

Das Brenneisen der Zeit
prägt mir seinen Stempel
durch die Haut

Mein Erkundungsflugzeug
steht im Hangar eingemottet
Die Atmosphäre ist so verletzbar
geworden wie meine Haut
ein allergisches Schlachtfeld

Ich schreite zu Fuß die Fronten ab
versteckt hinter einer Schuldzuschiebemaske
und mit Moralabwehrgranate gewappnet

Mein Körper ist Lebewesen
zwischen Leben gewesen
wiederholt geraten
zwischen Panzerhaubitzen
und Atomwaffenbedrohung

will er ein Gemütskaninchen sein
nur noch Geist
Unverletzlichkeit der
Körperlosen

bis in alle Ewigkeit
tugendhaft in Tugendhaft
fraglos

in ungezählten Himmeln
steht die Zeit Kopf

 

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Enno Ahrens

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freiVERS | Jonah Rausch

volt

klick.

und mein körper auf hochspannung
da tropft strom von nabel zu finger zu herz
fließt durch die venen, pocht durch die haut
habe kabelenden, die keine anfänge finden
nur lücken.
von kabel zu stecker zu körper
reizstromhaut, ein druck der
narben hinterlässt und verbrennungen
und mein körper auf hochspannung
die energie zirkuliert kann mich jemand ausschalten
und jederzeit die kurzschlussreaktion

klick.

ich spüre energie hinter meiner stirn
so viel volt das die glieder schmerzen
wenn du versuchst dich aufzuladen
wenn du mich berührst
sei bereit zu explodieren

klick.

wie es pocht, wie alles in mir pocht
stromschlag
ich überhitze
alle kabel brennen
auch, wenn jetzt licht angeht
ich sehe mich nicht
auch wenn alles heller wird
ich sehe mich nicht

 

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Jonah Rausch

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freiVERS | Lilli Gebhard

ein neuer morgen
und ich suche den horizont
mit meinen augen ab
ob da menschen kämen
und backe brot
und kaufe salz

und denke an die vielen
geschichten die ich
gelesen habe und gehört
von den fluchten

und denke:
das ist mein erbe
das ich verwalte
ein heimatloses herz
und die kunst
heimat zu schaffen
wo ich will

im herzschlag europas:
dass wir heimat schaffen
bauen und teilen miteinander
und brot backen
und salz kaufen
und eine decke anbieten

und endlich endlich die
argumentationsmuster
der macht
durchschauen
und zerschlagen

.

Lilli Gebhard

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erschienen in: Lilli Gebhard: Wie Schatten werden. Manuela Kinzel Verlag 2021.

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