freiVERS | Noha Abdelrassoul
Ziellose Wanderung
I.
Kleine Flasche Wasser, Nutella-Glas,
andere Gegenstände, die ich von meinem Platz aus
durch die Gitter des Korbs
unter dem ledernen Sitz eines Rollators
nicht erkenne.
Eine ältere Dame sitzt gegenüber,
wartet auf den richtigen Zeitpunkt
um aufzustehen.
würde sie meine ausgestreckte Hand annehmen,
meinem Tag einen Sinn verleihen?
Ich erinnere mich
meine Großmutter bewahrte Verschiedenes
bei sich
unter dem Sessel,
den sie kaum verließ
außer während des Erdbebens 92,
da hat der Sessel sie verlassen.
Damals rief sie meine Mutter an
sprach
leise, in halb-seriösem Ton:
„Tochter, rette mich
der Sessel tanzt mir weg.“
Auch meine Mutter hat jetzt
einen Lieblingssitz.
Alltagsdinge häufen sich dort an
eine Flasche Wasser
Papiere, Telefonbuch,
Mobiltelefon, Fernbedienung,
Familienfotos, Tablettenbox und Snacks.
Ihr Sessel ist, neben der Küche,
ihr einziger Arbeitsplatz
die Ecke, die ihr gehört.
II.
Einmal bin ich mit einer Fremden mitgerannt,
es war ein Rennen,
dem ich mich wie ein Eindringling
kurz vor dem Ende anschloss.
Ich wollte den Fahrer bitten, auf sie zu warten.
Nur hatte er sie bereits im Seitenspiegel gesehen.
III.
Vor einigen Jahren,
während wir auf der Autobahn
umgeben von Wüste fuhren,
sah ich mich rennend,
dem niedrigen Himmel entrinnend
sah, dass er mich doch am Ende traf.
Ich erfinde Wettrennen, die es nicht gibt,
einen Grund loszurennen
ohne Halt und ohne Ziel.
IV.
Einmal bin ich zu dir hinüber gerannt,
nahm an dass du mich brauchst,
dass nur ich deine Angst auflösen kann,
dass ich, allein, dich ins Leben zurückrufe.
Ich dränge mich den Wegen von anderen auf,
schleiche mich in Lebensreisen hinein,
verlasse persönliche Kämpfe
und meinen Fleck
leer und kalt,
wandere weit weg
wie die Seele einer Schlafenden.
.
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freiVERS | Nero Campanella
der fuchs
laubfarben lautlos
wie ein in den herbst gefallener
gedanke schnürt er dir ent-
gegen
ein träger pfeil
mit schnauzenspitze, ein zahn
seitlich sichtbar : scheinlächeln
neben
dem weg (wo du gehst), nicht parallel
doch gerade wie ein steinfall wie auf
geleisen äquatoren wie unbiegsames
licht – was folgt er?
so klar folgt man
weder der liebe noch dem zwang , nur
dem geflecht aus beiden : dem geschick
er
kann es wittern , noch die fernste zukunft
ist von seiner zunge feucht
man weiß nie:
hat er tollwut – oder nur methode?
.
indes sein atem dein gehör streift
wird dir fiebrig jäh von seinem fell
.
.
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freiVERS | Ferenc Liebig
Das Haus. Stillstand.
(1)
Das Haus ist zu groß für einen,
der seinen Lebensbaum längst
gefällt hat, um Brennholz
für den Winter zu haben.
Aber groß wäre es auch,
wenn man nicht einsam wäre,
inmitten der Leere,
die zu jeder Jahreszeit
durch die Fenster lugt
und ihre abgenagten Kadaver
auf die Veranda legt.
(2)
Man spricht über Tiere.
Der Marder hat den Schlauch
der Scheibenwaschanlage durchgebissen,
Ein Waschbär hätte die Vorräte im Schuppen
geplündert und unter dem Dach nisten Vögel,
im Anbau zeigst du auf drei Bienenstöcke,
draußen dann sagst du,
schau mal hier, durch dieses Loch im Zaun
wäre der Fuchs hindurchgekommen
und hätte sich die Hühner geholt.
Deine Erinnerung an früher
ist wie morsches Holz.
Du puhlst darin den Staub
der Vergangenheit hervor.
(3)
Und dann ist es ruhig.
Du hast die Axt zurückgestellt,
läufst barfuß über das hüfthohe Gras,
berührst die Blütenköpfe
mit der Neugier eines Kindes.
Die Sehnsucht würde dich
am Leben halten.
Die Sehnsucht lässt dich aufstehen
und an früher denken.
Wenn der Herbst kommt,
beruhigt dich die Dunkelheit.
(4)
Das Haus ist groß,
von innen wirkt es nochmals größer,
als würde einen optischen Trick geben,
der das Äußere kleiner erscheinen lässt.
Das Haus war schon immer zu groß gewesen,
selbst als die Eltern noch lebten,
mit Decken um den Beinen,
in den letzten Sonnenstrahlen des Spätsommers.
Du sprichst von Vergebung,
Hohlräumen unter deiner Haut,
damals noch mit Berührungen befüllt,
trocknen sie nun langsam aus,
werden kleiner, drängen sich an die Knochen,
bis sie gänzlich verschwunden sind und
nur noch ein ledriger Film verbleibt.
(5)
Durch die Wälder treibt es uns,
ganz tief hinein in die seligen Schatten,
wo wir uns Läuterung versprechen
und so sind es unsere bemoosten Füße,
die hinein ins wuchernde Dickicht laufen,
sich Schneisen bahnen
durch benachbartes Grün.
Nichts vermenschlicht,
nicht einmal mehr wir,
werden nur eins dieser Geräusche,
das noch kurz widerhallt
und sich dann gänzlich niederlegt.
(6)
Du holst tief Luft, hältst die Luft
in deinen Lungen, schließt deine Augen,
atmest langsam wieder aus.
Nichts könnte dich von hier trennen.
Während du das sagst, wird dir bewusst,
wie wenig du von der Welt gesehen hast.
Gestriger Regen tropft von den Blättern.
Ein Jaulen kommt aus den Tiefen.
Du holst erneut tief Luft,
berührst dabei deinen Brustkorb.
Es riecht nach Erde.
Die Baumkronen verdecken
den Großteil des Himmels.
(7)
Im Haus ist es dunkel.
Geweihe hängen an den Wänden.
Im Schrank warten polierte Gewehre.
Auf unbehandelten Holzbrettern in der Küche
befinden sich Tassen und Gläser und ein Foto
der Eltern wurde neben ein Kruzifix befestigt,
wie sie auf einem Berg stehen,
Arm in Arm, ein angedeutetes Lächeln,
im Hintergrund Wald und Wanderer.
Da waren sie noch glücklich, sagst du,
nimmst das Bild in die Hand und
schüttelst wortlos den Kopf.
(8)
In der Bestallung gibt es ein Versteck.
Als Kind hättest du dort im Verborgenen
Gedichte geschrieben.
.
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freiVERS | Lorena Pircher
Blaurot
.
I. Blau
erinnerungen / erfrierungen worte an wimpern ge- / weisses feld über mir
nachthimmel mit wundmalen / ränder austretend / nacht deckt das damals zu
dein gesicht
lider geschlossen / blass die tage
weich
dein gesicht
.
erfrierungen / erinnerungen dein sein / wunden an meinem körper
ich sitze / im weißen gras des vergangenen / zupfe deine hände von bleichen halmen
dein gesicht
der nachthimmel
austretend nässend
.
erinnerungen / erfrierungen gemeinsames leben atmet
in den begrenzungen eines damals
weich dein gesicht
.
ich trinke
gebrochenes wasser
bläuliches feld über mir
die dämmerung wund
an den rändern
.
morgen weckt das damals auf
deine arme deine beine
zähflüssig die finger lange die tage
.
sonne steht hoch
schmelzwasser meine erinnerungen
algen fische meine nahrung
gräte schmücken mein haar
weich dein gesicht
.
erinnerungen / ein fluss gebärt in seinen tiefen
unser damals
.
II. Rot
feucht meine erinnerungen / erde schluckt dein gesicht
rötliches feld über
mir glutsonne
begrenzungen auslaufend
die ränder bluten
.
tag schürft das damals ab
dein rumpf deine rippen
spröde die schultern
süß der schweiß
sanft die stunden
.
es keimt
gräsern dein gesicht
gelbliches feld / über mir
fragiler horizont / abendkühle zerfleddert an den rändern
.
abend legt das damals zur ruhe
deine lippen dein haar
dein schweigen deinen namen
leise die abende
.
mond steigt
wind wacht
deine worte kühlen meine wunden
weich dein gesicht
begräbt meine erinnerungen
rot die nacht
.
stille in der begrenzung / über mir der wundhimmel
an meiner seite meine hände meine augen haare lippen rumpf arme beine
blau der morgen / rot die nacht
.
.
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freiVERS | Karoline Caesar
Alt
Hüpfen außer Atem
lenkt mich manchmal davon ab
Zwei Stunden Training und Schweiß
Kicks mit langen Beinen
sehen im Spiegel gut aus
Energie überrascht mich am Sandsack
Ich möchte mich in eine Holzschulbank
mit Deckel eng über den Knien quetschen
und hingebungsvoll schreiben
Ich schreibe ewig nichts
Plötzlich ruckartig würge ich wie eine Schlange ihr Mittagessen
drei Gedichte aus mir heraus
Erleichtert
dass ich doch
ein wenig
so lebe
wie
ich
es mir vornahm
als ich noch jung war
Alt
Mit vier störte mich die Frage der Tanten nach meinem Alter
Ich starrte panisch auf den Boden
und in mir wurde alles schwarz
Ich kam zwei Wochen zu spät auf die Welt
Mein Gefühl ist ja, ich wollte nicht eher
Die Leute machen so viel Drama darum
I c h verstehe das n i c h t.
Ich hangele mich von dir zu mir
und tupfe vorsichtig und leise mein Gesichtswasser auf
Alt
Mein Magen ist nervös
und ich denke es könnte auch Krebs sein
ich habe schon so abgenommen
und möchte es dennoch nicht genau wissen.
Ich sehe meinen Pflanzen beim Aufblühen zu
und beginne zehn neue Projekte gleichzeitig.
Alt
Schon mit 17 war ich eigentlich 35
Der Rummel um Silvester und Geburtstage ist mir ein Graus.
Jetzt verzettele ich mich in alltäglichen Spülmittelfragen
Und erschrecke vor Zahlen
und Uhrwerken
Die Mechanik lebt und rennt hinter mir her!
Ich werfe Teller hinter mir auf den Weg…!
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Es ist auch einfach Trotz.
Ich bin so eine
die sich beinah ganz aufgerichtet hat
und dann innehält.
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freiVERS | Marcus Pöttler
wir finden nicht an diesen tag zurück
träumen, dass
der schnee uns zusammen hält,
die windgeritzten wangen,
flocken auf der haut
brennen, wie wir
die augenaufgerissene welt
umarmen, uns selbst
verschieben, die konturen
zerstreuen, zeigen erste
abwesenheiten
nichts lässt sich mehr
ändern, der letzte schachzug
über den rand, die dämmerung
sammelt erinnerungen, steigt
den hügel hinab
weiter oben bleibt graues haar
in den tannenzweigen, deine
moosigen locken, muster
auf der hand, leicht wie
vogelgeschrei
.
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freiVERS | Manon Hopf
auch das von andren
tieren lernen: das wort
so lange im mund halten
bis es sauer wird
und dann ausspucken
von andren tieren lernen:
befehle ignorieren
langsam sein
arbeit verweigern
streiken
außerplanliche pausen erzwingen
equipment zerstören
auch gehege
steine schmeißen
zurückschlagen
ausbrechen und wegrennen
alles in abfolge oder
zur gegebenen zeit
und von anderen tieren
das lachen lernen weil jeder verstandene
witz eine kerbe schlägt
einen haken fährt
auf der zunge:
menschen sind häßliche
vögel
.
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freiVERS | Harald Vogl
berufswahl
macheniker oder bräftrieger
flauschheier freusir
oder deumptor
krünfahrer kipätan
polit oder pilotiker
neicht so licht
mit der schräbschweiche
ebar jetzt
weiß ich´s
schreftstiller
ein letirat
sinst nochts
.
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freiVERS | Tom Riebe
blick I
morgens stehe ich auf der brücke
werfe steine auf das dunkle eis
unter dem sich weiße
klar voneinander getrennte
amorphe schlieren bilden
die erst verharren
dann aus sich heraus zucken
ich beobachte ihre bewegungen
schaue
wie sie trachten
sich zu vereinigen
um der vereinzelung
zu entgehen
etwas größeres
zu werden
als ihnen bestimmt ist
bis zum abend
haben es nicht alle geschafft
trotz meines unausgesetzten blicks.
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freiVERS | Eline Menke
Es sieht so leicht aus
wie die Sonne aufsteht
ohne Gähnen und Recken.
Wie sie schlafen geht in den
Langlaufspuren der Sätze
wo ich Dinge vermute, die sich
gegen die Laufrichtung stellen.
Es sieht so leicht aus, wie das
Wasser abläuft, Worte
auf dem Trockenen liegen
zurückgelassen an der
Mündung zum Satz.
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