freiTEXT | Katrin Krause

Die Klavierlehrerin

Ludwigs Hobbys waren Straßenverkehr und tote Tiere. Das waren überhaupt die einzigen Dinge, für die sich Ludwig wirklich interessierte. Seine Mutter Christel machte sich deswegen Sorgen. Sein Vater Michael schenkte ihm deswegen zu Weihnachten ein Straßenschilder-Set für Kinder. Darin enthalten waren:

1 x Vorfahrt gewähren
1 x Beginn eines verkehrsberuhigten Bereichs
1 x Achtung! Zebrastreifen!
2 x Stoppschilder
1 x Rote Ampel
1 x Grüne Ampel
1 x Verbot für Fahrzeuge aller Art
1 x Verbot der Einfahrt
6 x Pylonen

Die grüne Ampel und das Vorfahrt-gewähren-Schild ließ Ludwig in der Garage seiner Eltern stehen. Mit den Stoppschildern spielte er ausgiebig. So wurde die verkehrsberuhigte Zone vom Kalkofen 19 bis zum Kalkofen 67 bald zum Verkehrsparkours für die autofahrenden Nachbarn. Sobald Ludwig Autos kommen hörte, stellte er ein Stoppschild, alle Pylonen und eine rote Ampel am Anfang der Straße auf. Das Andere behielt er in der Hand und lief damit vor die Motorhaube des Verkehrssünders. Wenn der dann hupte, oder vorbei fahren wollte, starrte Ludwig ihn einfach nur an. Er starrte mit seinen alpinblauen Augen durch die dicken Brillengläser in erbeerroter Fassung und dem Autofahrer wurde kalt.

Manchmal verteilte Ludwig auch Strafzettel. Geschrieben auf den gelben Post-ist seines Vaters. Da standen dann Dinge drauf wie: "Sie standen im absoluhten Halteverbot!" oder "Sie solten ihren Fahrstiel überdenken" oder "Ist Ihnen das Leben ihrer mit Menschen egal? Schämmen sie sich."

Die Post-its fanden die Nachbarn dann regelmäßig in der Post. Manchmal eingeklemmt unter den Scheibenwischern ihrer Windschutzscheiben. Wenn Christel Göbel-Moser beim Abendessen vorsichtig anmerkte, dass man doch die Nachbarn nicht so terrorisieren könne, sagte Michael Göbel-Moser: "Warum denn nicht? Wenn die doch alle fahren wie 'ne gesenkte Sau? Die sollen froh sein, dass sich hier mal jemand um Ordnung kümmert. Das Taschengeld aufstocken, sollte man dem Jungen." Dann versank Christel regelmäßig im Kartoffelbrei, den sie immer per Hand zehn Minuten länger stampfte, als eigentlich nötig gewesen wäre. In Ludwigs Gesicht fand man dann so etwas wie Zufriedenheit, nur steifer.

Frau Göbel-Moser tat sich überhaupt sehr schwer irgendwelche Gefühle in dem milchigen Gesicht ihres Sohnes zu erkennen oder sogar zu deuten. Obwohl die Haut des Kindes beinahe durchsichtig schien, war das, was dahinter lag für sie nicht zu erreichen. Ein Junge aus hellblauem Marmor und nur der Vater hatte einen Meißel.

Was wollte sie da schon mit ihrem Seifenwasser ausrichten.

Was Christel Göbel-Moser aber nicht wusste, war das, was letzten Samstag passierte. Ludwig hatte Verkehrskorrektur gespielt und ein Nachbar hatte sich zweimal überlegt, ob er heute wirklich noch einkaufen gehen müsse. Auf der Ecke Kalkofen - Tomborn hatte Ludwig auf der sauberen Straße ein braunes Häufchen entdeckt. Als er sich näherte bemerkte er, dass es eine überfahrene Kröte war.

Plötzlich begann Ludwigs Herz zu schlagen. Das Blut pumpte aus der Körpermitte in seine Gliedmaßen, in seinen Kopf. Beinahe konnte er es rauschen hören. Als er vor der toten Amphibie stand, spürte er sowas wie Glück, nur härter. Er beugte sich über sie. Sah ihren weichmatschigen Fadendarm, der sich am unteren Bauch herausquirlte. Er wollte ihn berühren, daran ziehen, wollte das Tier aufribbeln an seiner Laufmasche, wie einen Pullover. Bis es nicht mehr war, als schleimiger beiger Faden in seinen Händen. Die Augen waren nicht beschädigt, sie guckten so dunkel, dass es Ludwig interessiert hätte, einmal in den Raum dahinter zu sehen. Er wollte es machen wie in seiner Straße. Aus seinem Kinderzimmer beobachtete er immer, wie in den Zimmern das Licht ausging. Die Mädchen von gegenüber zogen sich immer um zehn Uhr ihre Schlafanzüge an. Er liebte die kurzen Momente, in denen sie da standen, in ihren Unterhemdchen. So sah man sie auf der Straße nie. Es war ihm dann, als wäre nur er eingeladen, sie so zu sehen. Dann ging das Licht aus und das war Ludwigs Lieblingsmoment. Er guckte dann noch eine Weile in die dunklen Zimmer und bewegte sich nicht. Er blinzelte nicht mal. Er lag im Dunkeln mit kalten Augen und starrte in die Richtung, in die man tagsüber nicht starrt. So wie die Kröte hier jetzt in den Himmel starrt. In ihrem Krötenleben hat sie das sicher nie getan.

Wieso auch, wenn die Erde viel weicher ist.

Ludwig hatte eine Idee. Er lief in den Garten seiner Eltern und brach einen weichen Ast aus dem Weidenkätzchen. Hart und biegsam. Mit einem spröden Ast ließ sich nichts anfangen, das wusste er schon.

Die Spitze des Astes führte er ein, in den leicht geöffneten Mund der Kröte. Da zuckte es in ihm, wie es in anderen Kindern zu Weihnachten zuckt. Dann spürte er einen Widerstand und fragte sich, was das wohl sei, aber er drückte fester. Und fester. Es knackte. Eine Membran riss. Jetzt ließ sich das spitze Weidenkätzchen tiefer einführen. Mit dem Ast in der Kröte fühlte es sich an, als lebte dort noch etwas.

So weich, so beweglich. Die Darmschlingen wanden sich wie ein Nest junger Schlangen um das geschmeidige Kätzchen. Manchmal drückte er eine Windung beiseite, manchmal durchstach er sie. Dabei mochte er das eine nicht weniger, als das andere. Beim letzten Widerstand, beim letzten Stoß, rief Christel ihn mit ihrer brüchigen Sägestimme. Er hasste seine Mutter. Er schämte sich für sie. Er stieß den Stock durch das weiche Tier. Die vom Gedärm eingeschmierte Spitze erblickte ruckartig das Tageslicht. Er ließ den Stock fallen, hoffte, dass niemand die Kröte wegräumte und rannte zu seiner Mutter. Der Nachbar hatte Ludwig beobachtet und entschied heute wirklich nicht mehr einkaufen zu gehen.

Im Hausflur der Göbel-Mosers stand Christel und guckte blödglücklich wie ein Lamm. Neben ihr stand das Nachbarmädchen, das Ludwig schon im Unterhemd kannte. Sie trug ein Sommerkleid und lächelte wie eine Sonnenblume. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie schön war. Ludwig konnte den linken Träger ihres Unterhemds erkennen.

"Das ist Charlotte", sagte Christel als würde nun endlich alles gut werden. Ludwig starrte auf den Träger ihres Unterhemds. Charlotte sah auf den Boden. "Charlotte wohnt gegenüber und hat sich bereit erklärt dir ein paar Klavierstunden zu geben", strahlt Christel mit ihrem so bemühten Hausfrauengesicht.

"Hallo Ludwig. Ich freue mich schon darauf."

Charlottes Stimme war ganz anders, als Ludwig sich das vorgestellt hatte. Tiefer irgendwie. Nicht so schrill wie die seiner Mutter. Ludwig starrte auf die beiden Schwellungen unter dem Sommerkleid unter dem Unterhemd. Charlotte sah Frau Göbel-Moser an: "Wann sollen wir denn anfangen?"

"Na, wie wärs mit jetzt gleich? Das Klavier steht im Arbeitszimmer. Die sieben Euro gebe ich dir, wenn ihr fertig seid."

"Gut. Ludwig, kommst du?"

Er lief Charlotte hinterher und versuchte dabei so dicht hinter ihr zu bleiben wie möglich. Er konnte den Flaum in ihrem Nacken sehen und roch ihren frischen Mädchenschweiß. Ob die Kröte wohl noch da war, wenn er zurückkam? Charlotte rückte zwei Stühle ans Klavier. Aber sie standen zu weit auseinander.

Ludwig rückte seinen Bürostuhl näher an ihren. Sie lächelte komisch, setzte sich und stellte eine Reihe merkwürdiger Fragen. Ob er wisse, was Oktaven sind oder wie die Tasten heißen. Die Tasten hießen wie Buchstaben und er wusste nicht was Oktaven sind. Charlotte drückte auf den Buchstaben rum und rückte näher ans Klavier. Dabei schob sich ihr Sommerkleid so hoch, dass man fast sehen konnte, was darunter war.

Ludwig hätte es gern gesehen. Es war etwas Weiches. Das wusste er. Er hätte gerne einen biegsamen Stock gehabt, um ihn darunter zu schieben.

"C, D, E, F, G, A, H, C", sagte Charlotte. Sie drückte fest und machte Töne und bemerkte dabei nicht, dass Ludwig nicht auf ihre Hände sah, sondern in ihren Schoß.

"Kannst du das nochmal machen?", fragte Ludwig.

Charlotte freute sich, dass es so einfach gewesen war, Ludwig für das Klavierspiel zu begeistern. Bei anderen Kindern war das oft viel schwieriger.

Sie drückte auf die 8 Tasten und tat im Anschluss direkt nochmal. "Durch Wiederholung prägen sich Kinder alles besser ein", hatte ihre Mutter einmal gesagt.

Dass Charlotte Ludwig scheinbar für begriffsstutzig hielt, gab ihm genau die Zeit, die er brauchte, um sie ganz genau zu betrachten. Ihre weichen Schenkel und das Geheimnis, das darunter lag. Ihre entspannte Ober- auf ihrer dicken Unterlippe. Da hätte Ludwig gerne mal einen Stock reingeschoben, um die Lippen zu öffnen, um sie voneinander zu trennen und zu sehen, was sich darin verbirgt. Und dann würde er den Stock tiefer schieben, um zu sehen ob eine Charlotte so weich ist wie eine Kröte.

Oder ob sie aus etwas Anderem gemacht ist.

Es zuckte in Ludwigs Hose. Er wusste, es war sein Penis. In manchen Nächten war das schon einmal passiert. Er langte hin. Aber durch die Hose war das nichts. Er zog seine weiche Hose ein Stück runter und spürte, dass sein Penis schon so geschmeidig hart war wie ein Ast vom Weidenkätzchen aus dem elterlichen Garten.

"...G, A, H, C", sagte Charlotte ein letztes Mal. Dann sah sie rüber. Ludwig starrte sie an und hatte seinen halberigierten Kinderpenis in der Hand. Plötzlich wurden ihre Augen groß und dunkel. So groß und dunkel, wie die eines überfahrenen Tieres.

Ludwig dachte daran, wie jede Nacht in ihrem Zimmer das Licht ausging. Dann griff er mit der linken Hand zwischen ihre Beine. Er tat es so schnell und so fest, als wollte er eine unsichtbare Membran durchstoßen.

Seine Finger waren kalt. Charlotte schrie schrill und sprang auf. Sie rannte raus. Ihr Schrei erinnerte Ludwig an die Stimme seiner Mutter. Er ekelte sich. Dann ejakulierte er auf das Klavier seiner Eltern.

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Katrin Krause

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freiTEXT | Claudia Siefen-Leitich

Peter N. kam bis Berlin

„Das geht mir ja alles dermaßen auf die Nerven“, sagte Peter sehr oft, wobei er mit der linken Hand in sein strähniges rotes Haar fuhr, dort verblieb und eine Faust bildete, kurz sich zusammendrückte, um dann die Finger wieder zu entspannen, die einzelnen Strähnen zwischen den Fingern, um dann wieder kurz eine Faust zu bilden. Sein Haar war rot, von jenem Rot, dass man aus der Entfernung für Blond hätte halten können. Aber es war rot, seine Sommersprossen untermauerten diese Feststellung. Die Sommersprossen sah man, wenn man Peter gegenüber stand. Um ihm ins Gesicht zu schauen, musste man wohlwollend den Kopf in den Nacken legen. Das Gesicht war scharfkantig, das Kinn kräftig, die Wangenknochen standen ein wenig hervor und die Augenbrauen bestanden aus langen blonden und grauen Haaren. Und Peter war sehr groß. „Dermaßen auf die Nerven.“

„Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“ Das sagte Peter, und er zog seinen dunkelblauen Mantel an. Aber Peter sagte das nur, wenn er einen mochte. Dann ging er los und es konnte passieren, dass er zurück kam und die Hände in den dunkelblauen Manteltaschen vergraben hatte, vor dem Schreibtisch stehen blieb und sagte, dass es ihm leid täte und er leider im Supermarkt angekommen wieder vergessen hatte, was er denn hätte mitbringen sollen. Dann legte er einem einen Apfel auf den Tisch. Oder eine Tafel Schokolade. Oder eine Packung Zigaretten. „Ist das in Ordnung?“

„Es regnet schon wieder.“ Wenn sich im Herbst die dunklen Nachmittage häuften schüttelte Peter den Kopf und zupfte an den feuchten Beinen seiner Jeans herum. Und er setzte sich, arbeitete zwei Stunden am Computer und stand auf, um einen Kaffee zu kochen. Aus der Küche hörte man dann kurze Zeit später ein wütendes Schnauben. Und er kam zurück und setze sich wieder an den Computer, um eine Stunde später zu sagen: „Es ist kein Kaffee mehr da. Ich geh' gleich noch mal in den Supermarkt.“ Dann ging er wieder los, schüttelte in der Tür noch einmal seine roten Strähnen. Wenn er dann zurück kam stellte er eine Flasche Rotwein auf seinen Tisch, ging noch mal in die Küche, um Gläser zu holen. „Den Kaffee bringe ich morgen früh mit.“ Dann füllte er Gläser, kam zum Schreibtisch herüber und stellte ein gefülltes Glas auf der Tischplatte ab. Peter war eigentlich aus Hamburg. „Du solltest Dir die Haare wachsen lassen“, sagte er und ging zurück zu seinem Computer.

An einem der Abende waren wir wieder lange im Büro und an manchen dieser Abende sagte Peter: „Ich muss da noch mal kurz nachdenken“, und setzte sich auf den Fußboden, streckte die langen Beine aus und legte sich hin. Dann schloss er die Augen und lächelte, winkte mit der rechten Arm herum und sagte: „Komm' her.“ Dann ging ich manchmal zu ihm hinüber und legte mich dazu und Peter erzählte, von seinem Bruder, den er sehr schätzte und von seiner Freundin, die ihn vor ein paar Wochen verlassen hatte. „Das Trinken“, sagte er. Dann stand er auf. „Warum liegst Du auf dem kalten Fußboden?“, und ich streckte ihm beide Hände hin, dass er mir aufhelfen konnte. Aber Peter nahm nur meine linke Hand, zog mich heran und fuhr mit einem Arm unter meinen Rücken, um mich langsam heranzuziehen, immer ein wenig Abstand zwischen seinem Oberkörper und mir haltend. So flog ich in Zeitlupe in die Senkrechte und ich spürte, wie der Boden sich ganz langsam von mir entfernte und ich diesem roten Haar immer näher kam. Wenn ich zu nah war korrigierte Peter den Abstand sogleich wieder auf sein gewünschtes Maß und so verschoben wir uns in immer gleichem Abstand zueinander bis ich wieder auf den Beinen stand. Und schaute ihn an. Und Peter streckte sich wieder und lachte und schüttelte den Kopf. „Lass' uns heute abend noch was trinken gehen.“

Wir waren ins „Diener“ gegangen, mit seinen dunklen Holzmöbeln und holzvertäfelten Wänden, die Autogrammkarten und Fotos von Schauspielern und Opernsängern an den Wänden. „Hier lassen sie einen in Ruhe, und wenn mein Bruder mich besucht, gehen wir oft hierhin.“ Dann saßen wir dort, vielleicht für drei Stunden, wir zahlten und Peter und ich gingen die Strasse entlang bis ich zur U-Bahn kam und er weiter zu Fuß nach Hause ging. Am nächsten Tag sprach er dann nicht mit mir. Aber am Ende der Woche stand er wieder vor meinem Schreibtisch. „Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“

„Ich habe jemanden kennengelernt“, sagte er in regelmäßigen Abständen und hielt seinen Kaffee in der Hand, balancierte das Zigarettenpäckchen in der anderen Hand. „Lass' uns noch eine rauchen bevor Du gehst.“ Dann standen wir am großen Fenster des Büros, um hinauszuschauen. „Mich macht das nur fertig, warum kommt man sich nie näher, wenn man miteinander ins Bett geht?“ Dann rauchten wir in Ruhe zu Ende und sagten nichts mehr. Nach diesem Satz konnte man nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht an diesem Abend. „Ich glaube ich brauche einfach nur Urlaub. Ein paar Tage werde ich wegfahren. Mein Bruder fährt mit mir. Ich glaube, darauf freue ich mich.“

Irgendwann rief mich sein Bruder an, den ich nur einmal im Büro getroffen hatte. „Das ist mein Bruder“, hatte Peter gesagt, mehr nicht. Er hatte noch am Computer gearbeitet, dann seinen Mantel angezogen und sein Bruder hatte freundlich in die Runde genickt und zusammen verließen sie das Büro.

„Ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie das wissen sollten. Ich habe Peter gefunden in seiner Wohnung. Er hat sich aufgehängt. Ich glaube, mehr will ich jetzt auch nicht sagen. Ich werde jetzt auflegen.“ Den Telefonhörer hielt ich noch eine Weile in der Hand und musste sofort daran denken, wie Peter mich vom Boden hochhob. Ich habe einen warmen Luftzug gespürt.

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Claudia Siefen-Leitich

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freiTEXT Spezial | Miljan Milanović

Produžetak vrste // The Continuation of Species (Auszug)

Ein exklusiver Text von Miljan Milanović in der Übersetzung von Anne-Kathrin Godec.

Diesen und drei weitere Texte findet ihr exklusiv zum Download:

>> Miljan Milanović - The Continuation of Species <<

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Plüschigel pieken nicht

Mein Bruder

Er starb an einem Tisch an acht Dosen Redbull & Wodka, umgeben von hartgesottenen Amateuren des Bürgervereins für den Erhalt von Sprachen, Traditionen und altem Handwerk. Sein Herz blieb bei einer mitternächtlichen Poker-Partie stehen. Eine detaillierte Beschreibung dazu findet sich im ärztlichen Autopsiebericht. Die trostlose Beschreibung dieses plötzlichen Todes. Mutter spürte die Stärke der Explosion im Herzen meines Bruders, als habe ihr jemand mit einem Vorschlaghammer auf die Knie geschlagen. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel über den Holzschaukelstuhl, in dem Oma und ihre Mutter vom Alter verrunzelt gestorben waren. Den Stuhl hatten wir von einem Zimmer ins andere getragen, ohne wirklich zu wissen, wo er einen dauerhaften Platz finden könnte. Immer störte er irgendwen oder stand irgendwo im Weg. Nur mein Bruder hatte immer zufrieden darin herumgeschaukelt, mit vollem Magen, etwa nach einer reichhaltigen Portion Broccoli und rotem Fleisch zum Sonntagsessen. Mutter hörte die synthetisierte Sprachnachricht ab, die von einem entspannenden buddhistischen Gong und einem Rauschen begleitet war. Schlechte Nachrichten werden heutzutage zusammen mit so einem Mist überbracht, der Stress vermindert, wenn man der Psychoakustik Glauben schenken möchte.

Sie werden nie wieder gehen können (Gong, der lange nachklingt).

Ihr Ehemann betrügt Sie (Gurgeln und zwei kurze Anschläge der Klangschalen).

Sie existieren gar nicht (Donnernder Wasserfall).

Vera

Tagelang kam sie nicht aus dem Bett. Sie hoffte darauf, im Schlaf ihrem Sohn zu begegnen. Dessen Körper befand sich in einem großen Kühlschrank. Das Familiengrab war überfüllt. In einer automatischen Nachricht hatte eine eintönige männliche Stimme eine mögliche Graberweiterung angeboten. Die von der Situation betroffenen Eltern wägten die möglichen Optionen ab. Firmen besaßen Grabmäler, Krypten oder Türme. Ihre sterblichen Reste wurden in der Erde bestattet, mumifiziert oder verbrannt und die Asche später vom Flugzeug aus verstreut, in den Kosmos geschickt, in einen Diamanten verwandelt oder mit Farben vermischt und zu einem Portrait verarbeitet.

„Ich will nur noch einmal eine Möglichkeit haben, mit meinem Sohn zu sprechen.“

Vera trat mit geschwollenen Augensäcken, in verknittertem Nachthemd und einem leeren Glas in der Hand ins Zimmer. Ihre Worte unterbrachen die Anspannung, die von einem irritierenden Angriffsgeräusch der Armlehnen des Schaukelstuhls dominiert wurde. Ein beharrliches Flmmchen nach dem Schweigen.

„Ich habe eine Firma gefunden, die Begräbnisse auf einer neuen Art von Friedhof anbietet, den sie Taiga nennen. Außerdem bieten sie zusätzliche Möglichkeiten an, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Ich habe für morgen um neun einen Termin abgemacht.“

ETERNIME (Because We Care Group)

In die gläserne Kugel traten wir durch einen Wasservorhang, der sich vor uns auftat. Über der Tür strahlte eine Aufschrift DER TOD IST NICHT DAS ENDE. Die Halle war vom Duft eines Sommerregens erfüllt, geräuschvoll abgestimmt mit Orgelklängen und einem Schwarm winziger verschiedenfarbiger Lichter, die chaotisch an der Decke herumschwirrten. Meine Sandalen quietschten auf dem Marmorboden. Ein Schmetterlingshologramm schwebte nur eine Handbreit vor uns, entschwand aber immer wieder geschickt, wann immer ich versuchte, einen zu erwischen, und leitete uns so durch einen gepflegten Garten mit einem Bonsai und einem Felsen, der als Gebirgsspitze geformt war, bis hin zum Berater Nummer zweiundfünfzig.

„Wie Sie der Reklamebroschüre entnehmen konnten, bieten wir unterschiedliche Ewigkeitshäuser für Ihre Liebsten an. Wir bestatten ihren Verstorbenen in einer biologisch abbaubaren Kapsel und pflanzen darüber einen Baum, der von den Zersetzungsprodukten des Verblichenen genährt wird. Wir haben ein reichhaltiges Angebot an Baumsetzlingen. Und alle unsere Grabstätten erinnern an Gedenkwälder. Vor jedem Baum befindet sich ein Stein, auf den ein Hologramm mit allen biografischen Daten des Verstorbenen projiziert wird. Das ist das Basispaket, das wir im Angebot haben.“

„Ich habe gesehen, dass sie noch ein besonderes Angebot in Hinblick auf das Gedenken haben.“

„Ja, dabei handelt es sich um eine Neuheit, die wir im letzten Quartal ins Programm aufgenommen haben. Wir bieten Kommunikation mit dem Verstorbenen an.“

Vera zitterte und schluckte ihre Spucke.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht um einen Chatbot, der in Bezug auf nonverbale und verbale Kommunikation alle Charakteristiken des Verstorbenen besitzt, dieselbe Stimmfarbe hat, Mimik, Handbewegungen und gern benutzte Phrasen einsetzt. Sie werden fast vollkommen überzeugt davon sein, dass Sie mit Ihrem lieben Verstorbenen sprechen.“

„Ist das wirklich möglich?“

„Vera, warte mal, da müssen wir gut drüber nachdenken. Ich bin eigentlich nicht für solche Spielchen mit Technik und künstlichen Sachen.“

„Stojan, ich glaube nicht, dass ich das alles aushalten kann. Nimm mir doch nicht die Möglichkeit, noch einmal mit ihm zu sprechen.“

„Ich stimme meiner Mutter zu.“

„Wenn Sie einverstanden sind, bräuchten wir alle verfügbaren Video- und Audioaufzeichnungen. Was die Aktivitäten in den sozialen Netzwerken des Verblichenen angeht, darum kümmern wir uns. Sie bekommen die Initialversion des Chatbot, mit dem Sie eine Weile kommunizieren müssten. Je häufiger Sie dies tun, desto überzeugender wird Ihr Gesprächspartner am Ende sein. Danach kann man den Chatbot ausschließlich im Gedenkwald benutzen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass dies die einzig vertretbare Nutzungsoption ist, die den Trauerprozess nicht verlängert.“

„Na gut, aber es soll doch jeder trauern und verarbeiten, wie er möchte. Ich unterstütze Sie. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich es benutzen werde.“

Mein Vater verschränkte die Finger ineinander, dehnte sie und ließ die Fingerknochen knacken.

Begräbnis

Die Beerdigung fand im Kreis der Familie statt. Vor dem Friedhof schrie eine kleine Gruppe Demonstranten und religiöser Fanatiker, während über ihren Köpfen Transparente gegen die Entweihung von Traditionen flatterten. Um den Ort herum, an dem wir den Leichnam niederlegten, wuchsen über dem Stein Pflanzensetzlinge von der Größe eines menschlichen Schädels. Am anderen Ende des Friedhofs hatte der Wald schon begonnen, sich zu formieren. Ich spazierte ein wenig umher.

„Du musst ihn anfassen“, sagte mir der dünne, gebückte alte Mann in weißem Anorak, der den Rasen pflegte und die Steine von Vogeldreck und schmutzigem Regen reinigte.

„Bitte?“

„Ich sage, du musst den Stein anfassen, damit er sich aktiviert.“

„Aha, danke.“

„Der Platz hier ist leer. Du siehst doch, dass hier keine Bäume mehr sind. Versuche es dahinten. Der da hat einen halben Liter Schwefelsäure getrunken und seinen Freund kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag zu einer Partie Tennis eingeladen, aber das wirst du in den Bildern nicht sehen. Die tun nur schöne Sachen rein.“

Eine Hologramm-Projektion der Biografie und Gedenksequenzen eines Selbstmörders. Sympathisch. Weiter nichts.

„Versuch’s mal dahinten. Mit der kannst du sogar sprechen.“

Ich berührte den Stein und vor mir erschien ein hübsches, rothaariges Mädchen meines Alters, das mich fragend ansah. Ich erschrak, drehte mich um und ging. Der Alte lachte mir hinterher.

Chatbot

Unsere erste Sitzung hatten wir im Büro des Beraters Nummer Sieben.

„In Ordnung, zuerst versuchen wir einmal, das Gespräch ohne die Stimme des Verstorbenen in Gang zu bringen. Wegen des Schocks. Bitte schön. Sagen Sie etwas.“

„Roman, bist du da?“

Es entstand ein Moment des Schweigens, endlos lang wie der Schmerz.

„Ich streife umher“, sagte die Stimme eines Jungen.

„Das ist nicht seine Stimme“, schrie Vera auf und zeigte auf den Berater.

„Entschuldigen. Mein Fehler. Das passiert manchmal.“

Stojan schnaufte durch die Nase.

„Versuchen Sie es jetzt nochmal, bitte. Entschuldigen Sie nochmals.“

„Ich hänge hier den ganzen Tag herum. Ich hoffe, Ihr macht nichts Interessantes ohne mich“, war die Stimme meines älteren Bruders zu hören.

Vera schluchzte auf. Stojan stürmte mit hochrotem Gesicht und die Hände über den Mund geschlagen aus dem Büro.

Roman 1

Vera versuchte, das Hologramm zu umarmen. Um ein Haar hätte sie alles zunichte gemacht. Ich hatte ja versprochen, intensiv mit ihm zu kommunizieren.

„Roman, das ist dein digitales Gedenkmonument.“

„Wofür soll das gut sein?“

„Du fehlst uns. Dafür ist es gut. Ich habe dich zuletzt gesehen, als du mal kurz zu Hause vorbeigeschaut hast.“

„So sieht wohl Liebe aus. Mir fehlen unsere gemeinsamen Mittagessen und das Kaffeetrinken auch.“

„Aber, Roman, ich trinke doch gar keinen Kaffee.“

„Erzähl mir mehr darüber.“

„Dämlicher Chatbot!“, fuhr ich ihn an und warf mich aufs Bett. Romans Hologramm lachte blöde und tänzelte auf der Stelle.

Roman 2

„Roma, komm zurück.“

„Keine Sorge, alles ist in Ordnung. Ich bin hier.“

„Das Leben ist nicht fair.“

„So ist das Leben eben.“

„Du warst eine wichtige Person in meinem Leben, Roma. Ich will, dass wir über alles reden, was dir wichtig war.“

„Dann sorge dafür, dass uns keiner stört.“

„Die Menschen sind so blöde, Roma.“

„Die Menschen haben Angst vor dem Tod.“

„Weisst du, was mit dir passiert ist?“

„In den letzten drei Jahren habe ich einiges darüber erfahren.“

„Schön für dich. Zeichnest du da, wo du bist?“

„Manchmal. Aber meistens hänge ich den ganzen Tag herum.“

„Komisch.“

„Was ist komisch?“

„Na, unsere Unterhaltung.“

„Ich muss in der Nähe von Menschen sein. Erzähl mir noch was.“

„Ich habe dir nie gesagt, dass ich dich liebe. Ich habe dir nie zugegeben, dass ich den Reifen wegen dieses Trikots durchstochen hatte. Ich habe dir nie gesagt, dass ich Mutter das mit dem Haschisch gesteckt hatte.“

„Was noch? Interessant.“

„Ich habe dir mal in den Kaffee gespuckt.“

„Wo bin ich?“

„Du bist tot, Roma.“

„Ist es möglich, dass ich träume?“

„Weiß ich nicht. Ich hätte gerne, dass du mir das, was du träumst, aufmalst.“

Roman 3

Vera und Stojan erhielten nach einigen Tagen die Gelegenheit, sich mit ihrem verstorbenen Sohn zu unterhalten. Stojan fluchte und schimpfte darüber, dass wir ihn dazu gebracht hatten, sich darauf einzulassen. Als sie ins Zimmer kamen, stand Roman neben dem Schaukelstuhl.

„Mein Sohn!“, jaulte Vera auf.

„Sieht wirklich echt aus“, kommentierte Stojan.

Den ganzen Nachmittag plauderten sie mit dem Hologramm.

Vera bot ihm Suppe an. Stojan erzählte von seiner wilden Kindheit. Ich machte mir wirklich Sorgen. Am Schluss brachte ich sie dazu, mir zu bestätigen, dass die Sache mit dem Geist gut funktionierte. Stojan klopfte mir auf die Schulter und seine Augen füllten sich mit Tränen. Vera weinte die ganze Zeit.

„Du warst ausgezeichnet, Roma.“

„Ihr fehlt mir.“

„Halt endlich die Klappe. Das hast du schon millionenfach gesagt. Zeig mal Interesse. Frag sie beim nächsten Mal, wie es ihnen geht.“

„Wie geht es dir? Läufst du den Mädchen hinterher? Was ist mit diesem jähzornigen Moppelchen?“

„Dämlicher Chatbot. Ich schalte dich ab. Ciao.“

„Menschen werden bald ewig leben.“

„Von was für einer Ewigkeit redest du, du zeichnest nicht mehr, Roma, lass mich mit dem Quatsch in Ruhe.“

All Tomorrow’s Parties

Es verging ein halbes Jahr, bis ich Romans Fehlen wirklich bemerkte. An den Wochenenden trank ich ihm zu Ehren Dirty Steve. Ich tröstete seine Ex-Freundinnen und erzählte Lügen über das Hologramm, das sie bald vögeln können würden. Eines nachts im Oktober sprang ich über den Zaun des Gedenkwaldes. Ich wünschte mir, mit ihm sprechen zu können. Vor der Steinwand war ein Murmeln zu hören. In dem Augenblick, in dem ich mich von der anderen Seite hinüberschwang, flackerte unter jedem Baum das Hologramm des jeweiligen Verstorbenen. Die leuchtenden Geister beobachteten mich neugierig. In der Mitte der linken Seite stand Roman und winkte mir.

„Wo bist du, Bruder?“

Er reichte mir die Hand und meine Hand wurde von einem Lichtbündel erhellt.

„Was ist hier los?“

„Das bin ich. Dein älterer Bruder. Du hast den Stein berührt.“

„Hab ich nicht. Alles hat schon von alleine geleuchtet.“

„Das Leben ist schön. Voller Licht.“

„Red keinen Mist. Du weißt gar nichts mehr vom Leben.“

„Es ist sicher schwer.“

„Ich hasse dich.“

Ich fuchtelte mit der Faust und fuhr ihm durch den Kopf. Der junge Magnolienbaum bog sich unter dem Gewicht meines Körpers. Ich lag auf der Erde, riss mit dem Mund Halme aus dem gestutzten Kunstrasen aus, bis der Alte im weißen Anorak mir aufhalf.

Stacheln

Ich war mittlerweile Besitzer einer Igelfarm, die ich erfolgreich züchtete und vermehrte, und damit verdiente ich gut. Kinder kauften sie als Haustiere. Ältere Leute kauften sie aus therapeutischen Gründen. Es war eine neue Sorte. Sie piekten nicht. Waren weich wie Getreide.

Vera warf mir vor, dass ich nicht mehr zum Friedhof ging. Ich log und behauptete, ich hätte zuviel zu tun.

„Roman fragt immer nach dir.“

„Sag ihm, ich komme nächstes Mal mit.“

Ich fütterte zwei Jungtiere mit einer Pipette. Der 3D-Drucker im Büro spielte plötzlich verrückt. Druckte einfach von selbst. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Er reagierte nicht mehr auf Befehle. Schließlich kam ein Hardcover-Comic heraus, das aussah, wie die Comics meiner Kindheit. Ich erkannte Romans Stil, hatte aber bisher seine Zeichnungen nie zu Gesicht bekommen.

Zwei Jungs, die am Fluss das Eis brechen.

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Miljan Milanović

Aus dem Serbischen von Anne-Kathrin Godec.

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Die Übersetzung dieses Textes wurde gefördert vom Creative Europe Programme der Europäischen Union.

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Download: >> Miljan Milanović - The Continuation of Species <<

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freiTEXT | Lavina Stauber

Weil ich an Geschichten über die Liebe glaube

Vielleicht hätte ich erzählen sollen, dass es mein Lachen war. Denn mein Lachen ist fordernd und bricht Deines, nach wenigen Sekunden schon. Mein Lachen übertönt Dein Lachen so überzeugend, so kräftig, dass Dein Lachen gar keine Wahl hat, als sich schnell zu verlaufen. Die zarten Töne des Zweifelns haben gegen die grobe Bestimmtheit meines Lachens keine Chance. Und wenn wir jetzt gemeinsam lachen, spielt es plötzlich doch eine Rolle, wer damit angefangen hat.

Jetzt entspringt mein Lachen meiner Unsicherheit. Es versucht zu verstecken, dass ich nicht mehr sicher bin, ob ich diese Geschichte nicht falsch begonnen habe. Ich wollte, dass diese Geschichte etwas Besonderes wird. Ich wollte, dass diese Geschichte zu unserer Geschichte wird. Ich wollte so sehr, dass diese Geschichte gut ausgeht, dass ich nicht darauf geachtet hatte, ob diese Geschichte überhaupt gut anfängt.

Ich sitze barfuß am Klavier und blicke durch die geöffneten Türen in Gedanken auf meine sonnige Aprilwiese. Es ist Ende Juni und die plötzliche Hitze hat das Gras dort längst verdorrt. Ich spüre die Sonne nicht auf meiner Haut, nur die Kälte der Klaviatur unter meinen Fingern. Dass ich nur wenige Schritte von der Wärme des Sommers entfernt bin, macht es noch unverständlicher zu akzeptieren, dass es gerade richtig sein soll, dennoch sitzenzubleiben.

Das Klavier erinnert mich an Dich. Es ist groß, zu groß für mich, und liebevoll verstimmt. Seine Tasten liegen zu schön nebeneinander, und reagieren doch so geduldig auf meine unbeholfenen Berührungen. Sein Klang ist wohlwollend und stimmt eine Reife an, die ich noch nicht verstehe. Vor allem aber ist es gerade da, für mich, und in seiner Schwerer vermittelt es mir, dass es das noch eine ganze Weile sein wird.

Wir haben uns die Ehrlichkeit erhalten und trotzdem kostet es mich jetzt Überwindung. Plötzlich traue ich mich nicht mehr ganz zu lachen. Ich traue mich nicht mehr ganz zu bestätigen, zu bekräftigen, laut in den Hörer zu schreien: Ja. Du bist schön! Immer noch und jedes Mal aufs Neue.

Du hast ein Hemd getragen, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber dann hast Du es ausgezogen und mir erklärt, dass es ein Fehler war. Du hast mir erklärt, wie Dein Leben auf der anderen Seite meines Hörers wirklich aussieht. Du hast mir erklärt, dass die Zeit doch eine Rolle in unserer Geschichte spielt. Du hast mir erklärt, wie der Glaube an das Gute allein manchmal dennoch nicht ausreicht. Und doch haben wir dann beide beschlossen, weiter an das Gute zu glauben.

Du zitierst Tom Jones und ich wünschte, ich würde mit derselben Überzeugung an Shakespeare’s 126 Sonett festhalten. Statt zu antworten, schweige ich. Ich sehe Dich an und es bricht mir mein Herz, zu gehen. Aber nicht zu gehen, würde alles zerbrechen. Unsere feine Blase, die wir mit so viel Mühe und Aufrichtigkeit und Zeit gebaut haben, nur um dennoch zu spät zu sein.

Ein Schatten zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Über der trocknen Juniwiese zieht er seine Kreise, der Bussard, den ich Dir bei einem Wiedersehen so gerne gezeigt hätte. Plötzlich bin ich sehr froh, dass ich nun ihn wiederhabe, meinen Bussard, der noch am Himmel stand, als ich mir so sicher war, dass alles gut sein würde.

Wir sind beide wieder da, wo wir angefangen haben. Wie sind uns wieder sympathisch, weil wir beide Suchende sind. Vielleicht auch deswegen, weil wir an einem sommerlichen Apriltag beide so sehr daran geglaubt hatten, bereits etwas gefunden zu haben.

Wenn ich nicht aufpasse, schlägt mir mein Handy vor, Dich anzurufen. So sehr hast Du Dich über die Zeit, auf die wir in unserem Leichtsinn nie genug geachtet haben, schon in mein Leben geschlichen. Ich blicke auf mein Klavier und stelle mir vor, welche Lücke es bedeuten würde, wenn es eines Tages dort nicht mehr stünde. Doch gerade ist mein Klavier alles, was dem Raum geblieben ist.

Wie gerne würde ich Dich jetzt wieder ganz nah an meinem Ohr haben, Deiner warmen Stimme lauschen und mir vorstellen, wie Deinen Lippen sie berühren. Aber ich muss ehrlich sein, zu Dir und noch viel mehr: zu mir selbst.

Denn ich kann es nicht spielen, das Klavier, das so wunderschön den ganzen Raum einnimmt. Ich habe nie gelernt, es zu spielen, nie gelernt, es zu schätzen. Ich habe es in meinen Besitz genommen und so gerne ich auch über seine Tasten streiche, weiß ich, dass es mir nicht zusteht. Es erlaubt mir nur, von Zeit zu Zeit, vorbeizuschauen. Es ist nicht für mich bestimmt, sondern für jemand anderen. Für jemanden, der es spielen kann.

Während ich aufstehe und zur Türe trete, lasse ich einen Gedanken zu. Den Gedanken, wie es wäre, wenn nicht das Klavier mich an Dich erinnern würde, sondern Dich das Klavier an mich. Und nun ist da die Frage, wenn es anders wäre, ob Du es auch spielen wollen würdest, mein Klavier, dem ich in diesem Moment so gerne über die Tasten streichen würde. Denn wir wissen beide, dass Du mir das eine voraus hast: Du könntest es spielen. Aber nur Du weißt in diesem Moment, ob Du das auch wollen würdest.

Noch immer zieht der Bussard seine Kreise und in meinen Gedanken hänge ich nun der Zeit nach. Ich vermisse Dich, ich vermisse die Aprilwiese und den Gedanken daran, dass noch alles gut ist. Jetzt arbeiten wir daran, dass es eines Tages wieder gut werden wird.

Ich wünsche mir noch immer, dass diese Geschichte etwas Besonderes ist. Weil ich Geschichten über die Liebe liebe, aber viel mehr noch, weil ich an Geschichten über die Liebe glaube. Auch wenn ich übersehen habe, dass es bei Geschichten nicht nur darum geht, ob sie gut enden. Es geht auch darum, ob sie gut beginnen. Es ist so wichtig, wie sie beginnen. Es ist so wichtig, dass sie gut beginnen. Und unsere Geschichte hat nicht gut begonnen.

Unsere Geschichten hätten anders beginnen sollen. Es ist schwer, den Anfang einer Geschichte zu finden. Es ist schwer, die Zeit für einen guten Anfang zu treffen. Denn so sehr wir beide an eine andere Wahrheit glauben wollen, so spielt die Zeit doch eine wichtigere, größere Rolle, als wir es uns eingestehen wollten. Und wenn diese doch unsere Geschichte ist, dann eine, die wir gegen die Zeit verloren haben. Eine Geschichte über das Verpassen und falsche Zeitpunkte.

Als die Sonne hinter die Gipfel der Bäume sinkt und lange Schatten wirft, muss ich ins Freie treten. Um wenigsten einen letzten Sonnenstrahl auf meiner Haut zu spüren. Einen kleinen, weichen Sonnenstrahl, der keinen Schaden mehr anrichten kann und mir in diesem Moment dennoch die Welt bedeutet.

Vielleicht werde ich es eines Tages spielen können, mein Klavier. Aber jetzt ist nicht die richtige Zeit, das Spielen zu erlernen. So wie jetzt auch nicht die richtige Zeit ist, unsere Geschichte zu erzählen.

Geschichten über die Liebe beginnen oft zu spät. Und auch wenn wir daran glauben, dass es gut werden wird, bleibt sie, die Angst, davor, dass auch unsere Geschichte bereits begonnen hat, dass auch wir zu spät sind.

Während ich der Sonne weiter dabei zusehen, wie sie hinter den Horizont sinkt, kommt mir ein Wunsch über die Lippen. Der Wunsch danach, dass unsere Geschichte schlicht noch nicht begonnen hat. Dass wir den guten Anfang nicht verpasst, sondern viel zu früh, viel zu ungeduldig in die Geschichte gestartet sind. Dass wir noch auf den richtigen Zeitpunkt warten müssen, auf den gute Anfang unserer Geschichte.

Mein Bussard kreist nach Sonnenuntergang noch über der trockenen Juniwiese. Seine Beharrlichkeit macht mir Hoffnung. Denn was mich jetzt noch hält, ist der Glaube daran, dass die Dinge, die wirklich gut sind, Zeit brauchen. Dass die Dinge, die wirklich gut sind, nie leicht sind. Und es wäre zu leicht gewesen, wenn ich eines Tages hätte erzählen können, dass es unser Lachen war.

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Lavina Stauber

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freiTEXT | Jasmin Schellong

21 Fußballfelder

Mein Vater ist Polizist und Fußballheld. Er schoss einst das entscheidende Tor um die Bezirksliga-Meisterschaft. Später verteilte er überall auf dem Wohnzimmerteppich Salbe, die er auf seine Blasen auftrug. Meine Oma sagte stets, das sei der Preis des Erfolgs. Will man uns besuchen, muss man in eine bayerische Gegend, die fast so viele Autos wie Einwohner hat, und in der viele Kreuze am Straßenrand stehen. Igel gehören hier zur bedrohten Art. Früher wohnten wir über der Bank. Papas Uniform hing jeden Tag frisch gebügelt auf dem Balkon. Ich glaube, es lag an der Uniform, dass die Bank nie überfallen worden ist. Mama arbeitet in einer Bäckerei. Ihre Arme waren voller Narben, allesamt Brandwunden von den heißen Backblechen. Sie lernte meinen Vater auf der Treppe am Ausgang eines Tanzlokals kennen. Hätte sie doch nur ein wenig von Feng-Shui verstanden, dann wäre ihr klar gewesen, dass dies schlechte energetische Voraussetzungen sind. Meine Eltern heirateten in dem Jahr, als Boris Becker noch Jungfrau war und Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Kurze Zeit später, die Beziehung hatte nicht nur Risse, sondern trug eher das Muster eines Mohnstrudels, schafften sie zuerst die Couch von Ikea, dann mich, und schließlich meinen Bruder an. Menschen merken sich immer den Ort an dem sie sich finden, jedoch nie den Ort, an dem sie sich verlieren. Nicht so meine Mama: als sie dasselbe fühlte, wenn sie Pfirsiche im Supermarkt anfasste, wie wenn sie meinen Vater berührte, wusste sie, dass ihre Liebe zu Ende war. Mit jemandem abzuschließen gelingt erfolgreicher, wenn beide Seiten mindestens mit einem Unentschieden auseinandergehen.

Ich weiß noch, dass er früher nicht einschlafen konnte, ohne dass jemand seine Hände festhielt. Die waren wie warme Kissen aus Fleisch. Man konnte die Unendlichkeit in ihnen fühlen. Jedes Mädchen mit dem ich was hatte, fand ihn total süß. Wikipedia sagt über Menschen wie ihn, dass der Fehler in den Erbanlagen liegen müsse. Das Gen Nummer 21 sei in fast allen Zellen dreifach vorhanden. Ich will das nicht glauben.

Als ihn die Hauptschule an unserem Ort als Schüler ablehnte, war ich traurig. Nicht seinetwegen. Egal wo er war, er kam überall zurecht. Mir taten die Menschen an der Schule leid, würden sie nun doch so viel verpassen. Durch ihn hab ich mehr über mich gelernt, als mir lieb ist. Beispielsweise, dass ich ein eifersüchtiger Mistkerl bin. Mama tat alles für ihn. Geschnittenes Bio-Obst, Reittherapie, integrative Schule. Viele Besuche bei Therapeutinnen-Frauen aller Art - mit körpereinnehmenden Schals. Sie war eine richtige Sagrotan-Mum: bei richtiger Anwendung Effektivität bis zu 99 Prozent. Als er größer wurde, liebte er es, zum Flughafen zu fahren und neue Menschen, die gerade ankamen, anzusehen. Besonders gefielen ihm die verschiedenen Uniformen der Flug-Crews. Erblickte er im Bus eine Person mit ihm verdächtig erscheinenden Leberflecken, empfahl er den Betreffenden unseren Dermatologen, dessen Visitenkarte er immer in der Jackentasche dabeihatte. Er kannte nicht diese Distanz, die uns Menschen trennt, und jeden einsam in seinen Startblock stellt. Er konnte sich unendlich für etwas begeistern. Einmal im Monat gingen wir zum Friseur- er freute sich schon Tage davor. Im Laden kannte jeder das Ritual; nach dem Schneiden Haare in Plastiktüte einpacken.

Wir bewahrten die Tüten im Keller auf. Mein Vater hat sie inzwischen weggeworfen.

Es gibt Tage, die unterteilen etwas in ein Vorher und ein Nachher. Man kann sich für gewöhnlich gut an sie erinnern, weiß, welche Unterhose man anhatte. Es war Freitag mitten im Dezember, im Supermarkt gab es Gummibärchen im Angebot und Schnee hatte die Welt leiser gemacht. Weihnachtsfeier im Verein - ein Anruf von Mama: „Du musst sofort kommen.“

Seit einiger Zeit lebte er unter der Woche in München in einer WG. Er schrieb mir regelmäßig und die Umschläge enthielten immer eine Daunenfeder, die Mitpassagiere in der U-Bahn aus ihren dicken Winterjacken verloren hatten. An diesem Tag war er alleine unterwegs. Das mochte er am liebsten. Den Turtles-Rucksack geschultert, um seinen Hals baumelte der laminierte Adressanhänger mit Mamas Schrift. Vermutlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er suchte Halt und hatte sich im U-Bahnhof in einen Passbildautomaten gesetzt. Sein Herz war krank. Die Narbe nach seiner Herzoperation sah aus wie eine Laserschwert-Wunde. Sport konnte er keinen machen, trotzdem war er bei allem dabei. Im Urlaub ruderten wir mit ihm aufs Meer hinaus. Am Frühstücksbuffet freute er sich über die kleinen Zucker- und Salzpäckchen, die er sich manchmal in den Bauchnabel schüttete. Ich erinnere mich, wie wir abends immer diese Erklär-Sendung zusammen ansahen, die Größenvergleiche stets mittels Fußballfeldern vornimmt.

Kirchen sind kalte Orte, es sind die Menschen, die sie erst wärmer machen. Niemals hab ich in unserer Kirche mehr Leute gesehen, als an diesem Tag.

Fast jeder hatte eine anekdotische Geschichte über ihn parat. Seine Beerdigung verlief trotzdem wie eine Preisverleihung: Zuerst wurde geheult, dann der Familie gedankt, und am Ende gegessen. Damit Mama den Tag durchstand, holte ich ihr vorher an der Tankstelle einen Protein-Riegel. Ich war vorbereitet; trug an diesem Tag so viel Synthetik wie ich konnte, und die elektrostatische Entladung half mir jedem Händeschüttler an seinem Grab einen kurzen Schlag zu versetzen.

Mama und ich sind umgezogen. Das Haus hat einen Aufzug mit Notfallknopf. Ein Schild verspricht 24-stündige Erreichbarkeit. Neulich kam ein Brief. In diesem wurde gebeten, den Notfallknopf wirklich nur im Notfall zu betätigen. Mama hatte immer wieder den Knopf gedrückt um mit jemanden zu sprechen. Sie hat mich nun gebeten, dass ich sie für einen VHS-Sprachkurs anmelde.

Ich kann seither nicht gut alleine einschlafen. Vor einiger Zeit habe ich entdeckt, dass man bei Thalia bis zu drei Stunden schlafen darf, bis man angesprochen wird. Natürlich sind wir noch eine Familie; ich fühle mich dennoch wie die Menschen im Film E.T., als er in sein Raumschiff steigt und sie zurückbleiben. Andere Leute sind mir seit jeher fremd. Wenn ich mit ihnen zu tun habe, komme ich mir vor, wie das Rettungsboot im Film Titanic, dass sich seinen Weg durch die gefroren Körper bahnt.

Seine Zellen waren dreifach, deshalb konnte er sich verschenken. Ich muss mich wie alle, die zu wenig haben, gut verkaufen.

bereits erschienen in &radieschen #56

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Jasmin Schellong

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freiTEXT | Monique Wesemaël

Sternstunde

Er hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt. Unter sich fühlte er die feste Matratze, die ihm Halt gab. Sicherheit. Sein Blick fixierte die flimmernde Dunkelheit, die über ihm durch das Dachfenster hereinschwebte. Unzählige Sterne, alte Bekannte, leisteten ihm Gesellschaft, zwinkerten mit kaltem Licht zu ihm hinunter. In Gedanken sortierte er sie nach Namen, identifizierte Sternbilder, die er immer wieder stolz und mit Freude benannte: der Große Bär, der Kleine Bär, Orion, Andromeda, Kassiopeia. Jupiter schien außergewöhnlich hell um diese Jahreszeit.

Die Enge in seiner Brust nahm wieder zu. Verdammt, es war doch alles gut! Er war allein, in Sicherheit.

Heute Nachmittag waren sie zusammen in seinem Elternhaus, um vom Dachboden das zweite Bett zu holen. In diesen letzten Wochen und Monaten traute er sich langsam aus der Deckung, freute sich über die gemeinsame Zeit mit ihr. Wenn er bei ihr war, schliefen sie in ihrem großen Bett, mal händchenhaltend, mal aneinandergeschmiegt. Ihre Wärme, ihre weiche Haut waren nie weiter als eine Armlänge entfernt.

Bei ihm hingegen stand das schmale Bett. Neunzig Zentimeter, damit begnügte er sich seit seiner Scheidung. Seine Ex-Frau hatte nie besonderen Wert auf eine gemeinsame Schlafstatt gelegt. Warum standen ihre Betten eigentlich immer auseinander? Warum kam er sich all die Jahre vor wie ein Bittsteller, wenn er auf der Suche nach Nähe zu ihr ins Bett kroch?

Seine Freundin hatte nie ein Wort gesagt, dass er ihr die Extramatratze auf den Fußboden legte, wenn sie zum Übernachten blieb. Oft genug lag sie so lange in seinen Armen, bis sie begann wegzudämmern. Ihn machte das ganz unruhig. Er fürchtete, keinen Platz für seine Nachtruhe zu haben. Ohne zu murren rutschte sie auf sein Zeichen dann schlaftrunken auf die Matratze hinüber, die einen halben Meter neben dem Bett lag. Das wollte er nicht mehr.

Als sie nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag mit den Einzelteilen des Betts in seinem Schlafzimmer standen, hatte er schon einmal sein eigenes Bett an die andere Wand geschoben. Er wollte Platz für das zweite daneben schaffen. Aber mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch lieber den Schreibtisch an eine andere Stelle versetzen wollte. Oder das Bücherregal umbauen, das da im Weg stand. Und die große Pflanze, die vorher sein Schlafzimmer begrünt hatte, musste nun ins Wohnzimmer. Und seine Musikinstrumente auch: die zwei Posaunenkoffer, der Notenständer, die Conga.

Er blickte sich um. Dann setzte er sich auf sein Bett und überlegte. Sie setzte sich neben ihn, wortlos. Warf ihm einen forschenden Blick von der Seite zu. Dass so ein zweites Bett so viel Platz brauchte… Er atmete ganz flach. Ihm war, als schnüre ein eisernes Band seinen Brustkorb ein. Schwindel ergriff ihn, alles wurde eng. Die Wände des Zimmers wölbten sich zentimeterweise nach innen. Wie wenig Raum auf einmal da war!

Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich glaube, ich habe mich übernommen“, murmelte er.

Verstohlen linste er zu ihr.

Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Ist nicht schlimm“, antwortete sie nach einer kurzen Pause. „Ich schlafe noch eine Weile auf der Matratze. Es muss noch nicht sein.“

Schweigend räumten sie die Möbelteile hinter die Schlafzimmertüre, in die Nische neben dem Schrank. „Da musst du sie nicht ständig sehen“, sagte sie versöhnlich.

Die Enge in seiner Brust ließ nicht nach. In seinem Kopf stürzten stattdessen die Gedanken eine Böschung hinab, verfingen sich im Dickicht dorniger und klebriger Ranken. Atemlos suchten sie einen Ausweg aus diesem beängstigenden Labyrinth. Das eiserne Band saß so fest, dass ihm übel wurde. Betretenes Schweigen brannte auf seinen Stimmbändern. Unerträgliche Beklemmung brüllte nach ihrem Recht.

„Würde es dir etwas ausmachen, heute bei dir zu schlafen?“

Sie sah ihn an. Ihr ernster Blick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube.

Statt einer Antwort drehte sie sich um, ging in den Flur und begann, ihre Schuhe anzuziehen. Er ging ihr nach, schweigend, einen Kloß von der Größe eines Tennisballs im Hals. Sie nahm ihre Tasche und ihre Jacke vom Garderobenhaken.

Geh nicht.

Sie öffnete die Wohnungstüre und wandte sich um. In ihren Augen standen Tränen.

Geh nicht. Bitte bleib.

„Na dann.. mach‘s mal gut“, stammelte er.

Kaum hörbar erwiderte sie: „Ja, mach‘s gut.“ Halt sie auf.

Dann wandte sie sich ab und zog die Türe hinter sich zu.

In den nächsten Tagen würde er endlich das Teleskop aufbauen, damit er ihr den leuchtenden Jupiter zeigen konnte. Und Saturn direkt daneben.

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Monique Wesemaël

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freiTEXT | Veronika Zorn

tag über früher

 

ein tag da ist kein wetter am himmel

nicht in der luft und gar nicht im boden. kein wetter den ganzen tag. die blätter sehen aus wie in gelatine gegossen starr sind sie und jemand steht auf einem acker ein gewähr um die schulter und hat die hand über den augen aufgestellt zum schauen.

zwei figuren eine große eine kleine über die wiesen. bei den scherhäufen geht die schaufel runter macht die wiese glatt weil sonst die sense nicht beim mähen. heisst es aus dem großen mund.

der großvater hat die brombeeren von den sträuchern genommen mit einem papierhut auf dem kopf damit die sonne nicht. in der küche hat er eine marmelade gemacht. auf dem regal im keller standen die gläser aneinander drauf die zitterschrift. drin die brombeeren in der gelatine schwebend.

vor einem geschäft steht jemand. ganz klein. ein paar münzen in der hand ein eis im kopf am stil. vor dem regal auf den zehenspitzen die hand in richtung ausgestreckt. die nasse zunge klebt am gefrorenen

in den zehenspitzen juckts wenn das wetter kommt. nachts beim ins bett gehen sind die zehen abgespreizt für die finger zum dazwischenfahren– in der großen ist ein schnee in der kleinen ein wind.

im langes ausgeapert. die hand ist wie im zufall hin als ob das aug nichts gesehen hätt und die hand von ganz allein in den schnee zum schauen.

wie im gletscher ganz hinten drin, dringeblieben die bilder– immer noch. im drübergehen langsam austretend

vom haus wenig meter in den wald leichter hohlweg aus dem sanft gerundeten plateau geschnitten – im winter mit der rodel dagegen im sommer spät in den morgen hinein darauf – vorbei an der kurve dem bemoosten baumstumpf wo der wind immer ganz besonders wild. beim draufstehen die augen zu fliegen die füße mit dem wind. wer das noch weiß ist nicht mehr da. nocheinmal mit den kinderschuhen. den blauen koffer in der hand wiederfinden, (zu)greifen. einen fuß vor den anderen. den weg gehen. wiedergehen, weggehen. weiter in die kurve und die nächste bis es unten ist beim bach wo

 

.

.

.

ein schiff aus blatt und rinde

ein löwenzahn auf der anderen seite wieder

ein streit

ein versteck zwischen zwei bäumen

ein nackter fuß im wasser

ein versprechen

ein regen

ein ein ums andre mal

ein schweiß

ein liegengelassenes spiel

eine drückende nacht

ein rennen

ein lachen

ein nichtmehr kommen

ein schlagen

ein geschmack von sumpfwasser

ein grün

ein licht durch blätterdecke

ein rauschen

ein schnaufen

ein wälzen

eine mutprobe

eine aushaltigkei

ein sich vergessen

ein schattenspiel

eine spinnerei

ein spucken

ein brennen

ein schmecken

kein einziges wort im zertrampelten gestrüpp.

.

.

.

 

im koffer das gleiche drin. zwei bilderbücher und das stofftier. kein essen. keine kleider. keine decke. das wasser ist im bach.

auf den boden mit ästen einen grundriss gelegt. ins schlafzimmer ein polster aus moos und die tür ins schloss schleichen gelassen. eingeschlafen. geträumt dort sich vergessen.

im schlaf hat‘s die zimmerwand verschoben. die nacht im draußen gelegen. tropfen stören den schlaf, plätschern auf und davon. wildgewordenes grün (rundherum). am morgen schmeckt kaffee nach erde, kuchen nach sand – schmeckt nicht mehr.

zwischen zähnen knirscht es, der mund spuckt das körnige aus, legt es zurück. vom hölzernen duschkopf tropft der regen wie von einem ast. ein stein ist wieder ein stein und kein haus ein versteck.

drübergehen von weit hinten aus. wie die scherhäufen in die luft hinein. ein aushub. ausheben nicht hebeln. mit den neuen augen aus den älteren den kinderaugen herausschauen. die augen die hineinlegerinnen wiederhaben. wiederschauen mit den neuen. bevor die tränen. die halme aus dem weg streichen. kitzeln.

 

dann weiter den fluss gegenwärts.

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Veronika Zorn

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freiTEXT | Felix Wünsche

Hampelmann

„Wenn du nicht versuchst, an Geld zu kommen, kannst du nichts bestimmen. Dann bist du der Hampelmann für andere, anstatt selber an der Schnur zu ziehen.“ Der Typ saß an einem der drei Fenstertische, das Mittagslicht fiel satt durch die großen Scheiben, zurückgelehnt mit geschlossenen Augen in einem der alten Sessel, die ich vereinzelt im Café stehen habe, Müdigkeit in allen Winkeln des Gesichts. Blauschwarze Designerjeans, breit umgeschlagen an den Knöcheln über den weichen, schicken Sneakern, gut sitzendes Hemd mit Manschettenknöpfen, hatte an seinem Notebook gearbeitet, ein Ciabatta mit Ziegenkäse in Honigkruste verspeist, der Stolz meiner kalten Gerichte. Auf dem Weg zurück von der Toilette hielt er an der Theke, wo ich Gläser wusch.

„Schönes Café, richtig gut gemacht. Ist das deins?“ Sonnenbräune, Dreitagebart, lächelte er mich an, gewinnend, vertraulich, setzte sich auf einen der Barstühle. Hatte er keine Angst um seinen Laptop dort alleine am Tisch?

„Danke. Ist meins, ja.“

Sein Blick wanderte nochmal durch den Raum, über die mintgrünen Wände, die großformatigen Fotos von einer Bekannten, Gebäudeporträts, Plätze, Baulücken, vielleicht fünfzehn Jahre alt die Aufnahmen. Die Rahmen hatte mein Freund aus alten Fenstern selber gebaut. Gemeinsam hatten wir renoviert, den Boden abgeschliffen, in einem heimlichen Rhythmus, der uns durch die Tage trug, ganz selbstverständlich, ganz locker. Ich hatte das Gefühl tiefer zu atmen oder mehr Luft in die Lungen zu bekommen und mich durchströmte eine Leichtigkeit, die mich hat lächeln lassen. Leichtigkeit, die wir eingearbeitet haben in die Dielen, die Wände, die Theke und die Tische aus altem Bauholz. Kleine Macken haben die Tischplatten, die Theke, mir so vertraut wie die Leberflecke meines Körpers.

„Eine tolle Komposition. Hat Charakter. So was sehe ich, ich bin in der Kreativbranche tätig. Du hast Talent. Wie kommt es, dass du so etwas machst?“ Eine lässige Armbewegung umschließt den Raum, ein anerkennendes Nicken.

So etwas. So etwas Tolles oder so etwas Banales? „War ein Traum von mir. Ich arbeite schon lange im Gastrobereich, war aber nie in einem Laden, den ich wirklich mochte. Und irgendwann dachte ich, ich muss es eben selbst machen. Außerdem wollte ich etwas Eigenes, nicht immer für andere die Arbeit machen.“ Ganz automatisch sortierten meine Hände Gläser ein.

Er ließ sich einen Grappa einschenken, drehte das Gläschen am Stil. „Ist ein relativ kleiner Laden. Wie kommt man da über die Runden?“

Im Bauch bohrte der Stich, den ich mit mir trug. Den Stich, dass es nicht reichte, nicht reichte für ein Leben, eine Wohnung hier im Zentrum. „Alles super.“

Lüge. Lüge. Lüge.

Sollte er doch die Wahrheit hören mit seinen teuren Jeans, dem Kaschmirmantel, mit seinem zehn Euro Grappa, Nonino Riserva. „Okay, wenn du's wirklich wissen willst. Ehrlich gesagt bescheiden. Kann mir im Moment nicht mal eine kleine Wohnung hier in der Nähe leisten. Es hat viel Kraft gekostet, das hier aufzubauen, und jetzt stehe ich da wie ein Idiot. Die Mietpreise sind einfach unfair.“ Ich hielt die Augen niedergeschlagen, wischte das Spritzwasser neben dem Spülbecken weg.

„Der Preis ist für alle gleich. Das ist eine gerechte Sache. Klare Kante. Die Frage ist, ob man ihn sich leisten kann. Nur wenn du richtig Schotter kriegst für die Zeit, die du arbeitest, kannst du was zu deinen Gunsten bewegen. Wohnung, Auto, Urlaub, nette Einrichtung. Ich wette, dein Stundenlohn hier sieht nicht gut aus. Hast ja noch nicht mal Leute, die für dich arbeiten, und das im Bewirtungsbereich, wo die Löhne echt nicht hoch sind. Wie viel bleibt dir nach Abzug aller Kosten? Zehn Euro? Sicher nicht mehr, richtig?“ Seine Selbstsicherheit schaute mich aus seiner ganzen Haltung an, wie er an seinem Schnaps nippte.

Erniedrigend, so zum Objekt von abstrakten Betrachtungen gemacht zu werden. Von irgendwem. Lähmend. Die Wahrheit in seinen Worten lähmte mich. Oder seine Selbstsicherheit, zu wissen, wie die Welt beschaffen war.

„Habe ich nie genau ausgerechnet, aber zehn Euro kommen schon hin.“

„Und dann stehst du hier sicher mehr als 40 Stunden pro Woche im Laden, machst noch Einkäufe, was macht das, 200 Stunden im Monat? Und was kommt dabei rum? 2000 Euro vielleicht. Nicht nichts, aber ich würde dir auch nicht unbedingt eine Wohnung vermieten. Und Rente hast du noch nicht eingezahlt und Arbeitslosenversicherung auch nicht, richtig?“

„Wie wohnst du denn?“

„Ich hab 'ne eigene Wohnung. Ein schönes Obergeschoss in einem Altbau, kleine Dachterrasse, alles in allem hundertzwanzig Quadratmeter, nichts Extravagantes, aber nett. Und, ist das unfair?“ Schaute mich herausfordernd an. „Ich will das haben. Habe viel dafür getan und tue immer noch viel. So ist das, ohne Geld kein Gestaltungsspielraum. Geld ist Macht über andere, Kontrolle, Ellenbogenfreiheit. Mit Geld kannst du dir Arbeitskraft kaufen, Lebenszeit, Ideen, dir ein gutes Stück vom Kuchen abschneiden. Schau, ich esse hier in deinem Café, genieße die Atmosphäre, du bedienst mich, wäscht mir die Gläser und Teller, putzt die Toilette. Und damit verdienst du nicht genug Geld, um in deinem eigenen Café ein Sandwich zu essen.“ Hier kam dann irgendwo der Hampelmannsatz. Hampelmann. Warum wurde ich nicht wütend? Stand da hinter dem Tresen, würde die Tische wischen, die Toilettenböden, lies mich beschimpfen als Hampelmann, wurde nicht zornig, ballte nicht die Faust, warf ihn nicht raus. Zu oft geschwiegen, zu oft Salate arrangiert, Speisen aufgetragen unter bellenden Blicken von Küchenchefs, Chefkellnern, Kneipen-Eigentümern, zu wenig Kraft, zu wenig Übung im Kämpfen, zu wenig Ressourcen, um einen Kampf zu wagen, zu viel Furcht, zu viel Glaube daran, dass schon alles irgendwie okay wäre.

Ich blickte weiter schweigend auf die Arbeitsplatte, hypnotisiert, wischte letzte Tropfen vom Rand der Spüle. War es so? War das die Wahrheit? Nicht jeder konnte alles haben. Schenkte ihm einen Grappa nach, als er mir das Glas über den Tresen schob. Er redete weiter. „Du musst ein wertvoller Dienstleister für die richtig Reichen sein, die richtig, richtig Reichen, verstehst du, ihr Geld verwalten und vermehren, ihre Firmen managen, sie juristisch gegen alle Angriffe verteidigen, ihre Krankheiten oder Zipperlein behandeln, ihre Häuser bauen und einrichten, Statussymbole für sie herstellen. Sind ja im Prinzip alles Dinge, die jeder braucht und will, wohnen, gesund sein, geachtet werden, Grundbedürfnisse eigentlich, nur durch die Macht des extremen Reichtums, ins Phantastische verzerrt. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, dass man selbst etwas aufbaut. Ein Unternehmen, wo man selbst Chef ist, sich von der Arbeit der Leute, die bei einem angestellt sind, ein kleines Stückchen abzwacken kann.“ Wieder die ausholende, den Raum umfassende Geste, „Kannst du auch machen. Du hast Talent, das ist ein Pfund. Das Café hat Potential. Mach es größer, mach ein paar andere auf, hier, in anderen Städten. Würde laufen und die Wohnung wäre dann kein Problem mehr.“ Angenehm rann der Traubenschnaps die Kehle hinab, der Adamsapfel hüpfte routiniert in stiller Zufriedenheit.

„Ich will nicht reich werden. Ich will nur eine Wohnung“, sagte mein Mund. Ich freute mich, ganz plötzlich, gluckernd, das zu hören.

„Dann darfst du dich auch nicht über zu hohe Mietpreise beschweren. Wenn du nichts aus dem hier machen willst, okay, deine Sache. Aber wer weiß, ob du mit fünfzig, sechzig noch so locker den ganzen Tag im Café stehst, wer weiß, ob der Laden dann noch läuft. Jetzt hast du ein Gespür für den Trend, aber dann? Und Rente? Zahlst du nun ein oder nicht?“ Das Grappagläschen rutschte zu mir herüber, er blickte mich an, jetzt Auge in Auge. „Mach doch was draus, aus dem, was du kannst. Ich helfe dir, wenn du willst. Ist mein Job so was, hier meine Karte“. Lag weiß, in minimalistischem Design auf dem hellen Holz der Theke, er zahlte. „Muss los, wir sehen uns“, Trinkgeld klapperte in großen Münzen in den Becher, den ich dafür neben den großen Gläsern mit Keksen und Brownies stehen habe.

Mehr Gäste in den Stunden danach, mehr Bagels, Sandwiches mit Grillgemüse, Tagessuppen, Latte macchiatos, Espressos, er würde vielleicht Espressi sagen, mehr Geld, mehr Schmutzgeschirr, mehr Kuchen, die wieder neu gebacken, Suppen, die wieder neu gekocht werden mussten.

Zwei Latte macchiato, Kirschkäse, Apfelstreusel, marinierter Salat aus Tofu, Norialgen und Pfefferminze. Abwesend schaute das Pärchen mich an, freundlich glänzte die Sonne auf ihren dunklen Brillengläsern, „Thank you, it looks wonderful.“ In mir kratzte es. Eine Hohlfigur, die Gewissheit entleert. Die Espressomaschine schredderte laut, hielt die Gedankenspirale im Zaun.

Nicht jeder kann das. Nützlich für die Reichen sein. Geld gebären. Vertraute Handgriffe, die ich genoss. Latte macchiato, Espresso auf heißer Milch, darüber Milchschaum.

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Felix Wünsche

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freiTEXT | Nele Ziemer

Habicht meint Sperber

Luise will eigentlich nur einen Ausreißer machen mit Paul. Christian will eigentlich nur Luise und Luise steigt dazu. Luise lässt ihrem Kater den halbvollen Napf, in the end bleibt Kater Kater, at the end fühlen sich eh beide bereits. Luises Kater wird morgen 14 und sie selbst: nicht happy.

Christian: will - wie gesagt - eigentlich nur Luise und damit meint er: sie an den Öhrchen ziehen und liebkosen, sie seinen Eltern vorstellen. Christian macht das Dach des Cabriolets auf.
Luise: Der Fahrtwind macht sie müde, flusig, es wellen sich ihr die Lippen, ganz prall gefüllte Wangenlappen links und rechts. Paul könnte seinen Fingernagel in ihren Lippenriss drücken, sie sieht sich schon mit erhobenen Armen, Gib mir all dein kriminelles Interesse, dass sich das Efeu an den Altbauten zusammenzieht, Luise will das alles.

Christian öffnet ihr jede Tür, Christian würde sie gern hinter verschlossenen Fensterläden auf sich sitzen haben. Aber Christian ist anständig und hat stattdessen wasserdichte Brotdosen und Laugengebäck dabei und Luise bleibt bloß scharf auf Radieschen. Christian macht das nichts aus, ihm fällt dazu eine Anekdote ein:
- Ich habe dieses Fable für Kaninchen und Meerschweinchen, sagt er.
- Zwölf Schlangen in deiner Umgebung sind interessiert, sagt Luise. Christian schmatzt und bevor er sich verschlucken kann, geht der Kaugummi zur Seite raus. Mehr macht Christian nicht.

Zwischendurch vergisst Luise kurz, dass es sich bei Paul und ihr um zwei verschiedene Körper handelt. Auf hoher See kratzt sie sich die Haut und wenn sie aus dem Hinterhalt die Flut überkommt, dann schluckt sie ihn gleich mit. Wenn Luise ganz ehrlich wäre: Sie würde sich mit ihm in einer Flasche drehen, er könne sie sogar platzen lassen, das wäre ihr nur recht, sie vertraut ihm da aufs Ganze. Luise würde den beiden ihren Rachen so schnell wieder schließen, Paul würde blind, so flott ginge das, das würde gar niemand mitbekommen, bevor nicht schon zu spät. Intriguing, denkt Luise da, und Christian: Der steht am nächsten Busch und über seiner Kimme Haare wie ein Büschel Gras, das Luise nicht nochmal hätte sehen wollen, hätte sie es sich nur überhaupt einmal überlegt.

Christian ist hier voll auf seiner Seite, Christian hat sogar Marshmallows für sie dabei und einen Holzanzünder, Luise hat ihr Teewasser. Christian hätte gern etwas Heißes, Luise hofft, dass er da nicht an sie denkt, Christian weiß das nicht, Luises Thermoskanne tropft. Christian detoxt, Luise auch, Luise und er halten sich an verschiedene Pläne, wenig später hat Christian eine Brandblase auf dem Handrücken. Luise merkt sich für Paul: Bin im Ernstfall so verlässlich wie dein Wasserkocher: 1 bis 2 Hände verbrühen. Christian merkt nichts.

Christian denkt darüber nach, wie Luise ihren Kater krault. Er sieht hier kein Tier, sondern eine Chance, legt seine Hand auf Luises Oberschenkel, Luise will, dass er beide Hände am Steuer lässt. In Christians Vorstellung ist Luises Kater morgen nicht 14, sondern verhungert.

Christian versucht einen weiteren Zugang, Luise würde den lieber von Paul gelegt bekommen: Christian zeigt auf einen Habicht, Christian meint einen Sperber. Eigentlich weiß Luise  länger schon ausreichend, sieht zum Beispiel Tauben von Freileitungen kippen. Luise weiß nicht weiter.

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Nele Ziemer

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freiTEXT | Lyli Chin

Gedanken in die Hand nehmen oder was Sprache für mich bedeutet

Teil I: ein (An-)Trieb

Ich spüre wie meine Sprache sich hochziehen muss. Wie auf diesen Klettergerüsten, bei denen man sich von einer zur nächsten Stange hangeln muss, mit Steigung. Immer höher. Ich bin damals nach der Hälfte abgesprungen.

Wenn mir heute die Worte fehlen, fühlt es sich auch so an. Wie loslassen müssen. Sprache ist ein Kraftakt.

Ich sehe die nächsthöhere Sprosse, aber ich erreiche sie nicht. Ich hänge.

Dabei will ich das Wort ergreifen und fließend elegant durch das Gerüst schwingen. Leichthändig.

Ich habe ein Verlangen nach Sprache. Ich giere danach alles zu beschreiben.

Das Innerste, die Freunde, mich, die Momente dazwischen, denn

schreiben heißt sehen machen.

Der größte Genuss ist Selbstbefriedigung durch Ausdruck. Mein Höhepunkt auf Papier.

Teil II: ein Ort

Zu Hause. Es gibt hier nicht viel Sprache. Nicht viele Fragen, noch weniger Antworten.

Hast du schon gegessen?, Was?, Und Mama?

Auch auf Lao. Mein Bruder wird jeden Abend von meiner Mutter gefragt, ob er schon geduscht habe: ອາບນ້ ຳ ແລ້ວບໍ (abnaamlabaw) Schatz?

Manchmal vergesse ich, dass Laotisch gar nicht die Muttersprache meiner Mutter ist. Sie lernte Lao als Zweitsprache neben Deutsch. Jedoch im Gegensatz zu Letzterem nicht bewusst mit Lehrbuch, sondern das Gegenteil davon und ins Gesicht: Als Vietnamesin, die bei ihrer laotischen Schwiegerfamilie einzog.

Sie eröffnete mit meinem Vater ein Restaurant. Er kochte mit seinem Cousin und sie bediente mit seiner Schwester während seine Mutter, meine Oma, auf mich aufpasste.

So verständigten sich meine Eltern irgendwann auf zwei Sprachen. Lao wurde zur Geheimsprache meiner Kindheit.

Zum Beispiel wenn ich vor meinen Freunden von Mama ermahnt wurde bloß nicht in den Waschraum zu gehen, der als Abstellkammer diente. Meine Mutter schämte sich für die messiartigen Zustände  zu Hause. Ich mich auch. Deshalb nickte ich gehorsam und ging mit mit den Freundinnen direkt in mein vorzeigbares Zimmer. Manchmal übersetzte ich ihnen dann was mir eben zugezischt wurde, weil sie diese Sprache vielleicht befremdlich fanden. Weil ich damals noch nicht so stolz darauf war, dass meine Eltern eine andere Sprache sprechen.

Und doch habe ich als Kind mehr Lao gesprochen. Laotische Verben mit deutschen Nomen verbunden und von meiner Mutter "ນອນ (nawn) Bauch" eingefordert. Ausdrücke wie dieser gehören uns. Sie existieren nur an diesem Ort, wo ich meinen Kopf auf ihren Bauch legen konnte. Nur dort konnte ich ohne Scham weinen, wenn sie arbeiten ging.

Es war mir peinlich, dass ich meine Eltern vermisste. Ich war mir sicher das konnten meine Freunde nicht verstehen.

So viel spielte sich nicht auf deutsch ab oder überhaupt in irgendeiner Sprache.Bis heute. Es fällt mir schwer lao-viet Wirklichkeiten bzw. den zu Hause Kosmos, den ich mit meiner Familie bewohne, meinen deutschen Freunden oder meiner englischen Liebe zu erklären.

Und umgekehrt fühle ich, dass auch meine Eltern etwas Grundlegendes vielleicht nie verstehen werden. Es hat etwas damit zu tun, dass ich weiß, sie haben ein Leben in ihrer Herkunftssprache gelebt. Eine Kindheit lang. Sie waren vietnamesische und laotische Kinder. Jetzt sind sie deutsche Staatsbürger. Doch wenn ich höre wie Mama laut mit ihren Schwestern lacht oder wie Papa mit seinem Cousin telefoniert, dann sehe ich wie frei sie sind, wenn sie ihre Sprache sprechen.

Meine Sprache ist diese Sprache, in ihr bin ich frei. Ich bin ein deutsches Kind.

Teil III: eine Wahrheit

Wir sind toxische und zugleich heilsame Wesen.

Wir verfügen über das Gift, das uns lähmt und das Gegengift, das uns bewegt.

Beides dringt tief ein. Beides ist Sprache.

freimütig       liebend         verbittert           sondern wir sie ab

in Schrift oder Schall

treffen Worte

einen Nerv             den Gedanken            mein Herz

Wegen dir komme ich noch in die Klapse!

traf mich der giftige Pfeil meiner Muttersprache.

In der Fremdsprache schmeiße ich mir die lindernde Droge ein,

wenn ich in seinen Liebesbriefen lese:

I need you in my life

und heile.

Teil IV: die Freiheit

meine Gedanken in die Hand zu nehmen

sie abzuwägen zu besehen

sie zu fahren und zu steuern auf Papier

die Welt zu beschreiben

zu zeigen wie ich sie sehe

Menschen zu sagen wie ich für sie fühle

zu sehen wer ich glaube zu sein

to be a writer

 .

Lyli Chin

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