freiVERS | Jana Franke
in einer schachtel aus luft
unsichtbar,
wenn ich nicht atme.
beruhigt übersehen.
wenn ich nicht atme,
wachse ich unbehelligt
in einer schachtel
aus tischbeinecken
im spinnweb
mit holzdach zum ausziehn und
auf dem teppich geblieben.
wenn ich nicht atme durch
halbseidene tafeltücher
betrachte ich krampfadern,
notdürftig gestopfte strümpfe,
schwarze zehen, gelbe nägel
im sommer.
wenn ich nicht atme
vergessen sie mich
in der schachtel aus luft
zwischen den
beine derer, die reden.
über alles, auch mich.
aus mir wird dann: die.
dann atme ich nicht
mehr in meiner schachtel
unterm tisch, dann
verknüpfe ich schnürsenkel.
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freiTEXT | Katharina Flor
Erdbeerschokolade und „Löwenzahn“ – mein Medikamentenentzug
Ich trinke koffeinfreien Kaffee und esse seit Tagen Erdbeerschokolade, um mich bei Laune zu halten, außerdem habe ich drei Kilo abgenommen. Ich wäre gerne wieder normal. Ich berichte hier von meinem Medikamentenentzug. Heute ist Tag 19. Ich führe Strichliste. „Jede Stunde und jeder Tag, den Sie schaffen, bringt Sie weiter weg von dem Mittel.“ Dieser Satz hängt an meiner Wand. Und noch ein paar andere wichtige Sätze. „Es wird besser.“ Ich habe gerade einen guten Moment. Der ganze Tag ist schon ganz okay. Allerdings hochemotional. Ist es endlich bald soweit, dass ich wieder einen normalen Alltag führen kann? Eigentlich schmeckt mir die Schokolade gar nicht mehr. Mir schmeckt das nicht mehr. Brauche eine Ablenkung, weil ich sonst mein Projekt „Frei sein von Medikation“ nicht schaffe. Gestern war es hart. Ich knickte ein. Ich dachte, es sei vorbei. Heute ist ein neuer Tag. Jeder Tag ist anders.
Schon ein paar Tage vor Weihnachten 2024 dachte ich, dass ich nun auch den letzten Rest meines Neuroleptikums absetze. Ein Medikament, das einst Segen brachte und für viele Menschen immer noch Segen ist. Für mich ist es jetzt Fluch. Ich merke, meine Spannung steigt. Aber ich mache weiter, was soll ich sonst tun? Mit meinem Therapeuten habe ich besprochen, alles da sein zu lassen, kein Kampf gegen die Absetzsymptome. Annahme. An Weihnachten hatte ich den Versuch abgebrochen. Ich dachte ein wenig, es läge an Weihnachten. Nein, weit gefehlt.
Dann ein weiterer Versuch am Sonntag, den 2. Februar 2025. Ich merkte zunächst nichts. Habe scheinbar weit verdrängt, dass es schlimm werden könnte. Am Donnerstag, den 6. Februar ein totaler Absturz nach der Therapie. Ich habe da immer noch nicht an Absetzsymptome gedacht und das Medikament dann doch wieder genommen. Am nächsten Tag führte ich das Absetzen fort. An diesem Wochenende fiel dann noch die Heizung aus und ich saß da mit 17 Grad in der Wohnung. Ein paar Tage war alles noch machbar. Dann am Mittwoch extreme Durchlässigkeit. Wie erkläre ich, was das ist? Du kannst nichts mehr ertragen. Deine Themen schon mal gar nicht. Überhaupt keine Schutzschicht mehr. Der Körper steht ohne da. Es ist schlimm. Schlaflosigkeit setzte ein. Den folgenden Donnerstag wieder Therapie. Abends musste ich eine Veranstaltung verlassen. Ich ertrug nichts mehr. Noch nicht einmal Klavierklänge. So gut wie es ging, fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Da ein totaler Absturz. Es setzten Hochspannungszustände ein. Panik. Ich wusste nicht, was mit mir geschieht. Im Sommer hatte ich auch Absetzsymptome. Da habe ich mit dem Absetzen begonnen. Im Sommer war es auch schwer, aber nicht so heftig. Telefonseelsorge nicht erreichbar. Überlastung. In der Psychiatrie angerufen. Laut der Stimme am anderen Ende der Leitung: „ein Notfall“. So wollte ich das nicht! Brauchte sofort Hilfe. Wusste nicht, wohin mit der Spannung. Am Telefon erhielt ich ein paar Ratschläge. Ich habe sofort ein paar Kraftübungen probiert, um die Spannung zu reduzieren. Im Kopf Tiernamen aufgezählt. Es war katastrophal. Es half auch nur bedingt. Die Spannung zu hoch. Ich ging draußen spazieren. Runde für Runde und überlegte. Ich wusste, ich halte es nicht mehr aus. Aber ich wollte das unbedingt schaffen! Ich drehe durch, insbesondere in der Wohnung. Telefonate. Meine Schwester holte mich ab. Ich war zwei Nächte bei ihr, dann eine Nacht bei meiner Mutter. Das alles ging nicht gut. Ich ertrug nichts. Die Mutter telefonisch nicht zu erreichen oder die Sirene in der Ortschaft brachte heftige Spannungsanstiege und Angst. Ich lief ständig umher, um gegen die Spannung vorzugehen. Einkaufen ging nicht. Ich hüpfte durch den Supermarkt, konnte vor Angst nicht warten. Keine Menschen ertragen. Keine Trigger. Das waren die härtesten Tage. Hochspannung Tag und Nacht. Ich konnte gar nicht mehr schlafen, vielleicht eine Stunde. Stattdessen musste ich meine Spannung in Griff bekommen. Nachts in Stützposition. Mitunter kalte Dusche. Trotz Husten. Später noch die Menstruation. Ich konnte es mit mir selbst nicht ertragen. Permanent in Angst, es könnten schwierige Gedanken in den Kopf kommen. Angst vor Gefühlen. Eine Angsthypnose, die ich in der Zeit hörte, kann ich jetzt
nicht mehr hören. Zu schlimm ist die Erinnerung an diese Tage. Ich nehme noch ein anderes Medikament bei Bedarf, in diesen Tagen so hoch dosiert, wie nur möglich. Es half kaum. Schnell weiter im Text!
Ich fuhr wieder nach Kiel. Und seitdem bin ich wieder in meiner Wohnung. Nur langsam verbessert sich der Zustand. Ich schlafe mittlerweile wieder vier bis fünf Stunden. Aber mein Kopf ist voller Angstgedanken. Mal mehr, mal weniger. Es kommen mehr Phasen der Ruhe. Die Hochspannung schlug sogar in extreme Entspannungszustände um, so sehr, dass mich das beunruhigte. Das Atmen fiel schwer. Gespräche kann ich immer noch nicht gut aushalten. Ich kann nur übers Wetter, Essen oder Ähnliches sprechen. Ich kann keine Filme zur Ablenkung schauen, außer Wissenssendungen für Kinder. Ich habe immer wieder Spannungszustände und auch Angstzustände. Gestern dachte ich, dass ich abbrechen muss. Aber nein, ich will es schaffen! Das kann ich nicht noch einmal durchmachen. Alle sagen, dass das vorbei geht. Es kann aber Wochen dauern. Am schlimmsten ist für mich das abendliche Alleinsein. Die Dunkelheit. Ich habe ein LED-Licht gekauft, damit ich mich im Bett sicherer fühle. Höre den ganzen Tag Radio. Ich weiß, dass ich stark bin. Ich ziehe das jetzt durch. Meine Spannung ist jetzt hoch, aber nicht extrem hoch. Und ich habe Angst. Muss mich diesen Gedanken aussetzen, weil sie sonst immer mehr Angst machen. Das Schlimmste ist vorbei, hoffe ich! Es ist immer noch schwer und ich arbeite an der Angstbewältigung. Mein Therapeut sagt: „Sie surfen die Angstwelle.“ Ja, genau das mache ich, auch jetzt gerade. Ich war gerade ganz weit oben, versuche jetzt sanft abzusteigen. Sanft wird das nicht, werde wohl ein wenig stolpern, fallen und wieder aufstehen. So bin ich.
Fortsetzung. Damit sollte es enden. Nach 1000 Worten. Es ist inzwischen vorbei. So gut wie. Ich hatte Tag X erreicht. Morgens ein Gespräch, dann spontan in einen ehrenamtlich betriebenen Laden gegangen, um mich bezüglich einer Mitarbeit zu erkundigen. Danach bin ich nach Hause. Dort ging es wieder los! Ich lief dann im Stadtteil umher, um Müll zu sammeln. Ablenkung. Graue Wohnblocks. Unvertrautheit. Meine Hände froren in den Einmalhandschuhen. Stiefelte durch den Dreck. Wann hört das endlich auf? Mein Ziel für diesen Tag: Abends zur Tanzimprovisation. Das wollte ich noch schaffen. Schon das Krankenhaus im Kopf. Ich ging zum Tanzen. Mit Bedarfsmedikation im Bauch. Es ist nicht zu übersehen, dass es mir schlecht geht. Ich halte durch, gebe mein Bestes. Der Tanz – der Pfeiler meines Lebens! Ach, könnte ich doch immer tanzen! Wieder zu Hause. Ich legte mich hin. Um Mitternacht wachte ich wieder auf. Ich brauchte noch eine Weile, dann entschied ich ins Krankenhaus zu fahren. Konnte nicht mehr. Der Punkt war erreicht. Ich rief ein Taxi. Auf dem Klinikgelände verirrte ich mich zunächst, fand dann doch die Notaufnahme. Es war verfahren. Ich wollte da bleiben, immer noch mit der Hoffnung, dass es sich bald bessert. Eine Aufnahme war nicht möglich. Das Gespräch mit dem Arzt aber gut. Ich ließ los. Endlich ließ ich los. Noch vor Ort nahm ich das gefürchtete Medikament wieder ein. Niedrig dosiert. Machte mich dann früh morgens auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Der Weg war angenehm. Ruhig und menschenleer. Das Straßenlicht warm. Ab da lag ich nur noch von morgens bis abends. Völlig erschöpft. Am Samstag noch einmal Panik. Noch einmal die Notfallnummer der Psychiatrie gewählt. Eine freundliche Frau half mir. Sie riet, in den Schlaf zu finden. Ich nahm sie beim Wort und legte mich gegen 17 Uhr hin. Medikamente und Schlaf. Ich schlief, aber nicht viele Stunden am Stück. Zwei Tage ging es so. Immer noch den ganzen Tag Radio. Immer wieder die gleichen Songs. Nicht zu emotional. Damals in den Kliniken lief auch immer Radio von morgens bis abends. Sie untermalt meinen Zustand. Man sitzt, wartet und guckt raus, hört. Und macht Therapie. Ich warte jetzt auch, dass sich mein Zustand bessert. Ich bin dankbar, das Medikament wirkt. Der Schlaf- und Nerventee musste weichen, konnte ihn nicht mehr sehen. Ich brauche jetzt ein wenig mehr von dem Wirkstoff. Was ist jetzt? Ich habe Angst vor Gefühlen. Vor schlimmen Zuständen. Abstürzen. Im Moment möchte ich nichts fühlen. Viel zu viel gefühlt. Dann aber macht mir der Gedanke doch etwas Angst. Nein, ich möchte fühlen. Nur heute nicht. Ich kann diesen Text lesen, ohne in starke Angst zu verfallen. Ein bisschen Unwohlsein. Was war das nun? Ist es meine Grunderkrankung, die durchschlug? Oder waren es Absetzsymptome? Vielleicht beides. Es gab zuvor Warnsignale. Ich habe sie ignoriert. Ich wollte unbedingt von den Medikamenten weg. Wollte mich von der psychiatrischen Versorgung lösen. Unabhängig und frei fühlen. Gesund sein. Es ist jetzt okay. Ich akzeptiere. Ich akzeptiere, dass ich das gerade nehmen muss. Nur so kann ich zur Zeit leben. 1,25 mg. Das Weglassen dieser kleinen Menge, laut des Arztes „ein Hauch“, brachte mich in diese Lage! Unfassbar! Vermutlich gab mir diese Menge Sicherheit. Die Sicherheit ist brüchig. Muss sie in mir finden. Mich wieder ans Leben heranwagen. Die Dinge wieder an mich heranlassen. Die Angst bewältigen.
Ich erkenne: Ich bin ein neuer Mensch. Etwas ist anders. Ich akzeptiere meine Erkrankung. Nun weiß ich, dass ich trotzdem alles probieren kann, was ich mir wünsche, eben mit der Erkrankung und mit dem Medikament. Und mit Offenheit. Ich sehe den gefürchteten Spätwirkungen ins Auge. Wenn ich Spätdyskinesien bekomme, muss ich damit leben. Dann lebe ich damit. Es findet sich ein Weg. Ich lebe jetzt. Ich habe nicht aufgegeben, ich habe „Ja“ zu mir gesagt und das Beste daraus gemacht. Mir selbst geholfen. Mir Hilfe geholt. Ich mache jetzt anders weiter!
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freiVERS | I. J. Melodia
Rochade 110 bpm
Auf deinen nächsten Zug wartend
beginnst du einfach von vorne
die Damen in den Fäusten
ich hätte die Wahl
Doch selbst Schwarz und Weiß
kannst du nicht mehr unterscheiden
Ich erinnere mich
an den Januar
sein Grau
und den August
er brannte rot
Heute rieche ich
unsere Asche
höre kaum die Musik
In meiner Kehle keimt
das Unbehagen
ohne Klang und Farbe
Die Nadel springt von der Platte
ein leises Knistern im Tonarm
der Takt geht dir blau
unter die Brust
blendet aus
Es gab nie ein Verurteilen
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freiTEXT | Anton August Dudda
Krokodile
Plötzlich Krokodile. Im Park Krokodile, in der Bahn Krokodile, Krokodile überall dort, wo man dachte, hier sei man sicher, hier, wenigstens hier kann einen eigentlich nichts mehr überraschen, Krokodile all over the place wo man dachte, man hätte die Regeln begriffen und sie hätten alles zu einer gewissen Ordnung gebracht, auf der Straße, im Café, im Einkaufszentrum, Krokodile. Krokodile auch an komplizierteren Stellen, Krokodile in Krankenhausbetten, an der Garderobe im Theater, auf der Tanzfläche im Club, Krokodile im Darkroom, Krokodile im Lightroom, Krokodile im Escape Room, Krokodile auf den Lehrstühlen der Fakultäten und Krokodile im Schiffsrumpf, Krokodile in den Zimmern dritter Klasse, den Zimmern zweiter Klasse, den Zimmern erster Klasse, auf Deck und in den Rettungsboten, Salzwasserkrokodile in den Rettungsboten von Flussdampfern und Süßwasserkrokodile in den
Rettungsboten von Ozeankreuzern, sonst könnten sie im Ernstfall ja auch einfach wegschwimmen. Krokodile auch an Orten, die es eigentlich nicht gibt, Krokodile, die nachts unter Kinderbetten lauern, Krokodile im Badspiegel, wenn man vom Zahnpastaausspucken wieder hochschaut, Krokodile in dunklen Kellern mit flackernden Glühlampen, Krokodile in Bäuchen von Verliebten, Krokodile im Hirn von Verrückten, Krokodile im Arsch von Nervösen.
Krokodile auf deiner Nasenspitze als du sagst , du hättest nochmal über alles nachgedacht, Krokodile, die einem vom Herz in die Hose rutschen, Krokodile, die alles immer schon früher gewusst haben, Krokodile, die dich geritten haben müssen, als wir uns küssten, Krokodile von denen man träumt, wenn man mit deinem Geruch in der Nase einschläft, Krokodile im Grundwasser, Krokodile im Abwasser, Krokodile im Mundwasser, Krokodile, die bei Überdosierung giftig sein können, Krokodile, die die Männer weltweit unfruchtbar machen, die Spermienkonzentration verringern, Krokodile im Essen, E110, E112, Krokodile bei Polizei und Feuerwehr, Krokodile, die Drogen verticken und Burger Kings in Brand setzen, Krokodile in der Schlange vor uns, du nimmst die Chicken Nuggets und ich den veganen Whopper, ledig, ledrig, Jacke wie Hose. Krokodile im Nil, Krokodile im Amazonas, Krokodile in der Spree, Krokodile am Strand in der Sonne mit Bikinis und Badehosen, Krokodile am Abend mit Pizza und Wein vor dem Sonnenuntergang, Krokodile, die in den Sternenhimmel schauen und sich klein fühlen, klein und unbedeutend, Krokodile, die in den Arm genommen werden müssten, doch niemand kommt, niemand nimmt die Krokodile in den Arm und wer würde das schon freiwillig übernehmen wollen, die Krokodile zu umarmen, man muss sich ja nur mal diese Zähne anschauen, diese kräftige Kiefermuskulatur und dann diesen zu einem zynischen Grinsen verzogenen Mund.
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freiVERS | Yasmin Sibai
orientieren I kein aufwachen sondern eher ein herausfallen aus REMphasen // rausgefadetes träumen // ein herunterdimmen // abschwellen synchron mit dem ausdünnen der dunkelheit // herausgleiten aus schichten //
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freiTEXT | Julius Katins
Die Begegnung im Zug
Ein Aufprall.
Das Jauchzen verstummte, ein Schrei durchschnitt das Abteil. Stille, bis auf das Rattern des Zuges. Zwei junge Männer weiter vorn blickten sich um. Eine Dame beugte sich schwer in den Gang und schaute mehr interessiert als besorgt, woher das Geräusch kam. Der Greis mir gegenüber verdrehte die Augen, ehe er sich weiter am Sudoku versuchte, und hinten fragte jemand, was denn passiert sei. Sogar ich sah von meinem Buch auf.
Eine Kurve hatte das Fangenspiel der beiden Geschwister beendet. Jetzt schluchzte die Kleine am Boden und der kaum ältere Bruder versteckte sich in einer leeren Sitzreihe. Nur die Augen lugten über die Lehne.
„Bis einer weint“, kam doch immer rechtzeitig der Hinweis. Dieses Mal nicht.
Der Vater erhob sich aus der Vierergruppe neben mir und nahm die Tochter auf den Schoß. Sie verstummte und vergrub das Gesicht in seiner Jacke, als die anscheinend kinderlose Dame fragte: „Was hat denn das Prinzesschen?“
Eine Antwort blieb aus. Die dick-roten Mundwinkel der Dame sanken hinab, sie zog sich zurück. Allmählich nahmen die Leute wieder die Gespräche auf.
Der Junge schlich auf den Fensterplatz neben der Mutter, die am Gang dem Vater gegenüber saß. Die Nase wenige Millimeter vor der Scheibe, starrte der Junge nach draußen und flüsterte über die vorbeisausenden Häuser. Als der Zug durch einen Tunnel fuhr, murmelte er die Sekunden: „Drei... vier... fünf...“
Die Mutter blätterte mit den langen Fingern ihre Zeitschrift um. Leicht sah das aus, als streichle ein Windzug die Seite. Dabei tauschte sie über die Brillengläser hinweg einen Blick mit dem Ehemann. An ihn gelehnt schloss die Tochter die Augen.
Mein Blick wanderte zurück auf die Buchzeile. Schwer lag die Lektüre in meinem Schoß und erinnerte mich daran, wie ich meine Zeit zu nutzen hatte. Ich versuchte zu lesen, doch wieder und wieder verschwammen die Wörter.
Ein Ruck. Der Zug blieb stehen. Das war mein Halt.
Ich fing das Stofflesezeichen aus der Luft, platzierte es in der Buchfalte und schloss die Seiten zusammen. Mit den Fingerkuppen fühlte ich den Ledereinband.
Durch die schon offenen Türen drang eine Bahnsteigdurchsage. Ich zog meine schwarz-lederne Reisetasche unter dem Sitz hervor, legte das Buch hinein und stand auf. Der Junge schaute noch immer aus dem Fenster, das Kinn in den Handrücken gestützt, den Ellenbogen auf der Fensterkante.
Wenn er von seinem Glück doch nur wüsste, dachte ich.
Dann verließ ich den Zug.
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freiVERS | Sabine Rothemann
Irgendwo Irgendwohin
Wir sind da.
Hier sind wir.
Im Spiegel ein Anderer.
Andere.
Im Irgendwo. Dort.
Irgendwo gehen sie hin.
Irgendwo kommen sie an.
Nie jemals war jemand nirgendwo.
Ich sehe sie nirgends.
Nirgends sehe ich sie.
Nicht hier, nicht da.
Sie stehen vor Zäunen.
Sie warten.
Sie überwinden Stacheln und Mauern.
Sie sind drinnen.
Sie sind draußen.
Da und dort.
Zum Bleiben bereit,
bereit zum Laufen davon
Da und dort.
Im Spiegel ein Da von Irgendwo.
Das Dort ein Spiegel von einem Ort.
Irgendwohin gehen sie.
Irgendwo nebenan leben sie.
Nicht im Nirgendwo.
Auch nicht jemals.
Sie sind.
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freiTEXT | Julia Lehmann
das schlimmste ist durchschnitt
oder
das büro – phase 2
ich weiß nicht, wie das geht: zufrieden sein. oder zumindest zufrieden sein mit der eigenen unzufriedenheit. selbst das nicht. für mich gilt: überall nur nicht hier. und: alles nur nicht das. und eigentlich vermutlich auch das: alle nur nicht ich. irgendwas fehlt und ich weiß nicht was. ich liege im bett und denke, ich hab die beste zeit verpasst. wenn das leben so weiter geht, kann es so nicht weitergehen. wie kann ich vermeiden, dass ich so werde, wie ich nie werden wollte?
für mich gibt es nur eins: ganz oder gar nicht. alles oder nichts. und dazwischen ist einfach nichts. es gibt nur phase 1 oder phase 2. schwarz oder weiß. himmel oder hölle. oben oder unten. mein glas ist nie halbvoll und nie halbleer. ich habe entweder gar kein glas oder eins, das überläuft. das sind meine maßstäbe. wo ist das glas, das übersprudelt, frage ich, wenn keins vor mir steht. bitte nehmt mir das glas, bitte ich, wenn es am übersprudeln ist. ich will das, was ich nicht habe und habe ich es dann, will ich es auch nicht. brasch, du bist mein held. denn bleiben wollen wir, wo wir nie gewesen sind.
jetzt ist phase 2, aber ich will phase 1. bin ich phase 1, will ich phase 2. und dabei wäre wohl das beste phase 1 1/2.
jetzt ist büro. das ist für mich: menschen, die erwachsen spielen. menschen, die an ihren plätzen sitzen. menschen, die auf bildschirme starren, e-mails schreiben und telefonate führen. 9 to 5. aber immerhin: gleitzeit. das ist doch schon mal was, lasse ich mir sagen. ich nicke mit dem kopf und möchte lieber sagen: das ist doch alles nichts. die kolleg*innen warten auf den feierabend und füllen die zeit mit telkos und besprechungen. dabei nicht zu vergessen: das protokoll! das protokoll! der projektleiter erklärt: ab heute nur noch ergebnisprotokoll. verlaufsprotokoll führt nicht zum ziel. das sind die wahren entscheidungen. hier werden die wichtigen dinge bewegt, steine ins rollen gebracht und der umsturz des systems vorbereitet. mit den protokollen! was wäre die geschichte ohne ihre protokolle! was wären oktoberrevolution, französische revolution oder die kubanische revolution ohne ihre protokolle?! nichts. vermutlich hätte es sie nie gegeben. und ohne die obligatorische mittagspause um punkt 12, wäre che vermutlich nie auf kuba gelandet. keine revolution auf leeren magen. aus dem büro sieht die welt sowieso viel schöner aus. bitte vergiss nicht, meine blumen zu gießen! keine sorge, ich schreib mir das in meine agenda! die erste kopie in ordner 1. die zweite kopie in ordner 2. die dritte kopie in die rechnungsstelle. und danach alles in die exceltabelle einpflegen. kein problem! wird gemacht. hätte die sinnlosigkeit ein bild, wäre es das büro. hätte durchschnitt ein bild, wäre es das büro. hätte die monotonie ein bild, wäre es das büro. hätte die absurdität ein bild, wäre es das büro. wieviele bilder hat dieses büro! und morgen wieder: büro. und was ist, wenn die inspiration am abend kommt? keine chance. schlafenszeit. denn morgen um 9 ruft das büro. die inspiration muss für heute pause machen und in der warteschleife warten. aber morgen nach feierabend um punkt 5, da hole ich sie raus, die inspiration. wohl geplant in den terminkalender eingepasst. es tut mir leid, heute nach feierabend habe ich leider keine zeit. denn um diese zeit habe ich inspiration. bis spätestens 22 uhr. danach muss ich zeitung lesen und mich bettfertig machen. um 12 uhr dann der zapfenstreich. wo geht die zeit hin? wo habe ich sie verloren?
die familie ist erfreut. endlich eine richtige arbeit! ist doch gut: krankengeld, sozialversicherung und 30 tage urlaub. die tochter ist endlich angekommen. hat eine 1-zimmer-wohnung, keine bananenkisten, sondern ein richtiges bett, regale an den wänden und vor allem: struktur. ordnung muss sein und die findet sich bei ikea. es sieht schön aus, wenn es so wie bei allen anderen aussieht. ein bett, das in fast allen europäischen schlafzimmern steht. gläser, aus denen jede*r zweite bürger*in trinkt. billys, die die bücher tragen und blumen, die aus vasen ragen. so ist gut, so soll es sein. so ist das leben, ein einheitsbrei. frage nicht, wie es anders sein kann, wenn so, wie es ist, es bei fast allen ist. aber die kunst? du hast doch noch zeit! keine voll-, sondern teilzeit. montag und freitag hast du zeit für die kunst. das muss doch reichen. und wo kämen wir da hin, wenn keiner mehr arbeiten würde und alle nur noch kunst machen würden?! ja, wo kämen wir denn hin, wenn ich nicht mehr ins büro gehen würde. wenn mein platz am dienstag leer bleiben würde? wenn die telko ohne mich stattfinden würde? wenn ich keine protokolle schriebe? keiner mittagspause beiwohnen würde? wenn das telefon ins leere klingeln würde? die besprechung ohne meine meinung auskommen würde? wenn die korrektur ohne eine zweite korrektur verschickt werden müsste? wenn der feierabend ohne mich eingeleitet werden würde? und die stechuhr ohne meine zeiten rechnen würde? wo kämen wir dahin?
zur revolution.
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freiVERS | Mina Herz
ich stehe fest
eine weide will
ich sein und
trauer tragen
ich stehe fest
nimm jedes
werkzeug
das du findest
häute mich
zeichne mich
entstelle mich
ich stehe fest
eine weide will
ich sein und
trauer tragen
jede wunde auf
meiner rinde
jeder dunkle saft
den du vergießt
jeder gebrochene ast
in deiner hand
alles
an zer
störung
bist du selbst
denn
ich
stehe
fest
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freiTEXT | Luise Barth
Happy Birthday
Am Tag nach meinem 22. Geburtstag wache ich mit Kopfschmerzen auf. Mühsam hieve ich mich aus dem Bett und besehe mir das Chaos in dem Raum, der von mir als Wohn-, Arbeits- und Abstellraum genutzt wird. Die leeren Flaschen und Chipsreste sind noch zu verkraften, ebenso wie die schlappen Luftballons und Luftschlangen. Aber ist das etwa ein Brandfleck auf meinem Sofapolster? Entnervt fahre ich mir übers Gesicht. Ich hatte doch extra darum gebeten, nicht in der Bude zu rauchen. Warum hatte ich das nicht mitbekommen? War ich echt so dicht gewesen? Ich werfe eine Aspirin in ein Glas Wasser und schaue ihr beim Sprudeln zu. Dann trinke ich dieses medizinische Gift, schmeiße mich aufs Sofa und warte darauf, dass der kleine Mann in meinem Kopf aufhört, mit dem Hammer gegen meine Schädeldecke zu klopfen. Währenddessen checke ich mein Handy. Die WhatsApp-Gruppe ist voll mit Videos und Bildern von gestern Abend. Ich, mit einer Partykrone, über den Kuchen gebeugt, während alles um mich herum brüllt: „I don’t know about you, but i'm feeling 22.“ Ich sehe nicht sehr fröhlich aus, finde ich, und das liegt nicht daran, dass ich eigentlich gar nicht so ein riesiger Taylor-Swift-Fan bin. Ich denke nicht, dass es den anderen aufgefallen ist, aber meine Augen glänzen verdächtig. Wenn es ihnen doch aufgefallen ist, halten sie es bestimmt für Freudentränen wegen der coolen Party, die sie für mich organisiert haben. Und ich habe mich natürlich auch gefreut, als es an meiner Tür klingelte und statt des erwarteten „Lieferando, eine Lieferung für sie“ plötzlich „Üüüüüüberraschung“ durch die Sprechanlage gebrüllt wurde. Eigentlich hatte ich mir den Abend mit einer Pizza, einem schönen Geburtstagsanruf von meinen Eltern und meiner besten Freundin und einem schnulzigen Liebesfilm à la Pretty Woman oder Dirty Dancing vorgestellt. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Geburtstage. Im Gegenteil, ich liebe sie, vor allem als ich noch zu Hause wohnte, mein Papa das Haus mit Luftballons und Girlanden schmückte, meine Mama einen mehr oder weniger schönen Schmetterling aus Biskuitböden und Obst backte und ich vor Aufregung kaum schlafen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich den batteriebetriebenen Hund oder das Einhorn mit den pinken Flügeln geschenkt bekomme. Als ich gestern früh aufwachte, hasste ich plötzlich mein 22 Jahre altes Gesicht im Spiegel. Nicht wegen der Zahl und auch nicht wegen meines Aussehens, sondern eher wegen des Gedankens, dass die 25 nicht mehr weit war, und dann die 30 und dann die 40 und dann… Naja, ich glaube, man versteht es. Dabei habe ich gar keine Angst vor dem Altern. Der Gedanke, irgendwann weißhaarig mit meinen Freundinnen am Tisch zu sitzen und dabei Tee mit Törtchen zu verzehren, gefällt mir. Was mich stört, ist, dass ich die 22 Jahre scheinbar nicht gut genug genutzt habe. Das vermittelt mir zumindest mein Handy. Ich habe Europa noch nie verlassen, keine abenteuerliche Backpacking-Tour gemacht oder ein Semester lang Cornetto und Cappuccino in Italien gefrühstückt. Ich hatte auch keinen „Hot-Girl-Summer“ oder -Winter oder generell irgendwas Hottes. Und jetzt, jetzt erscheint es mir aus irgendeinem, komplett sinnfreien Grund zu spät, noch irgendwas daran zu ändern, weil ich ja mit 40 Jahren wahrscheinlich eher keine Backpacking-Tour durch Asien mache und mir nur noch ein Jahr für ein Auslandssemester bleibt. Meine Oma würde jetzt sagen: „Eure Generation hat wirklich große Sorgen.“ Dabei würde sie lachen, weil sie und ihre Freunde damals in Trümmerhaufen spielen mussten und es zu Weihnachten eine Orange gab. Ja, meine Generation hat viele Möglichkeiten, aber vielleicht zu viele. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Persönlichkeiten: Clean Girl, Boss Bitch, Moongirl, Sungirl, Slut, und mit achtzehn haben manche schon das erste Startup, den Modelvertrag oder die Million. Alle sind natürlich mega schlau, schlank und super sexy. Ja, kein Wunder, dass ich mich mit meinen 22 Jahren und meinem mittelmäßigen Bachelorstudium komplett unfähig fühle. Und während ich schwitzend meine Zeit in der Bibliothek verbracht habe, zeigt ein schlaues, schlankes und super sexy Girl auf meiner For You, wie sie „den Flug einfach gebucht hat“. Schließlich sollte man nicht immer nur überlegen, sondern einfach mal MACHEN. Aber davor: „Rennt zu DM.“ Und ich mache das auch, ich renne zu DM und kaufe diesen blöden Lippenstift, weil ich ihn mir leisten kann, das Flugticket für die viermonatige Workation aber nicht. Ich seufze, weil ich merke, dass meine Unterlippe wieder zu zittern beginnt. Prophylaktisch greife ich nach der Packung mit Taschentüchern auf dem Sofatisch, als eine neue Nachricht auf dem Bildschirm aufploppt. Sie ist von meiner Mama. Ein Bild von mir, vier Jahre alt, mit Zahnlücke und Geburtstagskrone. Sie schreibt: Papa und ich haben gerade die alten Fotoalben von dir angeschaut. „Wir sind so stolz auf dich, meine Große.“ Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank und hole mir ein restliches Stück Geburtstagstorte, schließe die Augen und stelle mir vor, sie wäre aus Biskuitteig und hätte die Form eines Schmetterlings.
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