freiVERS | Ferenc Liebig
Meldebescheinigung
Der Junge ist damit beschäftigt,
seine Ausweisnummer an ein Gedicht zu hängen,
Zahl für Zahl den Begriff Herkunft abzutragen,
als wäre er ein Fluss und seine Heimat ein Felsen,
denn von Liebe und Tod redet es sich leichter,
von den Gewissensbissen, die nur aufwühlen
und keinen Trost verteilen,
von grasbewachsenen Berührungen,
die am Handtuch enden,
sei getrocknet, schreibt er,
du missverständliche, verschwitzte Achsel,
sei endlich, schreibt er,
du überforderte, schiefe Schulter.
Er beendet das Gedicht mit der Zeile
und doch findet sich überall Glück darin
.
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freiVERS | Chrischa Oswald
Was bleibt
nach den Sommern
in den Auslagen
ist immer das Blau
Augen liegen am Boden
und ich sammle sie
mit meinen Sohlen
wie süße Beeren
Was bleibt
nach den Sommern
ist immer das Blau
Und der Blick
der sich umstülpt
nach innen
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freiVERS | Mina Herz
bau mir ein haus
bau mir ein haus
in meinem körper aus glas
deine finger sollen die nägel
in meinem atem sein
bau mir ein haus
unter meinen nackten sohlen
dein lächeln soll der hammer
auf meinen knien sein
bau mir ein haus
für meine brüchigen arme
dein schweigen soll der zement
auf meinen handflächen sein
werde mein haus
bette mich in dir
wo mir bis zuletzt
alles fremd bleiben soll
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freiVERS | Jan-Eike Hornauer
Ausblenden
Selenskyjs Schreie werden langsam stumm.
Denn wer will sie bloß immer weiter hören?
Ein neuer Schrei, der findet schon sein Publikum.
Doch Dauerschreien, ach, das kann nur stören.
Selenskyj rührt uns so nicht länger an.
Sein Schrei verharrt ja bloß im Ewiggleichen.
Wie man die Grenzen nur nicht sehen kann!
Und halfen wir nicht schon? Das muss auch reichen.
Selenskyj, ach, ist keiner, der versteht:
Er schreit ja weiter wirklich voll und ganz!
Aus Notwehr greifen wir zur Ignoranz.
Selenskyj wird von uns auf still gedreht.
Wir sehen bald nurmehr den lauten Schrei.
Und denken uns – vielleicht – noch ›Munch!‹ dabei …
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freiVERS | Philipp von Bose
Die kleinen Triebe
fast wie abdrücke der jungen jahre
liegen triebe zugewandt im wachstum meiner
hände
aus der nähe angesehn scheint ein lichter wald
(aus dem stumpf und all dem warten) kraftvoll aus sich selbst
zu gehen
selbst im schatten diesem kalten haus
treibt sie der wunsch von zeit geführt
die decke grün
dem licht zu geben
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freiVERS | Clara Dobbelstein
Das Nest
Sogar in meine hellsten Träume
Wirfst Du Dein grünes Schattenbild.
Und Deine Hände fahren durch das Laub
Wie früher – (damals beinah zärtlich) –
Durch Hecken meines Haargeästs.
Dein Griff wiegt schwer auf Lorbeerhaut,
Umschnürt wie Efeutaue meine Zweige,
Drückt mir die Luft aus den Organen.
Dein Kuss versickert als ein Bach
Im Labyrinth der Rindengänge.
Du warst schon immer halb ein Specht.
Doch als ich noch kein Lorbeer war,
Da ließ ich Dich in meinem Mund
Und meinen angewärmten Worten
Auch manchmal wie in einer Heimat nisten.
Ich baute Dir den Unterschlupf,
Die Welt blieb hinter einem Vorhang.
Durch meine Blätter blickst Du nicht
Nach draußen in die weite Ferne.
Du wartest immer weiter auf den Einlass.
Du pochst beharrlich, flehst und bittest –
Doch diesmal gibt es keine Tür für Dich.
So richte Dich im Schweigen ein
Und spanne Deine Blicke bis zum Morgen.
Vermische Deinen Schatten mit dem grünen Tag,
Und nicht mit mir und meinen hellen Träumen.
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freiVERS | Anna Lena Bercht
Zukunft
Zukunftsangst
Zukunftsangstunterdrückung
Zukunftsangstunterdrückungsstrategien
Zukunftsangstunterdrückungsstrategienmüdigkeit
Zukunftsangstunterdrückungsausbruch
Zukunftsangstkonfrontation
Zukunftshandeln
Zukunft
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freiVERS | Rosen de Almeida
alle tage
-1-
kochen
putzen
kissen sein
und was weh tut
den kopf den rücken die füsse nicht
anfassen
in der nacht steigt der pegel
ich dreh
den hals
und es knirscht
bis ich
im sand
eine position finde
in der ich von den zumutungen der alpen
träume
-2-
in der frühe lüften
bedeutet die nacht hereinzulassen
und damit die einladung sich vom tag
abzuwenden
vom aftershave des nachbarn
vom rauch der frühschicht
vom müden trab
der ersten
die den bus
noch erwischen
wollen
ich schüttle
kissen
decken
und mich aus
auf
-3-
auf einmal
schlägt der wind das fenster
zu
der rabe erschrickt
und fliegt davon
die wolken
bauen
türme
im letzten licht
während
das spülwasser
kalt
wird
ich schaue
in den himmel
dann
in jeden topf:
die
gurken kommen, der
basilikum
-4-
die nacht schaut zum fenster rein auf das sich
re
gen
trop
fen
ge
legt
ha
ben
wie
schup
pen
eines müden falters
es gibt nicht viel zu sehen: ein bett
ein lichtkegel
pantoffeln
ein ladekabel,
ein glas mit medizin
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freiVERS | Fabian Lenthe
Wie lange wir wohl
Geradeaus hätten fahren können
Während wir einander geküsst hätten?
Und ich denke dabei an das Kleid
Und ihre Haare
An den Fahrtwind
Und die Zigarette
Die sie sich anzündete
Als wir knapp zweihundert fuhren
Dann fragt mich jemand
Ob dies die Linie
Richtung Friedhof sei
Und ich antworte ja
Und sehe auf die Uhr
Und sage
Kommt in zwei Minuten
Und wie immer
Beginnt es zu regnen
.
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freiVERS | Sonja Paul
Sommerträge
Einer dieser Tage
Ganz still
Ein leiser Windhauch im Wipfel
Darüber ziehen
Tief und schwer
Bleigraue Wolken.
Flüsternd
Aus scheuen Ecken
Das Raunen der Zikaden.
Zurückgezogenes Licht
Legt sich schlummern
In sanfte Nachdenklichkeit.
Heute ist Sommer
Ein leiser, zurückgezogener.
Der Wolken liest
Und Schmetterlingen lauscht.
.
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