freiVERS | Ferenc Liebig

Meldebescheinigung

Der Junge ist damit beschäftigt,
seine Ausweisnummer an ein Gedicht zu hängen,
Zahl für Zahl den Begriff Herkunft abzutragen,
als wäre er ein Fluss und seine Heimat ein Felsen,
denn von Liebe und Tod redet es sich leichter,
von den Gewissensbissen, die nur aufwühlen
und keinen Trost verteilen,
von grasbewachsenen Berührungen,
die am Handtuch enden,
sei getrocknet, schreibt er,
du missverständliche, verschwitzte Achsel,
sei endlich, schreibt er,
du überforderte, schiefe Schulter.
Er beendet das Gedicht mit der Zeile
und doch findet sich überall Glück darin

.

Ferenc Liebig

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Chrischa Oswald

Was bleibt

nach den Sommern
in den Auslagen
ist immer das Blau

Augen liegen am Boden
und ich sammle sie
mit meinen Sohlen
wie süße Beeren

Was bleibt
nach den Sommern
ist immer das Blau

Und der Blick
der sich umstülpt
nach innen

.

Chrischa Oswald

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Mina Herz

bau mir ein haus

bau mir ein haus
in meinem körper aus glas
deine finger sollen die nägel
in meinem atem sein

bau mir ein haus
unter meinen nackten sohlen
dein lächeln soll der hammer
auf meinen knien sein

bau mir ein haus
für meine brüchigen arme
dein schweigen soll der zement
auf meinen handflächen sein

werde mein haus
bette mich in dir
wo mir bis zuletzt
alles fremd bleiben soll

.

Mina Herz

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Jan-Eike Hornauer

Ausblenden

Selenskyjs Schreie werden langsam stumm.
Denn wer will sie bloß immer weiter hören?
Ein neuer Schrei, der findet schon sein Publikum.
Doch Dauerschreien, ach, das kann nur stören.

Selenskyj rührt uns so nicht länger an.
Sein Schrei verharrt ja bloß im Ewiggleichen.
Wie man die Grenzen nur nicht sehen kann!
Und halfen wir nicht schon? Das muss auch reichen.

Selenskyj, ach, ist keiner, der versteht:
Er schreit ja weiter wirklich voll und ganz!
Aus Notwehr greifen wir zur Ignoranz.

Selenskyj wird von uns auf still gedreht.
Wir sehen bald nurmehr den lauten Schrei.
Und denken uns – vielleicht – noch ›Munch!‹ dabei …

.

Jan-Eike Hornauer

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Philipp von Bose

Die kleinen Triebe

 

fast wie                 abdrücke der jungen jahre

liegen triebe zugewandt             im wachstum meiner

hände

 

aus der nähe angesehn                       scheint ein lichter wald

(aus dem stumpf und all dem warten) kraftvoll                    aus sich selbst

zu gehen

 

selbst im schatten                        diesem kalten haus

treibt sie der wunsch                     von zeit geführt

die decke grün

dem licht zu geben

.

Philipp von Bose

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Clara Dobbelstein

Das Nest

Sogar in meine hellsten Träume
Wirfst Du Dein grünes Schattenbild.
Und Deine Hände fahren durch das Laub
Wie früher – (damals beinah zärtlich) –
Durch Hecken meines Haargeästs.

Dein Griff wiegt schwer auf Lorbeerhaut,
Umschnürt wie Efeutaue meine Zweige,
Drückt mir die Luft aus den Organen.
Dein Kuss versickert als ein Bach
Im Labyrinth der Rindengänge.

Du warst schon immer halb ein Specht.
Doch als ich noch kein Lorbeer war,
Da ließ ich Dich in meinem Mund
Und meinen angewärmten Worten
Auch manchmal wie in einer Heimat nisten.
Ich baute Dir den Unterschlupf,
Die Welt blieb hinter einem Vorhang.

Durch meine Blätter blickst Du nicht
Nach draußen in die weite Ferne.
Du wartest immer weiter auf den Einlass.
Du pochst beharrlich, flehst und bittest –
Doch diesmal gibt es keine Tür für Dich.

So richte Dich im Schweigen ein
Und spanne Deine Blicke bis zum Morgen.
Vermische Deinen Schatten mit dem grünen Tag,
Und nicht mit mir und meinen hellen Träumen.

.

Clara Dobbelstein

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Anna Lena Bercht

Zukunft
Zukunftsangst
Zukunftsangstunterdrückung
Zukunftsangstunterdrückungsstrategien
Zukunftsangstunterdrückungsstrategienmüdigkeit
Zukunftsangstunterdrückungsausbruch
Zukunftsangstkonfrontation
Zukunftshandeln
Zukunft

.

Anna Lena Bercht

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Rosen de Almeida

alle tage

-1-
kochen
putzen
kissen sein
und was weh tut
den kopf den rücken die füsse nicht
anfassen
in der nacht steigt der pegel
ich dreh
den hals
und es knirscht
bis ich
im sand
eine position finde
in der ich von den zumutungen der alpen
träume

-2-
in der frühe lüften
bedeutet die nacht hereinzulassen
und damit die einladung sich vom tag
abzuwenden
vom aftershave des nachbarn
vom rauch der frühschicht
vom müden trab
der ersten
die den bus
noch erwischen
wollen
ich schüttle
kissen
decken
und mich aus
auf

-3-
auf einmal

schlägt der wind das fenster

zu

der rabe erschrickt

und fliegt davon

die wolken

bauen

türme

im                              letzten                            licht

während

das spülwasser

kalt

wird

ich schaue

in den himmel

dann

in jeden topf:

die

gurken kommen, der

basilikum

-4-
die nacht schaut zum fenster rein auf das sich
re
gen
trop
fen
ge
legt
ha
ben
wie
schup
pen
eines müden falters

es gibt nicht viel zu sehen: ein bett
ein lichtkegel
pantoffeln
ein ladekabel,
ein glas mit medizin

.

Rosen de Almeida

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Fabian Lenthe

Wie lange wir wohl
Geradeaus hätten fahren können
Während wir einander geküsst hätten?
Und ich denke dabei an das Kleid
Und ihre Haare
An den Fahrtwind
Und die Zigarette
Die sie sich anzündete
Als wir knapp zweihundert fuhren
Dann fragt mich jemand
Ob dies die Linie
Richtung Friedhof sei
Und ich antworte ja
Und sehe auf die Uhr
Und sage
Kommt in zwei Minuten
Und wie immer
Beginnt es zu regnen

.

Fabian Lenthe

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Sonja Paul

Sommerträge

Einer dieser Tage
Ganz still
Ein leiser Windhauch im Wipfel
Darüber ziehen
Tief und schwer
Bleigraue Wolken.
Flüsternd
Aus scheuen Ecken
Das Raunen der Zikaden.
Zurückgezogenes Licht
Legt sich schlummern
In sanfte Nachdenklichkeit.
Heute ist Sommer
Ein leiser, zurückgezogener.
Der Wolken liest
Und Schmetterlingen lauscht.

.

Sonja Paul

.

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>