freiVERS | Lisa Spoeri

diese tage

ich wache
einem schlaf nach
trauernd
tausendjähriger einsamer
von dem wir träumten
es war
ein-, zweimal
zwischen rauschen und
schäumen
den salzkronen
zwischen sand
und zehen
spitzen deine träume
vor vielen jahren
hier verunglückt
vor vielen jahren
ich war
ein-, zweimal
zwischen toben und donner und
du warst
eine
idee in meiner magengrube
faustgroß dort
wo ich den uterus
versehentlich verortete
du warst
zwei
sich entfernende beine
zwischen dem zischen und flüstern
der sandkörner
und eine weitere
in wellen
kommen und gehende gelegenheit
für eine
verpasste heimat

 

Lisa Spoeri

 

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freiTEXT | Stefan Volkmann

Grünspan

Der 16jährige Ich-Erzähler und zwei Freunde sind nach Stuttgart gefahren, um ein Konzert zu sehen. Das Konzert wird kurzfristig abgesagt, sie sind mindestens drei Stunden früher als gedacht wieder zurück in Wörth am Rhein zuhause.

Wir gingen zum Golf, stiegen ein. Uwe hielt an der Tankstelle, kaufte eine Tüte Chips und ein Sixpack. Wir glitten über die Autobahn.
„War besser als Zuhausebleiben.“
„Looking on the street, better than tv.“
Uwe parkte vorm Jugendzentrum.
„Wir sagen allen, 's war 'n Superkonzert. Hate Convoi ham zwei Stunden gespielt, die Vorband Spätzlekiller is 'n Geheimtip.“
„Ja, so geheim, dass sie nich mal aufgetreten is.“
Olli drehte einen Joint, kurbelte das Beifahrerfenster runter, zündete ihn an und lachte. Ich hoffte, Lene sei bei mir und wollte aussteigen.
„Ich brauch unbedingt die neue Spätzlekiller-Platte.“
„Ich geh nach Hause.“
„Er will zu seiner Kleinen.“
„Mittwoch, Spitz ins Loch.“
„Heut is Donnerstag.“
„Wenn du verliebt bist, is jeder Tag Mittwoch.“
„Ich bin gefahrn und steh nich auf.“
„Ich häng am Joint und kann nich aufstehn.“
Uwe seufzte, stieg aus und klappte den Sitz vor. Ich kletterte von der Rückbank, aber der Asphalt wankte wie ein Schiff bei leichtem Seegang.
„Komm gut nach Hause.“
„Grüß die Kleine.“
„Mach ich.“
Ich ging am Spielplatz, den Schrebergärten und Tennisplätzen vorbei, dachte, wenn die Sportanlagen unter den Flutlichtern fertig seien, lägen beim Freibad oben größere Tennisplätze als die alten hier unten. Würden hier neue Schrebergärten angelegt oder Wohnblöcke hoch gezogen? Ich lief durchs Einkaufszentrum, kam am Kleinstadtwol- kenkratzer vorbei und suchte Nadines Fenster. Es war dunkel, sie schlief. Ich kam an der Bücherei vorbei, ging über die Fußgängerbrücke und schaute zu unserer Wohnung, alle Fenster waren dunkel, Lene nicht da. Ich lief zum Wohnblock, ging das Treppenhaus hoch und schloss die Tür auf, schaltete Licht an, zog meine Converse aus und stand in der Küche. Lenes Jacke hing über einem Stuhl, ihre Tasche lag auf der Eckbank. Ich dachte, sie schlafe, schaltete Flur- oder Küchenlicht aus und schlich in mein Zimmer. Mein Bett war leer, ich hörte Geräusche, ging zu Jens' Zimmer und öffnete seine Tür. Die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm tauchte sein Bett in morsches Licht. Er lag auf seinem Rücken, sie saß auf ihm, ihre Schenkel waren gespreizt, er streckte seine Arme aus, legte die Hände auf ihre Brüste, aber seine Basketballerhände schienen zu groß oder ihre Brüste zu klein. Jens streichelte sie sanft, wie ein Schmetterling, der mit seinen Flügeln schlägt. Sein Unterwäschewerbewaschbrettbauch spannte und entspannte sich in kürzer werdenden Abstän-den. Ich spürte Schleier vor meinen Augen, als regnete Sand unter meinen Lidern.
„Jens sieht aus wie Apollo oder Amor“, hatte Tamara mal gesagt.
„Ja sicher“, hatte ich gelacht, „ne Mischung aus Adonis und Alain Delon, von Rodin gemeißelt.“
Er lag mit dem Kopf zur Tür, hätte mich nicht sehen können, blonde Haare fielen über ihre Brüste, bedeckten seine Hände und Unterarme. Lene öffnete zeitlupenlangsam ihre Augen, starrte mich an, aber schloß die Augen wieder. Ihr Hüftrhythmus geriet ins Stocken wie eine Maschine, die stottert, aber reibungslos weiter schnurrt. Ich dachte, ich sei auf der Rückbank im Golf eingeschlafen, stolperte rückwärts, wankte in mein Zimmer und fühlte mich, als wären Jahrzehnte vergangen. Aus ihren Mündern rieselte Sand, ihr Keuchen, Stöhnen und Atmen wehte Körner in mein Zimmer. Feuchte Dünen bedeckten meine Knie und türmten sich um meine Hüften. Ich kämpfte mich hoch, wankte in die Küche und warf ihre Tasche vor seine Tür, schloß mein Zimmer ab, barg meinen Kopf unterm Kissen und weinte. Dampflokomotiven stürzten auf meinen Körper, Eisen verdichtete sich zu Dunkelheit, die nicht schwarz genug war, darin zu verschwinden. Ich schaute in den Flur, ihre Tasche lag nicht mehr vor seinem Zimmer, und ging in die Küche, ihre Jacke hing noch überm Stuhl. Schlich zu Jens' Zimmer, drückte die Klinke und schob seine Tür auf. Er lag auf dem Rücken, atmete wie ein Baby, sie auf ihrem Bauch, aber hatte ihr Gesicht in seiner Achselhöhle vergraben. Seine Boxershort hing über einem Stuhl, ihr Slip lag am Fußende des Bettes auf dem Teppich. Jens war dunkel und trainiert, Lene schmal und hell, ein schönes, vom Liebemachen oder von Liebe erschöpftes Paar. Ich sah die Schere auf dem Tisch, nahm sie und schlich ans Bett, schnürte ihre Haare zum Zopf, setzte die Schere an und drückte beide Griffe. Lene lag so ruhig, als schliefe sie, aber lächelte, als empfinge sie eine Strafe, die sie für gerechtfertigt hielte und die sie erlöste.
„Kennst du Lene?“
„Ja, die mit den langen blonden Haaren.“
Ich stolperte in mein Zimmer, der Zopf schleifte über den Teppich, glaubte, sie weinen zu hören, aber sie hätte Tränen unterdrückt, bis ich im Flur war. Falls ich sie weinen hörte, war es ein Traum, weil ich hoffte, sie sei traurig. Ich ging in die Küche, öffnete den Abfalleimer und warf ihren Zopf in den Müll, war halb aus der Küche draußen, drehte mich wieder um und öffnete den Abfalleimer, zog eine blonde Strähne raus, rollte sie in meiner rechten Hand zu einer Schlinge und ging in mein Zimmer. Steckte die Schlinge – ihre Strähne – in einen Briefumschlag, legte ihn in die unterste Nachttischschublade und zog mich an, brachte den Müll zur Tonne, holte Brötchen und wartete auf ein Gefühl, was in Ordnung gebracht zu haben, aber es kam nicht, nichts kam, niemand.

 

Stefan Volkmann

 

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freiVERS | Nicole Prosser

Stundenlose Tage

Dein taunasser Blick:
die Pupille umzingelt
von Weltmeeren

Deine blinden Hände
übersehen das Eigentliche
ertasten die Leere
die entsteht

morgens neben dem Theatercafé
stolperst du rücklings –
Und die Möwen –
Der Sommer an der Drau
glänzt noch
in deinen Augen

während du
das Herbstlaub stapelst
wie ein Kind, das
die Stunden nicht zählt

 

Nicole Prosser

 

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freiTEXT | Ben Rinosch

Der Sturz – Ein MRT-Bericht

Bin ich ein auf dem Rücken liegender, blau schimmernder Tintenkäfer? Oder bin ich ein auf dem Rücken liegender, kleiner Vogel, ein Zaunkönig vielleicht? War ich bisher nur ein Zaungast, der den Menschen dabei zusah, wie sie sich amüsierten, wie sie miteinander sprachen, lachten und stritten?
Ich sehe durch ein kleines Fenster hindurch auf das weite Meer hinaus. Das stetige Hämmern und Klopfen ist beunruhigend. Ich erinnere mich an nicht enden wollende Nächte, in denen ich frühmorgens in dunklen und kalten Technobunkern strandete. Völlig besoffen.
Menschen in Reih und Glied stampfen nach elektronischer Musik und auch dort ein stetiges Hämmern und Klopfen. Das Herz rast davon, als würde es sich in den frühen Morgenstunden nach einer langen Nacht weiter am Leben abarbeiten. Und ein Discjockey oben auf der Bühne, ummantelt mit Aluminium, steht vor seinem Cockpit. Er drückt Knöpfe und fährt Schalter rauf und runter. Ab und zu jault er auf und dreht sich im Kreis.

Ich liege in einer Metallkapsel flach auf dem Rücken.
Die Metallkapsel ist Teil eines Raumschiffes. Schon bald wird es die Erde verlassen. Ich umklammere meine Kopfhörer, in der Hoffnung sie würden die Störgeräusche abschirmen. Ich frage mich, warum die Menschen andauernd produktiv sein müssen. Und dann wird andauernd gebaut und dabei Lärm erzeugt. Grobe Materialien, die mit schweren Maschinen bearbeitet werden. Überall Maschinen. In den Wohnungen. In den Gärten. Auf den Gewässern. In den Händen der Bauarbeiter:innen und Handwerker:innen. Fahrende Maschinen auf den Straßen und auf den Gewässern und in der Luft fliegende Maschinen, Milliarden von Maschinen, die wir in unseren Händen halten...
Denke an das Meer, sage ich mir. Schau genau hin. Dort wirst du vergessen.

Vorgestern hatte ich noch in einem Bio-Supermarkt gearbeitet, war auf nassen Fliesen ausgerutscht, die kurz zuvor gereinigt wurden. War also kurz in der Luft. Dann der Aufprall. Warum hatte ich danach weiter gearbeitet, als wäre nichts gewesen? Und wie kam ich auf die bescheuerte Idee in einem Supermarkt zu arbeiten? Weil ich als Buchhändler ein mieses Taschengeld bekam und ich bei gleicher Arbeitszeit im Supermarkt 500 Euro mehr im Monat bekomme? Aber so langsam geht mir ein Licht auf: Obwohl die Kolleg:innen im Bio-Supermarkt zueinander freundlich sind und trotz harter Arbeit andauernd lächeln, weiß ich noch nicht, ob ich das jemals erreichen kann. Und ob ich das überhaupt will. Schon am ersten Tag hatte ich das Gefühl, dass ich das nicht lange durchhalten werde.

Ich liege in einer Metallkapsel, flach auf dem Rücken, immer noch. Das dunkle Blau des Wassers und das helle Blau des Himmels fließen weich ineinander. Ein kleines Fenster lächelt mir zu. Lässt mich ruhig und tief atmen.

Von sechs bis zehn Uhr am Morgen zwölf riesige Kühlschränke nach Mindesthaltbarkeitsdaten durchgehen, die Produkte, die am selben Tag auslaufen, mit
25%-Aufklebern und die Produkte, die am folgenden Tag auslaufen, mit 15%-Aufklebern versehen. Die Produkte, deren Mindesthaltbarkeitsdaten gestern abgelaufen sind, aus dem Warenbestand herausnehmen, löschen und in eine grüne Tonne werfen. Den Restewagen aus einer Kühlkammer holen und die Molkereiprodukte, die gestern nicht mehr in einen Kühlschrank gepasst hatten, in die Kühlschränke füllen. Immer darauf achten, dass die Produkte vorne im Regal ein kürzeres Mindesthaltbarkeitsdatum haben, als die Produkte weiter hinten in der Reihe. Dann die Bestellung für den nächsten Tag. Mit einer Bestellvorschlagsliste arbeiten. Die zwölf Kühlschränke nacheinander durchgehen. Welcher Artikel wie oft? Gibt es Fehlbestände? Wenn ja, dann müssen die später korrigiert werden. Die vorgenommene Bestellung speichern. Dann ins Büro flitzen und die gespeicherten Daten am Computer sichten. Die Bestellung öffnen, prüfen und freigeben. Ausloggen.

In der Nacht nach dem Sturz war mir sehr übel gewesen. Es war für mich unmöglich auf dem Rücken zu liegen. Um 04:05 Uhr war ich aufgestanden und hatte mir überlegt, trotz des Sturzes zur Arbeit zu gehen. Kurze Zeit später hatte ich im Bio-Supermarkt angerufen und mich krankgemeldet. Der behandelnde Arzt hatte mir wenige Stunden später einen Überweisungsschein für die Radiologie mitgegeben.

Die Störgeräusche sind immens, das kleine Fenster meine Rettung. Ich muss immer wieder an die Arbeit denken und ich komme auf den Gedanken, dass der Verkaufsjob im Bio-Supermarkt so etwas wie eine Ameisenbeschäftigung ist. Wie kann es sein, dass ich in meiner Freizeit andauernd an die Arbeit denken muss! Alles ist so leidenschaftslos durchorganisiert und was sich vielleicht von einem Ameisendasein unterscheidet, ist, dass meine Kolleg:innen Humor haben und dass immer mal wieder gelacht wird. Obwohl ich den Humor nicht schön finde. Ich weiß schon, was drunter liegt: Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit.
Ich will den Sturz als eine Art von Protest begreifen. Der Sturz ist meine Rettung und ich will dem Reinigungsmann danken, dass er zu viel Seifenlösung in das Putzwasser getan hatte. So falle ich für ein paar Tage aus. Und vielleicht wird mir schon in ein paar Tagen ein Licht aufgehen: Ich arbeite für ein Bio-Supermarkt-Imperium und da bringt es mir auch nichts ein, dass sich alle duzen und übertrieben freundlich miteinander sind. Ich kann nicht schreiben. Ich kann mich nach der Arbeit nicht konzentrieren. Ich will weiterschreiben, mir neue Stoffe ausdenken, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muss damit Schluss machen.

Ausloggen. Wieder raus auf die Fläche und schnell die gelieferte Ware reinziehen. Handschuhe an, hunderte von Kartons aufreißen und die Ware verräumen.
Dann an die Kasse und hunderte von Produkten in den restlichen ein bis zwei Stunden über den Kassenscanner ziehen. Ich bemühe mich freundlich zu sein. Ich denke mir, dass ich ein schleimiger Verkäufer bin. Ich hasse es, während meiner Arbeit freundlich sein zu müssen.
Mir ist es ein Rätsel, wie man über Jahre hinweg so hart arbeiten kann. Werden mir nach ein paar Wochen Maulwurfhände wachsen?

Ich liege auf dem Rücken in einer Metallkapsel. Durch meinen Kopf gehen magnetische Strahlen. Störgeräusche. Über mir ein kleiner Sehschlitz. Strand. Runzel-Rosen, Strandhafer und Krähenbeeren. Nordseewellen. Eine Idee davon, dass alles einem stetigen Wandel unterliegt und die Angst davor zu verschwinden.
Aber erst einmal werde ich kündigen. Und dann werde ich weiter schreiben, immer weiter.

 

Ben Rinosch

 

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freiVERS | Sigune Schnabel

Geordnete Rechtecke sind die Zimmer

Ich stutze Gedanken
auf die gesellschaftsübliche Länge.

Herumtreiber bin ich
gewesen, an Träume gelehnt
bei Dunkelheit.
Gierig gieße ich Nachtworte ein
bis zum Mond
und leere sie leise.

Ich nehme mich zurück.
Wem habe ich mich gegeben.
Nebenan höre ich es:
das gekachelte Leben.

 

Sigune Schnabel

 

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freiTEXT | Alice Grünfelder

Stadt am Meer

Zikaden
im Ohr, im Kopf, im Denken, als längst kein Wald mehr und kein Gesträuch, die Stadt schon hetzt, aber noch immer Zikaden im Ohr.

Wellen
donnern, rollen, schlagen ein auf das Meer, denn im

Sturm
zerrt schon an den Palmen auf der Promenade, schon wird vor ihm gewarnt, die Menschen hier bleiben gelassen, warten ab, denken, er geht vorüber, dieses Mal geht er uns nichts an.

Luft
darin der Geruch von Klärschlamm, dreht sich träge in runden Becken, zwischen Büschen und Mangroven eine Müllhalde mit Blick aufs Meer, ein blaues Förderband hängt schlaff zwischen Erde und Himmel, wo einst Fels aus den Bergen, Stein zu Kies zu Sand zerrieben wurde, aus einem Turm mit aufgemaltem Wal fallen Betonklötze, unter Planen kauern Menschen mit Gesichtern so grau wie ihre Mäntel, reichen sich Knöchelchen, Geißen ducken sich hinter Brettern vor der Hitze, dem Regen, auf einer asphaltierten Straße hoppelt eine hinunter zum Strand.

Schatten
kann nicht ohne Licht, entlarvt das Dunkel, das Helle.

Taifun
wird erklärt, eine Nachricht ploppt auf, eine Freundin warnt, die Angestellte im Gästehaus spricht bloß von Starkregen, noch ist alles ruhig.

Gedichte
übersetzen – bis der Regen kommt.

Warten
und Wolken nachsehen, ob sie nun langsam oder schneller ziehen, den Gewächsen auf Dächern, ob sie nun stärker schwanken als zuvor, die Fußgänger von oben betrachten, ob sie Regenschirme aufspannen, den Straßenbelag, ob er glitzert im Regen – warten auf den Taifun.

Löcher
sind die Fenster im Haus gegenüber am späten Nachmittag, Löcher so dunkel, als lebte kein Mensch darin, nur in den beiden oberen Etagen flackert ein Licht.

Küstenwachen
stehen in orangefarbenen Hosen, Schwimmwesten, mit Fernglas, Flaschen, Stöcken, Trillerpfeifen, Taschenlampen, seit Wochen schon, stehen da mit dem Rücken zum Meer, andere mit dem Rücken zur Stadt, in Erwartung jedenfalls, schauen, wie der Regen Nägel treibt ins Meer, ob der Sturm kommt oder was anderes, über den Fahrradwegen hängen Ketten, daran gelbe Wimpel mit Wörtern, nicht zu entziffern, so heftig flattern sie im Wind, die Wege hinunter zum Strand versperrt mit rot-weißen Plastikbändern, der Sturm, der Regen, angekündigt für den Nachmittag, kommt nicht, Stunden später nieselt es, als es düster ist und das Meer, der Wind sich beruhigt, fällt der Regen stärker, trommelt gegen das letzte Fenster im Haus, das noch nicht zerbrochen ist von den Regenstürmen zuvor, ein dunkelblaues Auto mit Warnlicht fährt langsam auf dem Damm hin und her, Regen stürzt nun aus Wolken, ein Bagger schaufelt einen schmalen Zugang frei, zugeweht vom Sand über Wochen, Monate, Jahre, damit das Wasser wieder zurückfließen kann ins Meer.

Spiegelung
eine TV-Reporterin in transparentem Regenmantel spricht, auf dem Weg zum Mikrophon gehen die Worte unter in der brüllenden Brandung, der Boden hinter ihr bricht weg, unter einer Fußgängerbrücke hocken zwei Männer, vor ihnen eine Pfütze, ihre Finger gehen hinein, dann zu den Lippen, sie schippen etwas in zwei Becher, Wolken schieben sich über Berge, dass sie darin verschwinden, dorthin geht schon lange keiner mehr.

Regen
splattert heftig an die Scheiben, auf den Asphalt, eine Radfahrerin stemmt sich gegen die Regenwand, die der Wind vor sich hertreibt – bis schließlich jeglicher Verkehr eingestellt wird, weil Felsen den Hang hinunterrutschen, die Berge auseinanderfallen, die Erde.

 

Alice Grünfelder

 

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freiVERS | Susanne Gurschler

Ein Abend

Für Iryna

Deine Worte bauen Brücken zu einem Kontinent
geschrumpft auf einen Streifen
Sätze fallen in meine Hände federleicht
verflüssigen sie sich wie Pinselstriche im Wasser
kritzle Wörter auf weiße Stellen
schnell krakelig
tags darauf kaum zu entziffern
wortlos eingeschrieben
Erinnerungen an einen lauen Abend
an klingende Gläser an Babycalamari
die Holzperlenkette zwischen deinen Fingern
das Lachen
trotz allem
von einem Punkt aus neue Felder erforschen
wäre ein Anfang
sagst du

 

Susanne Gurschler

 

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freiTEXT | Leon Zechmann

Wir drei

Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass du auf die gleiche Schule gehst wie ich früher und schon vor dir deine Schwester. Ich kenne die Räume und Flure zu gut und kann darin verloren gehen. Mondlicht ändert sich nicht in dreißig Jahren, auf den Tafeln lag der Staub nur dichter. Am Fenster deines Klassenzimmers hört man die Geräusche aus der Sporthalle am anderen Ende des Pausenhofs. Davor steht das neue Auto, direkt neben der Plane auf dem Roller deiner Schwester. Ich weiß nicht, wie ich fragen soll, ob wir danach noch in den Drive-in fahren und unter dickem Schnee auf dem Autodach, mit den Fingern in den Nikolaus-Häusern an den beschlagenen Fensterscheiben, nachts uns noch satt essen. Du hast seit gestern Abend nicht mit mir geredet und ich weiß nicht, ob es etwas ändern würde, wäre ich jetzt bei euch. Stattdessen verstecke ich mich im vierten Stock. Der Wind trägt dumpfe Musik nach oben und sie perlt an der dicken Jacke ab. Wenn du dran bist, werde ich es hören können, aber nicht zuordnen.

Ich stand bei allem immer draußen zum Rauchen, um deine Oma sauer zu machen. Du traust dich, heute aufzutreten, ohne Musikstunden. Mich nervt die Asche am Fensterbrett, ich puste sie fünfzehn Meter zu Boden. Ich hätte mich nicht getraut. Deswegen stehe ich, obwohl ich früher aus der Arbeit rausgekommen und hergefahren bin, hier oben. Zwischen jedem Act kommt kurzes Geplänkel, eine moderierende Person mit extrem hoher Stimme duelliert sich mit den Ausschreitungsklängen der nie ausgetauschten Lautsprecher. Ich heule hauptsächlich und wische mir mit langen Bewegungen immer wieder die heißen Tränen nach außen und oben. Ich habe Angst, dich zu verpassen und ich habe Angst, dich zu sehen.

Ich nehme Angst in Kauf, Schuhe zwischen den Fingern über den Boden schlittern, rennend. Das Treppenhaus hinunter, in dem ich mir beim Fangenspielen den Fuß verstaucht hatte, durch den Keller mit dem Werkraum, in dem ich mir mit der Nadel durch den Finger gestochen hatte. Der Korkboden vor dem Turnhalleninnenleben reibt über meine fallende Sockenferse und mein Knie kracht in die Heizung. Die Tür lässt sich schwer öffnen und dahinter stehen die anderen Eltern. Ich ziehe den Kopf ein, unterdrücke Scham und Schmerz mit jedem Atem und lehne mich neben sie an die Wand. Erst nach ein paar Minuten bin ich da, davor war alles schwarz. Regungslos suche ich den Raum nach deiner Schwester ab. Sie sitzt in der dritten Reihe auf einem Schulstuhl und hält das Handy in der Hand. Sie hält es hoch. Auf der Bühne stehst du, wie das kleinste Ei der Welt im Scheinwerfer und die Welt schaut dir zu. Ehe ich nachdenken kann, stehe ich an der hintersten Stuhlreihe, beinahe in jemandes Nacken. Ich spüre, wie wir uns drehen. Ich will, dass du mich siehst. Du singst, wie Siebtklässlerinnen singen, nur besser. „Ich will später mal Tickets für deine Konzerte haben“, würde ich sagen, wäre es nicht albern. Albern war es nicht, als wir in dem einen Campingurlaub unseres Lebens auf den alten Klappstühlen in der frisch feuchten Erde saßen und du die Karten zum Spielen auf deine Schwester geworfen und die Lieder aus dem Kindergarten über den Platz geträllert hast.

Du hörst auf und ich klatsche, bis die Wunden an meinen Fingern unter dem angestauten Schweiß der Sporthalle brennen. Endlich siehst du auf und dein Blick fällt zuallererst in die dritte Reihe. Bitte guck mich an. Ich bin doch hier. Und dann guckst du. Dein stolzer Blick schweift in winzigen Rucken durch den Raum. Und bleibt hängen. An mir. Bitte, sei nicht sauer auf mich. Es tut mir leid. Du reißt Kopf und Daumen in die Höhe wie die Königin der Welt, hebst das eine Bein an und setzt es dumpf und doll neben dich auf und ich glaube, du zwinkerst wie ein Dussel. Wie ein winziger Frosch stolzierst du über die Bühne und irgendetwas in meinen Lungen fängt beim dir „Zugabe“ Rufen an, sich zu lockern. Du stehst da wie beim allerersten Fahrradfahren, Laufenlernen, Schwimmen, auf weiter Flur in freier Welt, während ich ganz abseits im Licht deiner Augenwinkel hänge, die ganz genauso aussehen wie meine.

Ihr fahrt nach Hause, weil ihr keine Lust habt auf Drive-in und nachts im stickigen Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich fahre hin und hole alles. Ich sehe euch durchs Fenster, als ich heimkomme, und die Lichter auf dem Brett funkeln euch wie wild durch die vom Wind zerzausten und von Mützen verschwitzten Haare. Mitten im Schnee, die Essenstüten mich wärmend am Bein, nehme ich den Moment auf ewig in mich auf. In meinen Blutbahnen bauen kabellose Wärmedecken Schutz vor dem eisigen Geschmackston der Winternacht. Der Tisch ist gedeckt, als ich schlüsselklimpernd hereinkomme, und so funktioniert das in einer Familie. Man geht zur Schule und zur Arbeit und abends isst man am Tisch und vergibt sich gegenseitig. Du hast, die Beine auf der Küchenbank verknotet, noch immer dein fasriges Kleid vom Auftritt an, und deine Schwester isst sofort, halb in der dicken Mopedjacke, die das Futter verliert, aus zerrissenem Papier wie ein Schwein.

 

Leon Zechmann

 

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freiVERS | Anna Arning

stein bin ich
den du kaum anrühren kannst
ohne vor kälte zu verbrennen
schwarze wüste, totes land
darunter frost und feuer
ein salamander kriecht bei fuß
erstarrt in meinem schweigen
du kratzt daran es zischt
ein schwall aus toter glut
versengtes wort, ich schlucke es
und spucke trümmerteile
du hebst sie alle einzeln auf
füllst deine weiten taschen

 

Anna Arning

 

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freiTEXT | Christian Hornstein

weg

Du stehst in deiner Vier-Quadratmeter-Küche und bläst den Rauch aus dem Fenster. Er schmeckt abgestanden, nach einem Versprechen, das nie eingelöst wurde. Durch den Grauschleier des anbrechenden Tages werfen die Straßenlaternen immer noch mit elektrischer Sturheit ihre grellen Lichtinseln auf die Straße. Du hörst das Rauschen der Benzinkarren auf der Autobahn, unablässig, ihr gleichgültiges Rasen, das dich begleitet, seit du existierst. Und das Kreischen der endlosen Züge, die ständig irgendwelche Waren durch die Nacht schaffen, für die unersättliche Menschheit, die mit Gesichtern aus Stein im fahlen Kunstlicht ihrer Armaturen ebenso unaufhörlich in ihren Fahrzeugen durch die Dunkelheit rollt.

Du schaust auf den Küchenboden, die kaputten Fliesen, in die Ecke hinten, zur Baumwollmatte neben dem Fressnapf, wo sich schon seit einem Jahr kein Leben mehr regt und nur noch leere Bierflaschen liegen. Du spürst das Kneifen in der Brust, dieses trockene Weinen. Da ist er wieder, dieser kalte eiserne Rahmen, in dem kein Bild mehr steckt.

Noch ein Tag, denkst du, noch eine Zigarette. Noch einmal durch den Türrahmen schlurfen, aus der Küche raus ins andere Zimmer und zurück. Noch ein paar weitere Stunden dem Getriebe der Stadtmaschine lauschen, fernen Stimmen nachhorchen, die kaum noch wirklich sind. Noch ein Blick auf das zersplitterte Display deines Handys, das sich wie ein Spinnennetz über kryptische Lichtschemen legt, die du schon lange nicht mehr entziffern kannst. Und noch ein Blick durch die Schlieren auf dem Fensterglas, hinauf zum bleichen Himmelsdeckel.
Und plötzlich weißt du, es geht nicht mehr.
Es ist wie ein Stück Unrat, das du ausspucken willst. Du gehst in das andere Zimmer deiner Wohnung, dort, wo du alles andere machst außer kochen und rauchen, ziehst dir mechanisch den Jogginganzug an und gehst raus. Du schließt nicht ab. Du nimmst auch nichts mit. Nicht einmal deine Schlüssel.

Du gehst die Stufen im Treppenhaus runter, vorbei an den kaputten Wänden, den zerkratzten Türen; du gehst auf die Straße, unter die grellen Leuchten, wie auf eine verdammte Bühne; beschleunigst deine Schritte, rennst weiter, dorthin, wo das Licht der Scheinwerfer vergeht, wo die Straße ins Zwielicht führt.

Und du wunderst dich, wie einfach es ist, wie glatt und frei der Weg vor dir liegt. Nichts und niemand hält dich auf. Keinen schert es. Bald hörst du das Bullern, das Rauschen. Du gehst über die Landzunge, steigst über die Steine, bis es nicht mehr weiter geht, und dann, zum ersten Mal, schaust du auf und nimmst den Fluss wahr, wie er sich machtvoll über alles hinweg wälzt, und du ahnst, wozu er fähig ist. Es macht dir Angst ... und zieht dich an. Ihm widersetzt man sich nicht. Er duldet kein Zögern. Du merkst, dass du an den Richtigen geraten bist. Hier wird es ernst. Du lauschst dem Rauschen des Wassers, dem gleichgültigen Strom, der seit Urzeiten an dieser Stelle sein Bett auswalzt. Du riechst die Kloake aus zersetzten Algen und Müll.

Dann steigst du runter. Du merkst, wie das kalte Nass in deine Joggingschuhe dringt. Fast wärst du ausgerutscht auf dem glitschigen Gestein. Du gehst weiter. Nun klebt die Hose an deinen Unterschenkeln und die Kälte umfasst deine Körpermitte. Noch nie warst du dem Fluss so nah. Du merkst, wie er beginnt an dir zu zerren, wie eine Macht nach dir greift, der du nichts entgegensetzen kannst. Noch einmal bäumt sich deine Angst auf, im Angesicht der Endgültigkeit, dann breitest du die Arme aus und lässt dich nach vorne fallen.

Du lässt dich tragen, ins Reich der gedämpften Töne. Du weißt nicht, wohin der Strom dich schiebt und dreht, aber er kümmert sich schon. Mit jedem Moment, das weißt du, entfernst du dich von den Lebendigen, von der Last, von allem. Ein Zurück gibt es irgendwann nicht mehr. Du hörst das Gluckern, das Rauschen, vielleicht ein fernes Rumpeln, ein Wimmern oder Klagen. Die Seelen der im Fluss Ertrunkenen? Ein Schauer greift dir in den Nacken. Die Klagen werden immer lauter, oder sind es Rufe? In deinem Brustkorb wird es eng. Jetzt gilt es. Das Wasser verlangt Einlass. Du öffnest die Augen. Nebel aus Schlamm. Wie tief bist du abgesunken? Wo ist oben und wo unten? Da sind sie wieder, diese Rufe, nun lauter. Du öffnest den Mund. Kälte breitet sich in deinem Hals aus, bis weit hinunter in deine Brust, wie bei einem tiefen Atemzug an einem eisigen Wintermorgen, nur erfrischt es dich nicht. Da packt dich etwas, zieht dich fort ... und du tauchst auf.

Eine Stimme, Keuchen, Gezerre an deinem Körper. Du wehrst dich nicht. Du hast dich losgelassen, gehörst dir nicht mehr. Etwas anderes hat dich übernommen. Jemand anderes. Da ist diese Stimme. Sie ruft nach jemandem, ohne ihn beim Namen zu nennen, einem, der ihr fremd ist. Sie bebt, presst Worte hervor, fleht. Dann ein Stoß, fast schmerzhaft, noch einer. Dein Körper krümmt sich hart und du erbrichst, krampfhaft. Die Schwere dieser Welt drückt plötzlich wieder in deinem Rücken, auch wenn sich deine Lungen noch weigern, Sauerstoff aufzunehmen.

Vor deinen Augen, der grellgraue Himmel eines Morgens, den du nicht mehr erwartet hast. Und das zarte Gesicht eines Jungen an der Schwelle zum Mann. Er spricht zu dir, atmet schwer. Ob es dir gut geht. Du schweigst, bist noch unter denen, die nicht mehr sprechen. Ob du verletzt bist, will er wissen. Was du dir dabei gedacht hast, fragt er, was hast du dir nur dabei gedacht? Lange sieht er dich an, dann weint er. Da bricht etwas in dir auf und auf deinen nasskalten Wangen spürst die Wärme deiner eigenen Tränen.

 

Christian Hornstein

 

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