freiTEXT | Friedrich Bastian
Tag der Toten
Die Musiker drücken sich aneinander, um eine Gruppe Passanten vorbeizulassen. Der Pfad, auf dem sie stehen, ist schmal, eigentlich zu schmal, aber es gibt keine andere Möglichkeit, keinen anderen Platz, der es ihnen erlaubt ihre Lieder vorzutragen. Sie versuchen sich nicht von der Enge beirren zu lassen, die Passanten geben sich Mühe, nicht gegen sie zu stoßen. Trotzdem ist es schwer auf so kleinem Raum zu spielen. Hin und wieder treffen Ellbogen aufeinander, werden Entschuldigungen gehaucht und verlegene Blicke getauscht. Die Trompeten hätten gern mehr Freiheit, ebenso die dickbäuchige Gitarre mit ihren großzügigen Rundungen. Die Musiker erdulden die Unannehmlichkeiten, indem sie die Augen schließen oder in die Ferne schauen, während sie ihre Instrumente spielen. Sie geben sich Mühe, die Enge nicht zu bemerken, sie nicht zu sehen. Gemeinsam mit der Musik fliegen ihre Blicke Über die Köpfe der Leute, nur ihre Körper lassen sie zurück in der Menge. Auf diese Art ist es leichter, so können sie besser in die Lieder eintauchen und das Gedränge ignorieren. Nur der Sänger hat mehr Platz, an ihn trauen sich die Leute nicht so nah heran. Er muss seine Arme bewegen können, wenn es dramatisch wird, muss einen Schritt vor oder zurück machen können, wenn ihn die Emotionen Übermannen. Darin will ihn niemand stören.
Der Fluss der Passanten nimmt kein Ende, es wimmelt um die Musiker wie in einem Ameisenhaufen, es kommen immer mehr Besucher und niemand scheint zu gehen. Die meisten verbringen den gesamten Nachmittag und Abend hier, bringen ausreichend Verpflegung mit. Manch einer trägt einen ausklappbaren Hocker unter dem Arm.
Die Trompeten erklingen. Mehrere Leute drehen sich nach ihnen um. Sie sind laut und schrill, Übertönen die anderen Instrumente, den Lärm der angrenzenden Straße und das Gerede der Massen.
An diesem Tag sitzen die Vögel weder auf den Mauern noch in den Bäumen. Sie warten auf den kahlen Feldern, bis es ruhiger wird und sie zurückkehren können. Die Bäume stehen starr und dürr dabei, ihre Äste leer. Der Wind mag sie nicht schaukeln oder beugen, er lässt sie ungestört zusehen. Außerdem fürchtet er sich ein bisschen, wagt es nicht, sich in das Durcheinander einzumischen oder die Leute wegzutragen.
Die Menschen liegen sich in den Armen, klopfen sich auf die Schultern, drücken sich aneinander. Gemeinsam erinnern sie sich, graben alte Geschichten hervor, um sie noch einmal zu erleben mit denen, die darin vorkommen. Noch einmal zusammen sein. Noch einmal das Vergangene mit dem traurigen Jetzt vertauschen. Mut sprechen sie einander zu, jemand macht einen Witz, weil mit Spaß alles leichter zu ertragen ist. So mischt sich Lachen in die Trauer. Schön und schaurig ist die Welt auf dem Friedhof.
Der Sänger gibt den Ton an, mit fester Stimme und großer Brust singt er Über die Mühen der Hinterbliebenen. Wie sie ihren Alltag neu besorgen, versuchen das leere Haus zu füllen und beim Essen einen Teller weniger auf den Tisch stellen. Wie sie die Toten nicht vergessen und doch vergessen müssen. Es schmerzt, trotzdem geht es weiter. Seine Stimme gibt Hoffnung, ihre Kraft hält für einen Moment alles zusammen und lässt die Leute aufatmen. Ein alter Mann kann sich im Gedränge nicht auf seinen Gehstock stützen, er verliert das Gleichgewicht und stößt gegen die dickbäuchige Gitarre. Schrille Töne mischen sich unter die Musik, aber sogleich helfen zwei hochgewachsene, junge Burschen dem Alten, ziehen ihn in ihre Mitte, weg von den Musikern und ihren Instrumenten, entschuldigen sich mit einem Grinsen und einem Lob für die Lieder, die bestens zum Tag der Toten passen.
Die Hände meiner Schwägerin greifen mich bei der Häfte, wollen mich zu der Musik bewegen. Sie möchte tanzen oder eine Polonaise anfangen. Das überrascht mich, starr wie ein Stein bleibe ich stehen und schaue sie an. Das habe ich nicht erwartet. Es scheint mir der falsche Ort, die falsche Situation für einen Tanz zu sein. Verwundert blicke ich in ihr hübsches Gesicht. Ihre Augen sind rot, glasig. Sie hat viel geweint, ist erschöpft vom Singen und den vielen Umarmungen, die nicht aufhören wollen und mit jedem Mal schwerer werden. Ihr Blick verrät Müdigkeit, aber sie gibt sich Mühe, zieht den Mund breit und hoch zum Grinsen. Keine Traurigkeit, keine Erschöpfung. Zwischen fröhlich und traurig kann man wählen oder es zumindest versuchen. Sie lacht kurz auf, greift in einen Rucksack, der auf dem Boden steht, und holt eine neue Flasche hervor. Ich lache auch.
Mehr Tequila!, Auf unseren Großvater!, Auf unsere Großmutter!, ruft sie und stößt ein Glas hinunter, dann legt sie einen Arm um mich, dreht ihr Gesicht weg von ihrem Mann, der zu uns hinüberschaut. Ich halte ihr mein Glas vor und sie fällt es mit Tequila auf. Sie hat schon zu viel getrunken, aber heute trinken alle zu viel. Wer nicht trinkt, hat kein Herz. Man kann nur zu wenig, aber nicht zu viel trinken. Auf dem Boden zwischen den Gräbern liegen die leeren Flaschen. Noch einen Schluck! Auch die Toten wollen trinken, auch sie freuen sich, dass wir alle zusammenkommen.
Kräftig ertönen die Stimmen der Mariachi-Musiker. Sie ziehen die Worte bis zur Unkenntlichkeit lang, im nächsten Moment können sie reißen und alle Umstehenden niederbrechen. Das Kreischen eines Hahns ist von jenseits zu hören, von der anderen Seite der Friedhofsmauer. Am Grab neben uns weint, schluchzt eine Großfamilie. Insgesamt vierzehn Personen. Jeder stellt Blumen und Kerzen auf das Grab, damit es schön leuchtet. Der weiße Stein ragt hervor, ruhig und standhaft inmitten der grellen Farben und Töne.
Mein Vater Pedro Páramo trank viel und schlug meine Mutter, flüstert meine Schwägerin in mein Ohr. Ihr Mann schaut noch immer zu uns hinüber, drückt die Augen zusammen und verzieht den Mund. Sie umarmt mich. Ich habe ihn trotzdem geliebt und vermisse ihn schrecklich, sagt sie und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
Die Trompeten krachen erneut durch die Luft. Die Mariachis schreien auf, wir fallen ein. Für einen Moment vibriert die Luft in der Lunge zusammen mit der Luft über den Gräbern. Sie ist kalt, schmerzt und belebt. Ein Stechen in der Brust drängt hinaus, die Geige zieht es lang, die Trompeten ziehen es fort. Es werden Blumen in die Luft geworfen, die Blumen der Toten, ihre Blüten brechen in der Luft auseinander, gehen gelb orange auf uns nieder.
Sei nicht so ernst, nimm noch einen Schluck und bring nächstes Mal deine Verwandten mit, wir wollen mit ihnen singen und feiern. Der Tequila brennt in mir, in meinem Mund und Hals, in meinem leeren Magen und leerem Kopf. Warm und matt ist er. Ich schaue mich um, will sehen, wer mir zuredet. Aber niemand beachtet mich, niemand spricht mit mir. Mir ist schwindelig, deshalb atme ich kräftig ein und aus, versuche an nichts zu denken. Mein Magen knurrt. Nimm die Hand von meiner Tochter, sie ist verheiratet, sagt er, oder ich bringe dich um.
Die dickbäuchige Gitarre setzt ein, gesellt sich zu den Trompeten und versucht etwas Ruhe zu verbreiten, versucht die Wogen der Aufregung zu glätten, aber die Stimme des Sängers überschlägt sich im Angesicht der Trauer und macht alle Bemühungen der Gitarre zunichte. Mit ungestümer Hingabe wirft der Sänger die Arme in die Höhe, lässt sie wie Luftschlangen umherfliegen. Seine Augen sind geschlossen, sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse. Mit den Armen will er die Welt umarmen oder befreien. Dabei schlägt er einer dicken Frau ins Gesicht, die zu nah bei ihm steht und sich nicht vor ihm in Acht nimmt. Die Dicke ist wütend, will sich beschweren, will den Sänger anschreien und an seinem glänzenden Anzug ziehen, aber niemand beachtet sie und so wird sie im Strom der Menge einfach hinweg getragen.
Feuerwerk mit viel Krawall und Rauch donnert über uns und für einen Moment hört man die Mariachis nicht, man zuckt zusammen und schaut um sich. Die Mütter, Töchter, Witwen heulen wie Verrückte, die Männer jammern und trinken, als müssten sie sich in die Gräber legen und dürften sich nie wieder gehen lassen. Der Wind ist noch stiller als zuvor, erschrocken wie ein kleines Kind.
Friedrich Bastian
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Ronya Othmann
دكرت , دكرت
die unschärfen im beton, wozu wir fähig wären wenn, - ich fühle mich schuldig im anbetracht der sonne vier uhr nachmittags. die bruchkanten in dieser stadt nicht sehen, morgen, übermorgen. aufschreiben, damit ich es nicht vergesse, wenn es darauf ankommt. was weißt du schon von gesalzenen sonnenblumenkernen, von diesem staub.
dieser körnige sand fünfhundert kilometer weiter. den salzgehalt des wassers messen. da hat aber einer viel geweint. die militärhubschrauber stündlich. vögel im sinkflug. wie lange wir gelaufen sind. ich kann gar nicht sagen. unter der sonne solche albernheiten. die grenze ist nicht weit. nur eine schusslänge entfernt. woran mich das erinnert. die hügel wie festungen, berge, aber brüchig. ich habe kein wort für die schraffuren am himmel, für das was sie bezeichnen.
Ronya Othmann
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Elvira Santos
Senhor Valdemars Laden
Rio de Janeiro - Anfang der 1970 er Jahre
Es geschah am Freitagnachmittag. Meine Kolleginnen, die viel älter als ich waren, standen vor dem Laden im Kreis und unterhielten sich. Sie konnten sehr laut sein, wenn sie über Männer redeten. Senhor Valdemar zählte das Geld in der Kasse am Ende des Ladens. Eine Reihe von Warentischen teilte den engen Laden in zwei lange Gänge. Ich stand am Warentisch in der Mitte und sortierte Stofftiere und Puppen in Miniaturgröße.
Mama hatte mir diesen Ferienjob besorgt. Sie hatte Senhor Valdemar gefragt, ob er mich in seinem Laden brauchen könnte. „Bringen Sie das Mädchen her.“ Sie war zu Fuß nach Hause geeilt, um mich zu holen. Eine Stunde später hatten wir schwitzend vor ihm gestanden.
„Wie heißt du, Mädchen?“
Ich hatte meinen Vornamen genannt, und er hatte das Gespräch nur mit Mama fortgesetzt.
Mama hatte über ihr ganzes Gesicht gestrahlt, als wir den Laden verlassen hatten, und das hatte mich glücklich gemacht. Wir hatten den Heimweg angetreten.
„Vielleicht kannst du die ganzen Schulferien lang dort arbeiten.“
Eine Woche vor Weihnachten begannen die Sommerferien, die bis Mitte März dauerten. Ich würde drei Monate arbeiten und Geld verdienen, um meine Familie zu unterstützen.
„Mama, wie viel werde ich verdienen?“
„Wer weiß, vielleicht einen Mindestlohn.“
Die Sonne hatte um diese Mittagsstunde gnadenlos auf meinem Kopf gebrannt, und ich hatte im Schatten der Pinienbäume einer Fabrik eine kurze Pause eingelegt, kurz bevor man in unsere Straße einbog. Mama war weitergegangen. „Soll ich Senhor Valdemar morgen fragen, Mama?“
Sie hatte abrupt innegehalten und sich zu mir umgedreht. Auf ihrer Stirn hatten sich Falten gebildet. Ihre kleinen braunen Augen, die wie Mandeln aussahen, waren groß geworden. „Auf keinen Fall!“
„Und warum nicht?“
„Weil du sonst den Eindruck erweckst, dass du nur am Geld interessiert bist.“
„Ja.“ Wir waren weitergegangen. „Mama, jeder im Laden ist weiß.“
„Deshalb musst du als Schwarze ein Vorbild sein.“
Ich kehrte gerade an den Warentisch zurück, als zwei Frauen mit zwei Kindern den Laden betraten.
Die Kinder liefen wild in Senhor Valdemars Richtung. Er schien sie weder zu sehen noch zu hören. Er zählte das Geld. Sie nahmen kleine Autos von einem Tisch, spielten damit auf dem Boden und ließen sie dort liegen. Danach durchwühlten sie einen Tisch mit kleinen Dekos aus Porzellan. Die beiden Frauen, die vermutlich ihre Mütter waren, gingen bis zum Ende des Gangs, wo sich die Kinder aufhielten, ohne auf sie zu achten. Ich beobachtete die vier. Ihr weißen Kinder seid doch verwöhnt, dachte ich. Dann hoben die Frauen ein gefaltetes Wäschestück nach dem anderen vom Tisch auf und ließen es wieder fallen. Dabei lachten sie mich an. Etwas stimmt hier nicht. Ich muss euch meine Anwesenheit zeigen. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte ich. Lächelnd lehnte sie ab, wobei ihre braunen Haare sich bewegten. Dann nahm eine von ihnen ein kleines Höschen von einem Tisch, das ihrem Sohn passen könnte, und schloss es in ihre Hand, während sie mich anschaute und lächelte. Was hatte sie vor? Was soll ich jetzt tun? Sie machte mir Angst, aber ich musste sie zurückhalten. Mit meinem Notizblock in der Hand tat ich einen entschlossenen Schritt in ihre Richtung und fragte:
„Soll ich Ihnen eine Quittung schreiben?“ Ich hörte, wie meine Sopranstimme zitterte.
„Nein, Danke!“
Mit strahlendem Lächeln öffnete sie die Hand, winkte mir mit dem Höschen zu, schloss sie wieder darum, und die beiden Frauen verließen den Laden. Die Kinder folgten ihnen. Meine Kolleginnen plauderten und lachten laut, und Senhor Valdemar zählte sein Geld an der Kasse.
Wie konnte ich so etwas dulden? Wie konnte ich diese Frauen einfach gehen lassen? Sie schienen ihrer Sache so sicher zu sein, als ob sie damit Erfahrung hätten. Sie könnten mich an meinem Feierabend im Dunkeln überraschen und mir weh tun, wenn ich etwas gegen sie unternähme. Hätte ich es gemeldet, dann hätte der Chef denken können, dass ich mit den Frauen zusammenarbeite. Aber wo blieb meine Ehrlichkeit?
Als der Laden sich wieder füllte, arbeitete ich unkonzentriert. Bei einer Kundin, die einen Meter Wachstuch brauchte, schnitt ich nur einen halben Meter ab. Während der letzten Arbeitsstunden sammelte ich Mut, um mit Senhor Valdemar zum Feierabend über den Diebstahl zu reden. Wo sollte ich anfangen? Senhor Valdemar, ich war Zeugin eines Diebstahls. Was für ein Diebstahl, Mädchen? Ein Höschen. Nein, wie albern! Vielleicht sollte ich lieber unserem Priester unter vier Augen davon erzählen.
Gegen halb sieben fing ich an wie immer, wenn ich keine Kunden bediente, die Warentische für den Feierabend aufzuräumen. Ab und zu schaute ich zitternd auf eine große Uhr, die hinter Senhor Valdemar an der Wand hing. Als der letzte Kunde gegangen war, warf Senhor Valdemar einen Blick über seine Lesebrille hinweg durch den Laden und verkündete: „Feierabend!”
Hintereinander gingen meine Kolleginnen und ich neben der Kasse an ihm vorbei und erreichten eine kleine Tür, die zum Hinterhof führte. Ich war die letzte. Wir holten unsere Handtaschen aus einem alten Schrank, der in einer offenen Nische stand, und kamen durch die kleine Tür zurück in den Laden. Ich ließ meine Kolleginnen vor mir gehen. „Guten Abend, Senhor Valdemar! Bis morgen!“, sagte jede. Er antwortete trocken. Ich blieb stehen, blickte zu Boden und sagte leise: „Senhor Valdemar ...“ Mit einer Handbewegung unterbrach er mich: „Ab Montag brauche ich dich nicht mehr. “
„Guten Abend, Senhor Valdemar!“, sagte ich. „Bis Morgen!“
Auf dem Heimweg überlegte ich, wie ich Mama von dem Diebstahl berichten sollte. Wie würde sie auf meine Entlassung reagieren? Für den Diebstahl fühlte ich mich verantwortlich, aber wegen der Entlassung ärgerte ich mich über Senhor Valdemar. Wenn er mir zumindest einen Grund genannt hätte ... Aber das hatte er nicht getan. „Ab Montag brauche ich dich nicht mehr.“
Ich würde Mama nur von der Entlassung erzählen und abwarten, bis ich mein Arbeitsheft zurückbekäme. Dann würde ich sehen, was er dort eingetragen hatte.
In der Küche nahm ich den Henkelmann aus meiner Handtasche und legte ihn ins Spülbecken. Mama kam zu mir: „Wie war dein Arbeitstag?“
Ich zwang mich, ihr in die Augen zu schauen. „Alles war normal, Mama.“
„Was ist denn heute passiert?“
„Senhor Valdemar braucht mich nur noch bis morgen.“
Sie schloss die Augen, hob den Kopf zur Decke und sagte: „Jesus, du weißt alles.“
Am Samstag um acht Uhr, als ich den Laden betrat, wollte ich sofort mit Senhor Valdemar über den Diebstahl reden, denn ich glaubte, dass meine Entlassung damit zu tun hatte. „Guten Morgen, Senhor Valdemar“, sagte ich mit meiner großen Handtasche über der Schulter. Aber schon als er antwortete, ohne mich anzublicken, verlor ich den Mut. Während des Vormittags beobachtete ich meine Kolleginnen, ob sie mir gegenüber misstrauisch waren, konnte jedoch keine Veränderung feststellen, wenn ich mit ihnen über die Arbeit sprach, denn etwas Anderes hatten wir nicht zu reden.
„Du kannst in die Mittagspause gehen,“ sagte Senhor Valdemar. „Iss und arbeite sofort weiter!“
Ich eilte durch die Hintertür zum Hof. In der offenen Nische holte ich meinen Henkelmann mit einer Gabel aus der Handtasche und setzte mich auf einen Hocker, um zu essen. Ich öffnete den Henkelmann, stach die Gabel ins Essen und fischte ein Stück Fleisch heraus. Mir fiel ein, dass Mama beim Abendessen kein Fleisch auf ihrem Teller gehabt hatte.
Zurück im Laden entschloss ich mich, den Wert des Höschens von meinem Lohn abzuziehen. Dann brauche ich mich nicht mehr schuldig zu fühlen.
Wie meine Kolleginnen stand ich am Feierabend in der Schlange vor der Kasse, um meinen Wochenlohn abzuholen. Ich unterschrieb im Buch und bekam einen weißen Briefumschlag von Senhor Valdemar. Nachdem ich den Inhalt überprüft hatte, stand für mich fest, dass ich weder mit ihm über den Diebstahl sprechen noch den Betrag von meinem Lohn abziehen würde. Ich verabschiedete mich einfach: „Guten Abend, Senhor Valdemar!“
Als ich nach Hause kam, ging ich in die Küche, wo Mama stand, öffnete meine große Handtasche und, bevor ich den Henkelmann herausholte, nahm ich den weißen Umschlag und übergab ihn Mama. Sie schloss die Augen, hob den Kopf, streckte die Hand mit dem Umschlag gen Himmel und sagte: „Danke, Herr!“
An einem Sonntag morgen gingen wir zu Fuß in die Kirche und kamen an Senhor Valdemars Laden vorbei. Er wollte gerade in sein rotes Auto steigen. Armaturenbrett und Sitze waren mit beigem Leder überzogen. Er trug einen dunklen Anzug und eine Krawatte und hielt eine große Bibel in der Hand. Als er uns sah, sagte er zu Mama: „Das Mädchen kann morgen um acht wieder anfangen.“
„Vielen Dank, Senhor Valdemar! “ entgegnete sie mit strahlendem Gesicht, und wir gingen weiter zu unserer Kirche.
Elvira Santos
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Nicolai Busch
Die unter Schutz Geflogenen
Wir sind gar nicht mehr da, aber auch noch nicht ganz tot. Nein, Moment, falsch, hier steht: Jemand habe bestätigt, wir seien nicht zu finden und daher mutmaßlich nicht mehr am Leben. Das ist ein Unterschied! Was? Nein, sagen Sie? Na, also hören Sie mal! Es ist doch etwas Anderes, ob man noch lebt oder von vornherein tot ist! Es ist doch nicht das Gleiche, wenn man flieht und dabei stirbt oder flieht und danach stirbt oder fliegt und mutmaßlich stirbt oder mutmaßlich lebt, wobei man ständig gesucht wird. Manche fliehen durchs Meer und sterben im Meer und werden weder gesucht noch gefunden im Meer und andere fliegen und sterben im Meer, aber eben nicht gleich, sondern erst, wenn wir sie wirklich nicht mehr finden im Meer. Ja, am Leben hängen wir natürlich alle, aber manche hängen vielleicht etwas mehr dran, an denen hängen wir vielleicht etwas mehr und in deren Suche hängen wir uns dann eben auch mehr rein. Also einen großen Fang der Gleichheit und Gerechtigkeit kann ich da jetzt eigentlich nicht erkennen, liebe Menschenfischer, die ihr entscheidet, wer herausgefischt wird und wer nicht. Und das obwohl sich im Tod doch sonst immer alle so einig sind. Aber der meeresgrundlegende Unterschied zwischen einem Toten und einem Toten liegt vielleicht einfach darin, dass man nach den Geflogenen sucht, während man die Geflohenen leider immer erst findet, wenn sie schon tot sind oder sie erst gar nicht finden will, weil man eben rein gar nichts an ihnen findet, nicht? Da sucht man ewig nach sich selbst und dann findet man doch immer nur den Andern, der dann aber meistens keinen Pass hat und sich nicht ausweisen kann und das obwohl er doch schon längst Vollwaise ist. Also für mich war das immer ganz verschieden zueinander, wenn auch recht ähnlich. Auf der einen Seite eben das Leben, das immer da ist, oder eben da, wo’s niemand bemerkt, auf der anderen Seite der Tod, der nur da ist, wenn wir es sagen oder, wenn wir ihn sehen wollen. Naja und dazwischen eben von Beidem ein bisschen, was wir Zeit nennen, solange wir sie haben. Manche haben gar keine und für andere vergeht sie eben wie im Flug, wenn man denn fliegt. Ganz anders im Boot, wo sie eben wie im Boot vergeht und plötzlich einfach stehen bleibt, während alle anderen sitzend sinken, ohne dass jemand den Sinkflug eingeleitet hätte, worüber man vielleicht mal in einem Sinktank, äh, ich meine in einem Thinktank, diskutieren könnte, damit sich nie irgendwas ändert. Ach, Sie denken gar nicht? Und geflogen sind Sie auch noch nie? Müssen Sie mal! Also beides, fliegen und denken. Aber am besten erst denken und dann fliegen. Oder erst fliegen und dann gar nicht mehr denken müssen. Probieren Sie’s mal! Letztlich ist es doch ein und dasselbe: Ganz viel Bewegung, die man macht, ohne sie selbst zu machen und Distanzen, die so klein werden, bis sie und Sie verschwinden. Ein echtes Ereignis, wenn auch keins stattfindet! Von A nach B und dazwischen: Nichts. Macht aber gar nichts, denn das vergeht schließlich auch. Erst ist man am Boden und dann hebt man ab und dann ist man manchmal am Boden zerstört. Oder im Meer. Ja, wer A sagt, muss auch B sagen. Hereinspaziert, angeschnallt und los geht’s! Jeder Zug gewinnt, aber eben nicht jeder Flieger und erst recht kein Boot. Ich wähle ein A und möchte lösen: Anemone. Und der drei Jahre gesuchte chinesische Herr in der Business Class mit dem Weinglas in der Hand wählt danach ein B und löst sich auf: Buckelwal. Herzlichen Glückwunsch zum Trostpreis von zweihundert neununddreißig Komma null, null und ein paar Zerquetschten inklusive der größten Rettungsaktion in der Geschichte der Luftfahrt. Sie können sich den Preis irgendwo westlich von Australien abholen. Tatsächlich waren erst im April zweitausendfünfzehn vor Italien ganze achthundert im Jackpot und obwohl wir wissen, wo Italien liegt und wer da vor Italien liegt, hat die erstmal keiner geknackt. Also den Rekord hat erst einmal keiner geknackt, nicht mal versucht hat das am Anfang jemand, nicht mal gesucht hat die am Anfang jemand, aber gezahlt haben die trotzdem, ohne was zu gewinnen. Ganz nach dem Sprichwort: Kein Glück im Spiel und auch keins im Ableben und auch keins danach. Das ist schade, aber entschädigt wird eben nur, wenn man fliegt und dabei stirbt. Naja und jetzt fliegen halt andere drauf, anstatt beim Kentern drauf zu gehen. Und wer drauf fliegt, der kann sich immerhin geborgen fühlen, auch wenn er es vielleicht nie wird. Also von gleicher Liebe und Trauer für alle kann hier eigentlich keine Rede sein. Wenn jemand ersäuft, hat das ja überhaupt in den wenigsten Fällen mit Liebe zu tun und wie die Titanic sah dieses Schlepperboot vor Italien, wenn Sie mich fragen, nun eigentlich auch nicht aus, die Boeing dagegen schon eher. Und ich spreche hier nicht von der Zeitschrift, sondern von dem Film, wobei es mit der Ironie der Massenschicksale natürlich auch nicht allzu weit her ist. Zu welcher Masse Sie, werter Leser, jetzt genau gehören, lässt sich nur herausfinden, indem sie ertrinken und spätestens da hört die Satire dann eben auch schon wieder auf, nicht? Also bei aller Liebe, aber lustig kann man das nicht finden, wenn zwei oder achthundert sich weder suchen noch finden. Liebe Anna, ich schreibe diesen Brief, denn ich fühle mich seit langer Zeit schon nicht mehr gefunden und erst recht nicht geborgen bei Dir. Wie kommt es, dass sich unsere Frequenz ständig verschiebt? Ich frage mich, ob nicht ein Flug daran etwas ändern könnte. Unsere Liebe soll ein Großraumjet ohne Sauerstoffmangel und unsere Sehnsucht nacheinander wie ein Tauchroboter sein. Bitte unterschreibe hier für eine gemeinsame Zukunft in trockenen Tüchern oder hier, damit alles ins Wasser fällt. In Liebe, fest glaubend an unsere Allianz und hoffentlich bis zur Landung, dein Reiseversicherungsberater. Naja, bei irgendwem muss man ja mal landen und wer ein Leben lang sucht, wird wahrscheinlich keins finden in Peking und noch weniger im Mittelmeer. Aber suchen kann man ja mal, solang es sich rentiert. Nach Gründen und Antworten suchen können Sie ja mal, weshalb eine stabile Aktie minus zweihundert neununddreißig Toten plus tausendsiebenundvierzig Tage gleich fünfundsechzig Millionen ergibt und eine humanitäre Katastrophe minus achthundert gleich null Komma null. Für wen sich das am Ende rechnet, können Ihnen die Subtrahierten und deren Bootsgesellschaft jetzt leider nicht mehr sagen, da müssen Sie schon die Fluggesellschaft oder die gegründete Interessengesellschaft fragen, deren Interessen eben mehr interessieren als die der Afrikaner. Die müssten das auf dem Schirm haben, auch wenn der Flieger vom Radar schon längst verschwunden ist. Die müssten das unter dem Finanzschirm haben, der die Hinterbliebenen beschirmt und die Airline abschirmt, bevor man sie verstaatlicht. Wenn Sie heute noch anrufen, lieber Leser, erfahren Sie, ob auch Ihnen eins dieser Geldschirmchen zusteht. Profitieren Sie jetzt von unserer großen Crowdfunding-Aktion! Ob auch Ihre Crowd gefunded wird, erfahren Sie nach der Auszählung und Auserwählung der Auserwählten durch die Ungerechten in den Gerichten. Naja, manchmal greift die Police eben und manchmal kommt sie erst gar nicht. In Italien ist sie jedenfalls gar nicht erst gekommen. In Italien hätte man ein ungeahntes Comeback von achthundert Toten sicher nicht mit Musik gefeiert. Da können noch so viele ertrinken, einen Klassiker werden die nie landen. Dafür fehlt denen nämlich die Landeerlaubnis und erst recht die Bordkarten, die ja überhaupt immer als erstes über Bord gehen. Und was über Bord, also über die Reling, das ist weg, aus, vorbei, verschwunden, ganz sicher, aber eben längst nicht in Sicherheit. Wobei in Frankreich mal einer gesagt hat, dass überhaupt nichts wirklich verschwindet, auch wenn es schon längst nicht mehr da ist. Alles, was fort ist, infiltriert unser Leben in kleinen Dosen, die Sie übrigens heute noch sehen können, wenn Sie der Dosenfutterspur von Lampedusa nach Lybien folgen. Oh, danke für den Tipp, aber das ist mir dann, glaube ich, doch zu weit. Verzeihen Sie, aber ich kann hier im Westen das Böse nirgendwo entdecken, obwohl es doch irgendwo sein muss. Wo so viele gute Menschen sind, die sich miteinander gut fühlen und gemeinsam regelmäßig abheben, muss doch irgendwo das Böse sein. Könnten Sie mir vielleicht sagen, für wann das Sterben im Westen heute angesetzt ist? Ach, Sie sagen, das findet hier gar nicht mehr statt? Und wenn überhaupt, dann nur noch als Folge technischen oder menschlichen Versagens, das dann aber durch viel Geld kompensiert werden kann? Hör mal, Schatz, der Mann sagt, wir müssen den nächsten Terroranschlag abwarten oder in den Kongo oder nach Syrien, wenn wir das Böse erleben wollen. Schaust du mal bitte schnell, ob es noch Flüge gibt? Achtung, Achtung, meine lieben Damen und Herren, hier spricht jetzt ausnahmsweise Ihr Autor. Ich freue mich, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben und begrüße Sie recht herzlich im Text. Unter uns sehen Sie die endlosen Weiten des Kapitals, zu dem Sie hoffentlich selbst gehören. Wenn Sie jetzt mal ganz nach rechts schauen, sehen Sie das kleine Steuerparadies und dicht daneben, direkt unter den brennenden Turbinen, quasi außerhalb der Erzählung, ein gelbes Schlauchboot mit Tauchfunktion, von dem aus ich in diesem Moment, unter uneingeschränkter psychischer Gesundheit zu Ihnen spreche. Fakt ist, dass sich unter der Ladung unserer Maschine Lithiumbatterien befanden, die in den Frachtpapieren als entzündlich gekennzeichnet waren, was sich soeben bestätigt hat. Die Stimmung im Text ist aufgrund der Batterien derzeit etwas aufgeladen und da kann es eben leicht passieren, dass ich als Schreiber, wenn auch nicht als Flugschreiber, explodiere. Wenn Sie also bisher geglaubt haben, der Autor sei nicht zu belasten, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass es mir nach wie vor schwerfällt, ein Katastrophenszenario vorzustellen, das garkeinen Faktor menschlicher Intervention beinhaltet. Lieber Leser, gestatten, dieser Faktor bin ich und bin ich eben doch nicht. Wer oder was auch immer dieses Ich ist, mir ist es jedenfalls nicht bekannt. Sollte Ihnen durch diesen Text ganz bewusst etwas zustoßen, können Sie dagegen rechtlich leider gar nichts unternehmen. Ein Unternehmen, also zum Beispiel eine Fluggesellschaft, das juristische Dienstleistungen anbietet, wird sich Ihnen aber wohl trotzdem anbieten, solange Sie es zahlen können. Manchmal liest man etwas und stößt sich daran und trägt eine Beule davon. Die Lösung wäre also, entweder den Kopf einzuziehen oder sich an die Schmerzen zu gewöhnen. Wir sitzen nun einmal alle im selben Boot, wobei manche von Ihnen natürlich im Flieger sitzen und deshalb mehr Recht auf ein Grab abseits des Meeres haben als andere. Den Grund hierfür versucht dieser Text in diesen Momenten unter Hochdruck zu finden, wenn auch ohne Erfolg. Dabei kann es passieren, dass der Druck zwischen den Worten so groß wird, dass der Zweifel Funken sprüht und wir notfalls auf die Schlauchboote umsteigen müssen. Also von einem Druckabfall an Bord kann hier wirklich keine Rede sein. Überhaupt ist so ein Zweifel wie eine Tragfläche, die es ganz plötzlich mehr oder weniger dramatisch zerreißt, während man sich eigentlich noch getragen fühlt. Und trotzdem reisen und fliegen die meisten, anstatt im Wasser zu gründeln. Trotzdem fliegen die meisten und stecken den Kopf in die Luft, wo sie am dünnsten ist, nur damit man wo war, während man war und damit man mal da war ohne zu sein. Weil in Kuala Lumpur waren die Damen und Herren ja noch da, obwohl die in Peking später nicht mehr da waren. Also wenn Sie das Auftauchen eines Körpers in einem Video einer Kamera als Dasein definieren, das Aufblähen desselben im Wasser dagegen als sein Ende, waren die Gäste in Malaysia noch deutlich da, sind dann aber nach dem Auftauchen (weiß Neptun wo) vollständig abgetaucht. Alle zuletzt empfangenen Satellitensignale deuten auf einen steilen, ausgelassenen, aber kontrollierten Absturz der Fluggäste bis in die frühen Morgenstunden. Werter Leser, hier noch ein Tipp: Entschlüsseln Sie weiter eifrig die Signale, aber suchen Sie vorher nach den richtigen. Es ist in der Vergangenheit immer wieder zur Verdrehung von Fakten und Messwerten gekommen, auch im moralischen Bereich. Einfach wird es nicht werden, aber Sie können es ja mal ausprobieren. Entschuldigen Sie bitte, ich habe viel Geld für diesen Tauchkurs bezahlt und jetzt ist das Wasser ganz trüb. Wir sehen ja gar nichts, obwohl es doch hieß, die Sicht sei eindeutig. Wie soll man denn so etwas finden, wenn man nichts sieht? Was soll man denn suchen, wenn eh alles gleich ist? Wie soll man denn auffallen, wenn einem nie etwas auffällt? Naja, versuchen Sie’s halt wenigstens mal! Aber suchen Sie nicht zu lange. Ein ganzes Leben, das wäre nun wirklich zu lang. Davon haben wir hier sowieso schon viel zu viele. Aber drei Jahre, die geben wir Ihnen, wenn Sie denn fliegen statt fliehen, bevor wir Sie aufgeben.
Nicolai Busch
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
Respektlos entstellt und doch nicht zum Verschwinden gebracht wurden: Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, ein bisschen Derrida, Baudrillard und ganz viel Wikipedia.
freiTEXT | Flamingo
Domažlice
ein traum von der bettlägrigkeit meiner mutter führt mich über hefeknödeln nach domazlice. fahrend: mein großvater mit rotem, großen kopf und schnapsporen auf seiner haut vom pokerspielen in den 1970er-jahren. im kassettenradio ist der böhmerwald und das land in dem die wiege stand und für diese kapelle mein anderer, cholerischer großvater eine kurze zeit gespielt hat. immer wieder fährt der große, runde opa in die tschechei, mit dem roten ford sierra und kauft hefeknödeln, schokooblaten und uhren. er schaut sich auf dem chinesenmarkt um und bringt von dort manchmal decken und plastikschoner für die autos seiner angehörigen. ich sitze vorne, oma muss hinten sitzen, denn ich bin das prinzchen und darf die kassette drehen. auf ernst mosch gleiten wir in den osten und an der grenze muss man halten, wo wir gefragt werden und mein opa mit seinem tschechischen nachnamen keine probleme hat, kurzfristig sogar stolz ist. doch wenn man ihn fragt, ob er ein tscheche sei, wird er ausfällig. ähnlich ausfällig wird er beim autofahren: ausgehauter hund, ausgehauter. dicke nudel, dicke. fette sau. im hotel krone in der ortsmitte von domazlice essen wir billiges schweinegulasch und braten mit hefeknödeln und ich kaufe süßes sirup in den läden und golatschen und weiche semmeln. es gibt andere zahnpasta als bei uns und kristallvasen, die den leuten dort gefallen. meine mutter ist bettlägrig zuhause, ich bin froh, dass ich laufen kann und bekomme eine weitere golatsche, die mich dickes kind noch dicker macht. ich darf nicht auf bordsteinen balancieren, mein opa hasst das und nennt mich: dummer esel, dummer. wenn jemand sagt, ich sei dick, droht ihm mein opa mit schlägen, sein kopf wird noch röter und er platzt fast auf. nur wenige jahre später sitzt er bei sehr großer hitze im stadtpark, fühlt sich seltsam und ist bald nicht mehr da. von der schule holt mich nun niemand mehr ab, jeden tag, und ich fahre viel seltener in die tschechei. nur noch mit meinem vater, der mich gängelt, der mich für ein dickes kind hält, für einen schwulen, kleinen versager und der mir zwar golatschen kauft, aber lieber eine kleine als drei große und in dessen auto ständig mike and the mechanics und peter maffay laufen und dessen weißer ford escort mit einem blauen, einem dunkelblauen und einem roten streifen laut bei 160 über die autobahn kracht, die schallmauer meiner kindheit im schwitzbauchweh erstickt, die eigentlich wissenschaftlich reisekrankheit genannt wird. zuhause liegt meine mutter, wenn sie nicht beim zahnarzt ist und gehasst wird, dann hat sie schmerzen. wenn ich keine angst vor der nacht habe, kann ich einschlafen. manchmal gehe ich noch dorthin wo mich mein opa von der schule abgeholt hat und warte und denke wir fahren in die tschechei zu den golatschen, wo sein nachname der dritthäufigste im land ist und er aber kein tscheche. mein zuhause, das ist die grenzkontrolle und das kurze stehen und warten und angsthaben ob nicht doch etwas passiert.
Flamingo
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Margit Lohmus
Kolm Kipsi
Übersetzung unten.
Olin Andrese pool. Oma järjekordses joomajärgses masendushoos pööras ta mulle selja. Oli nii imelik üldse, midagi ei rääkinud. Nagu vihkaks mind, nagu mina oleksin milleski süüdi. Kas ma lähen ära või? Tahad sa üksi olla? Ei tea, mida sellises situatsioonis teha. Me pole üldse kaua koos olnud, aga tema juba on nii endasse tõmbunud. Raputasin teda kogu jõust, kallistasin, hoidsin, surusin oma paljad rinnad vastu ta selga, tal oli küll T-särk seljas, aga mõtlesin, et ta ikkagi tunneb mu kikkis nibusid ja saab aru, kui väga ma teda armastan. Tegin musisid ja küsisin kogu aeg, et mis sul viga on. Minul küll masendust ei olnud, mina tahtsin läbi saada ilusti ja suhelda. Mõtlesin, et lähen ära, aga ei läinud, hakkasin hoopis mööda pimedat tuba ringi jooksma. Jooksin toas ja siis kööki, mõtlesin, et jooksen nii kaua, kuni maha kukun, täiesti suvalt, nii et midagi ei karda. Nii nagu pimedas ei varitsekski igasugu lauanurgad, tolmuimeja ja muud takistused. Andres hakkas ka juba huvi tundma, mida ma teen, vbl hakkas oma masendusest toibuma või sai vihaseks mu peale, ma ei saanudki aru, sest kukkusin maha. Ja käeluu, ranne, läks katki, mul oli varem samal vasakul käel kaks korda kips olnud ja vist sellepärast murduski nii lihtsalt. Kukkusin kööki, komistades koridoris millegi otsa. Kõva matsakas vist käis, mul hakkas suht pea ringi käima, nõrkusehoog tuli peale. Käsi oli nii valus ja paha oli olla, nutt tuli. Läksin tuppa ja ütlesin talle, et mul läks käeluu katki. Pisarad jooksid. Ta vaatas mu kätt ja talle tundus, et see pole katki, aga mul oli nii valus. Täiega juba nutsin. Ootasin, et ta mu taksoga traumapunkti viiks, aga seda ei juhtunud. Istusin põrandal ja mul ei olnud sularaha ja temal ka mitte. Ma nutsin juba hüsteeriliselt, valust südames ja käes. Ja muidugi ka vihast, et Andres mind üldse ei armasta, tal oli nii suva minust, miks ta kõik ära rikkus. Jobu.
Kõõksudes helistasin oma vennale, ta magas, kell oli vist mingi kolm või neli reede öösel. Unise häälega võttis toru ja ütles, et ta ei jõua tulla, et vahest pole ikka luumurd ja bla bla bla, pakkus igast variante välja. Täpselt nii nagu see rohkem kui kümme aastat tagasi talvel oli. Tegime naabripoisi kaldega hoovi väikse jääraja, et liugu saaks lasta. Terve õhtupooliku olime toast pangedega vett õue viinud, et tekiks jää, ja siis lõpuks saimegi liugu lasta, lasime nii, et mul läks käeluu katki. Lasime sealt jäisest kallakust püsti seistes alla, kolmekesi, mina kõige ees, siis mu vend ja siis meie naaber Riks, kes on hästi paks. Muidugi riburada kukkusime hunnikusse kõik, mina kõige all, Riks kõige peal ja vend keskel. Nemad naersid, mina olin lömastunud. Virinal kurtsin, et käsi on valus. Vingusin kaua, enne kui tähelepanu sain, ütlesin, et mul on käsi ikka nii valus. Vend ütles, et ei ole midagi, laseme veel liugu, Riks aga muutus tõsisemaks ja ütles, et tema nagu kuulis mingit krõksu. Tahtsin koju, aga ei saand üle aia ronida, ütlesin, et mul on käeluu katki. Ja Sina, minu vanem vend, ütlesid, et käeluu on katki siis, kui käsi on kõver, võtsid mu valusast käest kinni ja sikutasid mind kuidagi üle aia. Toas vaatas ema mu kätt ja läksime traumapunkti. Mu esimene kips.
Helistasin siis isale, tema ka ei tulnud, sest oli vihane, et ma isadepäevaks talle ainult sõnumi saatsin, kuigi ta elab minust paari maja kaugusel (mu vanemad elavad lahus). Ütles, et ma helistan talle vaid siis, kui mul midagi vaja on ja bla bla bla. Ütlesin läbi nutu, et ta ise ei helista mulle üldse kunagi. Raha ka ei anna. Kunagi ei aita, kui oma lihane laps on pikali maas, ütleb vaid, et võta jalad alla. Nagu ka seekord rohkem kui kümme aastat tagasi, kui ta mind multikaid vaatama kutsus. Pühapäeval hommikul. Ma olin veel voodis, aga multikaid tahtsin näha ja nii hüppasingi hooga voodist välja, et koos tekiga teise tuppa joosta. Tekk jäi varba vahele, ma kukkusin maha ja hakkasin karjuma, käeluu läks katki, käsi oli kõver nüüd ka. Alati kui ma kellelegi räägin sellest kukkumisest, siis ma ütlen, et tekk jäi varba vahele kinni ja sellepärast kukkusin. Ja ma olen ise ka uskunud seda, et tekk jäigi varba vahele kinni. Praegu sellele mõeldes tundub see kahtlane – kas tõesti tekk jäi varba vahele kinni. Varba vahele tekk. See teeb sellest natuke naljaka loo, mulle on alati tundunud, et varbad on keha kõige toredamad osad, teevad nalja. Ja varbad pole justkui eriti tõsiseltvõetavad ja see, et mul jäi tekk varba vahele, pole ka eriti tõsiseltvõetav. Ometi see jäi ju, kui olen rohkem kui kümme aastat nii mäletanud. Ja Sina, minu isa, tulid rahulikul sammul ja ütlesid, aja end nüüd üles. Järgmisel hetkel, mäletan, olingi all vanaema suures toas diivanil pikali, mu vasak käsi oli nagu mingi kõver toru. Ema pani vanaisa Moskvitšile hääled sisse ja sõitsime traumapunkti, mäletan, et tal oli seljas välismaaroheline jope ja sama värvi tossud. Need tossud ta kuskilt sai, välismaalt keegi tõigi ehk, oleks endale tahtnud, aga mulle olid suured. See oli minu teine kips, samuti talvel. Muide need tossud said mulle ühel päeval parajaks, aga siis ma ei tahtnud enam nendega käia, kuigi oleks võinud, sest olid ilusti hoitud, vähe kulunud, aga ei olnud lihtsalt siis nii kõva sõna enam.
Mul oli nii valus. Andresel hakkas vist lõpuks minust kahju ja nüüd tahtis ta mind aidata. (Kuradi sitapea ikka küll, värdjas.) Ma enam ei tahtnud ta abi, karjusin ta peale, olin täiesti hullunud, mulle oleks suhkruvett vaja olnud. Kuidagi sain omale riided enam-vähem selga, ta üritas minuga kaasa tulla. Täiest kõrist karjusin, et kao minema, ja lõin teda veel jalaga. Ta oli üldse päris ehmunud kogu värgist. Uksest väljudes ütlesin talle veel, et kui suren siis suren. Aa mul oli ikka nii valus, kõige pärast. Kedagi pole, kui kedagi on vaja. Polegi kedagi, tänav on täitsa tühi, ainult külm ja vaikne on. Mina aint oma peas karjusin, olin nagu kasukas tulekera külmas öös, aga vaikus ja külm võtsid mu omaks, hetkeks olin nagu osa sellest ega mäletanudki, et mul üldse käsi on. Kõndides hakkasin ikka kerima: ma pean kogu aeg üksi hakkama saama ja bla bla. Ma ei tea, kuidas ma traumapunkti nii kiirelt kohale jõudsin, ise, tee ei ole nüüd nii pikk, aga ega lühike ka mitte. Meenutasin Riksi, oma naabripoissi. Varem ma ei maininud, et peale selle, et ta paks oli, olid tal punased juuksed ja tedretähnid. Selline kogu aeg nalja täis poiss. Ta juuksed olid alati lühikesed, sest ta onu Oleg oli vist veits mingi kantpea. Ükskord tegi Riks sellise nalja, võttis külmkapist muna (ise algusest peale kogu aeg naeris) ja ütles, et tule. Läksime WC-sse ja siis ta ütles, et vaata nüüd. Hoidis muna oma käes ja siis viskas vetsupotti. Ja see oligi nali. Kui ma sellele tagasi mõtlen ja seda pilti uuesti ette kujutan, siis tõesti on see ju päris lummav – valge muna kaob pimedasse auku (neil oli kuivkäimla). Alati kui nende juures vetsus olin, siis mõtlesin, et seal all kuskil on Riksi visatud muna. Ma arvan, et neid oli rohkem, sest ta ei teinud ju mulle nalja, vaid ta jagas seda, mis talle nalja tegi.
Käsi pandi kipsi (kolmas kips) ja pisarad olid kuivanud, mõni üksik veel jooksis mööda põske alla. Peas oli nagu vaikus, hingamine oli nii nagu ikka pärast nuttu. Vihmasadu ja nutmine on kuidagi seoses omavahel, peale vihma on sama tunne mis peale nutmist, selline nuuksuv selgus. Aga kui palju nutta, siis läheb pea paksuks. Ma ükskord tahaks nutta samal ajal, kui vihma sajab ja lõpetada nutmise koos vihma lõppemisega, see võiks olla midagi suurt – ehk suur rahu vms. Läksin rahulikul kõnnil tagasi Andrese juurde sooja voodisse, mis siis, et üks käsi oli kipsis, aga võtsin ta ikkagi kaissu. Olime vaikuses, ma ainult kuulsin veits pininat ja ta hingamist (ta veits haises ka, mõtles vist, et ma ei tule tagasi ja ei läinud õhtul pesema), tundus, et ma ei hakkagi enam kunagi rääkima, ja ma jäin kohe magama. Ega ma vist ei rääkinudki talle enam ühtegi päris sõna, päris mõtet.
Margit Lohmus
Drei Gipse
Ich war bei Andres. Mies gelaunt vom Saufen drehte er mir wieder einmal den Rücken zu. Er war überhaupt seltsam, sagte kein Wort. Als würde er mich hassen. Als wäre ich an irgendetwas Schuld. Soll ich vielleicht gehen? Möchtest du allein sein? Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir waren noch gar nicht lange zusammen, aber er war schon so in sich gekehrt. Ich schüttelte ihn mit aller Kraft, streichelte ihn, umarmte ihn, drückte meine nackten Brüste an seinen Rücken. Er hatte zwar ein T-Shirt an, aber er musste doch meine steifen Nippel spüren und verstehen, wie sehr ich ihn liebte. Ich küsste ihn und fragte, was denn mit ihm los sei. Ich war überhaupt nicht mies gelaunt, ich wollte einfach nur, dass wir klarkamen und miteinander sprachen. Ich überlegte, ob ich gehen sollte, tigerte dann aber doch nur im dunklen Zimmer auf und ab. Ich lief erst im Zimmer herum und dann in die Küche, dachte, ich laufe so lange, bis ich irgendwo willkürlich zusammenbreche, ohne Angst zu haben. Als lauerten im Dunkeln nicht alle möglichen Tischkanten, Staubsauger und andere Hindernisse. Nun regte sich auch bei Andres Interesse. Ob er sich langsam wieder gefasst hatte oder wütend auf mich war, konnte ich nicht sagen, denn in diesem Augenblick stürzte ich. Und mein Handknochen, mein Handgelenk, brach. Meine linke Hand war früher schon zwei Mal eingegipst gewesen, deshalb brach sie wahrscheinlich so leicht. Ich war im Flur über irgendetwas gestolpert und in die Küche gestürzt. Es hatte bestimmt einen ordentlichen Rumms gegeben. In meinem Kopf drehte sich alles und ich bekam einen Schwächeanfall. Meine Hand tat so weh und mir war übel. Ich musste weinen. Ich ging ins Schlafzimmer zurück und sagte, ich habe mir die Hand gebrochen. Die Tränen liefen mir nur so runter. Er sah sich meine Hand an und meinte, sie sei nicht gebrochen, aber es tat so weh. Ich heulte Rotz und Wasser. Ich hatte geglaubt, er würde mich mit dem Taxi zur Notaufnahme bringen, aber nichts passierte. Ich saß auf dem Fußboden und hatte kein Bargeld, und er hatte auch keins. Ich heulte hysterisch vor lauter Schmerz im Herzen und in der Hand. Und natürlich auch vor Wut, denn Andres liebte mich überhaupt nicht, ich war ihm total egal. Warum musste er alles kaputt machen? Idiot.
Schluchzend rief ich meinen Bruder an. Er schlief, es war Freitagnacht gegen drei oder vier. Mit verschlafener Stimme meldete er sich und sagte, er könne nicht kommen, wahrscheinlich sei doch gar nichts gebrochen und bla bla bla. Er machte alle möglichen Vorschläge. Genau wie damals, vor über zehn Jahren. Es war Winter. Wir hatten im abschüssigen Hof des Nachbarjungen eine kleine Eisbahn angelegt, um zu rodeln. Den ganzen Nachmittag hatten wir eimerweise Wasser rausgeschleppt, damit sich eine Eisschicht bildete, und am Ende konnten wir rodeln. Wir rodelten so, dass ich mir die Hand brach. Im Stehen schlitterten wir den vereisten Hang hinunter, zu dritt, ich ganz vorne, dann mein Bruder und dann der Nachbarjunge Riks, der sehr dick war. Natürlich purzelten wir am Ende alle übereinander, ich war ganz unten, Riks obendrauf und in der Mitte mein Bruder. Die anderen lachten, ich lag eingequetscht da. Ich wimmerte, meine Hand tut weh. Ich musste eine ganze Weile jammern, bis die anderen Notiz von mir nahmen. Ich sagte, meine Hand tut so weh! Mein Bruder sagte, ach was, lasst uns nochmal schlittern. Riks aber meinte mit ernster Miene, er habe so ein Knacken gehört. Ich wollte nach Hause, aber ich konnte nicht über den Zaun klettern, sagte, ich habe mir das Handgelenk gebrochen. Und du, mein großer Bruder, sagtest, das Handgelenk sei erst gebrochen, wenn die Hand schief sei. Du nahmst mich an der schmerzenden Hand und zerrtest mich irgendwie über den Zaun. Drinnen schaute Mutter sich meine Hand an und wir fuhren in die Notaufnahme. Mein erster Gips.
Ich rief Vater an, aber der wollte auch nicht kommen. Er war sauer, dass ich ihm zum Vatertag nur eine SMS geschickt hatte, obwohl er nur ein paar Häuser weiter wohnte (meine Eltern sind geschieden). Sagte, dass ich nur anrufe, wenn ich etwas brauche und bla bla bla. Unter Tränen warf ich ihm vor, dass er selbst nie anruft. Geld gab er mir auch keins. Er half nie, wenn sein eigen Fleisch und Blut am Boden lag, sagte immer nur, reiß’ dich zusammen. Wie damals vor mehr als zehn Jahren, als er mich zum Fernsehgucken rief, Zeichentrickfilme am Sonntagmorgen. Ich lag noch im Bett, aber Trickfilme wollte ich gucken, und so sprang ich mit einem Satz aus dem Bett und rannte, noch in die Decke eingewickelt, ins Wohnzimmer. Die Decke verfing sich zwischen meinen Zehen, ich fiel hin und fing an zu schreien. Mein Handgelenk war gebrochen und die Hand war nun auch schief. Wann immer ich jemandem davon erzähle, sage ich, dass die Decke sich zwischen meinen Zehen verfangen hatte und ich deswegen fiel. Und ich glaubte es selbst. Heute zweifle ich, ob es wirklich so war. Die Decke zwischen den Zehen. Das macht es zu einer witzigen Geschichte. Für mich sind die Zehen schon immer der beste Teil des Körpers gewesen, ich finde sie lustig. Sie sind nicht besonders ernst zu nehmen, und dass die Decke zwischen den Zehen hängen blieb, ist auch nicht besonders ernst zu nehmen. Aber es wird wohl so gewesen sein, wenn ich mich nach mehr als zehn Jahren noch so daran erinnere. Und du, Vater, kamst ruhigen Schrittes und sagtest, nun steh' auf. Im nächsten Moment, das weiß ich noch genau, lag ich unten auf Großmutters altem Sofa, und mein Arm sah aus wie ein schiefes Rohr. Mutter startete Großvaters alten Moskwitsch und wir fuhren in die Notaufnahme. Ich weiß noch, dass sie eine auslandsgrüne Jacke trug und auslandsgrüne Turnschuhe. Die Turnschuhe hatte sie irgendwoher bekommen, wahrscheinlich hatte sie jemand aus dem Ausland mitgebracht. Ich hätte sie selbst gerne getragen, aber sie waren mir zu groß. Das war mein zweiter Gips, auch im Winter. Die Schuhe passten mir übrigens irgendwann, aber dann wollte ich sie nicht mehr tragen, obwohl sie noch gut in Schuss waren, aber sie waren dann einfach nicht mehr so angesagt.
Es tat so weh. Andres hatte wohl irgendwann Mitleid und wollte mir nun doch helfen. (So ein Arschloch aber auch, so ein Mistkerl.) Ich wollte seine Hilfe nicht mehr, schrie ihn an, drehte komplett durch, man hätte mir Zuckerwasser verabreichen müssen. Irgendwie schaffte ich es, mich halbwegs anzuziehen. Er wollte mitkommen. Aus voller Kehle schrie ich ihn an, hau ab, trat ihn. Er war ganz schön erschrocken. Beim Rausgehen sagte ich ihm noch, wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Aua, es tat immer noch so weh, alles. Wenn man mal jemanden braucht, ist niemand da. Es war wirklich niemand da, die Straße war leergefegt, es war nur kalt und still. Nur ich schrie innerlich, war wie eine Feuerkugel im Pelzmantel in der kalten Nacht, aber die Stille und die Kälte nahmen mich völlig ein. Für einen Moment wurde ich ein Teil von ihnen und vergaß sogar, dass ich eine Hand hatte. Während ich lief, zerfloss ich wieder in Selbstmitleid: Immer muss ich alleine zurechtkommen und bla bla bla. Ich weiß gar nicht, wie ich es so schnell in die Notaufnahme schaffte, ganz allein. Der Weg war zwar nicht lang, aber kurz war er auch nicht gerade. Ich musste an Riks, den Nachbarjungen denken. Ich hatte vorher nicht erwähnt, dass er nicht nur dick war, sondern auch rothaarig und voller Sommersprossen. Ein Junge, dem der Schalk im Nacken saß. Er hatte immer kurze, eckig geschnittene Haare, wie die Männer von der Mafia. Ich glaube, das hatte mit seinem Onkel Oleg zu tun. Einmal nahm Riks zum Spaß ein Ei aus dem Kühlschrank (und dabei lachte er schon) und sagte, komm. Wir gingen aufs Klo und er meinte, guck’ mal. Er warf das Ei ins Klo. Das sollte der Witz sein. Wenn ich mir im Nachhinein das Bild vor Augen führe, ist es wirklich faszinierend - das weiße Ei verschwindet im dunklen Loch des Plumpsklos. Immer wenn ich dort auf dem Klo war, musste ich an das Ei da unten denken. Ich glaube, dass dort noch mehr Eier waren, denn er hatte den Spaß ja nicht für mich gemacht, sondern mir nur gezeigt, was er witzig fand.
Die Hand wurde eingegipst (der dritte Gips) und meine Tränen waren getrocknet. Nur ein paar einzelne liefen noch über meine Wangen. In meinem Kopf war es still und ich atmete so wie immer nach dem Weinen. Regen und Weinen sind irgendwie miteinander verbunden. Nach dem Regen fühlt man sich wie nach dem Weinen, so eine schluchzende Klarheit. Aber von zuviel Weinen bekommt man einen dicken Kopf. Irgendwann möchte ich mal weinen, während es regnet und mit dem Regen zusammen aufhören. Das könnte etwas Großes sein, vielleicht eine große Ruhe oder so. Ruhigen Schrittes ging ich zurück zu Andres ins warme Bett. Trotz der eingegipsten Hand umarmte ich ihn. Wir waren beide still, ich hörte nur ein leises Surren und seinen Atem (er stank ein bisschen, dachte wohl, ich käme nicht zurück und hatte sich am Abend nicht gewaschen). Es fühlte sich an, als würde ich nie wieder sprechen und ich schlief sofort ein. Und tatsächlich sprach ich wohl nie wieder ein echtes Wort mit ihm, einen echten Gedanken.
Aus dem Estnischen von Wiebke Bischofberger
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Cornelia Mayer
Neujahr
I.
Ich bin Nacht. Ich bin peitschender Regen, zehrende Kälte.
Ich bin ein windiges Wimmern, das klein und klumpig aus meiner Kehle fließt.
Ich bin ohne Gestern.
Mein Schatten, mein großer, kräftiger Beschützerschatten hält inne. Nur kurz. Seine grobe Hand ist weich und warm auf meiner Wange. Seine Lippen formen irgendetwas, aber der Klang der Worte wird vom Rauschen eines Autos verschluckt. Irgendwo schreit ein Baby. Laut, viel zu laut. Er gibt mir einen zitternden Kuss auf die Wange. Dann gehen wir weiter. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, wird die Dunkelheit einen schmerzend blendenden Moment durchbrochen. Das stört mich kaum, das ist nicht schlimm.
Irgendwann schaut mich das schmale Gesicht meines Bruders nicht mehr von der schützenden Schulter herab an. Ihm sind die Augenlider zugefallen. Sein Kopf wippt auf und ab mit den Schritten unserer Mutter. Kurz wünsche ich mir, mein Vater würde mich auch tragen, mich vergraben in den sandigen Weiten seiner Jacke. Dann erinnere ich mich, dass seine Hand meine wärmt und das reicht mir.
Wir gehen weiter. Wie lang noch, wie lang noch, wie lang wie lang lang lang noch, denke ich nicht. Ich will es nicht denken.
Es ist so dunkel, dass ich meine Füße am Boden nicht mehr sehen kann. Das Gefühl darin habe ich auch verloren, sodass sie nur wie von selbst und ganz flattrig ihren Weg über die bleierne Straße finden. Vielleicht bin ich gar nicht da, wenn ich mich weder sehe noch fühle, denke ich. Aber ich höre mich, in meinem Kopf. Es ist laut.
Ab und zu drückt Vater meine Hand und es ist, als würde er mich, ein schwaches, kleines Blatt auf einem Fluss, damit anpusten. Meine Beine und Arme werden immer leerer, kälter und stumpfer, außer, wenn das kleine Drücken in der linken Hand ein bisschen Wärme verströmt. Ich habe kein Gefühl mehr für Zeit. Bevor ohrenbetäubend pulsierende Erinnerungen meinen Brustkorb enger schnüren können, suche ich fieberhaft nach etwas, an das ich denken kann. Ein paar Verse finden ihren Weg zu mir, Verse, die irgendwann vor all dem Jetzt im warmen Atem meines Vaters in mein Ohr geschlüpft sind.
Meine Manteltaschen sind mein Schrank, / mein Kopf ist eine Sternschnuppe.*
Ich weiß nicht, von wem das Gedicht ist, ich weiß auch nicht, wie es heißt. Ich weiß nur, dass mein Kopf auch brennt wie eine Sternschnuppe. Aber vielleicht bedeutet das auch, dass ich mir etwas wünschen darf.
II.
Ich bin Licht. Ich bin viele Augen, starrende Gesichter.
Ich bin eine Explosion, eine paukend laute, die nicht enden will - aber irgendetwas hat, etwas Zartes, Zerbrechliches, etwas Schönes.
Ich habe ein Morgen.
Meine Finger sind umhüllt von Vaters samtigen Händen. Wie ein Bett, Matratze unten und oben eine Decke. Mein Bruder hält die andere Hand, wendet seinen Kopf unablässig nach links und rechts, nimmt all die Menschen in Augenschein. Es ist Nacht, wieder Nacht. Ich bin so dankbar, sagt meine Mutter immer und immer wieder. So dankbar. Morgens trinken wir jetzt Milch aus einer Packung, deren Aufschrift ich nicht lesen kann. Mein Bruder lacht, wenn ich versuche, die abgedruckten Wörter auszusprechen. Vater kann das inzwischen ganz gut - ansonsten macht er auch nicht viel. "Warten", sagt er, wenn ich frage. Wir warten weiter. Wie lang noch, wie lang noch, wie lang wie lang lang lang noch. Hör auf, das zu denken, murmle ich mir selbst zu. Vielleicht ist Warten unser Leben. Warten ist besser als all das, was unser Gestern zerfressen hat.
Viele sind hier, die nur so alt sind wie ich. Mein Blick wandert durch die Menge, verharrt auf einem rothaarigen Mädchen mit dunklem Schal, der zu groß, zu erwachsen an ihm aussieht. Ein Paar grüner Augen schaut mich einen kleinen, fremden Moment nur an, wendet sich sofort wieder ab.
Mutter und Vater flüstern. Ihre Stimmen klingen flatternd und freudig, obwohl ich sie nicht verstehe. Heute geschieht etwas, das fällt mir jetzt erst wieder ein. Halbherzig summe ich irgendeine Melodie vor mich hin, während sich eine stumme Unruhe in mir ausbreitet. Da streift mich jemand vorne an meiner Jacke und als ich aufblicke, schaut mich ein Lächeln an. Ich lächle auch ein bisschen. Dann verschwinden das warme Gesicht und die buschigen Haare hinter uns in der Masse. Es ist die Frau, die uns schon dreimal gesagt hat, dass wir keine Angst haben müssen. Wie wenn man nach einem Alptraum aufwacht und jemand sagt, alles nur ein böser Traum, nur ein Traum. Dabei meinte sie es irgendwie anders.
Da ist es. Auf einmal, wie aus dem Nichts, erheben alle ihre Stimmen im Einklang. In verschiedenen Sprachen, glaube ich zumindest. Denn die vertrauten, arabischen Worte kann ich auch ausmachen. Sie zählen. Und dann fällt mir ein, worauf wir warten. Mit den ersten Feuerwerksraketen durchschneidet mein Schrei das Dunkel. Ich breche in Tränen aus.
Plötzlich ist die Frau mit dem Lächeln wieder da.
Sie wiederholt ihre Worte auf Englisch wie einen Gesang.
Vater hält beide meiner Hände.
Mein Kopf ist eine Sternschnuppe.
Keine Angst. Das Feuerwerk ist nicht gefährlich.
Du bist in Sicherheit.
Frohes neues Jahr.
Cornelia Mayer
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
* Masri, Monzer: Träumerei (deutsche Übersetzung) aus: Âmâl schâqqa (Harte Hoffnungen) aus dem Zyklus: Gedichte aus der Tasche eines Khakimantels, 1978.
freiTEXT | Michael Wehrmann
Tabak am Bachwasser
Denkst, du bist so schlau, Papa. Stehe am Bach, habe mit feigen Fischen zu tun. Erzählst mir aber vom Tabakgeruch und deinen Tabakdosen. Halte meine Hand ins Bachwasser, sehe Fische drunter wegtreiben. Reicht ein Kieselstein, um Fischschwärme aufzuschrecken. Sind Unterwasserfeiglinge. Dein Geruch erreicht das Bachwasser, Holzgerüche, Minze, einige Harze, denkst, dass du so schlau bist, Papa, wie du alles weißt über Tabakanbau, Tabakgeschichte und Tabakdosen. Erzählst mir das alles, höre nicht hin, habe versucht, Schmetterlinge auf die Fische anzusetzen. Sehen fliegend aus wie deine Tabakdosen, wenn sie sich in der Luft auf- und zuklappen würden. Finde, die hören sich gefährlich an: Schmetterling. Hör‘ mal kurz zu, Papa, ist mir aufgefallen, dass die Bachwasseroberfläche sich bewegt. Können nicht drauf navigieren, diese Schmetterlinge, diese Schmetterdosen. Wurde mir klar, dass ich Libellen wegen der Fische anheuern muss. Sehen fliegend wie in der Luft stehende, eingefrorene Silberplättchen aus. Hören sich gefährlicher an: Li-bellen. Jetzt weht wieder dieser Geruch von hundert Hölzern, hundert Welten, am Bach, dort, wo ich stehe und ich assoziiere gerösteten Kakao. Bist ja so schlau, Papa, wie du alles weißt über Tabakwürze. Libellen heben jetzt ab. Fliegen in voller Flughöhe bewegungslos über dem Bach. Bleiben so, mitten in der Luft. Jetzt aggressiver Selbstmordsturzflug auf das Bachwasser hinunter, durchbrechen die Bachwasseroberflächen wie geworfene Speere. Dort, wo Libellen ins Bachwasser einbrechen, ragt ein Wasserspeer in die Luft, um sofort wieder in sich zusammenzufallen. Hast es nicht gesehen, Papa, hast erzählt und erzählt. Siehst auch nicht, wie ich jetzt Tabak ins Bachwasser treiben lasse. Werde die Libellen in den Tabakdosen bestatten.
Michael Wehrmann
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Thordis Wolf
track I – III
3d hast du gesagt. wir sind bei a, b, c vorbeigelaufen, an dem alten mann mit dem sabbernden hund und dachten: das nächste haus muss es sein. die kleinstädeplanerin hat sich wohl einen scherz mit uns erlaubt und das alphabet einfach umgestellt. das wissen wir noch nicht und läuten bei tür nummer 44. hinter den restlichen klingelquadraten in schwarz-feinripp: namen. gut leserlich, weil: indirekt beleuchtet, einheitliches schriftbild. korrekte beschriftung ist die halbe miete wert, hat sich da wohl jemand gedacht und trotzdem etwas übersehen: 44 namenlos, also: winzige lamellen unter meiner fingerspitze. sandra sagt: sicher wegen den bullen kein name dran. oder wegen der gis: sage ich und läute gleich nochmal. du hörst bestimmt nichts, die anderen sind laut. kaltschnäuzig will der alte mann mit dem hund jetzt wissen: was habt ihr hier zu suchen? jedes recht: sagt sandra unerschrocken. das reicht dem alten. er zieht davon und seinen vierbeiner hinter sich her, schnauze am boden. unheimlich: sagt sandra als ich bemerke: e statt d. die städteplanerin lacht sich ins fäustchen (verschluck dich nicht!) und wir schleichen um die ecke zum nächsten quader. das licht geht an, wir stehen richtig. d gleicht e, wie ein ei dem anderen. nur, dass neben den viereckigen klingelknöpfen andere namen stehen. nikolai grönwald. klingt ernst, aber: es bist du und ich: klingle. ich kann es selbst nicht glauben, ich gestehe: ich wusste nichts von deinem namen. du heißt uns trotzdem willkommen. der türöffner summt länger als nötig. draußen sieht der sabbernde hund, wie unsere schatten hinter milchglas ins innere von 3d verschwinden.
was hast du denn gedacht, wie er heißt? fragt mich sandra, als wir im lift unsere augen gegen das grelle fahrstuhllicht zusammenkneifen. vergiss es: sage ich und dann öffnest du die tür.
es riecht nach gras. (du würdest »ganja« sagen.) und vanillekipferln. kipferl ist ein hässliches wort. ich wünschte, es gäbe ein anderes dafür. vanillehörnchen vielleicht? beschissen, dennoch: already taken. bourbon-halbmonde: könnte funktionieren. später finde ich heraus: christmas scented candles, very seasonable. nicht winterliche musik als ausgleich: reggae, zeitlos. obwohl: du bist ein sommerkind. seit ich dich kenne, stehst du auf reggae. auf reggae und annika, die eigentlich mit nur einem n geschrieben wird und die jetzt mit dani zusammen ist. vor einigen jahren mal... da wart ihr beide ein paar, du und annika. ihr wart wie nimm2: leuchtend, nur nicht: gelb & orange. noch übrig aus dieser zeit sind: zwei falsch geschriebene namen in meinen kontakten und die couch, auf der wir jetzt sitzen. let’s get together and feel alright: trällert bob marley seine 1 liebe im hintergrund und sandra vor sich hin.
du kommst aus der küche auf uns zu: ins wohnzimmer. küche und wohnzimmer sind ein und derselbe raum. you move with purpose. (sonst wäre dein zugang nicht zu erkennen.) du bietest uns kuchen auf alufolie an. niemand hat geburtstag. sandra hört auf zu singen, nimmt sich ein stück und fragt mich: fährst du? aus der bisher unerwähnt gebliebenen runde sagt jemand: ich kann fahren, wirklich. du reichst mir eine gabel, ich lehne ab. lieber ess ich mit den händen. nusssplitter fallen aus dem schokoladenteig. ich denke an wolken und das schlaraffenland.
niemand rührt hier das besteck an. es bleibt: abandoned, am tisch liegen. während: ich, ungeübt in full lotus, auf die couch krümmle. mir wird schwindlig, i almost faint. but then: just light-headedness und: es geht gleich wieder. sorry: sage ich, ganz ehrlich. du lachst, kurz und laut. dann sagst du: macht nichts und nur annika weiß, warum, doch nichts von alledem: sie schläft schon lang. das bett ruft: sagst du und meinst damit eigentlich deine arbeit morgen. wir gehen, umarmungen zum abschied. du bläst die duftkerzen aus, während wir ins auto steigen. sandra und ich sitzen hinten. die rückbank ist kalt, auf den scheiben: frostkristalle. jemand schlägt vor: enteisen. mir gefallen die eisblumen. ich will, dass sie bleiben. das bringt unglück: behaupte ich und wir fahren los, lassen 3d hinter uns und den frost auf den scheiben liegen. was geht in dir vor: frage ich den schwarzen samthimmel und rechne nicht mit einer antwort. doch dann: ein scharfer schnitt, der beinah blutig endet. ich pralle mit der stirn gegen die kopfstütze des vordersitzes. ein erdbeben peitscht durch meinen körper. magnitude, magnitude, Magnitude, plötzlich hell: Magnitudo, ich sehe sterne. dann: stillstand, abrupt. ich hör die andern atmen. weiße wolken steigen auf. eine straßenlaterne wirft sich vor das erschütterte schwarz, licht fällt auf den intruder, mit dem wir beinah kollidiert wären. i see: he’s marked: LOVE 1. black velvet: denke ich und weiß: das war knapp. wer bekennt sich so offen zur liebe: frage ich sandra. du weißt aber auch gar nichts: antwortet sie und lässt ihre fingerknöchel knacken. vorne: shift to first gear, almost simultaneously. schon sind wir zurück: auf kurs.
Thordis Wolf
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Nils Langhans
Lichtschutzfaktor
Das Gästehaus lag einige Passstraßen oberhalb der Cinque Terre. Von meinem Zimmerfenster aus sah ich über die Hügelketten. In der Dämmerung verschwammen die Gipfel mit der steingrauen Wolkendecke zu einem bedrohlichen Klotz, der düster über der Welt thronte und mich grimmig anstarrte. Ich starrte zurück. Nichts regte sich. Das einzige Geräusch, das sich der vollkommenen Stille widersetzte, war der Gesang einiger männlicher Ammern. Ich war mir zumindest sehr sicher, dass es Ammern waren, und dachte darüber nach, wie praktisch es wäre, wenn es ein Shazam für Vogelstimmen gäbe. Über den Gedanken schlief ich kurze Zeit später ein.
Am nächsten Morgen klopfte Francesco an meiner Zimmertür und weckte mich sehr freundlich. Wir würden in einer halben Stunde losfahren, sagte er durch den Türspalt.
Zum Frühstück aß ich einen Apfel. Francesco hatte ihn sicher am Morgen von den pensionseigenen Apfelbäumen gepflückt, war auf eine klapprige, dreistufige Holzleiter gestiegen, hatte den Baum gerüttelt, die Äpfel waren zu Boden gefallen und es ward Frühstück. Ich hätte seinen Namen stundenlang aufsagen können. Francesco, Francesco, Francesco, so sonor wie ein Eichendorff-Gedicht, immer Francesco. Wäre er Deutscher und sie hätten ihn Franz genannt, ungläubig staunend hätte die Standesbeamtin seinen Vater angeschaut, ob er noch bei Trost sei, ein Kind Franz zu nennen, und das in den Achtzigern. Franz wie Strauß, wie Beckenbauer, wie antiquiert das klänge, ein Kind Franz nennen, nein, bitte, vielleicht im Zweitnamen, aber als Rufname wäre Franz eine Bürde - so würde sie reagieren als pflichtbewusste Beamtin, die sich dem paternalistischen Staat verpflichtet sah, der denen, die noch nicht ihrer Handlungen eigener Puppenspieler sein konnten, den Weg ins Gute wies. Franz, Franz, Franz. Man könnte es niemals vor sich hin summen oder gar singen. Man könnte es bloß salutieren. Franz Göring, jawohl, zu Befehl. Die Härte der deutschen Sprache war der wachste Erinnerungsruf, der einen jeden mit jedem Wort der Verbrechen mahnte, die von deutschem Boden ausgegangen waren. Die Härte des Deutschen machte zu allem fähig.
Wir fuhren in einem Fiat Skudo etwa zwanzig Minuten bergab, bogen uns um windschiefe Kurven, links, rechts, links, die Wipfel der Korkeichen schwangen erhaben im Rhythmus unseres 4-Zylinders, Francesco fuhr mit einer Hand am Steuer und ich studierte auf dem Beifahrersitz einen Bericht des Merian über den ökologischen Landbau in Ligurien. Die Sonne schien. Ich wühlte in meiner Strandtasche nach einer Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 25, denn die Septembersonne fräste sich nicht mehr so hemmungslos durch die Hautschichten wie die Augustsonne. Lichtschutzfaktor 25 würde ausreichen.
Francesco hielt an am Ortseingang von Riomaggiore und wünschte mir einen schönen Tag. Im Autoradio lief der Refrain von Grenade und ich dachte darüber nach, ob Bruno Mars wohl am Morgen seine Wimpern zupfte. Francesco fuhr weg und hupte zwei mal, während sich neben mir ein Mittvierziger in cargobrauner Dreiviertelhose beherzt mit der flachen Hand in die Arschritze griff, der Vertikalen entlang einige Sekunden hin und her rieb, schließlich anstandshalber flüchtig über die Schulter schaute und dann unbehelligt weiter ging.
Das eigentliche Riomaggiore erreichte man von der Stelle, an der Francesco mich abgesetzt hatte, durch eine Unterführung, die genauso gut zwei Bahngleise eines Provinzbahnhofs hätte verbinden können. Sie war eine denkbar schlechte Vorbereitung auf die Explosion, die sich – just da man aus dem Tunnel ins Licht ging – auf diesen paar winzigen Quadratmetern auftat. Mich überfiel ein Farbschauer, ein Zittern, die sorgfältig abgeblätterten Pastelltöne, das Preußenblaue Meer, einige Fischerboote, die Frauen beinahe versengt, Espresso auf Beistelltischen. Es war Zusatzversion der Realität, als würde man ein frühes Bild von Bernardo Bellotto auf LSD anschauen. Die Schönheit hier war kaum auszuhalten.
Ich stieg linkswärts der Bucht eine Treppe hoch, glaubte einen alten Schulkameraden im Gegenverkehr zu erkennen, traute mich aber nicht ihn anzusprechen, ging weiter, setzte mich auf die mit roten Ziegeln überzogene Mauer auf der Anhöhe und betrachtete einige Männer, die von den Felsblöcken ins Meer sprangen und wie junge Delfine im Wasser tollten. Ich zitterte noch immer. Die Sonne stand irgendwo im Westen. Am Nebentisch bat ein ergrauter Mann mit dunkelblauem Gaastra Polo die Kellnerin in perfektem Deutsch um die Rechnung.
Ich versuchte die Bucht von Riomaggiore auszuhalten, aber die Kulisse war zu perfekt, eine Superrealität, zu fein gearbeitet war, zu detailreich und zu gleißend. Ich ging die Stufen wieder hinab und bog in die Unterführung - erst jetzt fiel mir der bröckelnde Spritzputz auf, der sich an der Decke durch das Tropfwasser des Bergmassivs über Jahre in einen algigen Camouflagematsch gewandelt hatte.
Ein Zug fuhr in den Bahnhof von Riomaggiore ein. Die Klimaanlage sog die Menschen vom Bahnsteig in den Innenraum, sie würde sie wenige Minuten später in Monterosso wieder ausspucken, frierend und schlimm erkältet. Ach wer da mitreisen könnte in der prächtigen Sommernacht. Eichendorff konnte es ja nicht besser wissen. Damals gab es noch keine Klimaanlagen und keine Linoleumfußböden. Zum Glück musste er all das nicht mehr miterleben. Die Ästhetik der Moderne war ein einziger Irrtum.
Ich stieg in ein Taxi, ließ mich zu meiner Unterkunft fahren, packte eilig meinen Koffer, Francesco war nicht anzutreffen, ich stieg ins Auto und fuhr weiter Richtung Süden.
Nils Langhans
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at