7 | Tom Tautorus
Wenn life…
Die Erinnerung kam an einem Tag, an dem ich ein neues Tagebuch begann. Als Erinnerung an die Unmöglichkeit einer clean slate, einer blank page, einer Tabula Rasa, breitete sie sich aus. Mit ihr kam die Angst und das manische Bestreben, das Weiß zu füllen, das zuzuschütten, zu übermalen und zuzukleben, was das Weiß nicht gut verbergen konnte. Manches blutet durch.
Erster Tag. Gelb-Grüner Tag.
[Verhangenes]
Così affettuoso, delicato, caro, egli era / So zärtlich, sanft und liebenswert, hatte er
riuscito ad avvolgersi davanti ai miei / es geschafft, sich vor meinen Augen in einen
occhi di un velo di innocenza così / so dichten Schleier der Unschuld zu hüllen, dass
fitta che mai avrei osato turbarlo. / ich es nie gewagt hätte, diesen zu zerstören. [1]
[Vergangenes]
Ich erinnere mich nicht daran, wie ich gebetet hatte, es möge weggehen, als du nicht genug Unschuld in mir sahst, um mich in Frieden zu lassen. Als ich nicht genug Unschuld hatte. Als dir offenbar wurde, dass meine Unschuld nur aufgemalt war, als das Wasser, voll Chlor und Kinderpisse sie abwusch. Vielleicht war ein Teil der Pisse meine eigene.
[Vergehen]
Der durch Memes überlieferte nicht unwahre Internetmythos über den Grönlandhai
(oder Pee Shark) besagt, dass sein Körper voller Urin ist. Damit ist der Hai giftig
und wird mehrere hundert Jahre alt. Dennoch haben die Isländer*innen, ergo Wikinger,
ergo starke Männer, eine Methode entwickelt ihn zuzubereiten und zu verspeisen.
[Vergeben]
Du schaust über die Kiesgrube hinweg, in der wir baden, und hast mehr Gedanken als wir alle zusammen. Du schaust den Rücken von einem der anderen Bauernjungen an. Einem der älteren, der schon eine Freundin hat, der seinem Vater auf dem Feld hilft und denkst, so ein starker Rücken. Es muss toll sein, seinen Kopf darauf abzulegen und ich frage mich, warum ich nicht so einen starken Rücken habe und merke nicht, dass du auch nicht so einen starken Rücken hast. Du schleppst deine Alibibücher mit, die dir helfen, an nackte Bauernjungen Flügel und Heiligenscheine zu malen und wenn du sie für Freunde hältst auch Teufelshörner, während sie nur einen Teufel kennen und das ist Hitler.
Ich laufe durch den Rosengarten und weine. Hier sind viele Menschen, die weinen, hinter jeder Rose einer und die Dornen der Rosen schmerzen mehr als deine Poesie und Sünde ist nicht nur ein Wort so wie „Freundschaft“ es für dich ist. Also reißen wir uns die Finger an den Rosenkränzen auf, zu denen du uns verdammst, und schlafen auch nach der Hochzeitnacht noch manchmal mit einer Frau.
Ich versuche zu erzählen, was ich heute gemacht habe und merke, dass ich als ich in dieser Erzählung eigentlich keine Stimme und keine Erlebnisse habe, wenn ich nicht du sage, als sei schwule Literatur der 40er Jahre auch nicht die Lösung, also gehe ich weiter und suche mir das nächste Arschloch.
getippt in die Handynotizen
Zweiter Tag. Kirschroter (cherry lips) Tag.
1. Ich esse einen Eisbergsalat. Blatt für Blatt. Über der Spüle. Auf dem Kopf, um der Unordnung Herr zu werden, ein Piratenkopftuch. Ich google deinen Namen. Ein Schritt, den ich immer für falsch und peinlich hielt, bis meine Therapeutin mir dazu geraten hat. Ich finde Artikel irgendeiner Regionalzeitung. Du leitest jetzt einen Jugendtreff, organisierst Sachen. Ob die Kinder wissen, dass ich nicht älter war als sie, als du dich hast verführen lassen? Ich scrolle nach unten. Kontakt.
2. Ich trage kirschroten Lippenstift, eine schwarze Kapuze. Will ich dich zu Fall bringen? Lokalprominenz in einer Stadt werden, in der ich noch nie war? Kamerablitze, die aus allen Ecken leuchten. Gerichtsprozesse, in denen du dir eine Akte vors Gesicht hältst. Genugtuung mittelbraun vertäfelt, wenn ich mich nur entschließen würde. Doch jetzt stehe ich noch in der schwach beleuchteten Küche. Ich reiße ein Blatt des Eisbergsalates nach dem anderen heraus. Ich ficke dich. Ich ficke dich nicht. Ich ficke dich. Ich ficke dich nicht. Natürlich nur metaphorisch.
3. Meine Augen sind verbunden. Ich muss abwägen. Szenario A. Ich sage nichts, ziehe mich aus der Verantwortung. Szenario B. Ich stelle dich und mache den Zeitungsleser*innen Angst vor schwulen Kinderfickern.
4. Ich bin dir böse. Wärest du schöner, berühmter, mächtiger; würde sich das ganze Drama nicht nur auf der Onlineseite einer unbedeutenden Lokalzeitung abspielen. Es gäbe Abgründe, Fallhöhe. Es gäbe öffentliches Interesse. Es gäbe irgendetwas. So gibt es nur jemanden, der im Dunkeln Salat über einer Spüle ist. Duschen sollte er auch einmal.
5. Meine Eifersucht auf Lolita-.
5.-10. Liebes Tagebuch,
heute habe ich diesen Text geschrieben. Danach habe ich mich übergeben.
Das hier ist so schlecht und ich kann es doch nicht lassen, noch mehr daran zu schreiben. Als könne man es irgendwie retten. Ich habe extra Kerzen angezündet.
Light of my life. Fire of my loins. [2]
Wenn man genauer hinhört sind ein großer Teil der Songtexte von Lana del Rey nicht kenntlich gemachte Zitate aus Lolita. Was macht diese Geschichte zum Mythos unserer Jugend?
Ich kehre zurück in meinen Handybildschirm. Ich erkenne deine Hässlichkeit und ich sah, dass es
gut war.
getippt in die Handynotizen
Ich mag es, wenn in Pornos nach dem Sex beide Darsteller über ihre Erfahrung, ihre liebsten und unangenehmsten Momente des Drehs sprechen. Gerne würde ich mir Compilations nur von diesen postkoitalen Gesprächen ansehen.
getippt in die Handynotizen
Vierter Tag. Hellblauer Tag.
Meine schmalen weißen Handgelenke.
Meine schmalen weißen Handgelenke lassen dich glauben.
Meine schmalen weißen Handgelenke lassen dich glauben, dass…
Die Popmusik [3] hat unrecht, wenn sie sagt, der*die unglücklich Liebende wäre eingesperrt, festgehalten, müsse frei gelassen werden. Er*sie*ich lässt*lasse nicht los. Ich schmiede dich ein, will dich starr machen, damit ich weich sein darf, dich einhüllen kann ohne Kontamination, doch du zerspringst in tausend klebrige Stücke.
Something in her demanded victimization and terror, so she corrupted my dreams,
led me into dark places, I had no wish to explore. It was no longer clear to me which of
us was the victim. Perhaps we were victims of one another [4]
Bullshit!
In historischen Weltuntergangsszenarien friert die Welt zumeist ein. Zu viele Rußpartikel in der Atmosphäre lassen nicht genug Sonnenstrahlen durch und die Welt erkaltet. Meine schmalen weißen Handgelenke, mein silbernes Haar.
The cold has never bothered me anyway. [5] Ich weiß nicht, mit der Erderwärmung umzugehen. Sie ist unästhetisch. Alles zerläuft. Meine Poren weiten sich und meine Ausdünstungen und Körperflüssigkeiten verschwimmen mit denen anderer Menschen, sodass wir beginnen sollten, Abstände und das Bedecken von Körperöffnungen neu zu regeln. Es gibt keine Machtfrage mehr. Kein Opfer. Keinen Täter. Kein Who’s screwing who?6 Denn wir verlieren unsere körperlichen Grenzen. Das Patriarchat fickt uns alle und eine Natur, die weiblich ist. Brauche ich Narration, um diesen Punkt zu machen? Figuren, Orte, Handlung? Vielleicht kann ich euch ein wenig Schweiß senden.
geschrieben ins Tagebuch
[1] Pier Paolo Pasolini in Amado Mio preceduto da Atti Impuri.
[2] Lana del Rey: Off to the Races
[3] Vgl. Kim Wilde: You keep me hanging on und Miley Cyrus: Prisoner (feat. Dua Lipa)
[4] „Bullshit!“ würde ich schreien, wenn du so etwas sagen würdest. Jetzt schreibe ich es ab. Anna Kavan in
Ice.
[5] Elsa in Frozen: Let it go
[6] Janelle Monáe: Screwed (feat. Zoë Kravitz)
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Tom Tautorus
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5 | Sofie Morin
Erster Advent
Der Advent ist unser Refugium. Die kerzenwarmen Grüße hat selbst das Löschpapier nicht verhärmt. Die Karten baumelnd an der Leine über dem Kamin, rotbebändert wie verknotete Zuversicht. Gesammelte Trophäen der Mitmenschlichkeit, saugen sie sich voll mit mistelumkränzten Blicken. Wie tief die Hoffnungen auch hängen mögen, wachsende Vorratshaltung der Wünsche. Sie gehen uns nie aus.
In der Küche wohnt das Leben selbst. Mutters Teig beatmet unsere Sehnsucht. Ihre Zuneigung flüssiges Metall. Insgeheim schlinge ich die Kekse noch warm hinunter. So gehen sie in mir auf wie kein Same je, und mein Körper wird zur Stadt. Ähnlich der, die unweit im Tal flackert. Uns lockt sie nicht. Wir bleiben im Territorium unserer Weiblichkeit.
Großmutter klopft ans Fenster und hat heute den Schnee dabei, den der Wolf sich aus dem Fell geschüttelt hat. Lässt ihn unterm Gejohle der Schwestern zu unseren Füßen auf den Küchenboden rieseln. Ein tiefes Gurren aus nahenden Raunächten kommt mit ihm ins Haus.
Ihr leichtes Gepäck hat sie dabei nicht verraten, sie trug die alte Mär gewandt in der Kraxn. Auf dem Steingut schmelzen die Schneekristalle passend zum Aggregatszustand meiner Sinne. Kein Geruch enthüllt die wilde Natur. Ich sehe mich um und bemerke keine Veränderung. Mutter wischt den See mit ihrer Nachsicht auf. Dieses Augenzwinkern haben wir an ihr noch nie gesehen. Gewiss hat sie im Fell der Nacht die Habergeiß gewittert.
Im oberen Stock die Tante in emsiger Bettstatt zugange. Wir hören sie gut und singen altbekannte Lieder darüber hinweg. Kein Mann habe ihre Lust entstellt. Und uns hat die Mutter vor den Perchten gewarnt!
Um den Küchentisch scharen wir Stoßgebete wie Kinderreime, während das Verlangen unaufhaltsam in uns tropft. Übers Stiegengeländer flocken Sporen der Leidenschaft zu uns herunter, vermischen sich schlierig mit dem Duft aus Großmutters Kaffeemühle. So unschuldig wie möglich sehen wir uns um, ob alles beim Alten geblieben wäre.
Zwiebelmuster aufs Porzellan gemalt und das Begehren an die Wand. Wir lösen einander das Haar. Der Zirbenkranz in der Tischmitte flicht unser Wissen zu einem einzigen Zopf. Lodernd
brennt darauf die erste Kerze.
Zweiter Advent
Tagesanbruch. Wir benennen nicht, was aus den Wäldern steigt. Wie Nebel, die Reste des vorangegangenen Tages und die Hütten halten darunter die Luft an. Aus unserem Schornstein aber steigt Rauch, dessen Schatten uns der Mond auf die Schneedecke legt. Zögerlich hebt sich die Nacht vom ermatteten Firn. Tief die Spuren johlender Schritte darin. Ihr Kettengerassel klingt uns noch in den Ohren, das schwere Klopfen an die Holztür, vom Verlangen, das Einlass begehrt. Glücklich haben die sorgsam geflochtenen Zöpfe uns davor nicht bewahrt.
Wir Schwestern wollen alles sehen. Sowie wir unsere Nasen an die Scheiben pressen, schmelzen die Eiskristalle. Draußen lichten sich unsere Sehnsüchte über dem Tal.
Dunstschwaden ziehen am alten Flusslauf entlang. Erinnerungsfetzen der Geschöpfe, die mit uns leben. Jäh ruft der Eichelhäher, wenn unsere Blicke die Baumgrenze überschreiten. Der Föhnwind hat die Perchten über die Bergrücken getrieben, heute kommt der Nikolo. Ich will über die Alm sehen, bis dahin, wo ich jüngst Haselruten geschnitten, ihr Mark mit meinem Monatsblut gefüllt. Zwischen Wurzelwerk ersteht die Stiefmutter aus Alraunen auf. Ihr Rauchwerk ist handverlesen. Sie betont jedes Wort wie ihr letztes: Alles, was uns wahrhaft gehört, ist geborgt von einem höheren Stern.
Das Mühlrad am Haus dreht sich und dreht uns. Ein leiser Windhauch durch Fensterritzen lässt uns wissen, worin wir geborgen sind. Du irrst dich, klagt die Schwester, nicht Mutterns
Nachsicht war es, ich habe den Schnee vom Küchenboden aufgeleckt!
Horch, Stiegenholzknarren. Herab steigt die Tante in neuem Gewand. Kein Ring an ihrem Finger weist sie aus. Staunend befühlen wir das niegekannte Stickwerk auf ihrer Walkjacke. Fäden aus vielen Jahren gesponnen. Voll Zuversicht bürstet sie sich die Vergangenheit aus dem Haar. Alles Brauchtum ist sinnlich, sagt sie. Wie auf ein Stichwort unter der Hörschwelle holt die Mutter das Kletzenbrot aus dem Ofen. Ob wir rauskönnen, fragen wir, nun, da die Nächte nicht mehr rau sind. Mutter und Tante sehen sich an und brechen in unbändiges Gelächter aus, das die Stube durchsprüht. Wie Wunderkerzen, flüstert die Jüngste und klatscht in die Hände. Ich verstehe den Mond nicht mehr, sagt die andere und schnäuzt sich in ihre Schürze. Wir Schwestern haben uns allzu lange nicht an den Händen gehalten, denke ich und tue es beidseits. Die Hoffnung reicht bis zum Esstisch. Und als läge uns nichts näher, zünden wir darauf die zweite Kerze an.
Dritter Advent
Das Feuer im Ofen ist fast heruntergebrannt. In den welligen Scheiben der Holzveranda brandet das Morgenrot. Tunkt das Haus in einen neuen Tag, noch bevor es verlischt. Ich lege drei Scheite nach, für jede Generation eines. Du hast die Urli vergessen, schimpft meine Schwester, und ich blase beschämt in die Glut. Zahllose Ahninnen, so viele Scheite hast du nicht, sagt die Großmutter und ihre Stimme war nie heller. Unter ihren kundigen Handgriffen wacht die Küche auf. Die Teekanne wiegt beinahe nichts. Nicht in ihren Händen, die einst Tag um Tag Gewänder über die Wäschehobel geschrubbt, weitab des Flussbetts.
Die Sonnenwende naht und der Schnee ist vor der Zeit getaut. Mir gefällt nicht alles, was darunter zum Vorschein kommt, doch ich weine ihm nicht nach. Großmutter kleidet sich in die Farben des Waldes. Eines Tages wird sie nicht zurückkommen. Wimpernumrandet ihr letzter Gruß und ihre Sanftmut bleibt. Käferbrut wird sich von uns nähren, lacht sie unlängst.
Meine Schwester meint, ihre Bluse müsse wohl sauber geworden sein. Atemwolken begleiten sie in die Waschküche. Ihre Herzhaut weicht nicht zurück. Sie trägt meine Bewunderung wie eine Zierde zum Festtag. Ich atme tief durch und gehe hinaus, Feuerholz holen, bevor der Stoß kippt. Kein Knirschen mehr unter den Schuhen. Die Erde ist scheinbar wieder näher gerückt. Stein und Stein schichte ich auf den bemoosten Baumstumpf. Opfergaben an die Treulosigkeit meiner Trauer. Darunter liegt das Tier begraben. Unser Streit darum ist beigelegt. Die Nachsicht hat der Mutter eine Kette um den Nacken gelegt, die alles andere ist als ein Hundehalsband. Der Großmutter hätte das Funkeln gefallen. Gib es nur immer weiter, sagt die Mutter und streicht der Ältesten übers Haar. Die Entbehrungen des Jahres sind über den Blutmond vergessen. Noch ein Viertel, sagt die Mutter. Und wir sehen zu, wie der Germteig beim Ofen aufgeht, wo die Katze am liebsten liegt. Wir haben genug, sagt sie und schlägt den Striezel ins Tuch. Im Tal raufen die Buben um den Sterz, weiß sie und wir mit ihr: Entfesselte Kräfte rauben unseren Mut nicht! Morgen zieht sie ihre Schuhbänder fest.
Der Bach, sonst ein Rinnsal, ist von der Schneeschmelze angeschwollen. Die Holzschaufeln des Mühlrads trinken sich gurgelnd satt und die Jüngste schlürft auf Mutters Schoß Zuversicht aus ihrem Becher. Ich schließe die Holztür mit dem Winterwind hinter mir. Ein Luftzug, der wie meine Großmutter heißt, ist mit mir gekommen und hat einen Docht ausgeblasen. Nicht die erste Kerze, nicht die dritte, frisch angezündete. Die zweite ist es. Die Zeit tut, als wäre nichts geschehen – bald schon, bald! – und lässt uns lichter auflodern.
Vierter Advent
Das ist die letzte lange Nacht. Wir alle vollziehen die uns verbliebenen Rituale der Dunkelheit. Atemluft zwischen Handflächen gewärmt, schüren wir eine Glut, die sich tags vor uns verbergen mag, winden Bänder um entflohene Mythen. Auf dem Fensterbrett die Stille in Milchschalen gegossen, die letzte Anrufung, um die wir sicher wissen. Wenn auch die Großmutter gegangen sein wird, so bleiben wir ruchbar im Schwesternuniversum. Und jede unserer Gesten sei angetan, die Wiederkehr der erstarkenden Sonne zu bezeugen.
Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Lockend ziehen Schwaden neuen Glücks dicht an der Hauswand vorbei. Nichts hat uns darauf vorbereitet. Vogelpaare streiten in der Dämmerung lautstark um den Nachwuchs, der ausbleibt. Wartet noch, wartet, will ich sie trösten, die lichte Zeit kommt bald zurück! Sie glauben nicht mir, sondern allein der Witterung der Zeit selbst. Ahnen nicht, dass mich nichts sonst derart verwirrt, wie ihr steter Verlauf.
Was wissen wir schon? Meist sehen wir die Welt durch unser Fenster, schicken unseren Blick hinaus, tags mehr als nachts. Aus Scheiben, das Werk alter Hände, spiegelnd aus Quarzsand getaucht. Heften Zwirnfäden an unsere Bestimmung, verlassen uns auf die Saligen. Dass sie von den Gletschern herabsteigen, uns innewohnen, sobald die Welt aus dem Nebel fällt.
Ich wage einen Schritt vor die Tür. Jetzt ist da ein Glitzern von tanzenden Schneeflocken rund um mich. Tränen kristallisieren auf meinen Wangen. Ich gehe bis zur Grenze. Dort treffe ich sie. Sie bietet mir Obst an, das ich zunächst nicht annehmen will. Einen glasierten Apfel, glänzend und ahnungsvoll süß knackend. Sie lacht, beißt selbst hinein. Die Apfelhaut rotglühend in ihrem Mund wie das Schwesternzahnfleisch. Sie bückt sich, die Haare fallen ihr über die Schultern nach vorn, ich glaube es sind meine, formt mit bloßen Händen aus der Erde neues Leben. Reicht es mir. Das und die Bitte, es unterm Gaumendach zu verwahren.
Zurück in der Stube sehe ich meine Schwestern verändert an. Die Mutter birgt ihr Gesicht in Kinderhaut weich. Am Tisch ist mein Platz frei. Die Karten liegen über ihn verstreut, wie kleine Zündflammen, schmelzen die Schatten der Schriftzeichen, über Jahre ins Holz gekerbt. Ihr Abdruck ist weithin nahbar. Wir wissen, was diese Umarmung bedeutet und behängen die Äste. Das Christkind zählt drei Tage von der Sonnenwende hinauf. Verlässliches Uhrwerk meiner Geborgenheit. Die baumelnden Schokokugeln in weißes Fransenpapier geschlagen, sind ihre Zahnräder. Vier Kerzen zitieren uns die Himmelsrichtungen. Morgen gleichen sich Tag und Nacht. Die Feuer werden die Hänge hell erleuchten. Alles hat uns darauf vorbereitet.
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Sofie Morin
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3 | Angela Ahlborn
Spurensuche
Jost atmet tief durch. Jetzt nur nichts sagen, es hat keinen Sinn, es würde die Situation nur verschlimmern. Er meidet den Blick seiner Mutter; zu oft hat er sie in dieser resignierten Abwehrhaltung gesehen, tapfer ausharrend, mit Tränen in den Augen. Die Stimme seines Vaters schwillt an, jedes ausgespieene Wort ist ein Treffer. Wo lauert die unbändige Wut, die unberechenbar wie aus dem Nichts immer wieder aufflackert? Hatte sie stets in seinem Vater gebrodelt, nur gedeckelt und gut versteckt? Die Wesensveränderung sei der Krankheit geschuldet, beteuern die Ärzte. Jost will das glauben, bei jedem einzelnen Zornesausbruch seines Vaters gibt er sich größte Mühe.
Ihn quält wie so häufig die Frage, ob man hätte achtsamer sein müssen. Als sein Vater begann zu verschwinden, hatte es kaum jemand bemerkt, im Rückblick erscheinen ihm die Vorboten schmerzhaft deutlich. Vor Jahren schon verstand sein Vater bei einem Weihnachtsfestessen den bei solchen Gelegenheiten ständig erzählten Familienwitz nicht mehr. Mit merkwürdig großen Augen erklärte er Josts Schwester, ihn noch nie gehört zu haben. Er sorgte mit dieser Aussage für ein kurzes erschrecktes Innehalten der fröhlichen Gesellschaft. Josts Mutter lachte die Beklommenheit weg. Einige Wochen später fand Jost beschmutzte Unterwäsche seines Vaters, versteckt an den unmöglichsten Stellen. Seine Mutter schmunzelte auch darüber und riet ihm, sich nicht zu sorgen, der Vater sei nun auch nicht mehr der Jüngste, da passiere so etwas und es sei ihm sicherlich peinlich.
Mit den Jahren ließ das Lachen in Josts Elternhaus nach. Sämtliche Versuche, die Mutter auf den Zustand des Vaters anzusprechen, wurden von ihr boykottiert. Die zunehmende Vergesslichkeit ihres Mannes sowie seine sich plötzlich entwickelnden Eifersuchtsanfälle entschuldigte sie mit seinem Alter. Josts Vorstoß, einen Neurologen zu konsultieren, wurde mit groben Unflätigkeiten kommentiert; nie zuvor hatte er seinen Vater solche Worte sagen hören. Wie ein Tuch legte sich die Sorge vor drohendem Unheil auf die Familie, Frohsinn und Unbekümmertheit wurden herausgefiltert.
Demenz. Der Zustand des Vaters hatte jetzt einen Namen. Kompromisslos und nicht diskutierbar. Erstmalig ausgesprochen und als weitere Diagnose in den Entlassungspapieren schriftlich festgehalten. Sein Vater hatte mehrere Tage wegen einer Niereninsuffizienz im Krankenhaus verbracht. Der Damm war gebrochen, Josts Mutter konnte sich alles von der Seele reden, sie war befreit vom Druck, die Situation zu verharmlosen. Gleichzeitig zwang sie der Befund, sich von der Illusion einer normalen Alterserscheinung zu verabschieden. Jost konnte das Ausmaß ihrer Einsamkeit nur erahnen. Der Vater war von allem unberührt. Niemand traute sich, das Thema anzusprechen, zu groß war die Furcht vor einem erneuten Wutausbruch, den letztlich seine Mutter mehrere Tage auszubaden hätte.
Die Krankheit war launisch; es gab hellere Tage, in denen man sich der Hoffnung hingeben konnte, der Verlauf wäre eventuell zu stoppen oder würde sich gar bessern. Als die Diagnose endlich feststand, kam fast so etwas wie Euphorie bei Jost auf. Er hoffte, nun könne man handeln, Ärzte um Medikamente und Therapien bitten, Ratschläge von Betroffenen einholen, einen Pflegedienst hinzuziehen. Die Erkenntnis über die Unheilbarkeit einer Demenz traf ihn schwer. Auch der Rat, das Wohlbefinden des Betroffenen zu fördern, stellte keine Entlastung dar; sein Vater wehrte sich gegen jede noch so kleine Hilfeleistung, da er keine Krankheitseinsicht empfand.
Jost vermisste seinen Vater schmerzlich. Die ausführlichen Gespräche zwischen ihnen gehörten der Vergangenheit an, jedwede Logik erreichte den Vater nicht mehr. Von dem ehemals klugen und belesenen Feingeist schien nur noch die optische Hülle existent zu sein. Immer wieder suchte Jost seinen Vater in dem so vertrauten, doch meist ausdruckslosen Gesicht. Tatsächlich fand er ihn manchmal ganz weit in der Vergangenheit; dort waren sie beide sicher, es war fast wie früher, die Rollen klar definiert, Vater und Sohn. Viele Ereignisse aus der Kindheit und Jugend waren noch abrufbar und belebten die sonst so leere Miene des alten Mannes. Jost hatte noch nie zuvor den Wunsch verspürt, etwas schriftlich festzuhalten, aber jetzt gab er dem Bedürfnis nach, jedes Detail ihrer Beziehung aufzuschreiben, bevor sein Vater sich gänzlich in sich zurückziehen würde.
Ihm war die Sinnlosigkeit der Frage bewusst, ob die Veränderung des Vaters ausschließlich auf die Demenz zurückzuführen war oder die damit verbundene fehlende Impulskontrolle seinen wahren Charakter zum Vorschein brachte. Jost hatte sich schon immer an der Dominanz und Selbstgerechtigkeit seines Vaters gerieben, jedoch gingen diese Eigenarten vor der Krankheit nie über ein erträgliches Maß hinaus. Etwas in ihm flehte danach, den Vater aus der Verantwortung zu ziehen, wenn dieser wieder einmal seine Mutter mit wüsten Beschimpfungen und haltlosen Eifersuchtstiraden quälte. In diesen immer häufiger vorkommenden Situationen besaß Jost nicht den Abstand, die verbalen Gewaltexzesse seines Vaters mit dem dementiellen Syndrom zu entschuldigen, sondern sah einen bösartigen Menschen, der eine nicht auszuhaltende Belastung für seine Mutter darstellte. Im Anschluss empfand er Scham und versuchte, sein Verhältnis zum Vater neu zu definieren, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. Hatte er früher seine Bindung zu ihm ohne Zögern mit Liebe und Zuneigung assoziiert, war da jetzt ein verwirrendes Vakuum, das er gerne mit mehr als pflichtbewusster Sorge befüllt hätte. Und er fürchtete sich vor der Erinnerung an seinen Vater: Würde er ihn später nur noch als den Menschen sehen, der er in seinen letzten Jahren gewesen war?
Jost schreckt auf, ein klirrendes Geräusch unterbricht die zornigen Beschimpfungen. Sein Vater hat eine Tasse nach seiner Mutter geworfen. Er unterstellt ihr einen zu freundlichen Umgang mit dem Pflegehelfer. Die Mutter weint leise, der Vater erhebt sich, Jost steht bereit, sich schützend vor die Mutter zu stellen, doch sein Vater geht stumm in den Garten. Hilflos nimmt Jost seine Mutter in den Arm, versucht zu trösten. Noch als er die Scherben auffegt, ist er von Wut erfüllt.
„Kannst du nach ihm schauen, Jost?“, bittet seine Mutter. „Ist wohl besser, wenn du das tust.“
Mit dem Gefühl, der Situation nicht mehr gewachsen zu sein, geht Jost auf den Rücken seines Vaters zu. In Erwartung einer wie immer sinnlosen Auseinandersetzung setzt er sich neben ihn auf die Gartenbank. Ohne ihn anzuschauen greift der alte Mann nach seiner Hand.
„Ich weiß nicht, was los ist, Junge, irgendwas stimmt nicht in meinem Kopf“, weint er leise. Fest umschließt Jost die Hand seines Vaters.
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Angela Ahlborn
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2 | Marc Späni
Zielorte
Im Homeoffice habe ich die praktische Philosophie entdeckt.
Wann immer es die Arbeit zulässt – und das ist eigentlich immer –, gehe ich zur S-Bahn-Station und helfe den Leuten, ihren Weg zu finden.
Ich bin aber keiner von denen, die Bibeln verteilen oder mit Kreide den ganzen Asphalt vollschreiben, Gott ist der Weg. Jesus rettet dich. Das Gebet wirkt.
Das Zentrum meines Wirkens ist der Billettautomat, dieser stählerne rot-blaue Altarblock, das Kontrollzentrum der Station, ihr Gehirn.
Zehn, fünfzehn Minuten bevor der Zug fährt, stehe ich da.
Ich helfe auch denjenigen, die mit dem Automaten nicht klarkommen, wie man ein 24-Stunden-Anschlussbillett für drei Zonen löst oder ein halbes nach Olten 1.Klasse. Meine eigentliche Zielgruppe sind aber diejenigen, die nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen. Ihnen mache ich Vorschläge. Mittlerweile sehe ich es den Leuten nämlich immer besser an, wo ihre Bestimmung liegt. Schwierig sind diejenigen, die behaupten zu wissen, wo sie hinwollen, und sich nicht von ihrem Irrtum abbringen lassen. Erst einmal ist es mir gelungen, einem solchen gegen seinen Willen das Ticket zu seiner richtigen Bestimmung zu lösen und es ihm im letzten Augenblick in die Hand zu drücken, als sich die Zugstüren schon schlossen. Man muss diese Leute zu ihrer Bestimmung zwingen. Schwierig sind auch diejenigen, die den Automaten für sich in Anspruch nehmen, da kommt es schon mal zu kleineren Rangeleien, vor allem zu Stosszeiten.
Selten ist niemand da. Meistens wenigstens Oberholzer, mit seinem karierten Hemd und der verschlissenen Manchesterjacke.
Ihm brauche ich nicht zu helfen, er kennt seine Bestimmung: Er will nirgendwo hin.
Mit Oberholzer erörtere ich philosophische Fragen: Wer sind all die Leute, die ein- und aussteigen? Wer sind wir? Worauf warten wir eigentlich? Was sollen wir sonst noch tun? Am Automaten komponieren wir immer ausgeklügeltere Tickets: Mit einer Mehrfahrtenkarte erster Klasse von Goppensteig nach Ganterswil via Le Locle, Arosa und Brunnen SZ haben wir neulich die Marke von 17'000 Franken gesprengt. Natürlich kann man solche Billette am Ende nicht am Automaten kaufen. Es sind Gedankenexperimente, Denkspiele.
Immer freitags kauft Oberholzer ein Ticket, nach Amriswil, Puntrutt, Höri oder sonst wo hin, faltet es, steckt es sorgfältig in sein Portemonnaie und geht nach Hause. Er muss schon eine große Sammlung haben.
Wenn ich ihn frage, warum er nie fährt, schüttelt er den Kopf. «Der Zug fährt genau dahin, wo die Schiene hinführt, egal was du dir für ein Billett kaufst.» Seit einiger Zeit ist er auch überzeugt, dass Orte wie La Tine, Tinglev, Tinizong oder Tincques nur Erfindungen eines verrückten Programmierers sind.
Und langsam gelange ich zur Überzeugung, dass er recht haben könnte.
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Marc Späni
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1 | Tara Meister
richtung mittel
Socken
Mike hob den Karton hoch über das zerlegte Bettgestell und seine Muskeln glänzten, deltoideus, trapezius, biceps, das volle Programm.
Mia seufzte, schon den ganzen Vormittag. „In ein paar Tagen habe ich vergessen, wie es ausgesehen hat.“
Ihre nackten Füße ragten über den Couchtisch, dahinter stapelte sich beinahe alles, nur das Regal stand noch.
In der Küche wickelte Ben Gläser in Zeitungspapier ein, Wassergläser und Weingläser, die ein bisschen klebrig waren. Dass sie nicht zerbrachen, auf den 47 Kilometern zwischen hier und dort.
Aus der Musikbox kam Big Thief, regelmäßig unterbrochen von dem Akku-leer-Geräusch.
Ob er in der neuen Wohnung noch den 2 Euro 80 Wein trinken würde, überlegte Ben, oder nicht mehr, bei 2,3 brutto.
Mia kam in die Küche, drehte die Musikbox leiser. „Es geht mir zu schnell“, sagte sie und: „Kann ich deinen Duschvorleger haben?“
„Ja.“
Zerbrechliches
Ben stapelte ein eingepacktes Glas nach dem anderen in den Karton.
„Da steh ich dann nackt drauf und nass, wenn ich aus der Dusche komme und denk an dich“, sagte Mia, „voller Mitleid.“
Sie griff nach den restlichen Weintrauben in der Obstschale.
„Danke“, antwortete Ben.
Junger Mann fällt mit Fahrrad in den Donaukanal hieß es auf der Doppelseite, in die er die Zuckerdose einwickelte.
„Wer als nächstes, frag ich mich“, Mia ließ eine Traube zwischen ihren Zähnen platzen, „hat bei dir auch niemand kommen sehen, dass du eines Tages arbeiten gehen würdest.“
Sie trug ihren fliederfarbenen Pullover, mit Absicht, vermutete Ben. Den, den er an einem Abend ein wenig angesengt hatte. Wenn sie ihm den Rücken zuwandte, sah er das dunkle Brandloch.
„Ich bau das Regal jetzt ab!“, rief Mike aus dem anderen Zimmer.
„Passt!“, rief Ben zurück.
„Willst du alle Bücher behalten?“
„Ja!“
„Alle, alle?“
„Ja!“, brüllte Ben über das einsetzende Geräusch der Bohrmaschine.
„Wer liest denn Bücher zweimal?“
Sonstiges
Ben stand zwischen den Kisten, nippte an seiner Bierflasche, seine Augen waren ein bisschen feucht. Mia bemerkte es erst, als sie ihre Zigarette fertig geraucht hatte.
„Schon gut“, sagte sie und zwickte ihm in die Wange, „irgendwann wären wir sowieso hässlich geworden. Sogar Mike, das glaubt er mir nur nicht.“
Später war der Flur vollgeräumt und die Wohnung leer.
Zu dritt setzten sie sich vor die Zimmertüre auf den Boden und begannen die Sticker von dem Milchglas zu kletzeln. Es dauerte lange und unter jeder Schicht kam eine neue. Politische Parolen, Veranstaltungen, Musikbands, klebrige weiße Fussel sammelten sich unter ihren Fingernägeln.
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Tara Meister
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freiTEXT | Adrian van Schwamen
Sommersprossen
„Was kostet die hier?“, wollte Clara wissen und reichte einem in sein Buch vertieften alten Mann eine Puppe über den Flohmarkttisch. Der Mann schien das kleine Mädchen im dichten Gedränge vorbeilaufender Schnäppchenjäger jetzt erst bemerkt zu haben. Er richtete sich in seinem Klappstuhl auf. Sein Blick wanderte von seinem Buch über die Puppe hin zu dem Mädchen.
„Die verkaufe ich dir nicht.“
„Warum legen Sie sie dann hier hin, wenn sie nicht verkauft werden soll?“, fragte Clara trotzig.
„Oh, sie soll verkauft werden“, sagte der alte Mann und lehnte sich im Stuhl nach vorne. „Aber ich werde sie nicht dir verkaufen.“
„Warum nicht?“
„Nun ja“, begann der alte Mann, „sie passt doch gar nicht zu dir.“
„Aber ich finde sie schön“, sagte Clara und strich mit ihrer sommersprossengesprenkelten Hand durch die blonden Haare und über die gleichmäßig gewebte Haut der Puppe.
„Und ich finde die hier schön, Moment…“, sagte der Mann, zog einen Karton unter dem Tisch hervor und begann darin zu kramen.
„Hier ist sie!“, sagte er und legte eine weitere Puppe zwischen sich und das Mädchen. Es war eine dieser Porzellanpuppen, wie Clara sie schon oft bei ihren Großeltern in einer Vitrine gesehen hatte. Sie hatte flammend rotes Haar und ihre Haut war mit hellroten Punkten übersät. Ihre kleine Jeanslatzhose war bereits stark ausgeblichen und ausgefranst.
„Die ist alt. Und hässlich“, protestierte Clara.
„Keinen Tag älter als ich“, sagte der Mann und schenkte Clara ein knittriges Lächeln. „Und bei hässlich muss ich aber ganz stark widersprechen.“
„Sie ist fleckig“, sagte Clara.
„Du bist auch fleckig“, erwiderte der Mann.
„Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Artgenossen“, singsängelte Clara und nahm die Porzellanfigur vorsichtig in die Hand.
„Wo hast du denn so einen Blödsinn her?“, fragte der Mann und warf seine Stirn in etliche Falten.
„Das sagen sie in der Schule manchmal zu mir.“
„Wer?“
„Die anderen.“
„Ach, was wissen die anderen schon?“, sagte der Alte und winkte ab, als wolle er einen aufdringlichen Gedanken verscheuchen. „Die kennen vermutlich nicht die Geschichte von Lylithia, der Kriegerkönigin.“
Clara schaute den Mann herausfordernd an.
„Kennst du denn die Geschichte?“, fragte er schließlich.
„Nein“, erwiderte Clara.
„Das gibt’s doch nicht! Na, dann nimm Platz und hör mal zu“, sagte der Mann und wies auf einen kleinen Schemel, der einem Karton mit alten Platten als Podest diente. Clara wuchtete den schweren Kasten auf den Boden und setzte sich.
„Also, die ganze Geschichte von Lylithia wäre lang genug, um für Stunden darüber zu sprechen. Lange vor unserer Zeit, sogar noch lange bevor die Ägypter an den Bau der Pyramiden denken konnten, war Lylithia die Königin vom inzwischen versunkenen Kontinent Greadria. Sie war der erste Mensch, der es geschafft hatte, die unzähligen kriegerischen Stämme, die den Kontinent bevölkerten, miteinander zu versöhnen und zum Frieden zu bewegen. Von der Stadt Genephilaes aus, die sie selbst gegründet und der sie zu ihrer Größe verholfen hatte, herrschte sie liebevoll, aber konsequent über das Land. Ihr Weg dahin war allerdings kein leichter. Unzählige Kämpfe hatte sie austragen müssen, um sich Respekt zu verdienen in einer Gesellschaft, die sich am besten in der Sprache der Gewalt verstand. Und jeden Sieg hatte sie mit einem kleinen Brandmal auf ihrer Haut bezeugt, um sich stets selbst vor Augen rufen zu können, wie weit sie gekommen war. Zunächst noch an Stellen, die niemand sehen konnte, hatte sie irgendwann auch auf Beine, Arme und schließlich ihr Gesicht ausweichen müssen, um jeden einzelnen Sieg auf die gleiche Weise wertzuschätzen. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht war ihr Körper schließlich fast gänzlich mit den kleinen Malen überzogen, und jedes Einzelne erzählte eine eigene Geschichte.
Diese Male, so erzählt man sich, gab sie weiter an ihre Tochter, die bereits mit einem mit kleinen Punkten gesprenkelten Körper auf die Welt kam. Und auch deren Töchter besaßen die Male der Kriegerkönigin Lylithia. So wurden sie Generation um Generation weitergegeben. Manchmal weniger ausgeprägt, einige kamen mehr nach ihren Vätern, und manchmal dann wieder so deutlich, wie es bei dir der Fall ist. Das auf deiner Haut sind nicht irgendwelche Flecken, es sind die Geschichten von den großen Taten Lylithias, getragen durch die Zeit auf der Haut ihrer Nachfahren, um diese daran zu erinnern, wozu sie in der Lage sein können.“
„Das haben Sie sich doch ausgedacht“, sagte Clara und sprang vom Schemel auf.
„Wenn du das denken möchtest“, sagte der alte Mann und hielt Clara die Puppe entgegen. „Möchtest du sie dennoch haben?“
„Sie bekommt heute nichts“, sagte die Stimme einer Frau, die plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. „Kinder, die sich prügeln, bekommen nichts. Komm, dein Vater sucht auch schon nach dir.“
„Du hast dich geprügelt?“, fragte der alte Mann.
„Nein…“, sagte Clara.
„Aber du warst kurz davor. Entschuldigen Sie, dass sie Sie belästigt hat“, sagte die Frau und schob Clara sachte vor sich her.
„Einen Moment!“, sagte der alte Mann und beugte sich über den Tisch. „Dann nimm wenigstens das, es ist ein Geschenk. Deine Mutter sollte nichts dagegen haben.“
„Ein Stift?“, fragte Clara.
„Den kannst du gleich Zuhause nutzen, um deine Entschuldigung an Damian zu schreiben“, sagte ihre Mutter, nahm den Stift und steckte ihn ihrer Tochter in die Manteltasche.
„Dafür wird er sich nicht eignen“, sagte der Alte an Clara gewandt, „Er schreibt in einem Karamellton, in etwa wie die Farbe deiner Flecken.“
Bevor Clara sich weiter darüber wundern konnte, wurde sie von ihrer Mutter davongezogen.
„Aber pass auf“, rief ihr der Mann noch hinterher. „Die Farbe geht nicht wieder ab!“
*
„Sie hat was getan?“, schnaufte Claras Mutter zornig ins Telefon und wandte sich um. „Ulrich, unsere Tochter hat Damian heute die Nase gebrochen.“
„Ist Damian nicht zwei Köpfe größer als sie?“, fragte Claras Vater und schaute von einem laut arbeitenden Laptop auf. „Wahnsinn Schatz, wie hast du das denn geschafft?“
„Mit der Faust“, erwiderte Clara. Auf einem hohen Hocker an einem Tresen sitzend gab sie eifrig vor, ihre Hausaufgaben zu machen, während ihr Vater neben ihr gleiches mit seiner Arbeit tat. „Er hat mich geärgert.“
„Bravo, meine Süße“, sagte ihr Vater, strich Clara über den Kopf und wandte sich wieder dem Laptop zu.
„Du heißt das doch nicht etwa gut?“, sagte Claras Mutter entrüstet.
„Dass unsere Tochter sich zu wehren weiß?“, erwiderte Claras Vater.
Ihre Eltern stritten noch eine ganze Weile. Clara malte sich mit ihrem neuen Stift indes füßebaumelnd einen kleinen, karamellfarbenen Punkt zwischen zwei Sommersprossen auf ihrem Unterarm. Als die Farbe getrocknet war, fiel der Unterschied zu den anderen Punkten nicht mehr auf. Man könnte meinen, er war nicht mal mehr vorhanden.
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freiTEXT | Christine Steindorfer
„Conny“ – eine kleinformatige Buchreihe für die Frau in den besten Jahren.
#01: Conny stellt die Schrift am Bildschirm größer.
#02: Conny hat jetzt eine Lesebrille.
#03: Conny googelt Gleitsichtbrille.
#04: Conny sagt laut "Scheiß drauf". (Band 1)
#05: Conny Hüften werden breiter.
#06: Conny geht jetzt walken.
#07: Conny findet Walken fad.
#08: Conny weiß nicht, was sie davon halten soll. (Band 1)
#09: Connys Busen macht schlapp.
#10: Conny findet das alles nicht komisch.
#11: Conny trägt zuhause keinen BH.
#12: Conny freut sich. (Band 1)
#13: Conny denkt gerne an ihren Jugendsex.
#14: Conny versucht, all ihre Liebschaften aufzuzählen.
#15: Conny kauft sich eine Vibrator-Sammlung.
#16: Conny kann gar nicht mehr genug bekommen.
#17: Conny ist das alles egal. (Band 1)
#18: Conny ist das alles egal. (Band 2)
#19: Conny hat jetzt graue Haare.
#20: Connys Haar wird schütter.
#21: Conny weiß nicht, was sie davon halten soll. (Band 2)
#22: Conny entdeckt ein graues Schamhaar
#23: Conny erschrickt.
#24: Conny überlegt, sich "da unten" zu rasieren.
#25: Conny findet ihre glatt rasierte Mumu komisch.
#26: Connys Schamhaare wachsen wieder.
#27: Conny reißt ein borstiges Barthaar am Kinn aus.
#28: Connys Barthaar kommt zurück.
#29: Conny nennt ihr Barthaar Bernd.
#30: Conny erwartet, dass ihr unerwartet heiß wird.
#31: Conny wird nicht unerwartet heiß.
#32: Conny freut sich. (Band 2)
#33: Conny freut sich. (Band 3)
#34: Connys Regel ist jetzt eine Unregel.
#35: Conny befürchtet, dass sie schwanger ist.
#36: Conny weiß nicht, was sie davon halten soll. (Band 3)
#37: Connys Regel ist jetzt weg.
#38: Conny fühlt sich befreit. (Band 1)
#39: Conny fühlt sich befreit. (Band 2)
#40: Conny fühlt sich befreit. (Band 3)
#41: Conny geht auf ein Konzert und fühlt sich wie eine Oma.
#42: Conny wird bald Oma.
#43: Conny weiß nicht, was sie davon halten soll. (Band 4)
#44: Conny kramt ihre alten Doc Martens hervor.
#45: Conny zieht an, was sie will.
#46: Conny sagt laut "Scheiß drauf". (Band 2)
#47: Conny sagt ihr wahres Alter und grinst.
#48: Conny sagt jetzt, was sie denkt.
#49: Conny ist das alles egal. (Band 3)
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freiTEXT | Carolina Reichl
FIASKO
Es ist Freitag und wie jeden Freitag gehen wir aus, weil man das so macht, wenn man sechzehn ist. Ich frage mich, wann ich das letzte Mal nüchtern etwas mit meinen Freunden unternommen habe. Ich erinnere mich nicht. Seitdem wir fortgehen dürfen, machen wir nichts anderes mehr.
Wir stehen in einem Kreis auf der Tanzfläche. Die Musik dröhnt in einer Lautstärke, die uns beinahe das Trommelfell platzen lässt; sie macht es fast unmöglich, einander zu verstehen. Hannah ist das schönste Mädchen im Raum, sie begrüßt mich mit einem Kuss.
„Kommt der Alex auch?“, brüllt sie.
„Der kann nicht.“
Ich weiß, dass sie sich über seine Abwesenheit freut. Normalerweise ist Alex immer da, wo ich bin. Sie mag Alex nicht. Sie sagt, er ist ein Angeber und Mitläufer.
„Warum war er die Woche eigentlich nicht in der Schule?“
„Weiß nicht.“
„Wie, du weißt es nicht? Er ist doch dein bester Freund.“
„Ich weiß es aber nicht“, antworte ich, so wie ich es ihm versprochen habe.
Außer mir haben alle Spaß. Hannah tanzt und lacht mit ihren Freundinnen, worüber, weiß ich nicht. Ich würde das auch gerne können, einfach so über alles und nichts lachen können. Ich versuche, mit Hannah zu tanzen, doch immer kommt eine Freundin dazwischen, die ihr etwas erzählen muss und sie von mir wegzieht. Ich fühle mich überflüssig, unsichtbar, als wäre ich Luft. Nur die Ellbogen, die mir die anderen in meinen Körper rammen, erinnern mich daran, dass ich existiere, mit Armen, Beinen, Bauch, Herz, Kopf, Arsch.
Ich schaue auf mein Handy. Alex hat mich zweimal angerufen und mir drei Nachrichten geschrieben.
Wie geht’s?
Können wir heute noch telefonieren?
Oder morgen? Ich brauch wen zum Reden.
Ich drücke die Nachrichten weg. Alex will nur über seine Probleme sprechen, dabei ist er schon bei einem Therapeuten, ich verstehe nicht, warum ich da zusätzlich herhalten muss. Mich zieht das nur runter. So weit, dass ich nicht weiß, ob ich mich von dort wieder aufraffen kann. Ich habe nicht vor, ihm zu antworten.
Ich bestelle eine Runde Tequila. Ich will so viel trinken, bis ich die Kontrolle verliere, nicht mehr klar denken kann und Alex vergesse. Hannah trinkt mit. Einer ihrer Freunde setzt aus.
Ich frage ihn: „Wieso?“
„Ich hab genug“, sagt er.
Ich verdrehe die Augen, stelle ihn als Langweiler hin, sage mit lallender Stimme: „Bist du schwul oder was?“
Die anderen lachen, Hannah verdreht die Augen, das kackt mich an. Sie soll mich lustig finden, ich will der lustigste Typ sein, mit dem sie je zusammen war.
Vor zwei Wochen habe ich ihr zum ersten Mal ich liebe dich gesagt. Sie hat es erwidert. Ich hab es danach nicht mehr gesagt. Sie auch nicht.
Der Barkeeper nimmt nur die Mädels dran. In ihren kurzen, weit ausgeschnittenen Kleidern beugen sie sich zu ihm, sie lernen gerade, auf Stöckelschuhen zu gehen, sie sind gerade mal halb so alt wie er.
„Kannst du mir auch was bestellen?“, frage ich die Blonde, die ein bisschen so aussieht wie Hannah, nur mit längeren Haaren und einen halben Kopf größer.
„Klar“, sagt sie und lächelt. Da sind wir auch schon im Gespräch. Im normalen Leben, also nüchtern und unter Tags, würde das nie passieren. Da redet man keine fremden Menschen an, egal wie durstig man ist oder wie dringend man etwas braucht. Doch in der Nacht gelten andere Regeln. Da spricht jeder mit jedem, da gibt es keine Grenzen.
Ich mache einen Witz. Sie lacht.
Ihre Hand liegt auf der Theke, gar nicht so weit weg von meiner. Ich könnte sie berühren, wenn ich meine Finger weit genug ausstrecke. Ich überlege sie zu küssen, um herauszufinden, ob ich noch Chancen beim anderen Geschlecht habe. Nur für den Fall, dass Hannah sich eines Tages nicht mehr für mich interessiert.
Plötzlich greift mich jemand von hinten an. Ich zucke zusammen.
Es sind Moritz und Alina, Freunde. Moritz drückt mich an sich heran und klopft mir zweimal auf die Schulter. Kaum macht er einen Schritt zurück, steigt mir ein süßlich chemischer Duft in die Nase. Alina packt meinen Nacken, zieht sich zu mir hoch und gibt mir einen Kuss auf die Wangen, links, rechts.
Wir sind jetzt in diesem Alter, wo wir uns zur Begrüßung nicht mehr Winken können. Seitdem wir in der Tanzschule sind, fassen wir uns alle mehr an, so als würde uns das zu besseren Freunden machen. Ich verstehe nicht, warum die Leute nicht zumindest vorher fragen können, ob man das will.
„Hannah sucht dich“, sagt Moritz. Ich nicke der Blonden zu, wir entfernen uns, verlieren uns aus den Augen, wahrscheinlich für immer.
Hannah und ich sind auf dem Heimweg, sind zehn Meter vom FIASKO entfernt. So heißt die Bar, die der Grund ist, warum es Alex schlecht geht. Das FIASKO ist klein, stinkt nach Kotze und Putzmittel. Leute in meinem Alter gehen da nicht hin. Da sitzen nur ein paar alte Alkoholiker, denken sie, und das stimmt auch.
Ich muss Hannahs Hand loslassen. Ich versuche, ruhig zu bleiben.
„Ist was?“
„Alles gut“, sage ich, als wäre das eine normale Bar, die mir nichts bedeutet, so wie jedem normalen Jugendlichen auch. Alex wäre da nicht reingegangen, hätte ich es nicht vorgeschlagen.
Es ist drei Uhr morgens, als ich die Tür aufsperre. Meine Eltern lassen mich kommen und gehen, als wäre ich ein Erwachsener, der selbst für alles Verantwortung übernehmen kann. Dabei bin ich erst sechzehn und sollten sich Eltern nicht immer um ihre Kinder Sorgen machen müssen?
Du musst sagen, wenn dich etwas stört, haben sie früher gesagt.
Wir können über alles reden.
Wir sind immer für dich da.
Doch sie schlafen.
Hannah kriegt ein T-Shirt von mir. Ohne Zähne zu putzen, legen wir uns ins Bett. In der Dunkelheit beginne ich sie zu küssen.
„Ich will schlafen“, sagt sie. Ich will die Zurückweisung nicht hinnehmen, bekomme Panik, dass etwas zwischen uns nicht mehr stimmt. Wir sind doch noch zu jung, um es nicht zu tun, weil wir müde sind, also küsse ich sie weiter. Sie versucht, meine Hand von ihrer Unterhose zu drücken, doch es ist nur ein leichter Widerstand und irgendwie erregt mich das auch. Ich bin stärker, die Gewissheit erleichtert mich. Ich presse meinen Körper gegen ihren. Sie weiß, dass sie mitmachen muss. Je länger sie sich ziert, desto länger wird es dauern. Also macht sie mit. Kurz verzieht sie das Gesicht, als würde ich ihr wehtun. Ich glaube nicht, dass Hannah weiß, was Schmerzen sind.
Nachdem ich gekommen bin, nehme ich sie in den Arm. Sie liegt auf dem Rücken und starrt nach oben an die Decke. Sie schmiegt sich nicht zu mir. Wahrscheinlich denkt sie jetzt, dass ich ein Arschloch bin und wahrscheinlich hat sie damit auch recht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich verlässt. Ich versuche, sie zum Lachen zu bringen, sie reagiert nicht und dann höre ich mich sagen: „Ich sag dir, warum Alex nicht in der Schule war. Aber du musst versprechen, dass du es niemandem erzählst.“
Sie dreht sich zu mir.
„Er darf wirklich nicht wissen, dass ich dir das gesagt hab.“
„Ich sag nichts.“
Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an, mit denen sie Alex immer verächtlich angesehen hat, wenn ihr sein großes Gerede auf die Nerven ging, und wahrscheinlich wird sie ihn jetzt nie wieder so ansehen, weil sie dann immer daran denken wird, was Alex doch eigentlich für ein armseliger Typ ist.
„Wir haben uns letzten Mittwoch aus dem Haus geschlichen. Wir sind in so eine Bar und haben literweise Whiskey Cola getrunken. Da war so ein Typ, der hat uns auf alles eingeladen.“
Ich habe Angst, dass sie meine immer dünner gewordene Stimme richtig deuten kann und erkennt, wo die Geschichte einen Fehler hat. Aber einmal angefangen, gibt es kein Zurück.
„Die Bar hat um zwei Uhr zugemacht. Der Typ hat gemeint, wir sollen noch zu ihm kommen, weiter Party machen. Der war sicher schon vierzig oder so. Ich bin sofort nach Hause, Alex ist mitgegangen. Sie haben noch Wein getrunken und plötzlich haben sich seine Beine taub angefühlt. Er wollte gehen, konnte sich aber nicht mehr richtig bewegen. Der Typ hat ihn aufs Bett geworfen ... Den Rest kannst du dir denken.“
„Dann hat er Alex...“
„Ja.“
Meine Beine zittern. Sie schweigt.
„Hat er ihn angezeigt?“, fragt sie dann.
„Nein. Er kann nicht.“
„Wie, er kann nicht?“
„Na, weil er sich schämt.“
„Scham hin oder her, der Typ gehört angezeigt, sonst lauft der weiter rum und macht das vielleicht wieder.“
„Das ist nicht so einfach.“
Schweigen.
„Er kann froh sein, dass er dich hat. Der braucht jetzt ganz dringend wen, mit dem er darüber reden kann. So was darf man nicht verdrängen, sonst holt einen das irgendwann ein.“
Ich gebe ihr recht. Sie schmiegt sich zu mir. Ich werde ihr nie erzählen, dass ich nicht direkt nach dem FIASKO nach Hause gegangen bin. Ich schaffte es erst später so wie Alex auch.
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freiTEXT | Andrea Berger
Weder Kind noch Karriere
Tante Grete würde es beim mittwöchigen Kaffee- und Häkelkränzchen mit den ortsbekannten Bürgersfrauen nicht ohne Stolz wie folgt formulieren. Ihre Nichte Ilse ist noch keine dreißig und schon Frau Doktor und außerdem schreibt sie Artikel, die in Zeitschriften und Magazinen abgedruckt werden.
Denn Ilse war ja schon als Kind so brav und strebsam und hat jeden Sommer, wenn sie für drei Wochen bei ihr war, weil die Frau Mama unverständlicherweise auch nach zwei Kindern nicht auf die Arbeit verzichten konnte, darum gebeten wenigstens ein Kapitel pro Tag in Ruhe in ihrem mitgebrachten Buch lesen zu dürfen. Anfangs hat sie ja versucht dem Kind zu erklären, dass es jetzt Ferien hat und nichts für die Schule tun muss. Sie hatte ja sowieso ihre Schwester in Verdacht, die vorlauter auf Karriere getrimmt, dem Kind wohl eingeredet hat, es müsse sich auch in den wohlverdienten Ferien weiterbilden, um zumindest annähernd so erfolgreich zu werden wie sie. Doch mit der Zeit hat sie eingesehen, dass dem Kind das Lesen wohl Spaß macht und hat es in Ruhe gelassen, zumindest nach dem Mittagessen samt Palatschinke-Kakao-Nachspeise und einem Sandwich-Eis. Somit ist es also nicht verwunderlich, dass Ilse nun den Doktor hat; eigentlich hat ja sogar sie durch ihre Förderung in all den Sommern dazu beigetragen.
Bevor man sich nun in besagter Runde um nähere Details zur Vorzeigenichte erkundigen würde, wäre man sich unausgesprochen bezüglich Ilses Mutter, Gretes Schwester, und deren Fehlverhalten und Karriereambitionen einig. Denn wie kann es richtig sein, dass man zwar offensichtlich Kinder will, sie dann aber nach nicht einmal einem Jahr bereits in Betreuungseinrichtungen abschieben muss, nur weil man als Hausfrau und Mutter keinen besonderen Status und Ruf genießt. Vor allem hätte sie das ja wirklich nie nötig gehabt, bei dem was ihr Franzl verdienen muss. Oder wie lässt sich sonst der fette Audi TT samt Ledersitzen erklären. Immer war und ist er wie aus dem Ei gepellt, die teuersten Anzüge und Maßschuhe, edel Armbanduhren und am Wochenende geht’s auf den Golfplatz. Alles im Superlativ, alles eine Spur exklusiver als der Rest im Ort. Da wäre es sich doch ausgegangen, dass die Frau zuhause bei den Kindern bleibt. Jede der anwesenden Damen würde mindestens eine weitere kennen, die genauso familienunfreundlich agiert und der die Mutter- und Hausfrauenrolle wohl eindeutig zu wenig schick ist. Und den Vorwand der Unterbeschäftigung und Langeweile würden sie schon gar nicht gelten lassen. Denn wenn man sich nicht mindestens einmal wöchentlich Putz-, Bügel-, Einkaufs-, Garten- und Nachhilfe bestellen, sondern alles selbst ordentlich im Haus und Garten erledigen würde, würden die feinen Damen schnell merken, dass das Familienmanagement ein weitaus anspruchsvolleres Unternehmen ist als die Stelle als halbtags Schreibkraft.
Genauso echauffieren würde man sich jedoch auch über die Tochter des Bürgermeisters. Denn sie, die es ja gar zum Grüßen stets zu eilig, geschweige denn ein paar Minuten für ein Gespräch übrig hat, ist ja angeblich stets terminlich über Monate ausgebucht und kann wenn überhaupt erst nach mehrmaligen Anfragen ein Zeitfenster von maximal fünfzehn Minuten freischaufeln, in das sie einen dann ausnahmsweise reinschiebt. Die Frau Superwichtig. Man kann es sich schwer vorstellen, dass das Geschäft mit den farbenfrohen, Schlankheit versprechenden Vitaminbomben so gut läuft. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die demonstrative Vielbeschäftigung und der exzessiv zur Schau gestellte Freizeitmangel eher der Prestigevermehrung dienen soll als den tatsächlichen Workaholic markiert.
Jedoch würden alle anwesenden Damen auch mit äußerst erfolgreichen, meist männlichen Prachtexemplaren aus den eigenen Familien auftrumpfen können. Söhne, Neffen und gar schon Enkel, die mit Häusern und Ferienapartments in bester Lage, Einrichtungen, Uhren und Bekleidung von Top-Designern, Kindern auf Privatschulen, privaten Golflehrern als Manager, Anwälte und Ärzte 80-Stunden-Wochen absolvieren und die Anzeichen des gesellschaftlich akzeptierten Burnouts, sozusagen die De luxe-Variante der Depression, wie eine Medaille mit stolzer Brust vor sich hertragen.
Gegen Ende des Treffens würde man sich dann aus Neugierde schon noch nach Gretes Nichte Ilse erkundigen, vor allem würde man sicher gerne erfahren in welchem Krankenhaus die Frau Doktor denn nun tätig ist. Grete würde etwas verunsichert erklären, dass das nicht so ein richtiger Doktortitel ist, sondern einer, den man in geisteswissenschaftlichen Studien erhält. Schließlich hat Ilse etwas mit Sprachen studiert. Etwas irritiert würde man dann natürlich nachfragen wo die Nichte nun arbeitet und wäre dann etwas verblüfft, dass sie mit ihrem Doktortitel in der örtlichen Buchhandlung aushilft. Verkäuferin also. Ein wenig kleinlaut würde Grete auch die Fragen zu den Artikeln in diversen Magazinen beantworten. Denn so ganz verstehen würden es ihre Freundinnen nicht, warum man so etwas unentgeltlich macht. Was ihr diese Veröffentlichungen dann eigentlich bringen, könnte auch Grete nicht ganz eindeutig beantworten. Man würde jedoch schließlich davon ausgehen, dass Ilse mit ihrem Alter vermutlich ohnedies bald in die Mutterrolle schlüpfen wird. Da Grete jedoch auch dies nicht zur Zufriedenheit der Runde beantworten würde können, da Ilse offen und klar über ihren nicht existenten Kinderwunsch spricht, würde man sich schon ein wenig wundern und insgeheim auch fragen, worauf Grete da eigentlich so stolz ist.
Andrea lebt und arbeitet in Graz / absolvierte das Doktoratsstudium der Romanistik (Literaturwissenschaft/Italienisch) und Kunstgeschichte / schreibt unregelmäßig kurze Texte für verschiedene Magazine und Zeitschriften / liebt Ohrringe
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freiTEXT | Regina Rechsteiner
Im eigenen Zelt
Sie schiebt. Ich halte mich an meinem Kaffeebecher fest und denke an den Keller, in dem wir uns sonst abends trafen. Sie ist jetzt auch eine. Ich gehe die letzten Schritte über die Kreuzung auf sie zu. Ihr Gesicht ist nackt. Wen muss man als erstes begrüßen? Sie wirkt, als hätte sie sich verirrt, obwohl sie den Treffpunkt vorgeschlagen hat. Ich schaue in den Wagen, es lebt, ganz eindeutig, eine winzige Hand macht eine Faust.
Sie trage die Jacke ihres Vaters, sagt sie und beugt sich über den Wagen. Schon seit der Schwangerschaft, es sei einfach komfortabler, was den Platz angehe und besonders die Wärme, von der Funktion des Stoffes ganz zu schweigen. Wir sehen beide nach vorn, sprechen den Weg entlang, die Straße entlang, vorbei an den Autos, die links und rechts die Spielstraße zuparken vor den Häusern am Hang. Die Luft im November ist klarer als in den anderen Monaten, auch eindeutiger, schärfer in der Bewegung. Ich muss Handschuhe anziehen, weil mir die Finger fast abfrieren.
Das Kind lacht mich an, wahrscheinlich wegen meiner roten Baskenmütze, die heraussticht aus dem trüben Grau, das alles bedeckt. So ein Kind im Wagen schaut ja an uns vorbei direkt in den Himmel. Aber was weiß ich, was in einem Kinderkopf vorgeht. Wir reden über Kunst, nur kurz. Ich erwähne die Zitronen und sie sagt, sie wolle auch wieder mitmachen, habe schon den Aquarellkasten zurechtgelegt und die Papiere, online gehe das ja alles, nur das Kleine wolle nicht schlafen, wann sie wolle, es interessiere sich nicht für die Selbstständigkeit des Vaters und die langen Stunden am Abend, überhaupt nicht, es zerre an ihren Nerven, es gäbe so viel zu tun. Aber wenn es dann lächle. Sie greift nach meinen Arm. Wenn es lächle und du wüsstest, du begleitest einen Menschen ins Leben, etwas das wächst, er oder sie, darauf komme es heute ja nicht mehr an. Ob ich mal kurz schieben könne.
Wir erreichen die Mitte des Stadtteils, das früher mal ein Dorf war, mit dem kleinen Marktplatz, der fast historisch wirkt, wegen den drei Fachwerkhäusern, auch im November verkaufen sie Obst an Ständen und ich halte Ausschau nach Zitronen. Das Kind braucht Milch, die Mutter spürt es. Wir gehen ein paar Schritte weiter, zu einer Bank und sie öffnet die Jacke. Sein Mund kennt den Weg, die kleinen Zähne sind aus Magnet, halten von selbst. Innig sind sie, zwei in eins, verlaufen sie ineinander. Ich drehe mich um, wir sitzen vor einem Schaufenster mit Elektrogeräten aus dem vergangenen Jahrhundert. Eine elektrische Wage, ein Föhn, ein Radiowecker, alle in verblichenen Schachteln im Regal aufgetürmt. Wer das heute noch will? Das Kind ist fertig. Meine Hände in den Handschuhen sind immer noch kalt. Ein Krankenwagen ruft durch die Ferne. Sie sagt, man müsse dankbar sein, froh sein, für das was ist, nicht anders herum und packt das Kind zurück in den Wagen.
Manchmal fällt es mir schwer, mich zu entscheiden, sage ich und sie schlägt vor, den Weg zurück über die Weinberge zu nehmen. Selbst das Obst in meinen Bildern schimmelt inzwischen. Genau wie in meinem Kühlschrank übernimmt das Zersetzen, das ja im Grunde genommen auch ein Wachsen ist. Der Haarwuchs auf dem Zitronenkopf beginnt als weißer Flaum, wirft dann grüne Schatten in den Pelz auf der Haut, die an manchen Stellen bläulich schimmert. Und das Schrumpfen ist wie das Ausdehnen ein Verändern der Form. Oben am Hang, mit der Stadt zu unseren Füßen, sagt sie, ich solle nicht so viel nachdenken, man könne nicht alles planen, es komme wie es komme, irgendwann. Ich sehe an ihr vorbei, hinab zu den Lichtern, die eigentlich Wohnungen sind mit Menschen, die ständig die Form verändern, sich ausdehnen und schrumpfen. Die kaputte Frucht habe ich später in der Toilette entsorgt. Sie sagt, die Natur verwalte sich im eigenen Becken und wer könne sich gegen Naturgesetze stemmen, wer? Sie sieht mich an. Es sei ein Wunder, was da geschehe in den neun, sogar zehn Monaten im eigenen Körper, größer als der Bogen Papier auf dem die Farben in die falsche Richtung zerlaufen.
Am Ende gehen wir schneller. Die Weinberge verschwinden in der Dämmerung, ich keuche ein wenig bei der letzten Steigung. Ich frage nach der Geburt. Der Körper geht offener um mit den Rissen, den kaputten Gefühlen und dem, was nicht passt. Aber ihre Geburt lief glatt. So wie es sein soll, glatt wie die Metallausstattung im Kreissaal. Man müsse wissen, was man will, sagt sie und ich nicke. Manchmal stelle ich mir vor, meine Leinwände wären genauso deutlich wie die Zitronen. Ich stelle mir vor, sie hingen in einer Galerie und nach dem Applaus schaute die Frau, die die Laudatio gehalten hätte, irritiert auf die obere Ecke des Bildes. Im Kühlschrank hätte sie ausgemistet, hätte die schimmlige Frucht entfernt, um den Rest nicht mit den Sporen anzustecken. In der Galerie müsste sie den Schimmel ertragen.
Das Kind wimmert während wir sprechen, beteiligt sich mit seinem leidigen Jammern. Wir sehen uns an, einen Moment. Ihr Gesicht fällt weg, zuckt zurück in den Wagen, wo es gebraucht wird. Ich merke, die Mutter kämpft mit sich, sie will nicht gleich nachgeben, will erst noch ihre Überlegenheit fühlen, dem Kind gegenüber und der Situation. Ich sehe sie weiter an, wie sie so mütterlich, so mit Verantwortung beschrieben, nach unten greift zu ihrem Kunstwerk, das in den Wagen gebettet, nun einmal Aufmerksamkeit fordert. Sie nimmt es hoch an die Brust und vor den Bauch geschnallt, verdoppelt sich mit einem Tragegurt in weniger als zwei Minuten das Leben und unter die Jacke des Vaters passen sie beide, sie füllt sie jetzt aus mit ihrem um den Bauch geschnallten Leben, sie wird warm in ihrem eigenen Zelt.
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