1 | Susanne Gurschler
Lichter Schauer
Ins Unbestimmte des ersten Tages geschnitten
überall Zeichen – später
Zottelhund, der um die Ecke huscht
blonde Zöpfe die Steinstiege hinauf
Teufelskralle und aufgescheuchte Krähen
wie Kohlestücke aus dem erkalteten Steinkreis am Bödele
Unweit davon der Steilvorhang, über dem sich Büschel
bauschen wie Leinen im Wind
der Untergrund nur Unwissenden gewiss
allen anderen längst ein freier Fall
ein Kiesel ein Stein Größeres weithin zu hören
Ein Baumstamm, dessen Finger sich ins Lose kletten
verödet unter der Sonne
ein anderer meinte sich zu retten
indem er seinen Kopf nach oben warf
nun hängt sein dürrer Leib über dem Abgrund
die Wurzeln zu Hörnern verformt oder Schlimmeres
Etwas windet sich durchs immer bewegliche Grieß
die Schwanzspitze wühlt im Berg das Maul voller Geröll
ersoffen darin Kiefern Tannen Fichten so viele
hinunter- und hinausgeschwemmtes Leben
über die Kante gestoßen ins tosende Nichts
Modrig das Haar auf der Holzbrücke dann
doch noch denken an Dante: ein Blick hinab
und sandblaues Wasser so nah
dass lichter Schauer durch die Spalten greift
Das Advent-mosaik begleitet dich mit ausgewählt schönen Texten durch die Vorweihnachtszeit.
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freiVERS | Torsten Siche
letztlich nutzlos die Kraft
in den Fingern die Melodie
klebt an den Lippen kostbar
wie Brausepulver einst
und immer übrig geblieben
als jede jeden zum Essen rief
keine Vögel kommen vorbei
trotz Herbst keine Not auf dem Spielplatz
hocken die Krähen im Sand zwischen den Fingern
zerrinnen die Krümel eine Spur hinter der Scheibe
verschwimmen die Lippen zum Sumpf
da wo einst Wärme war und Wimpernschlag
kein Igel im Laub kein Scharren
im Dickicht lauert kein Trost
von der Schaukel tropft es
Tränen zäh oder zögerlich
nichts drängt sich auf
oder will willkommen sein
kein getretener Hund streunt
vor deiner Tür klafft keine Wunde
kein Wimmern hinter der Wand
nur das Kinderlachen scheppert
im Fahrstuhl hinab
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freiVERS | Magdalena Resch
EINS
Blätter kitzeln einander
und tanzen im
Windestakt
durch den
Nebelnieselregen.
Ader für Ader.
Wie oben so unten.
So halten die vergrabenen
Wurzeln
die flatternde
Leichtigkeit
die mit einer
nadeldicken Ader
an der Starrheit des
Stammes hängt.
EINS.
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freiVERS | Dörthe Huth
In Gesellschaft des Wassers
Du betest für Regen
in der Hoffnung
dass er singt
wie ein krächzender Vogel
während der Dürre des Sommers
im Tanz der Tropfen fühlt sich
das Leben leichter an
glaubst du
umschlossen von dumpfer Stille
halte ich das Gleichgewicht
und spiele toter Mann
mit geöffneten Augen
fixiere ich die Wolken
damit die Vorzeichen
nicht aus dem Blickfeld verschwinden
die schweren Wolken ziehen vorüber
Regen fällt nicht.
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freiVERS | Helmut Blepp
Novizen
Leben verstehen
den Dunst durchschauen
lieben ohne Not
Frost aufhalten
Einfach zuhören
bei triefendem Himmel
sich zurücknehmen
angesichts der Trauergesänge
Dauer ruht
in den Irrwegen
zwischen Tag und Nacht
Hilfe im warmen Wort
Da draußen
suchen sie uns
und wir suchen mit
noch unbeholfen
.
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freiVERS | Michael Pietrucha
Kleine Tode
I.
Dich über Worte aus Charakteren beugen,
die deinem Verstand ganz unbekannt sind
(wie Kanji).
Der Blick bricht
in kleinste Kaskaden
verfestigte Wasserfälle
Fontänen.
Baum um Baum anders,
ein Mischwald,
nur von Bestimmten für Bestimmte
gesetzt,
eine Augenweide mit Tuschezweigen.
II.
Umziehen oder Ausziehen,
doch noch in der Wohnung
sein.
Erinnerung für Erinnerung
(von dir),
Nutzgegenstand für Nutzgegenstand
abwägen
und von Hand zu Hand gereicht
sehen,
fühlen
wie viel du nicht brauchst und
übrig bleiben.
III.
Liebe machen,
lieben,
kommen und
deinen eigenen Körper wieder
anlegen können.
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freiVERS | Martin Dragosits
Es gilt
Sammelt Worte
In euren Taschen
Kalendersprüche
Textpassagen
Achtet auf die Nebensätze
Ihre Kinderreime
Körperhaltung
Ihren Blick dabei
Glaubt nicht
Es wäre übertrieben
Wenn ihr Kanten
deutlich seht
Zieht sie mit
Dem Finger nach
Malt sie mit dickem
Filzstift in die Luft
Seid bereit
Licht zu setzen
Weite
Unabhängig
Spielerische Elemente
Handbewegt
Über euren Kopf
Zu halten
Sammelt
Schwerelose Nahrung
Und bleibt
Sprungbereit
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freiVERS | Ralph Stieber
musikkörper
ich höre die neunte sinfonie von beethoven
die er selbst nicht mehr hören konnte
aber spüren die vibrationen des basses
der vor 200 jahren über den boden
der konzerthalle wanderte und unter beethovens
füßen bebte durch die haut das fleisch seiner beine
an den knochen entlang kriecht über die wirbelsäule klettert
bis in sein herz hinein da wo musik uns treffen muss
damit wir tanzen wollen
selbst den jubel und applaus nach dem ersten satz
kann der komponist nicht hören eine der sängerinnen
aus seinem orchester dreht ihn um zum publikum
erst dann sieht er was er nicht hört irre gesichter
verzerrt zu fratzen wie karnevalsmasken klatschende
hände ihre hintern durch die sinfonie von den stühlen
gerissen sie wissen nicht warum sie ausrasten warum
tanzt ihr nicht fragt der mann das junge paar
in der story von raymond carver warum tanzt ihr
nicht und das runde schwarze stück vinyl dreht sich
die nadel senkt sich und nach einem knacken und einem
knistern erklingt musik und sie beginnen zu tanzen
im garten in einem kleinen amerikanischen vorort in
einer zeit in der fassaden frisch gestrichen waren tanzt
es ist egal was die leute denken tanzt
zu beethoven zu blues zu rap zu punk tanzt
je mehr ihr tanzt desto weniger tot fühlt ihr euch
je mehr ihr tanzt desto mehr fühlt ihr euch tanzt
zum song der jazz band in der bar wo die worte
der sängerin getragen werden von teppichen
gestrickt aus schwingungen die durch die luft segeln
wie papierschiffchen auf einem meer aus basswellen
die das publikum schwemmen mit klängen es packen
und forttragen aufs offene meer spürst du es fragt sie
und wenn du es nicht fühlen kannst dann singt sie
vielleicht nicht für dich
mein gehörloser cousin strich damals mit seinem finger
über meine cd sammlung mein gehörloser cousin
hat nie das zwitschern eines vogels gehört mein gehörloser
cousin der so voller wut war damals auf alles eingeschlagen
getreten alles zerstört hat grashüpfer käfer katzen
mein kettkar das kind unserer nachbarn 10 jahre später
auch seinen eigenen körper 10 jahre später
auch sein eigenes kind vielleicht weil alle anderen
um ihn herum hören konnten und er nicht
wusste warum er nicht
als teenager bestand mein leben zu 70 prozent aus musik
wie unser körper zu 70 prozent aus wasser besteht wie
muss ein leben ohne musik sein für meinen gehörlosen
cousin ohne musik ist das leben ein irrtum sagt nietzsche
und hat den größenwahn wagners mit jeder note verschlungen
sein eigener verstand zu einem irrgarten verwachsen in dem
seine gedanken umherirren wie muss es sich anfühlen
musik nicht hören zu können mein gehörloser cousin
hat nie den anfang der mondscheinsonate gehört
nie das rauschen des meeres und nie die stimme
eines menschen durch ein telefon am anderen ende
der welt gehört du hörst die musik nicht aber spürst
du sie fragen ihn meine hände und meine lippen die
stumm die worte formen jedes wort ein beat
und ich drehe den lautstärkeregler weiter mehr bass
bis zum anschlag mein gehörloser cousin nickt bewegt
seinen kopf seine hände steigen auf wie zwei jungvögel
die lernen zu fliegen und jetzt um seinen kopf herum flattern
sein körper füllt sich mit musik musik fließt durch seine füße
musik durchströmt seinen körper die vibrationen des basses
bringen die härchen auf seiner haut zum tanzen mein
gehörloser cousin daniel tanzt zu the clash ich habe noch nie
jemanden so tanzen sehen zu london calling es war
als hätte der song nur darauf gewartet dass er dazu tanzt als
hätte die band den song für ihn nur für ihn geschrieben
und wenn du ihn nicht fühlen kannst dann singe ich
vielleicht nicht für dich
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freiVERS | Ferenc Liebig
Meldebescheinigung
Der Junge ist damit beschäftigt,
seine Ausweisnummer an ein Gedicht zu hängen,
Zahl für Zahl den Begriff Herkunft abzutragen,
als wäre er ein Fluss und seine Heimat ein Felsen,
denn von Liebe und Tod redet es sich leichter,
von den Gewissensbissen, die nur aufwühlen
und keinen Trost verteilen,
von grasbewachsenen Berührungen,
die am Handtuch enden,
sei getrocknet, schreibt er,
du missverständliche, verschwitzte Achsel,
sei endlich, schreibt er,
du überforderte, schiefe Schulter.
Er beendet das Gedicht mit der Zeile
und doch findet sich überall Glück darin
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freiVERS | Chrischa Oswald
Was bleibt
nach den Sommern
in den Auslagen
ist immer das Blau
Augen liegen am Boden
und ich sammle sie
mit meinen Sohlen
wie süße Beeren
Was bleibt
nach den Sommern
ist immer das Blau
Und der Blick
der sich umstülpt
nach innen
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