17 | Silke Gruber

Landvermessung

Dein Blick
spuckt grobe
Gebirgskettensilhouetten
aufs offene Gelände

Meiner schlägt
statt Grenzpflöcke
seine erbärmlichen Haken
ins längst vermessene Feld

Vor Freunden
sprechen wir synchron
von: Lot, Kataster,
Waffenruhe

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Silke Gruber

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15 | Jens Röhling

Schnee

Ich habe Pfeifen aus Weidenästen geschnitten
habe Brücken und Dämme gebaut
bin über Gräben gesprungen
habe auf Blumenwiesen getanzt
ohne Angst vor Zecken
Ich habe Spielkarten gegen Fahrradspeichen schlagen lassen
und bin damit durch die Siedlung gefahren
Bin über Baustellen geschlichen
und habe einen Hammer geklaut
der unachtsam im Kellergeschoss vergessen gewesen
Bin von Bäumen gefallen
und in Brennnesseln
mit Loch im Kopf beim Arzt gesessen
und doch wieder heraufgeklettert

Und all das habe ich vergessen

Ich habe Bier getrunken
das achtlos am Kiosk verkauft
und Grashalme geraucht
Salpeter mit Zucker vermischt und
im Erdhügel brennen lassen, dass es schien wie ein Vulkan
Ich bin heimlich auf dem Güterzug mitgefahren
und habe mich von meinen Eltern wieder abholen lassen
zweihundert Kilometer entfernt
Ich habe einen Bergbach gestaut, der drei Tage
danach bei Unwetter über die Ufer getreten ist
und die Straße weggespült hat, auf der ich
5 Minuten zuvor noch gefahren bin
und mich lange gefragt, ob es meine Schuld war.

Und all das habe ich vergessen

Ich bin in der Dunkelheit durch glitzernde Wellen geschwommen
nackt, mit den anderen, die ich seit zwei Stunden kannte
habe mit dem Mädchen geschlafen am Strand
das mich in die Arme geschlossen und geküsst hat
bis wir untergingen
und weiter
durch den Sand gewälzt, dass wir wie panierte Backfische
glücklich nebeneinander lagen
um uns ein letztes Mal in die Augen zu schauen
und uns nie wieder zu sehen
Ich bin stehen gelassen worden wegen einer Runde Schnaps
und saß lange enttäuscht in Dünen
bis zum Morgengrauen einsam sehnend
nach diesen grünen Augen.

Und all das habe ich vergessen

Nach und nach hat sich meine Sprache verloren
Worte abgetrennt wie Gliedmaßen
zunächst nur die Nägel
in mechanischer Geste, gar nicht wahrnehmend
dann Fingerkuppen, Unterarme
jetzt schmerzhaft aber unausweichlich
Bis zuletzt nur ein Torso aus Pragmatik
ganz zu Staub zerfiel
die Asche verwehend
um die Frage nach mir
im Raum stehen zu lassen

Ich greife in den dreckigen Schnee
knete daraus einen Ball
und werfe ihn gegen das Schild am Straßenrand
Ich treffe nicht
und weiß doch noch, wie es war.

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Jens Röhling

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14 | Lea Menges

tektonik

 

i.

beschreibe einen aufbruch
es zieht die watte im magen zusammen
braut dumpf

raufasertapete und hirnrinde und verbinde augen mit
welche furchen im sehfeld
wie man nachfahren soll

 

ii.

die angst verlassen zu werden
ein windhund mit silberaugen

striemt mir wie styropor über die haut
steckt mir morgens in den knochen
wie mohn

 

 

iii.

bedecke abweichendes innenleben
knie aufschlagen statt adern
von der kamera geschluckte mondstrukturen
auf meine knie abgepaust
was es heißt, ebenen zu verschieben

schleckt luft über die pupille
rauschen taubenfedern ins zimmer
aus körpern gelöst
aus haut gepickt vor dem spiegel
quetsche ich talg und trauma aus meinen poren
betrachte meine eltern beim schlafen
in der wangentasche ein gefühl dabei
man kann kein ultraschallbild der lage machen
man kann nichts durch die bauchdecke wenden

den kreisläufen trotzen wie moos auf schnee

 

iv.

eine liste eingetretener veränderungen
die dinge auf lunge tun
ins atmende brennen
eine möglichkeit aus dem eigenen fleisch schnitzen

in der zukunft liegt
der feine ascheschleier
der mich nachts
mit den zähnen knirschen ließe
trüge ich keine spange

 

v.

meine stirn patrouillieren lassen es eitert
aus der achsel als ob es provisorisch wäre
zu schorf werden eine andere form von bleiben
ein erschrecken vor dem eigenen abheilen
das zu sichtbar ist das ich von meinem rücken kratze
knochigknotig unter fingerkuppen

öffne rippen wie hände die perlen ab
knackende wirbel säure tritt aus
der versuch reibungsfläche zu minimieren
scheitert der schmerz liegt längst im anatomischen grab
und da war nie fläche die mich deckte nur eine hand
der himmel kann sich selbst nicht gleichen

darunter ein körper es krampft ihn noch
zwischen beiden bald spanne
bald stand

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Lea Menges

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12 | Dorothee Krämer

aus zwei rudern

ich bin aus zwei rudern geboren sie fuhren
mit mir übern see
am morgen war das wasser eisblau und klar
am abend ein sumpfiges grün
die ruder steckten im moorigen grund
wir schlugen leck
ich kletterte an land
hinter meinem rücken hörte ich das
krachen der hölzernen ruder
sie rissen eine wunde in den see
übers land verteilten eidechsen
ihre bewegungslosigkeiten
in meinem rücken waren holzsplitter
jetzt trug ich einen eidechsenrücken

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Dorothee Krämer

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9 | Katharina Forstner

Ich zähle die Wände um meine Stunden
Eine Wand hat ein Fenster hinunter zur Straße
Ich würde hinausgehen hätte ich einen Grund
Eine Wand ist löchrig von meinen Fäusten
Ich würde sprechen wüsste ich zu wem
Eine Wand mahnt wir alle hätten zu tragen
Die Zimmerdecke oder den Zusammenhalt
Eine Wand schmiegt sich an meine Schulterblätter
Sie zeigt mir wie man versteinert

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Katharina Forstner

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6 | blumenleere

in memoriam auf repeat

jahr fuer jahr ruecken wir ihm ferner
jenem griswald-weihnachts-slapstick-
horror den wir einst ja als blaupause
unserer eigenen festtage betrachteten
unsere winterbaeuche zum erbrechen
mit plaetzchen gefuellt quasi auf hold
sozusagen abruf erwarteten wir dann
die action den trubel eines aufgeregt
irren familienfestes voller ereignisse
bis in die knochen rein tragikomisch
genug irritationen um uns nachhaltig
stoff fuer gespraeche & alptraeume
zu bescheren nun ein sehr sonderbar
anmutendes relikt aus einer fremden
aera weil wenn wir jetzt vernetzter
feiern konzentrieren wir uns gleich
von anfang an aufs kommunizieren
eines sorgsam aufgearbeiteten plots
mit snapshots & comments garniert
unsre faden existenzen meliorierend
statt uns hilflos & ziemlich isoliert
kategorischer auf uns allein gestellt
dem monstrum perfider traditionen
ausgeliefert zu sehen & es dennoch
letzten endes heldenhaft zu besiegen
da uns was andres nicht uebrig blieb

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blumenleere

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4 | Yvonne Koval

winterschlaf

heute geht's mir nicht so gut
die nabelschnur zieht an mir
zieht mich runter, macht mich
rund & unerträglich, ewig
bis der winter vorrüber

also sag wenn du alleine
wenn du unter menschen
punsch & geschenke
& spaß haben willst

dann können wir mich einpacken
mir ein kleines nest bauen
wo ich winterschlaf halte
während deiner freude
& drei jahreszeiten lang

so warte ich, & kann die zeit
an zwei händen abzählen
bis du zurückkehrst
& mich auspackst
als ob ich zerbrechlich
& all das da drinnen

nach einem winterschlaf
das sagt die forschung
geht es tieren gar nicht gut
ihre hirnaktivität
sei dann gleichsam der
nach tagelangem schlafentzug
(ich hoffe, es geht schnell zum schluss)

nur dazwischen ganz unscheinbar ein widerspruch
mein winterschlaf : ein schlafentzug
(ich dachte, eines folgt dem anderen)
hauptsache ist wohl, dir geht's gut

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Yvonne Koval

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2 | Georg Großmann

Mühlviertler Nacht

ich befinde mich in den
gestapelten, fest
verzahnten
polyedern, bin
im haus, draußen;
der dreikant-hof, huf-
schläge, leere, die weite,
der wald, der den hof nachts
belauert

drinnen; das wasser, der
saugmund der
abwasch, das
spülkasten-rauschen

draußen; das gluckern der jauche
im hochbehälter, die sprache des blasenschlagenden
dunkels

draußen läuft mein drinnen
mein kochwasser
mein zahnpastaschaum
meine ausscheidung in
den gärenden teich
während sich jemand daneben
versteckt hält und atmet und
hört und weiß, dass ich
da bin, im haus und mich sieht
in den fenstern
und lächelt

und hechelt
und herschleicht
und blicke von draußen
nach drinnen wirft
aus dem weiten
dunkel heraus in die aus-
geleuchteten polyeder

auf mein bildschirm-
beflimmertes
gesicht

.

Georg Großmann

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freiVERS | Chris Lauer

Paternoster

Glück im Unglück,
Wenn nur der Vater
Und nicht die Mutter,
Sagt sie
Und zieht
Das Ginstergelb fest,
Das vorhin im Briefkasten lag.
Doppelt kann man sie binden
Um den Mädchenarm,
Fast dreifach
Am Ende von allem,
Die Horizontebene,
Die sie teilt

In Himmel und Erde
In Himmel und Erde.

Dein Reich komme.

Sie kocht und wäscht
Für ihre Geschwister;
Das Kleinste schieben sie und ihr Bruder
Wie Jungelterngewordene
In einem Holzwägelchen
Vor sich her.

Es schreit nie.

Manchmal denkt sie Unerhörtes,
An Opulenz, im Einschlagpapier eingewickelt:
Eine Vollkornstulle mit Butter,
Und ihr Mund wundet
Von den ausgespuckten Aprikosenenkernen,
Die sie aufsammelt, wenn niemand hinsieht:

Wie Taler blinken sie zu ihr herauf,
Wie braune Paukanten,
Die mit ihrem eingeritztem Spalt
Zeigen wollen,
Dass sie, ganz anders als Frauen,

Keine Schönheit brauchen; dass man sie
Ja nicht mit Frauen verwechseln sollte,
Dass sie sich vielleicht auch wünschen,
Frauen zu sein, weil sie denken,
Als Frau müsse man, ja ja, gespalten sein.

Sie überkaut die Ahnung von Sommer,
Während sie unweit
Das Blechern von Medaillen hört:
Ein Windspielstapeln,
Das schon an der nächsten Straßenecke
Einknickt.

Für Nelly Kerngut

 

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Chris Lauer

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freiVERS | Samuel Kramer

Ein Vakuum ist unveränderlich ein Vakuum,
es sei denn, es würden Zugänge geschaffen.
Das Gedicht (d. i. das Vakuum) kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, es vor Publikum wiederzugeben,
würde daraus die Zerstörung des Publikums resultieren.

Das Gedicht kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, wäre das Gedicht nicht entstanden.
Wenn es möglich wird, wird das Gedicht unmöglich.

Ich wünsche mir die Zerstörung des Publikums.
Zerteilt, ionisiert, verstreut, auf der Suche nach Notausgängen
bildeten sich heilsame Verweise und Klumpen kohäsiver Expertise.

Das Gedicht kann, nachher, nicht vom Publikum wiedergegeben werden.

Wäre das Publikum möglich, würde daraus ein Gedicht resultieren.
Bitte greifen Sie bei Druckabfall nach der Luft. Halten Sie mich nicht
auf. Und bleiben Sie unter keinen Umständen ruhig.

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Samuel Kramer

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