freiVERS | Viviana Kraus

Zeitenwende

Die Kindheit wird alt geworden sein.
Sie wird ein Kopftuch tragen, wenn sie daherkommt.
Wir werden sie nicht erkennen.
Sie wird als einzelne, ungemahlene Bohne
In der Kaffeemühle nisten,
Sich vergessen wissen.
Es wird von nun an nur noch Winter sein.
Die Ungewissheit wird leben, hinter den Ziegeln,
In den Fugen der sicheren Gebäude wird sie einziehen.
Der Wind von Gestern wird uns umwehen,
Wir werden ihn füttern mit den Resten unserer Kartoffelsuppe
Und sein Säuseln nicht verstehen.

 

Viviana Kraus

 

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freiVERS | Bettina Scherff

Allein

Im Labor alles nach Plan, ein Gefühl der Kontrolle
ein Teil von ihm ein Teil von mir
verschmelzen im Reagenzglas zu Einem
zu Eizellen in A-Qualität.

Verschmelzen wie er und ich verschmelzen
aus Zwei wird Eins
wir sind doch auch Eins.

Das Glucksen, wie ein zarter Schluckauf in meinem Unterleib,
als ich unser Kind aufnahm
zwischen meinen gespreizten Beinen ein Mann,
der da nicht hingehört
der mich anmault, weil ich zucke
als die Pipette in meinen Uterus sticht
der lacht, weil ich sage, ich habe das Glucksen gespürt,

was nicht sein kann, es ist doch noch zu klein, unser Kind.

In meinem Körper dann die wahre Katastrophe, die Zerstörung
dort bleibt nichts, dort wächst nichts.

Ich bin zerstörerisch, ich bin schuld.

Mein Bauch bleibt leer, meine Arme bleiben leer.
Ich bin allein.

Wollte unserem Kind die Welt schenken
der Welt unser Kind schenken
unserem Leben unser Kind schenken.

Wie soll ich bloß diese Lücke füllen?
Nichts kann diese Lücke füllen
ich werde verrückt bei dem Gedanken, kann ihn nicht zulassen
der Schmerz ist so groß, so tief.

Möchte mir die Sehnsucht herausschneiden
ich möchte operieren, ohne Betäubung
der Schmerz wäre lächerlich gegen das hier.

Ich muss die Lücke füllen.

Wie kann es sein, dass ich keine Mutter bin
es war doch in mir, unser Kind,
wie kann es sein, dass ich keine Mutter bin?
Ich bin doch jetzt Mutter, es fühlt sich so an
doch bin ich es nicht
bin mutterlos gleichzeitig, bin schutzlos und allein.

Wie kann ich denn jetzt mir selbst noch die Mutter sein?

Was ist das überhaupt, Mutter?
Sind wir nicht alle Frauen?

Aber Mütter sind besondere Frauen
das bin ich nicht, eine besondere Frau.

Ich zerstöre, ich bin schuld
das alles kann ich doch niemandem sagen
nicht mal ihm.
Ich muss doch stark sein für ihn und unsere Liebe,
dass ich ihn nicht verliere
uns nicht verliere
mich nicht verliere.
Ich brauche Kontrolle.

Letzte Nacht noch
haben wir uns die Lust zurückgeholt, ganz pur
ohne diesen Hintergedanken
haben uns gegenseitig getrunken.
Ich war voll von ihm in meinem Mund
bis ich ihn schmeckte
sein Speichel auf meinen Brüsten
die ich ihm gierig entgegenstreckte
seine Lippen auf meinem Bauch, seine Zunge
zwischen meinen Beinen das leise schmatzende Geräusch
bis ich vibrierte.

Am Morgen dann das nüchterne Erwachen
ein vergeudeter Eisprung ein verpasster Fick,
das ist mir herausgerutscht.
Meine Panik, dann seine Wut, unser Streit
laut und hemmungslos wie unsere Lust in der Nacht
aber die Dunkelheit ist eine andere.

Jetzt ist er weg
ist nicht mehr hier
auch uns zerstöre ich, bin schuld.

Ich bin allein.

 

Bettina Scherff

 

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freiVERS | Petrus Akkordeon

ich wachte auf
und war der panamakanal
ich war auch die insel
und die see
und mein eis schmolz
mein gefühl flosz
wachte auf
versuchte ich
zu sein
aber blieb
der panamakanal
im laufe des tages
gewöhnte ich mich
an meine bedrohtheit
und wusch mir
zur nacht
die haare
und sorge

 

Petrus Akkordeon

 

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freiVERS | Jana Franke

in einer schachtel aus luft

unsichtbar,
wenn ich nicht atme.
beruhigt übersehen.

wenn ich nicht atme,
wachse ich unbehelligt
in einer schachtel
aus tischbeinecken
im spinnweb
mit holzdach zum ausziehn und
auf dem teppich geblieben.

wenn ich nicht atme durch
halbseidene tafeltücher
betrachte ich krampfadern,
notdürftig gestopfte strümpfe,
schwarze zehen, gelbe nägel
im sommer.

wenn ich nicht atme
vergessen sie mich
in der schachtel aus luft
zwischen den
beine derer, die reden.
über alles, auch mich.
aus mir wird dann: die.

dann atme ich nicht
mehr in meiner schachtel
unterm tisch, dann
verknüpfe ich schnürsenkel.

 

Jana Franke

 

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freiVERS | I. J. Melodia

Rochade 110 bpm

Auf deinen nächsten Zug wartend
beginnst du einfach von vorne
die Damen in den Fäusten
ich hätte die Wahl
Doch selbst Schwarz und Weiß
kannst du nicht mehr unterscheiden

Ich erinnere mich
an den Januar
sein Grau
und den August
er brannte rot

Heute rieche ich
unsere Asche
höre kaum die Musik

In meiner Kehle keimt
das Unbehagen
ohne Klang und Farbe

Die Nadel springt von der Platte
ein leises Knistern im Tonarm
der Takt geht dir blau
unter die Brust
blendet aus

Es gab nie ein Verurteilen

 

I. J. Melodia

 

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freiVERS | Yasmin Sibai

orientieren I  kein aufwachen sondern eher ein herausfallen aus REMphasen // rausgefadetes träumen // ein herunterdimmen // abschwellen synchron mit dem ausdünnen der dunkelheit // herausgleiten aus schichten // 

kein aufwachen sondern eher ein herausfallen aus REMphasen // rausgefadetes träumen // ein herunterdimmen // abschwellen synchron mit dem ausdünnen der dunkelheit

 

Yasmin Sibai

 

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freiVERS | Sabine Rothemann

Irgendwo Irgendwohin

Wir sind da.
Hier sind wir.
Im Spiegel ein Anderer.
Andere.
Im Irgendwo. Dort.
Irgendwo gehen sie hin.
Irgendwo kommen sie an.
Nie jemals war jemand nirgendwo.

Ich sehe sie nirgends.
Nirgends sehe ich sie.
Nicht hier, nicht da.
Sie stehen vor Zäunen.
Sie warten.
Sie überwinden Stacheln und Mauern.
Sie sind drinnen.
Sie sind draußen.
Da und dort.
Zum Bleiben bereit,
bereit zum Laufen davon
Da und dort.

Im Spiegel ein Da von Irgendwo.
Das Dort ein Spiegel von einem Ort.
Irgendwohin gehen sie.
Irgendwo nebenan leben sie.
Nicht im Nirgendwo.
Auch nicht jemals.
Sie sind.

 

Sabine Rothemann

 

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freiVERS | Mina Herz

ich stehe fest

eine weide will
ich sein und
trauer tragen

ich stehe fest

nimm jedes
werkzeug
das du findest
häute mich
zeichne mich
entstelle mich

ich stehe fest

eine weide will
ich sein und
trauer tragen

jede wunde auf
meiner rinde
jeder dunkle saft
den du vergießt
jeder gebrochene ast
in deiner hand
alles
an zer
störung

bist du selbst

denn
ich
stehe
fest

 

Mina Herz

 

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freiVERS | Marie Sophie Römer

Bis das Vergehen bleibt

die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt

special films
i’m going mentally ill
neoliberal hell
glee moments i'll still be thinking about when i'm 60
gaza death toll hits 37,900
donna tartt interview
tradwife
is the far right gay friendly now?
incel baiting
hopecore
obama is not my hero, i'm a socialist

die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt

supreme court rules trump immune from prosecution
i'm everywhere i'm so julia
jacob elordi in saltburn
subtle ways my stepdad groomed me
hannah horvath being the voice of her generation
kamala is brat
how antisemetic are pro palestine protests
hot rodent boyfriend

die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt

genz z too lazy to work
israel fears the very existence of palestine
how do you get pussy?
this election is so joever
ikea haul extreme edition
spongebob moments that were surprisingly communist
pussy from abortion ban
cringecore
pussy from 4b movement
donald trump is president
i'm so eepy

die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
und die hundejahre vergehen
bis das vergehen bleibt

 

Marie Sophie Römer

 

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freiVERS | Christina König

ich freu mich so für dich

die worte wachsen aus deinem mund wie
blumen in pink und senfgelb
sie krabbeln kriechen kitzeln über deine lippen
entfalten sich mit allem   was sie
zur fortpflanzung brauchen
narbe griffel fruchtknoten
und hängen dir aus den mundwinkeln
und alle sagen   schau wie hübsch

du streichst dir die haare zurück und die
efeuranken rascheln unter deinen fingern
du rupfst und zupfst und reißt sie aus und
machst ein extrakt daraus und
schmierst es über alle deine worte
wenn du es richtig gemacht hast   dann
heilt es und
wenn nicht   dann
ist es gift
aber nur für dich

knorrend kratzt du dir die adern auf und das
harz tropft wie hässlicher honig über deine haut
fängt die fremden triumphe ein und
sperrt sie in bernstein   bevor sie
in deinen blutkreislauf dringen
dort trägst du sie wie schmuckstücke aus
prähistorischen zeiten und hoffst   dass sie
brechen und bröckeln und
von deinem körper verschwinden   bevor
jemand sieht   dass sie
nicht dir gehören

die anderen wässern deine blüten   bestäuben und
befruchten sie und
streuen die nächsten samen
ihr lachen liefert sonnenlicht
ihre worte atmen kohlendioxid und
die keimlinge winden sich um deine zunge
ich freu mich so für dich   sagst du
und die nächsten blumen quetschen sich an deinen
zähnen vorbei
alpenveilchen und amaryllis
du duftest wie der garten eden
nach dem sündenfall

ranken schlängeln sich durch deine adern und ihre
dornen brechen aus dir heraus wie felsnadeln
schneiden dir waffen an die haut   an denen du
dich selbst schneidest

alle bewundern deine blüten und du
bist das unkrautjäten müde   das
düngen stutzen mulchen rechen
damit du nicht untergehst in deiner
blütenpracht und die
blätter dir nicht die lunge verstopfen

inzwischen erkennst du die fleischfressenden pflanzen   hast
venusfliegenfalle und sonnenkraut identifziert und
reißt dir die wurzeln aus   auch wenn sich
dann alles entzündet

deine adern schimmern grünlich durch die
verbrannte haut   du kriegst
zu viel sonnenlicht ab   aber deine
pflanzen wollen gedeihen
du verdeckst die bienenstiche mit
einem vorhang aus laub und
tupfst blut und eiter und pflanzensaft ab
aloe vera wächst dir noch nicht

die ränder der blüten rollen sich ein wie der
rote teppich nach der premiere
braun kräuselt sich das grün   es
färbt sich braun und erbricht sich
vor deinen füßen
du gehst über blumenleichen und
hinterlässt welke fetzen
deine borken vertrocknen verblassen vereisen
es ist winter und du wirst
grau und kahl und
schließlich
stirbst du ab
deine knollen speichern nichts

 

Christina König

 

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