17 | Sophie Stroux

eMMa

Die Bäckerei, vor der ich stehe, ist klein, hellgrün und in ihr windet sich die Schlange durch die wenigen speckigen Holztische, durch die Glastür und vor dem Geschäft um eine Ecke. Von oben sehen wir wohl aus wie eine Kreuzotter, die sich ihren Weg durch ein Labyrinth sucht, denke ich, eine Kreuzotter und ich bin nur ein kleiner Punkt auf ihrer Haut, die sie bald abwerfen wird. Ich mag es, zu warten, denn dabei verwandele ich mich von diesem kleinen schwarzen Punkt zu einem Chamäleon, das hier und da den Gesprächen lauscht, die Gedanken anderer mitdenkt und unsichtbar wird zwischen ihnen.
Hinter der Glasscheibe erkenne ich den alten Mann mit seiner Zeitung von gestern und seinem halben Croissant. Schon letzte Woche saß er an dem Tisch vorm Fenster. Ich beobachte die Katze, die sich normalerweise auf den Motorhauben der geparkten Autos wärmt, aber heute die Menschen, die vor der Tür anstehen, misstrauisch beäugt. Hinter mir diskutiert jemand über Blues und vor mir über den Dozenten, der ständig an seiner Brille kaut, wenn er nachdenkt – also immer – und ich merke, wie ich anfange mich einzublenden, Chamäleonfarben annehme, als mich ein Lichtreflex wieder aus der Starre holt.
Es sieht aus wie die Spiegelung der orangen Katze, aber als ich mein linkes Auge zusammenkneife, wird die Katze zu Haaren. Haare?, denke ich kurz verdutzt, und dann gewöhnen sich meine Augen an den Blick durch die Glasscheibe und ich erkenne ein Mädchen.
Ihre rottanzenden Haare sind es, die aus der Schlange hervorleuchten. Das Mädchen ist groß, größer als der Mann hinter ihr mit seinem gelben Polunder. Und sie tritt nervös von einem großen Fuß auf den anderen, zupft an ihrem T-Shirt herum und blickt sich immer wieder um. Platzangst, denke ich im ersten Moment. Aber das passt irgendwie nicht. Vielleicht ist sie eine von denen, die Warten nicht ausstehen können? Vielleicht kann sie einfach nicht stillstehen?
Wir sitzen in einer Wohnung mit grüner Tür an einem speckigen Holztisch, in den sich Holzwürmer verkrochen haben. „Meine Liebe,“ sage ich über die Erdbeeren mit Milch hinweg und sie lächelt ein dreiviertel Lächeln, ein bisschen schräg und auf keinen Fall ein ganzes Lächeln, sitzt halb auf der Stuhlkante und halb in der Luft. Dass sie nicht runterfällt, wundere ich mich plötzlich, nicke aber zu ihrer stillen Frage und gucke ihr beim Verschwinden hinterher, freue mich, dass sie unterwegs ist und irgendwo zu sein hat, während ich meine Milch mit aufgegessenen Erdbeeren trinke.
-

Sie sitzt auf dem Fensterbrett mit grünem Rahmen und malt mit schnellen, weiten Strichen auf Papier. Ihre Hände sind schon schwarz und ein paar Punkte haben sich auf ihr Gesicht verirrt. Ihr rotes Haar steht wirr ab, ihr grüner Blick rennt den Pinselschwüngen hinterher. Sie sieht schön aus in dem bunten Licht mit ihren leuchtenden Haaren und mit dieser Ruhe.

Ich sitze ihr gegenüber und bewundere ihre spitze Nase und die Haare, die immer noch ein wenig nach einer Katzenspiegelung aussehen. Der Moment ist fast ein Bild, vielleicht von Rembrandt, schnelle Pinselstriche und trotzdem ruhig.

„Sind wir bald da?“, fragt sie auf dem Weg zu einer Party und ich blicke ihr hinterher wie sie vor mir verschwindet.

„Wir sind zu früh.“, sage ich langsam, aber sie hört nicht. Ich will mich nicht hetzen lassen, will den Moment genießen, bleibe vor einem Schaufenster voller Bücher, die Neuerscheinungen dieses Monats, betrachte, wie sie farblich sortiert zu einer Pyramide aufgestellt sind, verliere mich in dem Bild, und finde mich auf der Spitze der Pyramide wieder wie ich mich bereit mache, auf ihr herunter zu rutschen.

„Emma!“, rufe ich und drehe mich in ihre Richtung, aber sie ist weg und sie antwortet mit einem „Komm doch!“ zwei Straßen weiter, sie wartet nicht.
(Sie will so schnell wie möglich da sein, wo auch immer)
Ich bleibe noch einen Moment vor dem Schaufenster stehen, blicke auf die Buchrücken und erkenne einen meiner alten Freunde, der sich irgendwie zwischen all die neuen Bücher geschlichen hat.
„Sofern sie Emma hießen…“, sage ich leise zu den Buchdeckeln, vielleicht verstehen sie mich ja. Vermutlich wissen sie mehr über Emmas als ich.
Ich wende mich ab und folge mit einem leisen Seufzen Emma, die schon lange um zwei Ecken verschwunden ist.
-
"Emma“, sage ich und sie blickt auf, sucht aber mit ihren Händen weiter hektisch nach Schlüssel oder Handy oder was auch immer sie sucht.
„Emma“, sage ich, „Wir haben noch Zeit. Lass uns doch einen Tee trinken.“
Sie schüttelt nur den Kopf und richtet ihren grünen Blick wieder auf die Kommode. „Wir sollten pünktlich sein, man weiß ja nie.“
„Aber Emma…“, setze ich an, sie aber hebt ihre Sonnenbrille hoch und sagt: „Ich hab sie, wir können los!“
-
Sie ist nie da.
(Bald da sein, heißt nur, nirgendwo jetzt zu sein.)
-
„Emma“, sage ich, „Emma, weißt du, dass du bei Morgenstern eine Möwe bist?“
Und sie blickt zu mir, während sie sich schminkt.
„Eine Möwe? Findest du?“
Ich betrachte sie, diesen dünnen Menschen, der immer rennt, mit seinen wilden roten Haaren und diesem selten eingefangenen, so grünen Blick. Sie lächelt nie ganz, nur dreiviertel, aber in ihren Bewegungen liegt trotz der Ruhe unserer Wohnung eine Ungeduld, die selbst die Schminke nicht verbergen kann. Ich schüttele den Kopf.
Sie lacht und verschwindet mit einem Augenaufschlag durch unsere Tür mit der abblätternden grünen Farbe und ein paar Flecken fallen auf den Boden als sie zuschlägt, fast wie der Regen unter Tannenbäumen. Ich betrachte Emmas Abwesenheit in dem Raum und die grünen Schuppen auf der Fußmatte.
„Nein, du bist keine Möwe“, sage ich in die Leere der Wohnung und die Wohnung hört zu. „Dich gibt es so nicht bei Morgenstern.“
-
Wir laufen eine gepflasterte, sich wellende Straße entlang. Ich suche irgendein Museum oder eine Galerie, von der ich zuvor gelesen habe, bin euphorisiert vom Pulsschlag der Stadt und ihren grellen Farben und freue mich über jeden Grashalm.
Emma geht vor mir, obwohl sie nicht weiß, wohin ich will, läuft in falsche Straßen und um falsche Ecken. Ich versuche, mich nicht aufzuregen, warum rennt sie nur weg, ich habe doch eine Karte dabei, klein, besser als nichts, aber so wirklich gelingt es mir nicht, denn ihr stummes „Sind wir bald da?“ dröhnt in meinem Hinterkopf als säße es in meinem Ohr.
Ich sage nichts, sie sagt ja auch nichts, aber als ich das Museum dann endlich finde, hat sie nach paar Minuten alles gesehen und wartet ungeduldig im Cafe.
Ich bleibe lange bei den Bildern von diesem Amerikaner stehen, Rosen, betrachte sie mit Emmas Ungeduld, die ich nicht abschütteln kann, und ärgere mich.
„Emma,“ flüstere ich dem Rosenzyklus zu, „Emma ist schuld.“
Aber die Rosen aus Amerika schweigen und Emma schweigt auch.
-
In der Bibliothek mit den zu großen Tischen und dem braunen Teppich, in der man sich nicht einmal traut zu husten, weil alles so leise und trocken ist und man fast an der Stille ersticken kann, lese ich in einem Gedicht von der „Koexistenz des Widersprüchlichen“ und denke sofort an uns, Emma.
(Das ist unser Problem.)
Und die Frage, ob wir bald da sind, so oft du sie auch stellst, könnte ich dir erst beantworten, wenn ich dieses Meer sehe. Aber Emma, dahin wirst du mit mir nie gehen, denn du wirst vorher um eine andere Ecke biegen, Morgenstern nicht sehen und nicht warten, ich kenne dich, du wirst wegrennen, nur um anzukommen, egal wo, aber nicht am Meer, nicht mit mir, nicht bei mir.
Und du bist einfach nicht aus Morgenstern, eMMa, so sehr ich mir das wünsche. Dort wirst du nie sein. Du wirst immer eine anwesende Abwesenheit bleiben.
Und du bist keine Emma wie sie in Büchern steht. Du bist eine eMMa und nie da.
-
„Bitte?!“
„Was?“ Ich schrecke auf.
„Was Sie wollen?“, fragt der Verkäufer mit der Pastellschürze.
„Ich,“, das Chamäleon löst sich auf, „Ein Croissant bitte. Und ein Pain au Chocolat.“ Und das eine Auge sieht das Mädchen plötzlich wieder, meine Emma für ein paar Minuten, wie sie bezahlt, ihre Tüte nimmt und aus dem Cafe hastet.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.

16 | Maximilian Michl

Darstellung gemeinsamer Topologie (geometrisch, mäandrierend)

Wenn du ziehst
dann geb ich Druck
sanft, folgend deinem Weichen

Das, was du willst
wollt’ ich bereits
umriss schon erste Zeichen

Wenn wir wo sind
sind wir ein Tanz
umkreisen gemeinsam

Weil wir wer sind
sind wir sonst einzeln
alleine, nicht einsam

Dann, wenn mein Kreis
den deinen deckt
in filigranster Passung

Trinke ich gierig
aus dir Kraft
und geb dir dafür Fassung

Du lässt dich
setzen, fassen
uns: klinken ineinander

Ich: berste schier vor Kraft
wir: waren Kreis,
werden Mäander

Deine Facetten brechen Licht
umgeben dich mit Funkeln
nur

neben dir
bin ich bei mir
Ich möchte, dass wir schunkeln

Maximilian Michl

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15 | Claudia Maria Kraml

zwischenstation

stummes wispern ferner zeiten
allegorie dem raureif gleich
lässt zurück des frühlings leiden
das neuer namen kenntnis weicht

alte lettern voll der mären
erwachend hoffnung leicht zerspringt
aufenthalt nicht um zu währen
kälte bald durch rückgrat dringt

wo der winterwind mit flocken
blasse straßen nachts durchfährt
und zerreißend hell der glocken
luftbotschaft einlass begehrt

und engelsschwert geformt aus stahl
vor des trubels froher schar
erdolcht der grenzen flieh’nde qual
rettet zukunft übers jahr

funkelnd blick wie kieselsteine
bleibt in traumes mut besteh’n
geflüstert wort es ist das meine
verweile doch du warst so schön

Claudia Maria Kraml

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14 | Katie Grosser

Treue Häfen

Mein Blick, er geht weit in die Ferne
Zum Horizont, so groß und klar
Wo Sonne nachts im Sterben Sternen
Das Leben schenkt, ein ewig Kreis
Auf sanften Wellen gleiten Schiffe
Mal links, mal rechts an mir vorbei
Sie tragen Menschen, große, kleine
Die Jungen, Alten, Menschheit ganz
Ein jeder ist auf seiner Reise
Und viele jagen eines nur
Der Hunger groß nach Abenteuer
Ist ihrer Segel starker Wind
Ich seh sie fremde Länder finden
Und bis auf tiefsten Meeresgrund
Sich kämpfen nur mit purem Willen
Sie segeln auch durch stärksten Sturm
Erschreckend groß sind die Gefahren
Doch trotzig bieten sie die Stirn
Der Horizont ist nicht das Ende
Er kann für sie nur Anfang sein
Mein Kahn, auch er treibt stets nach vorne
Folgt meinem Segel, das ich setz
An altbekannte, treue Häfen
Ich spür nur Regentropfen sanft
Ich weiß, das Meer, es geht noch weiter
Auf Wegen stets der Sonne nach
Und manchmal denk ich, was wohl wäre
Wenn ich drauf schlüge meinen Kurs
Und doch mit leichtem Herz ich winke
Den vielen Abenteurern nach
Gönn ihnen Glück und ihre Spannung
Und würde doch nicht tauschen woll’n
Denn treue Häfen sind mir lieber
Bekannte Küsten freu’n mein Herz
Das dann vor Freude schlägt auch höher
Wenn lange Reise sicher schließt
Der Horizont mag weit und riesig
Das Meer selbst gar unendlich sein
Mein Glück liegt mitten in mir selber
Am Steuer sitz nur ich allein

Katie Grosser

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Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.


13 | Simone Scharbert

Nachts III

und stocken einen satz nach dem anderen stecken im
neonguss der straßenlampen haben seltsame größen für einen
moment und werden so ein nervöses wechselspiel aus konkav
und konvex lachen uns angst zu im dünnlicht der röhren

führen wir unsere silhouetten an leinen und staunen über ihr
stilles miteinander und ob sie einander kennen fragen wir uns
während wir schulter an schulter gehen klappen unsere
schatten wie tintenbilder auf mittig geknicktes papier

unser brustbein die achse im jetzt lehnen wir schulter an
schulter die mauer im rücken und sehen unsere schatten
verblassen die nacht während neonröhren flimmern und wir
nur einen augenblick lang fenster und türen geöffnet halten

Simone Scharbert

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12 | Natalia Fastovski

Verlorene Welt

Wir sind gefangen
in dieser Welt
mit einem kaputten Herzen,
verloren in Atemzügen,
die keine Zukunft haben.
Verzweifelt pulsieren
unsere Adern
und wir hauchen
uns gegenseitig Leben zu,
denn solange die letzte
Blüte noch blüht,
ist nicht diese Welt
und nicht unsere Liebe
verloren.

Natalia Fastovski

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11 | Matthias Engels

Mann vor Winter

Ein Mann steht vor seinem Winter.
Er steigt aus dem Schlaf und geht ins Haus.
Aus den Briefen fischt er einen heraus. Er ist von ihm. Ein alter Plan steckt darin und er stellt fest, er kann ihn nicht mehr lesen.
Er fragt seinen Schatten, aber der ist das Stillstehen leid und winkt ihm wortlos zum Abschied. Ein Mann sieht eine Wand an, sieht aus dem Dunkel. Vor dem Haus steht eine Hoffnung. Man sieht es nicht, aber eine Ahnung frisst an ihr, ganz langsam, von unter der Rinde.
Ein Mann sieht in einen alten Spiegel, aber der Junge darin ist verschwunden. Ein Mann setzt sich zu seinen Zweifeln. Sie rücken auf und machen Platz. Er blättert in Bildern, merkt, dass er nicht darin vorkommt und schaltet sie ab.
Er isst noch etwas von seiner Gewohnheit, trinkt den Tag aus, rückt die Ängste in den Regalen zurecht. Er tastet nach seinem Gesicht, daß er unter das Kissen gelegt hat, in der Hoffnung, sich so vielleicht diesen Morgen daran zu erinnern. Er horcht auf das Rauschen. Die Maschine verrichtet ihre sinnlose Arbeit. Er achtet nicht weiter darauf, schneidet sich die Wünsche, kämmt seine Gedanken streng, legt eine Vorsicht auf und schlüpft in eine Erscheinung.
In der Bahn schwitzen links und rechts Geheimnisse, deren Geruch er schwer ertragen kann, dampft Dummheit, drängen Hormone zum Botenstoff, dösen Dramen träge vor sich hin.
Auf der Arbeit konfrontiert man ihn mit Leben, mit lauter MENSCH. Er erträgt es und denkt dabei an sein Spiel.
Er sucht überall einen Horizont, eine Null-Linie ohne Ausschlag, eine millimetergenaue Eichung; ertappt sich, wie er mit der Schuhspitze Krater scharrt in die Grasnarbe des Parks, auf der Suche nach Kabeln und Kupferrohren. Mit dem Finger versucht er Löcher zu bohren in brüchige blaue Stellen am Himmel, er vermutet dahinter ein Drahtgeflecht.
Er kauft ein Tuch. Den Zweck kann er der Verkäuferin nicht nennen, er braucht es weder für Tisch, noch Hals, noch Bett und es fällt ihm schwer, sich zu besinnen:
Was war noch Tisch, was Hals, was Bett? Die Verkäuferin kassiert seine Würde und legt sie in die Kasse.
Er braucht das Tuch für die Nacht. Ob die Welt schläft wie der schwatzhafte Vogel, wenn es sich schwärzt um sie herum?
Ein Mann schüttelt den Kopf. Immer schwirrt ihm das Staunen genau ins Auge! Er nimmt seine Maske ab, wischt es fort und setzt sie wieder auf. Ein Mann fährt heim. Unterwegs sieht er flackernde Vergnügen und wie Feuerwerkskörper verglühende Versprechen. Er steigt aus, seine Haltung lässt er im Wagen. Unter seinen Schuhen splittern die Minuten wie Murmeln.
Am Zaun lehnt sein Schatten und friert. Im Nachbarhaus wohnen Wort, Hunger und Armut und werfen Blicke von hinter den Vorhängen. Sicher hat er Morgen wieder eine Häme an die Hauswand geschmiert.
Ein Mann steht vor seinem Winter. Er kommt ins Schwitzen und nimmt den Mut ab, entledigt sich seines Gewissens. Er liest ein paar Minuten auf und rollt sie hinüber zum Zaun. Er war nie gut darin und der unbekannte Junge am Zaun schmunzelt.
Ein Mann atmet einen Abend. Von drinnen rufen die Dinge, rufen die Bilder, ruft die Angst. Er hört die Hast laut klingeln.
Ein Mann steht am Zaun und streckt die Spitze der Zunge heraus, ganz langsam und nicht sehr weit. Ein Mann schmeckt seine Zeit, sie schmeckt salzig und leicht nach Eisen.
Ein Mann steht im Winter und fühlt, wie sein Bedauern taut. Er hat den Haufen Verzicht unter dem Baum im Herbst nicht aufgekehrt, täglich fiel Blatt auf Blatt. Er wollte die Wut nicht wecken, die darunter schläft wie ein kleiner Nager.
Er fühlt wieder sein Gesicht und versucht einen Ausdruck. Im Zimmer spürt er seine Hände und denkt:
Eine Tat wäre ein Gedanke.
In der Besteckschublade findet er einige kleine Möglichkeiten, zusammen mit Büroklammern, Reißnägeln und Schlüsseln, für die es kein Schloss mehr gibt.
Ein Mann findet einen Faden und den kläglichen Stummel eines Stifts. Er sieht kleine Partikel Graphit in kleinen Scharten eines Gewebes aus Fasern zurückbleiben und ein Staunen schwirrt wieder direkt in seine Augen. Er lässt es dort und freut sich am Prinzip der Reibung.
Reibung erzeugt Wärme, sagt sein Schatten und schaut ihm interessiert über die Schulter.
Ein Mann denkt einen Weg, ein Mann denkt einen Wald.
In einer Ecke spinnt etwas einen Faden. Ein Mann schreibt sein Leben. Das Papier bleibt winterweiss, aber die Reibung der Schreibhand erwärmt es langsam.
Ein Mann setzt zögernd Zeichen auf ein fragwürdiges und irgendwann zerfallendes poröses Material und irgendwo tief unten, im staubigen Bauch eines dunklen Möbels, antwortet etwas mit leisem Pochen, was der Mann jetzt noch nicht hören kann.

Matthias Engels

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10 | Marina Büttner

Glanz & Elend

Da oben die Sterne, Planeten,
das Leuchten ein Raum & unten im Dreck
wir
die Erde steht Kopf wir rennen,
wir rammen einander um,
wir reißen wie Gladiatoren, wie Stierkämpfer
die Gegner entzwei doch oben sind manche
die trudeln wie Engel durchs All
haben die Häupter erhoben
die Füße gestreckt, ihre Flügelspitzen gereckt
wird der Sauerstoff knapp, tauchen sie
herab in die Erdatmosphäre zurück
in den Dreck & fangen
die Entzweiten, die Geteilten, die Geliebten und Enteilten
halten sie fest mit gefiederten Armen - viele fliehen
vor den reinen Gesichtern
fühlen sich höher & sind doch in naher Ferne dicht der Erde
bald darunter bald Asche verstreut überm Wasser

Marina Büttner

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09 | Simone Lettner

Ein kleiner Adventspaziergang

Gestern Abend ging ich spät noch spazieren. Ich ging unbedachten Schrittes meines Weges, in wirre Gedanken versponnen, das dumpfe Tönen der Autobahn vernehmend. Ich fühlte keinen Weihnachtsfrieden in mir. Die nächtliche Stille war nicht friedlich, sondern bedrohlich. Die Kälte kroch in mich, und ich hieß sie willkommen.

Ich kam bei meinem Spaziergang zum Gemeindehaus. An dessen Wand waren ein paar Worte gemalt: „Zünde ein Licht an“ stand da zu lesen. Ich ging daran vorbei, und noch während die hellen Worte vor meinem geistigen Auge aufflammten, schaltete der automatische Bewegungsmelder vor der Eingangstür des Gebäudes eine oberhalb angebrachte Neonlampe ein.

Da überkam mich als mit zusammengekniffenen Augen hilflos Blinzelnde der Gedanke, wie überflüssig es in der heutigen Welt scheint, als Mensch selber ein Licht anzuzünden, wenn doch überall automatische Bewegungsmelder sind. Und auch andere künstliche, scharfe Lichter begleiten uns schließlich stets, Werbeplaketten, Firmenzüge, Leuchtaufschriften, Weihnachtsketten und Warnleuchten. Ganze Gebäudekomplexe sind nachts ausgeleuchtet. Nicht einmal abstellen kann man diese Lichter. Sie verfolgen einen, und sie lassen einen nicht in Frieden.

Wir befinden uns in einer Welt der Zwangsbeleuchtung, vielleicht auch der Zwangsverblendung. Manches Mal möchte ich gerne auf das Licht verzichten, zöge es vor, mich im stillen Dunkeln einzuhüllen – doch dann kommt man an einem automatischen Bewegungsmelder vorbei, und der taucht einen gnadenlos ins grelle Helle.

Das Künstliche an diesem Licht ist verklärend. Es überblendet jeden natürlichen, ehrlichen, aufrichtigen, unscheinbaren Lichtfunken, der noch am dunklen Horizont zu schimmern vermag.

Diese Lichter, über die man keine Verfügung hat – die sich von selbst einschalten und leuchten, ohne dass man sie ausschalten könnte, sind mir unangenehm, wie würde ich denn noch selbst ein Licht anzünden, wenn mich stets so grelles Industrielicht umgibt?

Was  bedeuten heute vier Kerzen auf einem Kranz?

Was bedeutet heute ein aufrichtiges Licht, das aus mir kommt, aus meinem Inneren, das Wärme erzeugt und Geborgenheit, und nicht Kälte und Ausgesetztheit wie die Neonlampe? Welchen Wert hat es und welcher Anstrengung bedarf es? – Vermutlich einer größeren als ich bisher je gefühlt habe.

Das künstliche Licht mit seiner selbstverständlichen Vorhandenheit soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wahres Leuchten ein Geschenk ist – das grelle Fabrikprodukt soll uns nicht blind machen für die viel kleineren, viel ehrlicheren Lichtstrahlen mit viel wesentlicherer Wirkung, die Menschlichkeit verkünden. Wir brauchen nicht so sehr Städte, die die ganze Nacht auf elektrische Art zum hellen Tag erstrahlen lassen – wir brauchen viel eher Meere an Herzen, die mit menschlicher Wärme das hereingebrochene Eis zum Schmelzen bringen, durch die Dunkelheit strahlen und ein Zeichen setzen.

Simone Lettner 

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08 | Eric Ahrens

Weihnachtsmarkt

Kinder kotzen neongrün
als hätten sie verdorbene Kobolde gegessen.
Du investierst zwanzig Tacken
an Plastikpferderennbuden
und dein Hauptgewinn ist ein Plüschtier,
von dem du Ausschlag bekommst.
Die Gesichter der Schausteller steinern,
wartend auf den nächsten Trottel,
der glaubt, sich mit einem Greifarm
ein iPad fischen zu können.
Karussells katapultieren dich
in den endlosen Nachthimmel
und für einen Augenblick wünschst du dir,
sie würden dich loslassen und du könntest
über den Dächern verschwinden.
Doch diese Sehnsucht wird
vom dampfenden Glühwein vernebelt,
der dich in selige Stimmung versetzt
und die Musik aus allen Ecken sagt dir,
dass alles gut wird.
Nach ein paar Bechern bist du breit genug,
um mit der ganzen Welt Frieden zu schließen.
Um verschüttete Freundschaften anzurufen
und ihnen zu sagen, dass es dir leid tut,
wie es gelaufen ist.
Aber soweit kommt es nicht.
Du setzt dich lieber in die Gondel
einer Geisterbahn und hoffst darauf,
dich wieder wie ein Kind zu fühlen.
Mit Herzklopfen und Nervenkitzel.
Aber als du nach wenigen Minuten
wieder rausgeschoben wirst
schaust du finsterer drein
als die Deko-Dämonen
an der Fassade.
Die Euphorie
runtergebrannt
wie klumpiges Kerzenwachs.

Früher war es leichter,
sich zu begeistern.
Verarschen zu lassen,
aber auch.

Eric Ahrens

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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