freiTEXT | Andreas Reichelsdorfer

Zwecks der öffentlichen Wirkung (1965)

Während der Anwalt versuchte, sich in der Zelle mit dem zum Tode Verurteilten zu verständigen, patrouillierte vor den Gittern die Selbstmordwache. Der Vollzug war für nächsten Donnerstag angesetzt.

Andreas Reichelsdorfer

Andreas ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der 20. Ausgabe der Zeitschrift mosaik.

 freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

freiVERS | Ianina Ilitcheva

Alltag, Liebe, Weltraum

5 Gedichte, 2016

1

Weltallfantasien
Selbstmordfantasien
er will Astronaut sein
er kehrt von einer Marsmission zurück
er erzählt, er habe in Paris Philosophie studiert
das zehrt natürlich
aufs Telefon sehen
warten auf das Zeichen
gib mir einen Grund, wie deinen

 

2

ich beobachte  das inaktive System. das System schläft.

kann denn schwarze Energie Sünde sein
ich sage Seele, wenn ich diesen verwirrten Ausdruck haben will

Computerliebe
es läuft darauf hinaus:
ein 3D Drucker schafft einen Körper, mit dem man kein Mitleid
empfinden muss

E im luftleeren Raum
Signalübertragung per miau
das Gegenteil von etwas ist alles, was es nicht ist
was ist daran so schwer zu verstehen, dass das Gegenteil von Vakuum

das Ereignis tritt in der Innenwelt ein
Multiple Innenwelt Theorie
früher nannten sie es Äther
Vakuum kam erst später

alles ist möglich, solange
Spiegelteilchen

miaut das Kätzchen, oder miaue ich

sehe ich dich an, verändert sich etwas
deinem inneren Joghurt den Befehl zu Schimmeln gegeben
mit meinem Blick
du süßer Wahn

"kritzlself" - Selbstportrait
"kritzlself" - Selbstportrait

3

wie in bulgarischer Disco
der Wetterbericht war falsch
Pegel von schwellendem Vogelsang
womit dealst du in der Nacht
schick dein Teil ins Labor
bevor wir satt sind
schließen sie das Tor
uns Vogel warnt schon
lauft schon lauft schon!
läppisch läppisch!
klingt wie What is Love
los schnell sonst
warum machen wir nicht
Urlaub auf den Faröern

 

4

Ich habe eine kryptische Ader
ich will dich darin
Fischkapseln essen sehen
und dann Wege rendern
mit so überkrass Charisma

und ich könnte mehr
Ausdauer beweisen lassen
in meiner Liebe
als Stonehenge
und ein Sieb geht zum Brunnen
in aller Feierlichkeit
die den Badboys gebührt
wandern sie zum Uluru

von wegen Feste Strukturen
bis die Gipfel verschorfen
rufe ich niemanden
bis in der Vorschau
ein weißer Tiger springt
ein nuklearer Februar
tapfer ertrage ich meine Zufriedenheit
morgen nehmen wir Drogen

 

5

frischverschlossene
an einem furchigen
an einem noch Feuchteabend

und du mein Anòrak
und der Anschein der Wahrzeichen
die Pfingstrosen
Gesichter zu lecken
ich kaufe dir dort den Planeten

husch husch die Kröten
husch husch die Löwenmäulchen
so geil auf Passanten
sensibel für den Ausdruck
am Automaten

und lass an dort der Mündung
das Ereignis gesprochen
call me in Realität Domja Vata
und die gefleckten Schultern
und das Sternnebel Ereignis
und die Nachbarn
gehen morgen in die Oper
in Luft und Internet
die Dienstleistungen Amen

Ianina Ilitcheva

Ianina war Teil von Lyrik für alle!, der 3. Babelsprech-Konferenz Salzburg 2016. Zur Konferenz im Dezember konnte sie krankheitsbedingt nicht anreisen, in der Festivalanthologie ist sie mit drei ihrer Texte aus diesem Zyklus vertreten. Ende 2016 ist Ianina verstorben. Retrospektiven finden sich bei KulturKeule22 - 5 Jahre mosaik am 25.1.2017 und in mosaik22 (März 2017).

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at


ZZZ 10/12 | Katrin Theiner

Katrin Theiner, 1981 in Steinheim (Westfalen) geboren. Hat 2006 den Sprung aus der Provinz nach Berlin geschafft – mit einem Magister in Germanistik und Medienwissenschaft in der Tasche. Sie arbeitet als Texterin und Schreibcoach und veröffentlicht online und in Literaturzeitschriften. Aktuelle Texte sind in der„Trashpool“ und in „Das Prinzip der sparsamsten Erklärung“ zu finden. Sie war Finalistin beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2016 und veröffentlicht im Herbst 2016 Erzählungen beim Hamburger Literatur Quickie Verlag.

Katrin ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Die Dunkelheit störte, die Locken auch" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.

-

Buchstabierte Blumen

Vielleicht könnte ich ihre Welt besser verstehen, wenn ich in ihren Schuhen laufen würde.  

Aber ich lasse sie schlafen. Durch die getönten Scheiben sah alles, was nichts mit uns zu tun hatte, nutzlos aus. Verlassene Fabrikhallen, übersonnte Weiden, breitschultrige Wassertürme und dahingekleckerte Häuser. Spargelfelder schmissen sich vor uns hin, Wolkenschwärme malten fliehende Schatten auf zu große Felder. Wir fuhren die Strecke zum vierten Mal. Tim und ich. Zweimal hin, zweimal zurück. Vorbei an dem Bahnübergang mit den gelben Schranken, daneben die verhüllten Tennisplätze, gleich das Rapsfeld mit den Gülletanks, die spitz zum Himmel zeigten. Der Zug glitt zu leise über die Schienen. Mir fehlte etwas. Das Rumpeln, die Geräusche, das Knacken von Lautsprechern. Irgendwas Echtes, am besten was zum Anfassen oder Riechen. Vielleicht etwas, das in der Hand schmolz, sich auflöste, einen klebrigen Film auf der Haut hinterließ. Etwas, das zu mir gehörte, wie Nowitzki zu den Mavericks. Etwas, das mir das Gefühl geben konnte, noch in meinem Körper zu stecken, diesem Ding, das ich immer für zu Peter Parker gehalten hatte – vor dem Spinnenbiss. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt roch alles nach ihr. Und über ihren Duft hatte ich mein Lakers-Trikot gezogen, die Nr. 24. Das hielt ich für das mindeste, auch wenn es das alte Trikot meines Vaters war, das er mir dagelassen hatte, an dem Tag, als er ausgezogen war. „Mach was draus“, hatte er gesagt und mich angeschaut, als warte er auf eine Entschuldigung für die letzten vierzehn Jahre.

weiterlesen im freiTEXT >>

-

purple_rain-

Wind, Kind, Blind, Rind

Polly, so möchte sie genannt werden, habe ich in einem Forum für Allergiker kennengelernt. Erst schrieb ich mir mit Ellen, die unter kreisrundem Haarausfall und einer pelzigen Zunge litt und gerade dabei war, einer Unverträglichkeit gegen Zitrusfrüchte und vielleicht auch gegen ein neues Waschmittel auf die Schliche zu kommen, aber auf ihrem Profil-Bild hatte sie dieses typische Verena-Gesicht; schmales Kinn, pädagogisches Lächeln, durchsichtige Zahnkanten, massenweise Wirbel am Haaransatz, und so sehr ich mich auch bemühte, es fühlte sich einfach falsch an, sie nicht Verena zu nennen. Irgendwann schrieb sie, ich solle doch an einer Pekannuss ersticken, ich sei geisteskrank und seitdem hat sie nicht mehr geantwortet. Gestern schrieb mir Polly und erzählte von Nährstoffmangel, Brust-Migräne, einer abgebrochenen Darmsanierung und ihrer Liebe zu Nirvana. Ich beichtete ihr, dass mein Schnäuzer alleine dafür dient, die Blätterkrokanthaut in meinem Gesicht zumindest zwischen Nase und Mund zu unterbrechen und dass Schließfrüchte aller Art mein Tod seien. Come as you are, schrieb sie und heute treffen wir uns.

weiterlesen in mosaik16 >>

 

theinerLandschaft zum Verschwundensein

Der Herr Onkel war tot. Den Mund voll brauner Fichtennadeln, den Bart auch, als hätte er einen zu großen Löffel Suppe in sich hineingeschaufelt, bei dem die Nudeln zwischen seinen Lippen wieder rauskamen. Oder als hätte er vor Hunger seine eigenen Bäume gefressen und war an Rinde, Harz und Zapfen erstickt. Die Tannenschonung hatte angefangen ihn zu beerdigen, warf Sand auf seinen muffigen Kompostsarg aus Ästen und Laub, aber bevor der Wald den Grabstein setzen konnte, den letzten Spruch aufgesagt hatte, und der Herr Onkel hätte es verabscheut, das Gefasel um Himmel, usw. usf., hätte geschrien, mit Gott und so hätten nur Arschkriecher was am Hut, und bevor die Bäume hinter der Lichtung an der Grabstätte für immer für Ruhe sorgen konnten, hatte ein Waldarbeiter seine Leiche in moosgrünen Gummistiefeln im Unterholz entdeckt.

weiterlesen im freiTEXT >>

freiTEXT | Maik Gerecke

Schriftstellernöte

Für mein Romanprojekt, in dem es um einen Swinger-Club geht, betrat ich die Höhle des Löwen, setzte mich mit einer Freundin in die U8 und fuhr zur Heinrich-Heine-Straße, um im berühmt-berüchtigten KitKatClub Berlin Input zu finden.

Und ich bekam, was ich wollte.

Schon als wir der Tür nur näher kamen, steigerte sich die Aufregung merklich. Wir zitterten etwas und ich hatte das Gefühl, meine Atmung unter Kontrolle halten zu müssen. Neben uns stiegen drei Kerle in Tutus und engen Strumpfhosen lachend aus einem Taxi und es war klar, wohin sie in diesem Aufzug wollten. Meine Begleitung packte mich sofort am Arm und beteuerte, wir müssten uns beeilen, um noch vor »denen da« die Türsteher zu passieren. Denn im Vergleich zu ihnen wirkten unsere Aufzüge äußerst langweilig. Vorallem meiner.

An der Tür wurden wir kurz aber eindringlich gemustert und ich sah die Skepsis in den Augen des Türstehers aufflammen. Er zuckte mit den Schultern, seufzte, schaute dann zu seiner Kollegin und sagte: »Mach du dit ma.«

Die erste Hürde war genommen, beim Bezahlen wurde es jedoch kritisch. Ich trug eine lange schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein offenes schwarzes Hemd darüber. Die Frau an der Kasse musterte mich ungläubig und sagte: »Haste vor, dich noch umzuziehen, oder wie?« Ihr Blick verharrte auf meinem Körper. »Also so … nää, so jeht dit nich.« Und ich sagte nur: »Ähm …« und dann erst Mal nichts mehr.

»Naja«, mischte sich meine Begleiterin schulterzuckend ein, »er ist halt Schriftsteller« und verzierte ihre Aussage mit einer Was-willste-machen-Geste. Sie wolle einfach mal mit mir tanzen gehen, erklärte sie weiter, und setzte dann ein bittendes, zuckersüßes Gesicht auf. Passend zu ihrer pinken Strumpfhose.

»Na, dassa Schriftsteller is, is ja schon ma jut, aber kanna nich wenigstens dit T-Shirt ausziehen?«

Die Verhandlungen begannen. Witzigerweise erledigten die beiden Frauen den Bärenanteil der Gespräche. Ich war wieder acht Jahre alt, fühlte mich klein und als beobachtete ich Mütter, wie sie in der dritten Person über mich redeten.

Man versicherte mir, es habe nichts mit mir zu tun, ich könne sein, wie ich wolle, aussehen, wie ich wolle, aber eben nicht hier. Und nicht so! Das sei zu sportlich. Aber wenn ich, nun ja, das T-Shirt ausziehen würde und mit – zumindest halb – aufgeknöpftem Hemd rumliefe, dann, ja, ihretwegen. Und auch wenn die Angestellten des Clubs die gewohnte Strenge des Berliners aufwiesen, erfuhr ich sie als ungewöhnlich freundlich. Regelrecht einladend. Für Berliner Verhältnisse.

Ich musste mich also umziehen.

Aber wo tut man das hier doch gleich? Wo sind die Umkleidekabinen? Ich suchte vergeblich. Das Umziehen erledigt man direkt an der Tür, gegenüber von der Kasse, da aber noch kaum jemand anwesend war, bekam ich davon nichts mit. Also ging ich wie ein verschüchtertes Pastorentöchterchen aufs Herren-Klo, an ein paar nackten, mit Lederriemen behangenen Kerlen vorbei, verkroch mich in einer Kabine und zog mich um. In dem merkwürdigen Bewusstsein, einen Fehler zu begehen. Danach wurde ich erneut der Frau an der Kasse präsentiert, die mich jetzt freundlich anlächelte, mir dann auf die etwas behaarte, bleiche Brust starrte und sagte: »Na siehste! Das ist doch schon echt sexy!«

 

Ich war in keiner besonders guten körperlichen Verfassung an diesem Tag, da ich den Abend zuvor bereits ziemlich über die Strenge geschlagen hatte. Ausgerechnet heute hatte ich einen dieser Tage, an denen man schwört: Heute kein Tropfen Alkohol.

Wir gingen als erstes ein wenig durch den Laden, schauten uns alles an. Den Pool-Bereich, die Chill-out-Area, die verschiedenen Floors, Ecken und Ebenen. Es war noch früh und der Laden relativ leer. Die ersten nackten Kerle streunten bereits durch den Club oder saßen herum. Ich sah einen älteren Herren mit Lederoberteil, dessen bestes Stück von einem Metallring gehalten wurde, erste weibliche Brüste flogen durch mein Blickfeld und auch ein paar männliche. Ein Kerl in teurem Anzug und Krawatte fernöstlicher Herkunft, der mich an das Wort »Businesstrip« denken lies, inspizierte interessiert aber verhalten die Räumlichkeiten, kletterte dann irgendwann hoch auf das Podest mit den Poles darauf und begann zu tanzen. Vornehmlich mit den Hüften.

Dann kamen die Lederanzüge, die Hundeleinen, Ketten, Strapse, die hier von beiden Geschlechtern getragen werden, genau so wie die Netzhemden, Netzstrumpfhosen oder Stringtangas.

Ich brauchte Alkohol.

Die Reize wurden zunehmend reichhaltiger und ich dachte mir, ein guter alter Aufenthalt an der Bar würde mir eine kleine Auszeit verschaffen. Dort angekommen stellte ich fest, dass die Bedienungen nackt waren. Sowohl oben, als auch unten. Und aus einem inneren Impuls, Anstand walten zu lassen, bemühte ich mich reflexartig, meine visuelle Neugier zu unterdrücken. Nicht direkt hinzusehen. So richtig hatte ich das Prinzip dieses Laden noch immer nicht begriffen.

 

Drei Bier später ist der Laden auf einmal rappelvoll. Die Leute tummeln sich auf den Tanzflächen. Penisse, Vaginas, Brüste soweit das Auge reicht. Ich sehe Menschen in Ganzkörper-Bärenkostümen, Männer, die sich permanent am Glied herumfummeln. Mir verlangt es nach Bier – immer mehr Bier – und meine Knie werden schwach. Es ist, als geschehe ganz langsam etwas mit meinem Körper, das man nur auf einen Drogenkonsum zurückführen kann. Jeder Raum ist von einer bis ins Unendliche gesteigerten Scheißegal-Einstellung erfüllt, dass man glauben möchte, man befände sich in einer Parallelwelt. Plötzlich erkennst du Grenzen – in dir und der restlichen Welt –, weil sie auf einmal nicht mehr da sind. Du bist frei auf eine Art und Weise, wie du diesen Begriff noch nie zuvor verstanden hast. Ein Gefühl, glaube ich, nachdem man leicht süchtig werden kann.

Der Laden füllt sich.

Dieser Ort, er lockt dich mit süßen, nie gekannten Möglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion immer tiefer in sein Innerstes. Nackte Arschbacken berühren dich, eine Brustwarze streift deinen Oberarm, auf einem Podest tanzt ein alter, dünner Kerl in Strapse und Nylons mit einer zappelnden Erektion, lächelt zufrieden dabei. So zufrieden, wie es nur irgend geht. Ich lache, freue mich für ihn.

Ach, was soll's. Drauf geschissen. Also los, noch'n Bier geholt, Begleiterin geschnappt und ab in die Menge. Mein Taktgefühl wird zunehmend physiologisch ausgelebt und auf einmal ist das alles hier gar nicht mehr so schlimm. Menschen ziehen sich aus, klatschen sich auf die Hintern, peitschen sich, betreiben BDSM und ich denke: Ja. Warum denn auch nicht?

Ich rauche, rauche, rauche. Trinke, trinke, trinke. Tanze synchron dazu. Die ersten lüsternen Blicke von attraktiven, leicht bekleideten Frauen grienen mich an. Ganz offen und unverhohlen. Das ist ungewöhnlich in dieser Stadt, auch wenn ihr Ruf etwas anderes verspricht. So direkt werde ich normalerweise nicht beäugt, muss in der Regel viel mehr arbeiten für einen einfachen Flirt. Ist dies hier – dieser Ort – vielleicht das wirkliche Berlin, von dem jenseits seiner Grenzen so viel gesprochen wird?

Meine Hemmschwelle sinkt und sinkt. Sinkt immer weiter. Der Drang, zu der langbeinigen Blondine da drüben rüberzugehen, aus einem Lächeln die Berührung namenloser Zungen und Körperteile werden zu lassen, steigt. Aber dann suchen mich Gedanken aus der Welt da draußen wieder heim. Zweifel, Bedenken, Ängste. Was, wenn dies? Was, wenn das? Krankheiten, trickbetrügende Prostituierte, unerkannte Transsexuelle.

Ich lasse sie links liegen, nur so zur Sicherheit, aber da kommt schon die nächste, lächelt mir zu. Von etwas weiter weg. Größere Brüste, süßes Gesicht, breitere Hüften, dunkle Haare. Nicht schlecht, nicht schlecht, denke ich mir.

Warum, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an früher. Wieder bin ich ein kleines Kind, denke an die Besuche beim Fleischer mit meiner Mutter und wie die Frau hinter der Theke mir immer eine »Gesichtsmortadella« schenkte. So nannte ich sie. Ich denke an den Anblick des Fleisches hinter dem Glas und wie nur sie, die Fleischfrau, die Macht hatte, mir eine dieser Genüsse zu gewähren.

Aber dann, kurz bevor ich mich zu vergessen beginne, werde ich von meiner Begleiterin beiseite genommen, die mich wieder an die beruflichen Gründe erinnert, aus denen ich überhaupt erst hier her gekommen bin. Sie zeigt auf etwas, hat ein Gesicht, das sagt: »Schau mal, dort!« Denn hinter uns geht der Abend gerade in die nächste Phase über.

Das Gang-Bang-Armageddon beginnt.

 

Das KitKat verschluckt dich, definiert Normalität für dich neu. Man kann nicht leugnen, dass du an kaum einem Ort so sehr akzeptiert wirst, wie hier. Ob du alt, dick, kahl oder vollbusig bist, ob du männlichen, weiblichen, dritten, vierten oder welchen Geschlechtes auch immer bist – all das spielt hier wirklich keine so große Rolle. Ein Gefühl, dass mir keine political correctness dieser Welt je verschafft hat. Denn die gewöhnliche Werteskala ist schlicht außer kraft gesetzt. Es herrscht ein so ungewöhnliches Höchstmaß an Akzeptanz, Offenheit und Neugier. Die Menschen haben sich in der Sexualisierung des sozialen Miteinanders vereinigt. Und die Welt da draußen, sie wird in so weite Ferne getragen, wie es kein Zug, Flugzeug oder Raumschiff je bewerkstelligen könnte. Sie ist ansteckend, diese Atmosphäre. Es ist, als kämst du in die Hölle und würdest feststellen, dass die Schauergeschichten über sie sittlich befangene Verunglimpfungen waren. Keine objektiven Schilderungen.

In einer Ecke sehe ich jetzt die hübsche junge Frau liegen, die am Beginn des Abends auf der Tanzfläche noch ihren BH auszog, ein wenig tanzte und ihn dann wieder anzog. Ich dachte, es sei ihr dann doch zu viel gewesen, aber jetzt liegt sie da. Die Beine mit den Highheels daran in die Höhe gestreckt und um sie herum tummelt sich eine Horde Männer. Auf ihr liegt etwas, das aus meinem Winkel nur ein sich auf und ab bewegender Hintern mit zwei Oberschenkeln unten dran ist. Der nächste in der Reihe ist ein Kerl im Arztkostüm. Sein Vorgänger ist fertig und er klettert in die Ausgangsposition. Versenkt sein Glied.

Ein Dutzend Männer hämmert vor meinen Augen diese zierliche Frau – dieses Mädchen – durch und ich bin überrascht, dass es mich nicht so sehr schockt, wie erwartet. Mich wundert nur, dass ich kein Kondom am Penis des Arztes gesehen habe bevor er sich an ihr verging.

Ich schaue mich weiter um. Über uns auf der Hochebene hängen zwei Frauen über dem Geländer, hinter ihnen Männerschlagen, rechts und links Hände an ihren Brüsten. Die Frauen schreien lustvoll und mit geschlossenen Augen, aber weil die Musik so laut ist, hörst du es nicht. Siehst es nur. Mir ist, als schaute ich einen Porno mit einem VR-Helm und statt mich zu verkriechen, mich zu genieren, bemerke ich auf einmal Aktivitäten in meiner Hose und die Neugier in meinem Bauch kitzeln. Ganz so, als sei ich allein Zuhaus'.

Überall um mich herum wird gevögelt. Neben mir, hinter mir, über mir. Ich bin Schriftsteller denke ich mir. Stülpe mir diese Berufsbezeichnung über wie ein schützendes Tuch und mache mir mentale Notizen. Dabei interessieren mich die vögelnden Gruppen mehr als die vögelnden Paare. Die Erfahrenen Clubgänger, mutmaße ich, spüren es wahrscheinlich schon nahezu präkognitiv sich ankündigen, wenn eine Frau ihr Okay zu einem solchen Intermezzo aussendet. Gieren sehnsüchtig nach Gang-Bang-Gelegenheiten. Trauben aus gierigen, ungeduldigen Männern entstehen und die Frauen liegen dort wie eine Bienenköniginnen, entscheiden über Ja und Nein. Erleben einen beinahe religiösen Trance-Zustand des vollkommenen Kontrollverlustes.

Und nachdem ich mich von all diesen Eindrücken habe verprügeln lassen, nachdem mein Geschlechtsteil sich gegen mich verschworen hat, nachdem die Welt dort draußen nur noch eine vage Erinnerung ist, sagt meine Begleiterin zu mir: »Ich glaub', ich hab genug für heute.«

 

Wir verlassen den Club. Die Welt, die ich jetzt betrete, ist nicht mehr dieselbe. Die Straßen sehen »merkwürdig« aus, obwohl es genau die gleichen sind, wie vor ein paar Stunden noch. Sie sind unwirklich geworden. Überhaupt sind Realität und Wirklichkeit nur noch zwei deformierte Gebilde.

Minuten später sitze ich in der U8 auf dem Weg nach Neukölln. Völlig fertig. Erschlagen. Körperlich, psychisch und geistig. Die Normalität, durch die ich alltäglich wandele, sie verstört mich auf einmal. Ist irgendwie nicht mehr »richtig«. Ich schaue nach links, schaue nach rechts, wundere mich, dass die Leute nicht einfach vögeln, wäre nicht überrascht, wenn sie es täten. Hier in der U8. Warum auch nicht? Ist doch egal. Was ist denn unser soziales Miteinander, außer eine komplexe Systematik aus Grenzen und Privilegien, die Handlungen und Möglichkeiten in eine Ordnung bringt? Grenzen, die wir selbst – als Menschen – gezogen haben, um uns in ihnen zu bewegen, und die wir auch selbst problemlos übertreten können wie den weißen Streifen auf einer Fahrbahn.

Etwas aus dem KitKatClub muss mir gefolgt sein, sich an mich geheftet haben. Wie ein finsterer Dämon. Mir ist, als könnte ich in dieser Welt hier draußen nur noch mit großer Anstrengung funktionieren. Ich habe gesehen, was sein kann, habe erlebt, dass diese Welt hier nicht so sein muss, wie sie ist.

Die Erfahrungen, die ich machen, die Bilder und Eindrücke, die ich sammeln wollte – ich habe sie alle bekommen. Habe sogar feststellen dürfen, dass meine Fantasie in Bezug auf den geplanten Roman einiges davon vorweggenommen hat. Aber in die Menge der Erfahrungen hat sich eine Reihe unerwarteter Selbsterfahrungen eingeschlichen, die ich ohne den KitKatClub niemals hätte machen können. Dafür muss ich ihm und den Menschen darin danken. Ganz ernsthaft.

Und die letzte Erfahrung, die ich an diesem Abend machte, war eine, die ich bis jetzt noch nicht ganz verstehe. Es ist merkwürdig, da ich normalerweise ganz anders bin. Denn das letzte, was ich heute Nacht wollte, war, allein zu sein.

Maik Gerecke

 freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

ZZZ 9/12 | Petrus Akkordeon

herr petrus akkordeon wurde am 27.september.1971 in berlin steglitz geboren. neben unzählbaren bildern und zeichnungen, graphiken, objekten und aktionen schreibt herr akkordeon auch. seine texte vertreibt er auf unterschiedliche weise. in verschiedenen verlagen  hat er drei dutzend bücher veröffentlicht. zum teil vom ihm geschrieben und zu einem teil von ihm illustriert. studien der philosophie, psychologie,religionswissenschaften an der fu-berlin und sehr lange kunst an der hdk.berlin bei f.w.bernstein

Petrus ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "wer rollt den stein" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

-

komm komm komm
wir zerstören die stadt
wie losgerissene einhörner
und staub
bedeckt alles
und staub
schütteln wir
aus unseren echsenpanzern
und wieder staub
wenn wir uns grausam
küssen
das unsere geweihe brechen
es rieselt
meine liebste
dein pony
die katze minka sowieso
sitzen auf einer
immergrünen weide
amseln lächeln
und die leute
vegessen
die stadt


 

portrait petrus sw

der morgen riecht nach sandelholz
und er möchte kirschblüten würgen
soviel von zuviel
und der tod
kuschelt sich dichter
er riecht nach kater
und ist eigentlich sehr schön
ein weiteres jahr gefressen
und ratten
flügelschlagsexplosionen
und ich wache auf
eine schneeflocke schmilzt
und zwischen den dörfern
alles nur schwarzer nebel
ich möchte
das ende der welt
in das amaturenbrett
deines autos kratzen
lasse es aber
wird, wenn ich recht habe,
niemand lesen

 


ZZZ 8/12 | Silke Vogt

Silke Vogt wurde 1966 in Hannover geboren, studierte bis 1992 in Bonn Geographie, Volkswirtschaft und Städtebau. Mitte und Ende der 90er Jahre war sie für insg. drei Jahre in Japan. Seit 1999 wohnt sie im Westerwald, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Dissertation wurde 2001 beim Deutschen Institut für Japanstudien (DIJ) publiziert. Zur Zeit ist sie “schreibende Hausfrau” und hat erste Lyrik- und Kurzprosabeiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.

Silke ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Unzweifelhafte Zwieback-Geschichten" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.

 

Unzweifelhafte Zwiebacks-Geschichte(n)

Zweifel zwischen Zwieback - ein zweifelhaftes Thema? Nein, weltbewegend, wie einige Stippvisiten in verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte beweisen. Chronologisch aufbereitet, damit der rote Faden zweifelsfrei erkennbar ist, kein geneigter Leser vor zu viel Neigung aus dem Gleichgewicht kommt, wobei er sich auf der globalen Universalreise verzweifelt verkrümeln könnte, unterwegs aufgepickt wird wie bei Hänsel und Gretel. Hier geht es nicht um Märchen, sondern um nackte, de facto zugleich anziehende Tatsachen. Anzügliche lassen wir weg.

Das am längsten zurückliegende Ereignis verdient ebenso die Bezeichnung historisch wie hysterisch. Es widerfuhr dem Erfinder des Zwiebacks, einem antiken Griechen Namens Πυρά, gelesen Pira, was, nomen est omen (kleiner Exkurs ins Lateinische), wahlweise „Feuerstelle“ oder „Scheiterhaufen“ bedeutet. Nicht bloß Name, zugleich Berufsbezeichnung, war er doch als versierter Bäcker berühmt für seine leckeren Brote, die nach wohltemperiertem, zeitlich minutiös, nein, sekundiös dosiertem Backen eine unvergleichliche Saftigkeit aufwiesen. Kein Konkurrent konnte ihm das Mehl reichen, was manch einen zum Konkursenten degradierte. Mit der Zeit schürte das, analog zum Feuer, auch den Neid.

Eines unglückseligen Tages ließ der größte Nebenbuhler einen metaphorisch-finalen Rettungsschuss in den Ofen los: Er lenkte das Genie mit einer schier endlosen Geschichte über unglaublich günstige Kornbezugsquellen derart geschickt ab, dass der Superbäcker, ganz Feuer und Flamme, alle Brote in der Hitze des Gefechts, in diesem Falle Ofens, vergaß. Tatsächlich schaute er erst wieder nach ihnen, als sie das Doppelte der üblichen Zeit darin geschmort hatten, eingegangen in die Geschichte als „Doppler-Effekt“. Rein mathematisch betrachtet, worin die alten Griechen schon seit Adam riesig sind, war der Teig quasi zweimal gebacken worden. So blieb ihm nur, knochentrockene, hellbraune, fast steinharte Gebilde aus der Glut hervorzuholen, und das, obwohl er sonst nichts anbrennen ließ. Die Dauer der Backzeit dauerte ihn zutiefst, mit höchst fatalen Folgen.

Unser Grieche war nicht nur antik, zugleich auch äußerst antiquiert, weshalb er Neuerungen jeglicher Art zweifelnd, dem von ihm zwangserfundenen Zwieback sogar verzweifelnd gegenüberstand. Für ihn als Mann von Ehre, die damals noch viel zählte (eins, zwei, drei, viele), bot sich nur ein vertretbarer Ausweg an: er musste aus dem Weg, weg. Minimal zwiespältig biss der Zwiebäcker todesmutig in eines der misslungenen Etwasse hinein, brach dabei einen unter Kollateralschaden zu verbuchenden Schneidezahn ab und spülte das Zwieback-Zahn-Blutgemisch, für uns heute schier unglaublich, mit einem Schierlingsbecher hinunter.

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


24 | Stefan Heyer

Ein Stück Seife

In die Socken hatte er den Zettel getan. Mühe sich gegeben. Viel Mühe. Die schönste Schrift. Mit Bleistift und Lineal Linien gezogen auf dem Blatt. Vorgeschrieben jeden Buchstaben. Jeden Schwung. Auch beim Pfarrer war gewesen. Zum Beichten. Wie jedes Jahr. Es war schwierig, ihn zu finden. Gerne wollte er einen Christbaum. Doch es war keiner aufzutreiben. Nicht für Geld, nicht im Tausch. Wie immer würde er an Weihnachten in die Kirche gehen, zum Gottesdienst. Auch ein altes Spielzeug wollte er dem Pfarrer geben, für andere Kinder. Doch fand kein geeignetes. Früher hatte sein Großvater immer besondere Süßigkeiten gebacken. Hatte eine eigene Bäckerei gehabt. Jetzt gab es diese Backstube nicht mehr. Aber Großvater buk hin und wieder, wenn er Mehl bekam, Brot im Keller. Dort hatte er jetzt einen kleinen Ofen, hatte ihn selbst gebaut. Aus Ziegel. Tat seinen Dienst. Aber es war schwierig an Mehl zu kommen. Weihnachten würde auch dies Jahr schön werden, ganz bestimmt. Wie jedes Jahr. Auf den Zettel hatte er nicht viel geschrieben. Ein Stück Seife hat er sich gewünscht, sein Vater machte sie immer noch, auch wenn Olivenöl knapp geworden war, Lorbeer war noch seltener. Ein Stück Seife. Er träumte von einem Bad. Das Haus stand schon lang nicht mehr. Sie wohnten jetzt bei den Großeltern, die hatten mehr Glück gehabt. Bombenangriffe. Auch die Kirche hat es getroffen. Eingestürzt. Nur noch Schutt und Asche. Der Pfarrer lebt noch. Irgendwo würde die Heilige Nacht gefeiert werden. Freiwillig würde seine Familie die Stadt nicht verlassen. Nachts hatte er oft Angst. Schüsse. Raketen. Bomben. Da verkroch er sich ganz tief in sein Bett. Seine Großmutter erzählte dann immer von früher. Aleppo war eine schöne Stadt gewesen. Früher. Eine sehr alte Stadt. 4000 Jahre alt. Viele Menschen haben hier gewohnt, früher, vor dem Krieg. Seine ganzen Freunde sind geflohen. Oder tot. Oft hat er Hunger. Er wusste nicht, ob er die Toten beneiden sollte. Er hat sich ein Stück Seife gewünscht. Weihnachten würde schön werden. Bestimmt. Ganz bestimmt. Und Schnee hatte er sich gewünscht. Schnee für Aleppo. Dann wäre die Stadt wieder schön. Aleppo als Schneelandschaft, kein Staub mehr, keine Steinwüste. Alles wäre ruhig.

Stefan Heyer

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

23 | Markus Grundtner

Das Streben nach Unglück

Wenn ich daran denke, wie ich damit umgehe, mir etwas zu wünschen und es tatsächlich zu bekommen, erinnere ich mich an die Nächte vor Weihnachten, als ich noch ein Kind war:

Das Kind schwingt sich auf sein Stockbett und schmiegt den Kopf in das weiche Kissen, um tief und fest einzuschlafen. Dann beginnt das Kind zu träumen. Es träumt von seiner Vorfreude auf Familie und Geschenke. Es träumt von einer Maschine, die das Vergehen der Zeit beschleunigt. Es träumt, wie es sich hellwach hin und her wälzt. Es träumt, dass es im Bett nur Unruhe findet. Es träumt von seiner feuchten Stirn und seinem trockenen Mund. Es träumt von seiner Decke, die einerseits zu dick und andererseits zu kurz ist.

Unerwartet nähert sich der erhoffte Moment dann doch. Das Kind träumt, wie seine Glieder nicht mehr zucken, sondern matt werden. Es träumt, wie sein Geist sich entspannt und zerfließt. Es träumt, wie seine Augen sich schließen und geschlossen bleiben. Das Kind träumt vom Einschlafen.

Der Glücksfall tritt ein. Doch dabei drängen sich Zweifel auf: „Einfach so, ganz plötzlich und unverdient? Das kann doch nur ein Trugbild sein.“ So vertraut das Kind seiner eigenen Gewissheit: „Tatsächlich schlafe ich gar nicht.“ Als der Schlaf im Traum kommt, nimmt das Kind den einzig logischen Ausweg aus seiner Angst, getäuscht zu werden, und erwacht so in eine Nacht, die noch lange andauert.

Inzwischen verlebe ich meine Tage nach diesem Muster. Ich fliehe vor Wünschen, von denen ich nicht glauben will, dass sie schon wahr geworden sind, damit sie sich endlich erfüllen.

Markus Grundtner

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

ZZZ 7/12 | Ulrich Moebius

Geboren 1964 in Bonn, studierte Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaften und Geschichte in Hamburg und Colorado, arbeitet seit 1992 als Lehrer in Berlin und lebt in Kreuzberg. Reist viel und gern. Schreibt Kurzgeschichten und Skizzen.

Ulrich ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Home sweet Home" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

 

Home sweet home

Sein Blick blieb auf dem Display des Telefons hängen, als könnte von dort noch ein Nachsatz kommen. Arun hatte gerade mit seiner Mutter telefoniert. Es war das übliche Sonntags-Ritual. Wenn es irgendwie ging, rief Arun seine Mutter nach dem Frühstück an. Das passte meist. Seine Mutter versuchte dann im Haus ihres Bruders zu sein. Hier gab es seit einem Jahr einen Anschluss. Es hatte lange gedauert, bis sich Aruns Mutter daran gewöhnt hatte, mit ihm zu telefonieren. Sie war nicht ungestört bei ihrem Bruder, aber so konnten sie gut Kontakt halten. Seinen Schwestern fiel das leichter – sie schickten ihm mittlerweile Nachrichten über Skype, wenn sie in einem der Internetcafés der Stadt waren.

Aruns Mutter hatte sich anfangs schwer getan, aus der Distanz mit ihm zu reden. Die Zeitverschiebung betrug 5 Stunden. Sein Leben in Deutschland war ihr fremd. Es waren immer wieder die gleichen Fragen, die sie stellte.

Heute war es anders gewesen. Heute hatte sie nicht gefragt, heute hatte sie ihm erklärt, was sie für ihn geplant hatte, wenn er im Juli nach Battambang käme. Sie war in ihrem Eifer nicht zu bremsen gewesen. In ihrem Kopf hatte sie sich schon alles ausgemalt. Lange hatte sie auf diesen Tag gewartet.

Martin werkelte draußen im Garten, Arun sah ihn durch die Fenster in der Erde buddeln. Er war ganz eifrig dabei, Ordnung in den noch frischen Garten zu bringen. Mit kräftigen Armen grub er voller Tatendrang ein Beet um. Fast zwei Jahre wohnten Arun und er nun in diesem Reihenhaus in Teltow. Der Garten war Martins Sonntagsritual.

Arun spürte, dass er rausgehen und ihm helfen sollte, blieb aber am Telefon stehen.

Das Gespräch mit seiner Mutter wiederholte sich in seinem Kopf. Er versuchte die Worte zu begreifen. Warum hatte er ihr nicht widersprochen? Alles drehte sich. Wörter in Khmer, Deutsch und Englisch... und dann immer wieder ihr Name: Srey Leak! Srey Leak, das perfekte Mädchen. Hatte er sie schon einmal gesehen, so wie seine Mutter es gesagt hatte?

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


22 | Andreas Haider

Weihnachtsgschicht 2016

In Idomeni kumt a kloans Kind auf’d Wöt,
in an koidn Zöt,
weis Boot wieda amoi voi is;

In Afghanistan flücht a junge Familie,
mit nix aussa eahn nocktn Lebn,
weis eahna des a nu nehma wion.

In Syrien haum a poar Terroristn
in an Weisnhaus
hundat Kinda ogschlocht;

Waun i heit de Zeidung lies -
Herbergssuche, Flucht, Kindamord -
es is eh fost wia im Weihnachtsevangelium;
wia vor zwatausnd Johr -
und de Menschheit wird net gscheida!

Andreas Haider

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at