freiVERS | Lütfiye Güzel

man lebt nicht jeden tag

-

eine spinne mit den augen

verfolgt

mit gutem gewissen

ihr netz nicht zerstört

dann obst von den bäumen

geschüttelt

& drei runden geweint

Lütfiye Güzel

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

 


24 | Kinga Tóth

„Tür auf, Tür zu“

vater wäscht sich
mutter kocht
fremde an der tür
nachtkäfer surren
grillen draußen
fremde an der tür
man sagt nichts hier
wenn sie fliehen
pfeifen die hahnsirenen
‘drauf blieb der topf
kocht über leert sich
mutter vater
fremde

Kinga Tóth

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

23 | Nicola Huppertz

tag vor heiligabend

zufällig
zwischen zwei eiligen schritten
lege ich den kopf in den nacken
und sehe wie sich die möwe
vom frühlingsmilden wind
davontragen lässt

ihr schmaler Körper
ohne gewicht
vor wolken aus hauchzarten
lamettafäden
am hellblau des himmels

während hier unten
zwischen läden und lichter-
ketten
noch immer die gesetze
der schwerkraft gelten
und die der saison

weshalb ich meinen blick abwende
und weiterhaste

der stillen zeit
entgegen

Nicola Huppertz

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

22 | Stefan Heyer

Seine Freunde konnte er nicht fragen

Viel geblieben war nicht von Aleppo. Die meisten Gebäude zerstört. Auch seine Freunde waren weggegangen. Geflohen aus der Stadt. Oder gestorben. Geschossen wurde nicht mehr. Das war auch alles. Das Leben? Musste weitergehen. Letztes Weihnachten hatten sie in der zerstörten Kirche gefeiert. Es war kalt gewesen. Ohne Dachstuhl. Heizen hätte da nicht geholfen. Aber sie hatten gefeiert.

Sein Vater hatte Arbeit. Hatte Glück gehabt. Vater stellte immer noch Seife her.  Wenn er Olivenöl bekam. Und Lorbeer. War nicht leicht, die Sachen zu bekommen. Strom gab es wenig. Ein paar Stunden am Tag. Oft war der Strom plötzlich weg. Wasser gab es auch nicht immer. Das nervte am meisten. Das eine oder andere Haus wurde wieder aufgebaut.

Letztes Jahr hatte Jiro sich zu Weihnachten ein Stück Seife gewünscht. Was sollt er sich dieses Jahr wünschen? Seine Freunde konnte er nicht fragen. Es war kein Krieg mehr in der Stadt. War das jetzt Frieden? Sein Vater konnte es ihm nicht beantworten. Sie lebten. Sie hatten zu essen. Nicht immer. Manchmal hatte er Hunger. Eigentlich fast immer.  Wenn kein Wasser aus der Leitung kam, musste er immer Kanister schleppen.  In der Nähe gab es ein Kloster. Wenn er Hunger hatte, ging er manchmal hin. Die Schwestern hatten auch nicht viel. Doch sie gaben ihm immer etwas.

Mehl war immer knapp. Großvater würde gern mehr Brot backen. Doch sein Ofen blieb oft kalt. Holz gäbe es schon genug. Oder irgendetwas anderes zum Heizen. Doch Brot ohne Mehl konnte auch Großvater nicht backen. Süßigkeiten hatte er schon lange nicht mehr gebacken. Womit auch.  In den Geschichten von Großmutter war Jiro zuhause. Auch wenn das Elternhaus nicht mehr stand. Sie erzählte wunderschöne Geschichten, Märchen. Aleppo muss schön gewesen sein. Das Leben muss schön gewesen sein. Früher. Als es keinen Krieg gegeben hat.

Er hatte keine großen Träume.  Nachts war es jetzt immer still. Und dunkel. Schwarze Ruinenstadt. Überall zerschossene Häuser. Oft wurde er wach in der Nacht. Kroch zu Großmutter ins Bett. Liebte ihr weißes Haar. Vielleicht sollte er sie fragen, was er sich wünschen könnte zu Weihnachten. Jiro konnte lesen und schreiben. Zumindest ein bisschen. Er konnte jetzt wieder zur Schule gehen.  Es gab Container. Die Kirche war immer noch eine Ruine. Noch hatte sie keiner aufgebaut. Schnee würde es dieses Jahr wohl auch nicht geben. Großmutter erzählte ihm manchmal vom Schnee. Schnee müsste herrlich sein.

Stefan Heyer

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

21 | Frederik Mork

fern & fern

Du bist
fern und fern
und zugeknöpft
von anderen Händen
mehr als das
durchbrichst du
alles in diesem Raum
vom damals wirren Denken
bis zum wirren Denken heute
von Erinnerungen
und Äußerungen
von Fragen bis zu
ganz anderen Fragen

Du bist
fern fern
zugeknöpft
aufgeknüpft
wartest bis die Strafe
die Bestraften holt
kommst nicht
bleibst fern
vieles wartet schon
auf deinen Platz
offene Ohren und Nähe

Frederik Mork

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

20 | Kerstin Fischer

Winterfrage

Die Portraits in Öl stehen im Schnee der Stadt.
Ihre jahrhundertealten Blicke ziehen über die Graffitis der Häuserwände.
Dann lesen sie in den Weissagungen der Kälte.
Aber der Frost ist taub für jedes Gefühl. Er baut Nester in die Jacken der Obdachlosen,
bis sie winseln wie Hunde, die durch die Schatten im Rotlicht der Amsterdamer Straßen schleichen.
Die Tiere beobachten, wie es die Genitalien wund schlägt, das Licht, bei Nacht betrachtet.
Hinter den schweren Holztüren hallt indes das Gelächter der Verstorbenen.
Es macht die Gesichter bleich. Extasy ist en vogue.
Nuttenkrallen schlagen gegen die Scheiben.
Sie brechen das Eis in dem frierenden Hirn des Mannes
mit dem Muttermal über dem Auge, das er Igel nennt.
Er wirft seine schwarzen Ringe in den Rinnstein. Der Vorhang aus Filz ist geschlossen.
Die anderen warten im Eisregen.

Kerstin Fischer

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

19 | Bas Lindgaard

Mara

In der Zwischenzeit
tauchte Mara auf
und erzählte mir
von höllischen Krämpfen.

Das Ende des Tunnels
kommt immer näher
und wahrscheinlich
erreichen wir es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

In der Zwischenzeit
erschien Mara
und erzählte mir
von den Krämpfen,
die ihn heimsuchten
und von dem Blut,
das er geschwitzt hat.
Man sah ihm an, dass er
dem Ende des Tunnels
immer näher kam
und wahrscheinlich
erreicht er es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

Ich sah ihn zuletzt meditierend,
auf einer pechschwarzen Lotosblüte,
bevor das Licht ihn verschlang.

Bas Lindgaard

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

18 | Axel Görlach

spiel mir das lied

vom schafottschaf blut zerstäubt
als himbeerpulver am abendhimmel über dem Ehrenmal
darunter die doldenskelette des bärenklaus verkrallt
ins graue leuchtender taubendreck wie grobe
brocken von feindschnee auf bronze sing mir
von helden + herkunft ein lied das trügt bis es trägt
deiner ahnen gewicht ich hab nur das malmen
des kiefers geerbt den man meinem großvater
wegschoss ins russische jede wortformung seitdem
ein phantom schmerz doch sah ich dich moskau + deine
aufschneiende schönheit die flocken so zärtlich
hebt niemand sie auf mit den wimpern

Axel Görlach

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

17 | Martin Peichl

Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie

Heimat ist dort, wo der Dialekt nah und frisch klingt, wo sich die Wörter wie Toastkäse auf deine Zunge legen, wo Gulasch ein Ersatz ist für Liebe, aber Liebe kein Ersatz für Gulasch.

Wo man dir mit LEGO beigebracht hat, wie leicht man Menschen zerlegen kann und sie trotzdem weiterlächeln. Dieses unheimliche Weiterlächeln der LEGO-Figuren, egal wohin man ihre Köpfe steckt!

Zerfranste Erinnerungen an gemeinsam Spieleabende. Die wichtige Regel: Uno und DKT gewinnt man, indem man nicht mitspielt.

Heimat ist dort, wo man am 25. Dezember die feine Balance finden muss zwischen den Vanillekipferln und Mini-Schaumrollen der Tante und den Bierflaschen, die dir dein Cousin hinstellt. Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie. Da werden sogar Eigentore verziehen.

Martin Peichl

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at

 


16 | Iseult Grandjean

Bericht aus Babylon

Tag vierhunderteinunddreißig

Es ist so windig hier, dass ich manchmal das Gefühl habe, mir werden die Gedanken aus dem Gehirn gerissen. Dagegen kann man nichts tun, man kann sie ja nicht festhalten, so wie man Strafen nur abzahlen und Sehnsucht nicht ausbremsen kann, und deshalb warte ich dann. Ich warte und schlafe, ich mache ein paar Kniebeugen, um nicht den Kopf zu verlieren, und putze mein Gewehr. An windstillen Tagen laufe ich mit dem Gewehr im Arm durch die trockene Landschaft und streichle meine Waffe wie die Schultern einer alten Affäre. Am Anfang habe ich mich noch gewundert, wieso ich überhaupt ein Gewehr habe – aber dann habe ich getan, was jedem Menschen ein laufendes Leben gewährt und mich einfach daran gewöhnt. Das kalte Silber des Laufes fühlt sich an wie ein Fisch, der durch meine Finger gleitet; oder als schwömmen sie selbst, durch einen See aus flüssigem Metall. Was ist schon ein Ozean – und was eine machtlose Metapher? Inzwischen stelle ich keine Fragen mehr: Ich bin ein Soldat. Und ich berichte von der Front.  Als ich meinen Job hier angefangen habe, hat mir keiner erklärt, worin meine Arbeit eigentlich besteht. Aufpassen sollte ich, dass nichts aus den Fugen gerät und „den Laden sauber halten“. Ich wusste nicht genau, was damit gemeint war, und deshalb reinige ich jetzt jeden Tag mein Gewehr, obwohl ich es in den vierhunderteinunddreißig Tagen meiner Amtszeit noch nie gebraucht habe. Ich arbeite allein; das macht die Tage oft lang, aber anscheinend ist es unerlässlich, dass ich keinen Partner an meiner Seite habe und mir niemand reinredet. Manchmal bin ich mir unsicher, ob sie überhaupt wissen, dass ich keine blasse Ahnung habe, was ich überhaupt sagen und in was mir dementsprechend reingeredet werden könnte, und dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbringe, mit meinem Gewehr im Arm auf und ab zu laufen und auf die feine Linie zu starren, die einem Horizont gleicht, aber wahrscheinlich eher so etwas ist wie die Oberleitung einer weit entfernten Bahnstation.  Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der nicht dieser Krieg herrschte. Ich kenne die Welt nur so: der Horizont verleimt von Bahnhöfen, Plakaten, Schildern, bitte aussteigen, bitte trinken, bitte kaufen, bitte konsumieren, aber bitte – kein Müll. Abfall gilt hier als Teufel im System eines falschen Minimalismus (gegründet auf Exzess und seiner Überforderung), denn Plastik und Öl verstopfen heimlich Waldärme und verkleben die Wirtschaft. Als wäre alles nur eine Frage des Stoffs. Doch der eigentliche Unrat, der wirkliche Feind, ist unmöglich zu treffen, denn er ist überall, er liegt in der Luft, hängt in Gardinen und klebt an Wänden, klettert in Ritzen und wächst auf den Bäumen. Er verbreitet sich durch die Zeitung und das Fernsehen, gebiert auf Kaffeetischen und in Krankenhäusern, befruchtet Ehebetten. Wahlplakate, Slogans, Parolen, Hashtags, Nachrichten, Informationen, Fake News; Worte zum Erklären, zum Überzeugen, zum Verführen. Es wirbt um jeden, bietet sich allen an und dient doch keinem außer sich selbst. Es ist Schaf und Wolf in Einem, Bauer und König, Hure und Diktator. Ich kann mich nicht erinnern: an eine Zeit vor der Diktatur des Wortes. Es kommt Gott so nah wie niemand zuvor, fast kann es seinen strengen Atem riechen. Und vielleicht wird es eines Tages sogar sein Mörder.

Tag vierhunderteinunddreißig, später

Deshalb sitze ich jetzt hier also im Wind, seit vierhunderteinunddreißig Tagen, und kratze mich am Arm. Vom dauernden Kontakt mit dem Metall des Gewehres hat er sich an der Ellenbogenbeuge innen entzündet. Ich beobachte die schuppig nässende Haut der Wunde wie ein Wissenschaftler oder ein Archäologe, mit wachsendem Interesse und gleichzeitig zärtlicher Gleichgültigkeit. Seit Wochen habe ich keine Nachricht mehr aus der Zentrale bekommen, keine Anweisung, kein Wort, aber dafür umso mehr Zeit zum Nachdenken; die Stille ist ungewöhnlich, seit der Informationsfluss versiegte. Außer dem verdammten Zug, der durch diese Einöde jagt, der durch keine Bäume und keine Häuserwände aufgehalten wird und dem sich nichts entgegenstellt, ist der Raum, in dem ich arbeite, leer. Und so langsam bekomme ich das Gefühl, dass das auch genau so gewollt ist. Von oben. Wer ist dort oben? Eigentlich gibt es keine Obrigkeiten mehr, das war ja einst die züngelnde Verlockung: Demokratie durch das Wort. Kollektive Wahrheitsfindung und jeder darf mitreden, Silben als Währung, jeder kann sich bedienen, ist genug für alle da. Aber allmählich entwickelte sich aus dieser kommunistischen Utopie ein Kapitalismus der Rhetoriker, der Texter und Wortgewandten, der Lauten, und man versteht sich nicht mehr. Jetzt werfen wir uns die Sätze hin wie vergammeltes Fleisch und graben in den Ruinen von Babylon nach einer Wahrheit, die es so nie gegeben hat. Das Wort hat sich verselbstständigt, ist übermächtig geworden; inflationär. Es hat auf dem Weg zum Monopol all seine Macht verloren: Babel hat sich selbst zerstreut.

Tag vierhundertzweiunddreißig

Heute habe ich zum ersten Mal mein Gewehr fallen lassen. Ich hatte beschlossen, mein Gebiet näher zu untersuchen. Irgendwelche Ergebnisse müsste ich doch nach Hause bringen, dachte ich panisch beim Aufstehen. Ein paar Daten, eine Handvoll aussagekräftige Erde, zumindest einen Bericht, ein Körnchen Wahrheit? Es kommt mir seltsam genug vor, Soldat zu sein, direkt an der Front, und nie auf den Feind zu treffen. Nur Himmel und Erde strukturieren mein Feld, getrennt durch diese eine feine Linie, die immer den Anschein macht, als wäre es möglich, sie zu überschreiten. Außer dem Wind, der manchmal leise pfeift und mir sonst geräuschlos über den Körper fährt, höre ich nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend.  Ja, der große Knall, als meine Waffe auf die frostharte Erde stieß, war vielleicht das erste Geräusch seit Beginn meiner Dienstzeit. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, fiel mir auf, dass der Boden unter mir von feinen Rissen durchzogen wurde, Linien, die mich an die Aufzeichnungen eines Seismographen oder eines EKG erinnerten. Erst dann wurde mir klar, wie symptomatisch diese Vergleiche für unseren Zustand sind, die wir am Wort kranken: Wie wir uns mit der Zeit angewöhnt haben, Ausdruck auf Ausdruck zu schichten und zu stapeln, Metaphern übereinander zu ziehen wie Kleidung an einem kalten Wintertag, als hätten wir Angst, ohne die schützende Speckschicht der Worte plötzlich allein im Wind zu stehen, zitternd und nackt. Ich sah mich um: Mich fror tatsächlich.

Tag vierhundertdreiunddreißig

Meine Felduntersuchung konnte also letzten Endes ziemlich schnell – und zugegeben recht stümperhaft – durchgeführt werden, und das lag nicht nur daran, dass mir immer kälter wurde und der silbrige Frost der Flinte meine Finger steif werden ließ, mein Blick wanderte von einem unbestimmten Punkt bis zum nächst denkbaren, irgendwo im Hintergrund meinte ich den Grundriss eines Baumes zu erkennen, ich notierte: Der Raum ist leer. Jetzt, wo ich es zum ersten Mal ausgesprochen habe, wird mir erst das Ausmaß dieses sprachlichen Hohlraums bewusst; überall lockte mich sonst immer etwas mit krummen Fingern, mal war es ein Schriftzug, mal eine Rede, manchmal auch nur ein einziger Satz, der ein Parteiprogramm oder das Patent einer Liebesfähigkeit beschwor, im Grunde ist jedes Wort, auch das private, nur noch Werbung, Reklame für die eigene Wahrheit in der Wahlurne eines anderen. Wir halten uns an Worten nicht mehr fest – wir hängen uns an ihnen auf. Davon ist in diesem Raum nichts mehr, nichts verhindert, dass sich mein Blick nach innen richtet. Ich blicke auf mein Gewehr, unbenutzt seit vierhunderteinunddreißig Tagen. Die kleine Öffnung im Lauf starrt schweigend zurück. Bin ich, in der Uniform eines Soldaten, endlich frei? Doch Freiheit, das merke ich ziemlich schnell, ist verunsichernd. Wir haben lieber falsche Wahrheiten als Ungenauigkeiten, lieber Fake News als sokratische Apologie. Diesen Krieg haben wir also selbst verschuldet, das Wort war immer nur Beihelfer: Es versucht Gefühle in Gedanken zu übersetzen, zwängt Vages in Gewissheiten, ja, es arbeitet ohne Skrupel – aber wir haben die Fäden in der Hand. Haben wir den Laut erst domestiziert, und dann vergewaltigt? So zogen wir damals der Musik den Strick der Sprache um die Kehle und seitdem verstopfen wir uns mit hohlen Phrasen den Hals. Man drückt den Menschen ein Instrument in die Hand, und für einen kurzen Moment fühlen sie sich frei; dann gehören sie ihrer Waffe. Ich stelle mir vor, dass die Welt vor dem Wort ähnlich dalag wie mein Gebiet: Weit und schweigsam, wie eine offene Wunde.

Tag vierhundertfünfunddreißig

Stattdessen dieser Krieg, und wir mittendrin. Sie holen mich jetzt zurück, gestern habe ich es erfahren. Anscheinend ist mein Job hier erledigt. Ich bin inzwischen überzeugt: Das war kein richtiger Einsatz. Vierhundertfünfunddreißig Tage und kein einziges Mal habe ich meine Waffe benutzt. Und doch war ich Soldat, direkt an der Front: Ich arbeitete als Späher und Steuer in der Stirn, stationiert am vorderen Ende der linken Großhirnhemisphäre eines so hungrigen wie maßlos übersättigten, eines freien und dabei unendlich verlorenen, kurz eines ganz gewöhnlichen Menschen. Ich sollte die Wahrheit ausmessen und in einem detaillierten Frontbericht aufschreiben. Was wollt ihr jetzt von mir hören? Ich habe nicht viel herausgefunden, außer dass man ein Gewehr am besten mit Öl und etwas lauwarmen Wasser wäscht und dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur unendlich viele Übersetzungen davon. Ich notiere einen letzten Satz in mein Notizbuch: Sprache ist ein Schlachtfeld. Dann setze ich mich hin und warte.  Bald kommen sie mich holen. Es weht wieder wie am ersten Tag, mein Ausschlag ist noch nicht ganz verheilt und brennt im Wind. Ich atme in den Schmerz und vergesse mein Gewehr. Der Krieg wird wahrscheinlich weitergeführt, jedes Haupt an seiner eigenen Front, aber ich will dieses semantische Fressen nicht mehr, ich habe es satt und einen Beschluss gefasst, es ist ein Versprechen – und ich werde es halten: Das ist mein letztes Wort.

Iseult Grandjean

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen:

advent.mosaikzeitschrift.at