freiVERS | Niklas Cron

trockene tage

und wieder flimmert die hitze durch den tag
schlieren verheddert zwischen zweigen
knarrender kiefern
ihre nadeln braune borsten
die sich im blick der sonne kräuseln
knisternd im wind bis sie brechen
und staubig zu boden sinken
auch dem wind geht bald die puste aus
sein atem hechelt durchs geäst
verwirrt gehetzt dem kollaps nahe
spröde die erde die ihr umbra
in tiefen rissen trägt
gefurcht und schmerzverzerrt
welk wedeln die gräser ihre grauen halme
ertrunken im lodernden licht

Niklas Cron

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freiVERS | Marianna Lanz

teich

das haus bröckelt
die fassaden
alles kracht und
fällt

dafür sieht man
den mond wieder
der über den
trümmern steht

gar nicht so fern
liegt er und rollt
in den teich

Marianna Lanz

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freiTEXT | Julia Knaß

In Tagen wie Wahnsinn

in tagen wie wahnsinn liegen die toten am gang, ob ich die toten am gang sehen würde, wer die toten am gang denn seien, wer da schießen würde, wer da denn schießen würde, aber da sind längst keine toten mehr am gang, am gang hängen nur kinderfotos von mir und meinen schwestern und das hochzeitsfoto meiner eltern, am gang frisst die katze, am gang stehen die schuhe und der wlan-router und das telefon, aber da sind keine toten am gang, sage ich zu ihm, ich sage, er habe nur geträumt, das sei nur ein traum, das mit den toten, aber er beharrt darauf, er beharrt auf den toten, nach 100.000 bier und einem hausbau, einer karriere bei der gendarmerie, „herr inspektor!“, nach drei kindern und detaillierten fotografien in geordneten alben und noch akribischerem briefmarkensammeln, nach der produktion von honig, immer mehr honig, nach der beerdigung von seinem einzigen sohn, nach der leitung des ÖKB, nach dem zusammenbauen von puzzlespielen mit mehreren 10.000 teilen, ist da wirklich alles, was bleibt, die toten am gang, die toten am gang, die toten am gang, aber dann schläft er wieder ein und ich falle über alle leichen

in tagen wie wahnsinn zitieren wir gemeinsam mephistos faust „ich bin der geist der stets verneint“, über einem glas bier verneinen wir uns voreinander, sonst dürften wir uns nicht annähern, aber gemeinsam mephisto zitieren ist unser klopstock und später holt er mich mit dem motorrad ab und wir kurven durch die gegend, meine heimat, die ich nicht kennen will, und das plastik an meinen docmartins verschmort und meine füße werden heiß, während er mich hundert mal fragt, was ich von ihm wolle, wie ich mir das vorstelle, dass er mit jemanden wie mir nicht reden könne, dass er mit jemanden wie mir normalerweise gar nicht reden würde, dass ich mit jemanden wie ihm nicht reden dürfte, weiß ich auch, aber er isst schweinsbraten wie mein opa und er ist beim ÖKB wie mein opa und er vertritt ansichten wie mein opa, aber mit ihm kann ich streiten, ihm kann ich alles an den kopf werfen, ich sage ihm, dass es falsch ist, was er denkt, ich sage ihm, dass alles gefährlich ist, was er denkt, ich erkläre und rede und erkläre und rede, damit er endlich aufhören kann, weil „cui bono“ nützt niemanden, ich erkläre und rede und erkläre und rede, damit er endlich aufhört zu denken, ziehe ich mich aus

in tagen wie wahnsinn erzählt mir meine oma vom schafe hüten, von der theatergruppe, die sie in ihrer jugend geleitet hat, von den gelungenen aufführungen und wie schwierig es war, dafür alles zu organisieren, sie erzählt mir, dass sie aber keine jugend gehabt hat, weil die schönsten ihrer jahre waren krieg, und dass sie in die kirche gegangen sei, statt zu den treffen der nazis, dass die dort schon überlegt hätten, was sie mit ihr machen sollen und dass die bdm-führerin aber gemeint hätte „was wollt’s denn mit der? die tut doch keinem was“, dass sie in die kirche gegangen wäre anstelle und gott sei dank anstelle, dass sie schindlers liste gelesen habe, viel später, und dann zitiert sie mir die gedichte, die sie schreibt, weil sie andauernd schreibt, zuerst im kopf und dann schreibt sie die texte auf, das erste gedicht hat sie während des schafe hütens geschrieben, das kann sie auch noch, und früher habe sie mit meinem opa gemeinsam geschrieben, als er noch lustig war, meint sie, damals als er noch lustig war, später erzählt mir mein papa im auto, mehr über das schreiben meiner oma, später im auto will mir mein papa mehr erzählen von seinem früher, aber sein ganzes sprechen schweigen

in tagen wie wahnsinn lüge ich wie gedruckt auf papier, im internet, in umgangssprache, im dialekt, in standarddeutsch oder hochdeutsch, wie man umgangssprachlich sagt, ich umgehe alles, denke, dass ich doch verstehen können muss, entschuldige zu vieles oder sehe darüber hinweg, denke zu oft „ja, aber“, und sage weder das eine noch das andere, weil ich selbst eine einzige leerstelle bin, denn wer bin ich, wenn ich über feuerwehren, über botanikvereine, philatelie, über verkehrsunfälle, bienen, über faschingssitzungen, über die eröffnung von unterführungen und die hegeringschau schreibe und mir ein video anschaue von einem mann, der die geflüchteten gefilmt hat, wie sie durch die stadt gehen, weil „da muss man ja was tun dagegen“, wer bin ich, wenn überall gesagt wird, aber „auslända woll ma keine haben“, und ich nicht mehr dagegen halte, weil ich nicht stark genug bin, weil es mir nur ums eigene überleben geht, wer bin ich, wenn ich in meiner freizeit hannah arendt zitiere und verena stefans häutungen zehnmal lese und für das frauen*volksbegehren aufrufe, und wen macht man aus mir, wenn der einzige kommentar dazu ist „ist eh liab, was du denkst, ist eh liab“, vielleicht bin ich wirklich nur mehr eine liabe hülle, das fräulein, das fräulein redakteurin „a liabes diarndle, was wollt’s denn mit der? die tut eh keinem was“

Julia Knaß

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freiVERS | Dennis Hannemann

Sommerimpressionen

i.

Ein Strom verzweigt auf den Feldern,
ein Rettungsboot kurz vorm Kentern,
Wachen und Helfer, Zelte mobil
in Kunststoffwelten versetzt, zu wenig
Rasierzeug und Stoff, die Fremden schöpfen
empfangen zu keiner Zeit.

ii.

Verlieren Angst auf-
marschiert plakatiert
Wände und Zäune
Baracken glühen.

iii.

Der Eurocity
hinauf zum Brenner,
er sitzt im selben Abteil,
namenlos no identity,
er trägt einen Skateschuh,
er hat kein Gepäck, er läuft weg
am Bahnsteig ankunftslos.

iv.

Sand und Hitze alpenwärts
treffen Hölzer spenden
Schatten der Erinnerung
nichts dergleichen schwindet
in spröden Zeiten zutiefst.

Dennis Hannemann

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freiTEXT | Claudia Dvoracek-Iby

Im Rucksack

Anfangs fanden wir ihn amüsant. Ehrlich gesagt lachten wir uns halbtot nach der ersten Begegnung mit ihm.

„Ich bin der Willi “, hatte er gesagt, ein zappeliger, älterer Mann, den ein riesiger, grauer Rucksack nach hinten zog. Dünn war er und klein, kleiner als Marie, die zu mir an die Tür kam, um zu sehen, wer da bei uns Sturm geläutet hatte.

„Ich bin der Willi, jaja“, zwinkerte er unruhig, „und der Willi hat die Wohnung neben euch gemietet, jaja, und da wird er ganz alleine wohnen, jaja, weil niemand mit ihm sein will - was weiß ich, warum! Aber!“ hob er den Zeigefinger, „Aber dafür besitzt der Willi viele, viele Schätze, und da drinnen“, wies der Finger Richtung Rucksack, „da sind neue Schätze. Die hat der Willi vorhin gefunden, an der Donau, jaja, und jetzt“, verbeugte er sich leicht, „muss sich der Willi verabschieden und seine Schätze auspacken!“

Einige Tage später fand ich ihn im Stiegenhaus vor, als er dabei war, seinen gigantischen Rucksack aus dem Lift zu zerren.

 „Jaja!“ keuchte er, als ich anbot, ihm zu helfen.

Mit vereinten Kräften zogen wir den Rucksack, der unglaublich schwer war, vor seine Wohnungstür. „Sind da Steine drinnen?“ scherzte ich.

„Jaja!“ rief er ungeduldig, sperrte fahrig die Tür auf, rief „Komm rein, komm rein!“, öffnete flink gleich im Vorraum den Rucksack. Es waren tatsächlich Steine darin, verschieden große, gewöhnliche Steine. Er nahm einen runden, hellen in die eine, einen flachen Stein in die andere Hand und stieß mit dem Fuß die Tür zu einem großen Zimmer auf.

 „Komm rein!“ rief er wieder, lief in den Raum, legte die Steine behutsam auf einen Tisch zwischen unzählige andere. Sie lagen überall, bedeckten den Boden bis auf ein paar freigelassene Pfade, stapelten sich auf zwei Bänken, in Regalen - massenhaft Steine, wohin ich auch blickte.

„Jaja, das sind meine Schätze!“ rief er in trotzigem Tonfall, während er unermüdlich Nachschub aus dem Rucksack holte und arrangierte. „Wenn kein Mensch den Willi leiden mag, ihm die Katze wegläuft, ihm die Pflanzen eingehen - was weiß ich, warum! Was bleibt da noch? Steine! Jaja!“

Und er erklärte, dass die besten Steine an der Donau lägen, er die allerbesten aber in der Donau vermute, nur könne er leider weder schwimmen noch tauchen. Dann streichelte er ehrfürchtig einen Stein nach dem anderen, beschrieb und lobte wortreich jedes Fleckchen an ihnen. Erst nach geraumer Zeit schaffte ich es, ihn zu unterbrechen und zu gehen.

„Ein Spinner! Und furchtbar anstrengend“, teilte Marie meine Meinung, die ihm wie ich eines Tages beim Rucksack-Schleppen behilflich war und seinen Steinschwärmereien ebenfalls nur mit Mühe entkommen konnte. Sie erfuhr unter anderem, dass er, der Willi, sich oft wundere, dass er anscheinend der einzige Mensch war, der erkannte, wie schön, wie einzigartig, wie seelenvoll so mancher Stein am Wegesrand war.

„Dieser Verrückte passt absolut nicht in unser Haus“, sagten auch die anderen Mieter untereinander und zum Hauseigentümer. Nach weiteren Begegnungen, bei denen unser neuer Nachbar ungefragt und detailreich von seinen neuesten Schätzen erzählte, gingen wir ihm aus dem Weg, machten auch nicht mehr auf, wenn er an unserer Tür war.

Einmal sahen wir ihn beim Spazieren gehen an der Donau. Er nahm uns nicht wahr, ging an uns vorüber, seinen Blick konzentriert auf den Schotterweg gerichtet. Wir beobachteten belustigt, wie er erfreut in die Hände klatschte, sich bückte und Steine in seinen Rucksack legte. Im Scherz klatschte ich später wie er in die Hände, hob einen großen Kieselstein auf, rief, „Ein Schatz, jaja, ein Schatz!“, und schenkte ihn Marie.

Vor drei Tagen läutete er spätabends bei uns, minutenlang. Als ich schließlich ärgerlich öffnete, fuchtelte er aufgeregt mit einem Brief in der Hand und rief:

„Der Willi kommt sich verabschieden, jaja, dem Willi wurde die Wohnung gekündigt, wieder einmal, was weiß ich warum, denn der Willi hat immer die Miete bezahlt, jaja, und ..“

„Dann wünsche ich dem Willi alles Gute!“, unterbrach ich ihn, wich seinem fassungslosen Blick aus und schloss die Tür.

Marie tat er leid, sie legte ihm am nächsten Tag den großen Kieselstein von mir vor die Tür.

Wir sahen ihn nicht wieder. Gestern waren zwei Polizisten bei uns, die sich erkundigten, was wir über den Mann wussten, der neben uns gewohnt hatte und den sie in der Donau gefunden hatten, tot, ertrunken, hinabgezogen von einem Rucksack voller Steine.

Seitdem beschäftigt Marie die Frage, ob auch unser Kieselstein im Rucksack gewesen ist.

Claudia Dvorazek-Iby

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freiVERS | Enno Ahrens

Q

die schwarzgezogene wurzel
aus 25 steigt auf am geistigen
horizont ein neues gestirn an
meinem knallerbsenstrauch

man muss nur tief genug
graben die engerlinge über
die klinge des spatens
springen lassen dann
erweisen sie sich sehr
flexibel als quastenflosser
vielleicht oder als
reu-selige quecke

so finden scharrende
hühner ihren gott
eventuell den allseits
begrabenen hund

Enno Ahrens

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freiTEXT | Fabian Hartmann

Der Tag, an dem Mindy Miller dicke Oberschenkel bekam

Wie so oft in jenem Sommer fuhr Mindy (Mindy Miller, elfeinhalb, geboren in Winston-Salem, North Carolina) schon früh am Tag zu einem abgelegenen kleinen Fußballplatz am Rande von Walnut Cove, ihrem Heimatort. Sie fuhr auf ihrem Fahrrad, einem Jungenrad mit einem 24er-Rahmen, der gerade erst wieder frisch von ihr besprüht worden war, wobei sie sich für ein sattes Dunkelgrün entschied. Vielleicht dachte sie bei dieser Wahl an die Farbe des Nadelwaldes, in dem der kleine Fußballplatz gelegen war. Gerade als Mindy den Middlefork Drive verlassen hatte und in die Martin Luther King Jr Road einbog, wunderte sie sich, wie sehr der Geruch dieses Sommermorgens dem von feuchter Erde glich.

Die Martin Luther King Jr. Road ist eine lange, gerade und ebenmäßig asphaltierte Straße, an dessen Rändern jeweils tiefer Nadelwald beginnt. Dies jedoch erst ab ihrer Hälfte, davor erstrecken sich zu den Seiten Rapsfelder – mittlerweile zwar halb vertrocknet – aber dennoch weit genug, als dass sie Mindy regelmäßig dazu brachten, den Blick von der Straße abzuwenden und über die Felder schweifen zu lassen. um zu schwelgen in einem Gefühl der Überzeugung, sie würde den Sommer in seiner Gesamtheit erfahren. Gebündelt in diesem einen langen, ausgeruhten Blick in die Ferne.

Mindy spielte in einem Team der jüngsten Altersklasse an der South Stokes High School, im Mittelfeld, wo sie praktisch jede Spielrolle annehmen konnte. Jetzt, im Sommer, pausierte die Mannschaft für acht Wochen mit dem Training, und so traf sich Mindy beinahe täglich mit ihrer Freundin Susan auf dem kleinen Fußballplatz, dessen immer frisch gemähter Rasen von einem etwa drei Meter hohen Netzzaun umgeben war.

Als Mindy auf dem Fahrrad angerollt kam, klingelte sie kurz und Susan – die gerade versuchte, den Ball aus einigen Metern an die Querlatte des Tores zu schießen – drehte sich um, nachdem sie die unbeabsichtigte Flugbahn des Balls bis zu ihrem Ende verfolgt hatte. (Er landete einige Meter tief im Wald zwischen den Tannen, die durch die andauernde Trockenheit beinahe morsch geworden waren). Nachdem sie sich – wie bei jeder ihrer Begrüßungen – ein low five gegeben hatten, lief Susan los in Richtung der kleinen Tür im Zaun, durch die man den Wald betreten konnte. Mindy setzte sich auf den Rasen, um sich ihre Schienbeinschoner und Stutzen und Stollenschuhe anzuziehen.

Die Stutzen – ein Geschenk ihrer Mutter – waren knallig rot und gefielen ihr nicht sonderlich. Aus dem einfachen Grund, sie nicht enttäuschen zu wollen, zog Mindy die Stutzen nun dennoch über ihre Waden. Mindy schaute in den Himmel, als sie sich die Schuhe band. In einen allzu klaren Himmel, durch den hin und wieder eine seichte Wolke zog, und dann auf ihre Waden in diesem prall gefüllten, dicken, roten Sockenstoff und war schockiert: Hatte sie jemals so dicke Waden gehabt? Hatte sie jemals den Sommer gerochen? Ihr Blick wanderte die Beine hinauf zu den Oberschenkeln, dessen Anblick sie nicht weniger entsetzte. Susan kam aus dem Wald zurück, den Fußball unterm Arm.

„Susan, sag mal“, sagte Mindy. „Findest du, dass ich dicke Oberschenkel hab'?“

Fabian Hartmann

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freiVERS | Patricia Falkenburg

Möwentableau.

Weiße Vögel
Auf kartoffelknollig gefurchtem
Braunem Grund.
Schwingen verwahrt,
Einbeinstand
Im rauschenden Regen. Regen.

Kein Licht
Am grauen Himmel,
Leintuchwolken, streifenfrei.
Weiße Lichtpunkte,
Köpfe in Federn geduckt,
Auf dem Feld im Regen. Im
Rauschenden Regen.

Patricia Falkenburg

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freiTEXT | Anna Gawlitta

Wenn die Zikaden zirpen

Schlafen nachts die Zikaden? Oder zirpen sie unentwegt?

Aufstehen müsste man, mitten in der Nacht, und lauschen, wie lange die Zikaden zirpen, dachte ich als ich an einem Sommerabend am offenen Fenster stand, meinen Kummer und meine Einsamkeit beweinte. Gregor hatte mich verlassen, einfach so, ohne Vorwarnung, ohne vorherige Anzeichen. Mir war ausschließlich aufgefallen, dass er seit einiger Zeit nicht mehr „Ich liebe dich“ gesagt hatte. Das hätte mir zu denken geben können. Vorher hatte er es mir unter die Nase geschmiert, diese drei berühmten Worte. Er hatte es in unterschiedlichen Sprachen gesagt, förmlich aufgezählt, ich bringe nur Je t`aime, I love you, Kocham Cie und Ich liebe dich beisammen. Gregor hatte mich mal zum Geburtstag überrascht, und in fünfzehn Sprachen die drei berühmten Worte deklamiert. Damals habe ich lachen müssen wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gekitzelt wird, er hatte mit seinem Ton gespielt, die Worte in die Länge gezogen, sie mal leiser, dann wieder lauter betont, mit den Händen gestikuliert, ist auf und ab gesprungen, auf die Knie gefallen, hat seinen Arm ausgestreckt und hatte mir ein schwarzes, viereckiges Döschen hingehalten, es geöffnet und mir war ein funkelndes Etwas in Ringform entgegen gestrahlt. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, die Hände vor den Mund nahm, aufstöhnte, auf ihn zu rannte, gemeinsam mit ihm umfiel, sein gesamtes Gesicht abküsste und so laut ich konnte Ja schrie. Wir hatten uns verlobt!

Nach der Verlobung veränderte sich alles zum Positiven, es intensivierte unsere Beziehung. Wir liebten einander intensiver, mit jedem vergehendem Tage; wir hielten fester Händchen, wir küssten einander stärker, wir redeten länger und rührten tiefere Themen an. Es hatte sich eine Innigkeit entwickelt, die uns beiden vorher unbekannt gewesen war, die wir vorher nie gehabt haben. Wir waren enger zusammengeschweißt worden, durch diesen Akt, durch diesen Ring an meinem Finger. Zumindest war es mir so gegangen, hatte ich so gefühlt, es so erlebt und habe es so in Erinnerung. Schließlich trug ich den Ring! Und genau hier setzt das Problem an, Gregor trug keinen. Und so lenkte er seine Aufmerksamkeit auf sein Promotionsthema. Gregor war Biologe, hatte sein Studium beendet und einen Promotionsplatz ergattern können. Das Thema: Zikaden. Zikaden hier, Zikaden dort. Ich hatte nicht einmal gewusst, was Zikaden sind. Gregor begann seine Liebe zu mir auf die Zikaden über zu lenken. Ich sah, wie er immer bissiger sich in sein Thema hinein lebte, regelrecht einen Fanatismus in puncto Zikaden entwickelte. Zikaden, Zikaden, Zikaden währte ich mich, als er eine von ihnen nach einem Forschungsgang in der Natur in einem leeren Marmeladenglas stolz wie Oskar nach Hause transportierte.

Igiitt, igitigit, igit brachte ich nur hervor. Nahm das Marmeladenglas samt der Zikade, flitzte so schnell ich nur konnte aus der Wohnung, die Treppe hinunter, öffnete das Glas und warf die Zikade ins Gras. Da fing die Zikade an zu zirpen. Ich erschrak und sprang zurück. Da ging mir auf, was eine Zikade ist, es ist das zirpende Etwas zwischen den Grashalmen an einem warmen Sommerabend. Ich war auf Anhieb begeistert, die Zikade gab ihr Konzert und ich lauschte. Gregor kam mit fuchtelnden Armen mir hinterher, blieb stehen und konnte nicht glauben, was er sah. Ich saß im Gras und lauschte der Zikade. Komm, sagte ich, setzt dich zu mir. Er blickte irritiert, sah sich um, ob niemand uns sehe und setzte sich zu mir. Schön, nicht, sagte er. Ich nickte begeistert, gleich einem Kleinkind. Hier entfachte meine Zikadenliebe und schweißte Gregors Liebe zu den Zikaden mit der meinen zusammen. Ich wurde zur Doktorandin im Thema Zikaden, las alle Materialien, die Gregor bis dahin zusammengestellt hatte, forschte sogar selbst in Bibliotheken nach, korrigierte, vermerkte, ergänzte Gregors Notizen. Seit diesem Zirpen waren die Zikaden zu meiner Leidenschaft geworden. Ich ersetzte Gregor gegen die Zikaden. Wir drückten unsere Händchen nun nicht mehr so fest zusammen, küssten uns nicht mehr stärker, redeten nicht intensiver. Aber das fiel mir erst gar nicht auf, weil ich, solange noch Sommer war, die Zikaden zirpen hören wollte, jeden Abend. Gregor fing an mir den Vogel zu zeigen, aber das machte mir nichts aus, nur dass er jetzt öfters den Finger an den Kopf hielt, und sagte, dass ich spinne, anstatt wie früher den Finger zum Herzen zu führen, und mir zu sagen, dass er mich liebe. Aber dennoch beruhigte es mich nicht, schließlich gehörten wir seit dem Ring an meinem Finger zusammen, so dachte ich. Als ich begann meine Kritik auch mündlich zu äußern, neue Fragestellungen zu entwickeln und überhaupt unentwegt über die Zikaden zu schwärmen, gab Gregor auf, und machte mit mir Schluss. Den Ring wollte er zurück, aber ich bekam ihn nicht mehr vom Finger, so beließ er es dabei, räumte den Schreibtisch, den er bei mir stehen hatte, beisammen, packte seine halb fertige Doktorarbeit zusammen und zog wieder komplett zu seinen Eltern.

Doch wir sahen uns nun häufiger als es ihm lieb war. Ich hatte mich nämlich an der Universität immatrikuliert und forschte zum Thema Zikaden. Ich hatte meine eigenen Fragestellungen und dachte daran über Zikaden meine Abschlussarbeit zu schreiben. Ich besuchte schon sehr bald die Kolloquien, in denen auch Gregor saß, zu seinem Leidwesen, denn ich merkte, wie wütend er auf mich war. Dabei hatte ich nichts anderes als meine Leidenschaft zu Zikaden entdeckt – das war alles! Doch für Gregor war es nicht genug, er ließ sich nicht mehr bei den Kolloquien blicken, ich machte mir Sorgen. Als er das gesamte Semester über weg blieb, rief ich bei seinen Eltern an und erkundigte mich nach ihm. Gregor, sagte sein Vater, habe seine Notizen und Bücher eingepackt und sei ausgewandert, aus Forschungszwecken. Wirklich, sagte ich, und da ging mir auf, dass ich bisher ausschließlich die deutschen Meinungen gelesen hatte.

Anna Gawlitta

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freiVERS | Eva Brunner

lpk

die Pflastersteine von Hierapetra
ließen die Mamorfrau vorher gehen
das Planimeter noch in der Tasche

komm geh einen Palast besetzen
Pampelmusen und Pistazien essen
deine Traurigkeit plastisch machen

das Patriarchat ist keine Primel leider
Papier kann helfen Pik kann stechen
denn deine Unschuld ist antik

Eva Brunner

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