freiTEXT | Katharina Wurzer

Beziehungsweise

I

Jeder Moment ist eine Entscheidung, für und gegen etwas. Genauso gut wie ich hier mit Paul sitze, könnte ich jetzt mit Alex auf meinem Balkon sein oder alleine die Straße entlanggehen. Vielleicht würde ich mir dann ähnlich verloren vorkommen, unruhig und beobachtet, wobei mich Pauls besorgter Blick weniger stört als der neugieriger Nachbar_innen. Ich versuche zu lächeln, ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen und mich aufzurichten, während ich Paul ein Getränk anbiete. „Soda mit Zitrone“, murmelt er, wohingegen mir mehr nach Wein oder Schnaps zumute ist. „Kennst du es, dich inmitten einer Menschenmasse einsam zu fühlen?“, frage ich, als ich aus der Küche zurückkomme. „Vor allem dann“, meint Paul: „Manchmal fühle ich mich alleine weniger einsam. Da höre ich zumindest noch meine eigenen Gedanken“. „Ich mag dich und deine Denkweise“, ich nehme einen Schluck meines Eistees und rücke meinen Sessel ein wenig näher zu meinem Freund, der den heutigen Nachmittag entspannt zu sehen scheint. Wie es wohl wäre, wenn Paul einmal nicht ruhig ist? Wenn ihn etwas oder jemand ärgert? „Streitigkeiten müssen sich auszahlen“, hat er letztens angemerkt: „Entweder man hat danach eine Lösung oder eine Veränderung. Im Idealfall führt die Lösung zu einer Veränderung“. Aber was ist schon ideal? Und warum streben wir Ideale an? Sogar Menschen sollen ideal für uns sein, uns guttun, keinen Kummer bereiten und auch sonst kompatibel sein. Nicht alle Menschen seien sexuell miteinander kompatibel, habe ich mir sagen lassen. In einem früheren Zeitalter habe man sich noch nicht alles von einem einzigen Menschen erwartet, stand in einem Standard-Artikel. Da sei gleich auf die Einwohner_innen eines ganzen Dorfes zurückgegriffen worden. „Monogamie ist ohnehin egoistisch. Man lebt nur einmal und da gehört Ausprobieren dazu“, höre ich Alex sagen, einen Verfechter offener Beziehungen: „Hast du manchmal Angst vorm Leben?“ „Manchmal habe ich Angst vor der Liebe, vor der Verletzlichkeit und davor, dass sie keine Entscheidung ist“, habe ich damals geantwortet und ihm in die Augen gesehen. Emotionslos, starr und ohne zu zwinkern. Anders als bei Paul, vor dem ich diese Angst erst recht nicht eingestehen kann.

„Ich mag dich auch“, meint er da plötzlich und greift nach meiner Hand. Schweigend sitzen wir hier. Er in seinem dunklen T-Shirt, der blauen Jeans und den Sneakers, ich mit meinem roten Sweater und der schwarzen Jeans, die langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Wir hören die Nachbarin mit ihrem Kind schimpfen, einen Hund bellen und den aufkommenden Wind wehen. „Ist dir kalt?“. Ich schüttle den Kopf und lehne mich vorsichtig an mein Gegenüber. Der Geruchssinn soll eine Rolle spielen, in wen man sich verliebt, fällt mir ein. Dabei riecht Paul gar nicht besonders aufregend, einen Hauch nach irgendeinem Duschöl, ein wenig nach der Zitrone, die im Glas vor ihm liegt, und nach dem Essen, das er zu Mittag gekocht hat. Pilzgulasch mit Semmelknödeln, wobei ich Semmelknödel relativ geruchsneutral in Erinnerung habe. „Ich mag deine Stimme“. Paul zieht mich an sich und streicht mir mit einer Hand übers Gesicht. Sie fühlt sich warm an und vertraut, ohne dass er das zuvor je gemacht hätte. Ohne dass er gefragt hat, was für Paul eher untypisch ist. Er sieht mich an und lässt mich los. „Kannst du diesmal länger bleiben?“. Ich nicke und wünsche mittlerweile, doch zu etwas Stärkerem gegriffen zu haben. „Abgesehen davon sind wir in meiner Wohnung. Schön, dass du dich schon so wie zu Hause fühlst“. Ich lache, vielleicht aus Nervosität oder weil diese Situation etwas Absurdes hat. Erst gestern habe ich an dieser Stelle mit Moritz getanzt und ihm klar gemacht, dass ich seine Gefühle nicht erwidere. Dass ich nur einen schönen Abend wollte, Ablenkung von mir selbst, Spaß bis zu weiteren Momenten, in denen mir weder meine Zerbrechlichkeit noch seine Anhänglichkeit bewusst waren. Was ist Untreue schon, wenn man sich nicht einmal selbst treu sein kann? Was für das Leben gilt, gilt auch für die Liebe. Niemand ist darin alleine. Ziele werden gesetzt, mit anderen geteilt und wieder verworfen. Zurückgeworfen, weggeworfen in einen Eimer aus Erinnerungen, die sich wie Fallobst zersetzen und verschlossen werden. Wenn du Glück hast, findest du den Schlüssel nicht mehr. Wenn du Pech hast, geht dein Weitblick verloren.

II

„Wenn ich dich sehe, vergesse ich vieles um mich“, beginne ich zaghaft und frage mich zugleich, wie lange es Lia schon ohne Zigarette aushält. Sie zieht ihre Beine zum Oberkörper, richtet ihren Zopf und sieht auf ihre Armbanduhr. Wie lange wir wohl schon hier sitzen? „Ich kann bald nicht mehr. Wieso schaffen wir es nicht über Wesentliches zu sprechen? Oder wieder über etwas anderes wie sonst auch?“. „Lia, was erwartest du dir?“. Sie steht auf, zündet sich eine Zigarette an und weicht meinem Blick aus. Ihr Verhalten verunsichert mich nur noch mehr. „Ich weiß es nicht“, ihre Stimme klingt freundlich, als sie sich wieder hinsetzt: „Ich weiß nur, dass ich in dich verliebt bin und mich das alles hier fertig macht“. „Soll ich dich in den Arm nehmen?“. Lia seufzt, steht erneut auf und kommt mit einer Flasche Wein sowie zwei Gläsern retour: „Angenommen wir gehen eine Beziehung ein. Wie soll die für dich aussehen?“. „Mir ist es wichtig, Zeit miteinander zu verbringen, über alles sprechen, gemeinsam lachen und weinen zu können. Ich möchte gegenseitige Unterstützung, sich mal Glück für einen Termin zu wünschen, einfach als Begleitung mitkommen. Das hört sich alles ziemlich langweilig an, oder?“. „Ein bisschen wie ein altbewährtes Konzept. Sind Beziehungen nicht Konstrukte, die aus den eigenen Erwartungen und Vorstellungen gebaut werden? Die ohne Kompromisse ohnehin nicht funktionieren?“. Es stört mich, dass sie von Funktionen spricht, von Konstrukten und Konzepten. Sie, die gerade noch bei ihrer Verliebtheit war, und ihren Kopf an meiner Schulter hatte. „Ich weiß nicht, ob das etwas für mich ist“. „Hast du es denn nie ausprobiert? Was war mit Georg?“. Ich schenke uns Wein ein und achte auf ihre Bewegungen, die von sanft zu ruckartig wechseln. Der Hund hat aufgehört zu bellen, der Wind bläst weniger stark, erwischt Lias und mein Haar. Es gleitet zur Seite, ohne dass mit ihm gespielt worden wäre. „Ich habe mich eingeengt gefühlt. Er wollte mich für sich alleine. Ohne ihn ausgehen war da manchmal schon zu viel. Ohne ihn auf Urlaub fahren wäre gar nicht denkbar gewesen. Es gab Tage, an denen ich nur noch weg wollte. Weg von ihm, in die Arme eines anderen oder einer anderen. Ich bin bisexuell. Stell‘ dir mal die Reaktion vor als er es erfahren hat“, Lia wird ruhiger und reicht mir jetzt erneut ihre Hand. „Eva hat mir nicht geglaubt, dass ich sie liebe, weil ich asexuell bin“. „Wie fühlt sich das für dich an?“. „Ich habe keine Ahnung wie es ist, sich zu jemandem sexuell hingezogen zu fühlen. Sich Sex zu wünschen oder einfach nur vorzustellen. Es gibt in meiner Welt so viel Interessanteres, über das ich nachdenke. Kunst, Geschichte, meine Arbeit“. „Manchmal überdeckt es anderes“, setzt Lia fort: „Wenn Emotionen und körperliche Anziehung miteinander einhergehen, ist der Sex irgendwie schöner. Nicht, dass ich ein Problem mit Asexualität hätte. Was hältst du von einer offenen Beziehung?“.

Wir sprechen über Definitionen und sind uns nicht einig, was emotionale Exklusivität betrifft. „Als Erster von etwas zu erfahren ändert doch nichts. Warum ist dir das wichtig?“, meint Lia achselzuckend.

Je mehr Wein ich trinke, desto trüber werden meine Gedanken. Lia riecht nach einem blumigen Parfüm, geht auf und ab, um schließlich ins Wohnzimmer zu gelangen und eine CD aufzulegen. „Ist es nicht egal, wie wir es nennen, solange es für uns beide passt?“. „Aber das tut es doch noch gar nicht“, widerspreche ich ihr, während eine Mischung aus Alternative und Indie bereits meine Stimme übertönt. „Paul, wir diskutieren seit beinahe über einer Stunde“, erinnert mich Lia: „Lass‘ uns das Gespräch später fortführen, wenn wir darüber nachgedacht haben. Immerhin wissen wir jetzt, woran wir sind“.

Kurz nachdem ich einwillige, sitzen wir bei Nudeln mit Gemüsesauce. Lias Küche ist beinahe so chaotisch wie sie selbst. Einem Stuhl fehlt ein Bein, das Salz hat sie vorhin auf der Theke verstreut. Versalzen ist dafür nichts. „Lia“, versuche ich, aber sie winkt ab und macht sich an den Abwasch. Der Schaum des Geschirrspülmittels überdeckt unsere Teller und das Besteck, das weiter nach unten rutscht. „Das war zu viel“. Ich hoffe, sie meint das Spülmittel.

 

Katharina Wurzer

 

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freiVERS | blume (Michael Johann Bauer)

verdunstet

reifenkollern weht der wind die bruestung der duenen
hinab im hauruckverfahren verfrachtet dich ins abseits
ja jeder plan ist eine wueste blaupause eines scheiterns
auf raten oasen suchen wie viel prozent reichen wohl
aus um ausreichend versorgt zu sein wenn manche gern
behaupten gewisse dinge seien unteilbar & verlieren
ihren sinn ihre bedeutung sobald jemand mal versucht
sie zu dividieren was nicht ablenken soll vom sand
der zwischen den zaehnen & zehen & gelenken & & &
knirscht das getriebe blockiert selbstverstaendlich erst
ab einer gewissen menge & nun geraetst du erst recht
in den wirbel in den strudel in den sturm eines sich im
mer weiter um sich selbst drehenden gedankens & irrst
solange dahin bis dein knochentrockener leib verdorrt
daliegt unter der guten uralten & gnadenlosen sonne

 

 

blume (Michael Johann Bauer)

 

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freiTEXT | Daniel Klaus

Duschgels

Es ist nicht so, dass ich sie klaue. Ich finde sie. Und dann bekommen sie in meinem Badezimmer ein neues Zuhause.

Angefangen habe ich damit auf Campingplätzen während eines Interrail-Urlaubs. Da war ich siebzehn. Und nach dem Urlaub habe ich zuhause weitergemacht: Beim Sport, in der Sauna, im Schwimmbad, im Fitnessstudio. Es ist erstaunlich, wie viele Männer in der Umkleidekabine ihr Duschgel einfach vergessen. Und es sind immer wieder Duschgels dabei, die mit Duftkombinationen aufwarten, auf die ich nie gekommen wäre. Lebkuchen und Orange zum Beispiel. Es ist jedes Mal ein kleines Abenteuer, wenn ich ein neugefundenes Exemplar ausprobiere. Mein exotischstes Duschgel habe ich vor zwei Monaten beim Kiesertraining in der Ostseestraße eingesteckt. Es kommt aus Japan und ist voll mit für mich unverständlichen Zeichen. Es riecht sehr gut, aber ich kann nicht sagen, nach was es riecht, weil ich keinen vergleichbaren Geruch kenne. Es riecht sehr langsam. Und so fühlt es sich auch auf der Haut an: Wie ein japanischer Film, der nur aus wenigen, langen Kameraeinstellungen besteht.

Seit einigen Jahren hebe ich die leeren Duschgelpackungen auf. Ich bringe es einfach nicht mehr übers Herz, sie wegzuwerfen, weil ich mit jeder einzelnen von ihnen eine gemeinsam verbrachte Zeit verbinde. Sie sind wichtige Erinnerungsstücke für mich. Meine Sammlung ist mittlerweile so groß, dass ich ein eigenes Regal für sie gekauft habe. Es hat eine raffinierte Hintergrundbeleuchtung, und ich stehe oft vor dem Regal und betrachte meine Duschgels, so wie andere gerne in ihren alten Photoalben blättern.

Mir ist schon klar, dass es nicht viele Menschen gibt, die diese Leidenschaft nachvollziehen können. Aber es ist wirklich eine harmlose Leidenschaft. Ich bin einfach nur ein gutriechender Mann Mitte dreißig, der sich seit knapp zwei Jahrzehnten kein Duschgel mehr gekauft hat.

 

Daniel Klaus

 

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freiVERS | Hans-Joachim Kuhn

ent zwei

das wort mir zerbrochen
dem rann die träne am kleid herab komm
ungesagtes steig aus dem eulen-
gewölle

steig aus der fähenspur
brustwärts ins rotgefärbte sprachest du
nicht - samenkorn lagest in stiller
mauerfuge silbenzählig in aschener
haut

zähle sie mit gespreizter
hand zähle die farben kahlgeschoren
das blau farbenblind gehe zum
puls-

schlag und zähle die schläge
halte das ohr ans herzwort augengesplittert
sind wir sind atem der schläft sich
zum wachen sturm sei erster schabe den
sinn

mit tönerner scherbe
schabe und zähle schweige nicht
wie die namenlosen im stirn-
gesträuch

auf allen spiegeln sprachloser
schlaf befahre das fremde im klanglos des
stimmbruchs im sprechgesang
schwinge den brechstein schwinge ich
höre es

bersten das schlusswort
schlägt seinen namen dir ins gesicht
vergessen im wein ins lippen-
stumm

fällt dir der rote zungen-
stein

 

Hans-Joachim Kuhn

 

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freiTEXT | Wolfgang Wurm

 Strategie.

Zwar hatte auch er öfter mit dem Gedanken gespielt, aber ihn niemals ausgesprochen, denn diese Entscheidung war ihm noch immer eine Nummer zu groß. Als sie ganz behutsam die Überlegung ins Gespräch einfließen ließ, nach all den Jahren vielleicht doch zusammenzuziehen, verspürte er sofort eine Enge, die ihn bedrohte. Dennoch schien es ihm klüger, seine Scheu für sich zu behalten, und er bat sie nicht, das Thema aufzuschieben, sonst hätte ja er die Initiative ergreifen müssen, um es abermals auf die Tagesordnung zu bringen. Schon wäre es um sein Prinzip geschehen gewesen, sie auf gut Glück vorschlagen zu lassen, was er sich insgeheim wünschte.

 

Wolfgang Wurm

 

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freiVERS | Sandro Abbate

agora

der platz in der stadt
senkt sich unvermittelt
alles richtet sich zu der
tiefst gelegenen stelle
da im trichter wo
nackt und ungeschützt und starr
das letzte bisschen ich
erschrocken so wie ein reh
überrascht von der plötzlichen gefahr
einer meute waldgänger
mit ungezogenen hunden
den blick hebt und alle
sinne schärft
das urzeithirn den befehl gibt
die flucht zu ergreifen
weg nur weg an einen
sicheren ort
oder im boden versinken

 

Sandro Abbate

 

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freiTEXT | Olav Amende

95 Jahre: Stimmen

I

Lange hatte das Haus im Schlaf gelegen, sagt er. Lange dichtete es die Zeit nach draußen ab. Eine alte Dame kam zu uns. Sie stieg durch das Treppenhaus. Sie sprach: Es hat sich nichts verändert. Es ist dieselbe Farbe. Es ist dasselbe Holz, das meine Hand streift. Es wäre das Gefühl von damals, wäre ich noch …

Die Musikerin zieht eine Etage tiefer. An die eierschalenfarbene kahle Wand klebt sie ein Notenblatt mit dem Titel Mondschein-Walzer.

Über den Pflaumenbaum klettern Kinder auf die Garagendächer, ernten Holunder. In dem Sonntagskuchen duften Blüten.

Die Stille im Dachstuhl. Das Knarren der Treppe.

In der Badewanne schaukelt das Löschwasser. In die Badewanne, in den Eintopf rieselt das Stroh.

Im Keller bricht ein Rohr. Nun treffen sich die Nachbarn wieder. In Ketten schöpfen und reichen sie sich die Eimer von Hand zu Hand.

II

Leipzig, den 02. Juni 1923
Das Mitteldeutsche Braunkohlen-Syndikat beabsichtigt nach den in doppelter Ausfertigung beifolgenden Plänen auf dem an der Richterstraße in Leipzig-Gohlis gelegenen Flurstück Nr. 3587/3588 ein Beamtendoppelhaus zu errichten.
Wir erlauben uns dazu erläuternd folgendes zu bemerken: Das Haus soll aus Erdgeschoss, zwei Obergeschossen und ausgebautem Dachgeschoss bestehen und je zwei zus. also acht Wohnungen enthalten und gänzlich unterkellert werden. Die Trennung der Wohnungen in den einzelnen Geschossen geschieht je durch zwei Leichtwände mit entsprechend ausgefülltem Zwischenraum. Es sind zwei Haustreppen aus Eiche mit unterseits verschalten und verputzten Läufern vorgesehen, die an den Eingangsseiten liegen …

Das Kind legt sich flach auf die Steine im Keller. Es presst die Hände fest an die Ohren. Eine Welle erreicht es. Eine Welle, so rot, so warm – viel zu heiß.

Das Holz der Stuhllehne quillt. Von der Diskokugel im Garten löst sich ein Paillettenstreifen. Aus einem Handtäschchen baumelt eine Perlenkette.

Der Professor trägt neue Schriften heran, legt sie auf den schwankenden Stapel.

Durch die Dachrinne drückt sich der Regen.

Der Nachbarschaftsverein GOASE präsentiert Hoppel – eine Skulptur von Matthias Garff. Es wird Kaffee und Kuchen geben!

III

Es war eine Bucht für Gestrandete wie mich, spricht er. Für Menschen, die sich aus dem Geschehen fallen ließen, um zu sich zu kommen; um zu ruhen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle …

Durch eine schmale Klappe schiebt sich eine orangene Katze.

An den Fenstern flackern Kerzen, in die Wand sickern Klänge. Jedes Haus lebt, sagt er.

Im Waschhaus kochen sie die Zuckerrüben. Ein Mädchen zieht den Löffel aus dem Zuber.

Ein Besucher des Gartenfestes zieht ein Buch aus einer Kiste.

IV

Das Knarren der Treppe. Es scheint mir dasselbe zu sein wie vor 80 Jahren. Damals setzten wir uns in den Garten, vor die Stechpalme. Jene, vor der wir auch heute stehen. Wir Kinder setzten uns vor die Pflanze und spielten Doktor. Denn die Palme stach.

Die Welle kommt. Die Welle brennt sich in den Stein. Ein Walzer verhallt.

Die Kirschen fallen. Die Birnen fallen. Die Äpfel, Zwetschgen, Pflaumen fallen.

Der Vater reißt die Tür auf. Vom Volkssturm desertiert. Das Mädchen erinnert sich an einen Verschlag in der Schräge des Daches.

Lange kratzt der Arzt am Kalk der Badewanne, dann winkt er ab. Er entfernt die Gardinenstange, stößt auf hohlen Ziegel, blickt ins Freie.

Unbekannte Arbeiter kommen, stellen ein Gerüst auf, verschwinden.

V

Dann kam der Tag der Aktivierung. Wir mussten erwachen.

Durch das Beet streichen die Hühner. Im Feuer knackt das Holz. Der Musiker legt das Kinn auf die Violine.

Am Baugerüst rankt die Erbse. Am Baugerüst rankt der Wein. Die Pappeln bilden neue Triebe. Die Kätzchen platzen. Die Samen fliegen. Wirbelnder Schnee im Sommer.

Nachts stehen brennende Kerzen in den Fenstern des Paares, das die Partei nicht außer Landes lässt.

Auf dem Balkon positioniert sich der Schauspieler.

Unter einem weißen Laken steckt ein lehmfarbenes Wesen. Die platten Füße schauen heraus. Ein Dutzend Menschen haben sich unter bunten Wimpeln im Vorgarten versammelt. Ein Kind spielt Tischtennis mit seinem Vater. Ein Bewohner des Hauses steht auf dem Zaunpfeiler, ruft Sonntagsspaziergänger herbei. Wir dürfen Ihnen präsentieren: Hoppel! Das Laken wird gelüftet; ein Widderkaninchen blickt in die Runde.

VI

Wir entrümpelten die Keller und füllten den Lkw mit Heizkörpern, Waschmaschinen, Benzinkanistern, Autobatterien, Rohren, Fahrrädern, Fernsehern, Matratzen. Wir brachen Wände auf, entfernten die Zäune.

Da platzt die Frontscheibe, da bricht das Rohr, da explodiert…

Ein Kind schwingt sich an den Wäschepfahl. Rost splittert. Der Pfahl zerknickt.

Die alte Frau schiebt den Bohnerbesen hin und her.

Der Arzt schiebt dem Arbeiter ein Päckchen Kaffee in die Manteltasche. Dieser holt die Westantenne aus seinem Barkas. Wir stellen sie unters Dach, sagt er. Das wird flimmern, aber du kannst empfangen.

In den Wintern zieht das Paar in das warme Zimmer der einstigen Magd. In den umliegenden Zimmern glänzen Eiskristalle.

VII

Im Flur hängen hundert Drucke, Zeichnungen, Aquarelle. Hundert Menschen drängen sich. Mit Pinseln streichen sie die Buchstaben auf das Plakat, stellen die Hollywoodschaukel auf die Straße.

Guter Mond, du gehst so stille …

Die Kinder zeichnen mit Kreide Gesichter auf die Platten. Durch die Ritzen des Dachbodens dringt die Flugasche. In den Gärten faulen die Zaunbretter.

Ein Arbeiter der Hausverwaltung erscheint. Er zieht einen Ziegel ins Dach, dann geht er.

Ein Mann wischt sich den Ruß aus dem Gesicht.

VIII

22. September 1939. Betrifft Luftschutzmaßnahme.
In dem uns gehörenden Doppelgrundstück, N22, Richterstraße 4-6, beabsichtigen wir einen Durchbruch der Brandgiebelmauer im Keller vornehmen zu lassen. Es soll damit eine Verbindung zwischen beiden Häusern im Alarmfalle geschaffen werden, damit ohne Gefahr eine beiderseitige Hilfe gewährleistet ist.
Wir bitten um Veranlassung und Genehmigung.

Auf den grünen Stuhl steigt die orangene Katze. Staub erglänzt. Die Katze öffnet die Klappe, verschwindet.

Die Hausgemeinschaft versammelt sich zu einem ersten Plenum.

Im Treppenhaus hallen die Stiefel. Im Treppenhaus schlägt sie den Bohnerbesen gegen die Leiste. Im Eingang klappert der Briefkasten.

Ich habe den Ochsenkopf unter das Dach gestellt, sagt der Arzt. Ich habe ihn durch den Schornstein gezogen, antwortet der Assistent.

Der Sturm tost. Das Glas des Gewächshauses flattert. Fetzen einer Folie fliegen durch die Luft, verfangen sich in den Büschen. Ein Baum kippt, eine Scheibe platzt. Hoppel wankt. Regen fließt über das schwarze glänzende Auge des Kaninchens. Die Skulptur fällt. Die Haut bricht, die Platten knacken, das Linoleum birst.

IX

Ein Chor hebt an: …

Die Musikerin streift winters durch das Gestrüpp. All these things happen in one second and last forever. Sie tanzt zur Violine am Feuer.

Die Gräser und Quecken wachsen. Aus dem Nichts erscheinen Birken, Kastanien.

Der Sturm hebt die Blätter vom Stapel, durch die Zimmer wirbeln die Schriften.

Der Putz bröckelt von den Wänden.

X

Die Stille unter dem Dach.

Dann brennen alle Häuser. Dann explodiert der Garten. Dann reißen die Bomben Krater so breit wie das Kinderzimmer, so weit wie Schlafsäle, so tief wie … Die Pappeln beben. Der Druck reißt das Geäst in die Höhe.

Das Holz der Stuhllehne reißt. Das Holz des Stuhlbeines bricht.

Ein windschiefer Schornstein. Die Hausverwaltung antwortet schriftlich: Es besteht keine Gefahr.

XI

Was wir uns wünschen, ist Gemeinschaft. Was wir wollen, ist Geborgenheit.

Leise dringen die Klänge des Walzers ins Gemäuer, während sie unten im Garten die Tafel aufbauen, zum Essen laden.

Im Wind rauschen die Pappeln. Ein Huhn pickt ein Korn. Eine Elster schiebt sich durch die Birke.

Der Schauspieler wendet sich nach links, wendet sich nach rechts. Seine Worte hallen im Garten:

Mephistoteles sich umsehend: Doch wie? – Wo sind sie hingezogen? / Unmündiges Volk, du hast mich überrascht! / Sind mit der Beute himmelwärts entflogen; / Drum haben sie an dieser Gruft genascht! / Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepatscht. / / Beim wem soll ich mich beklagen? / Wer schafft mir mein erworbenes Recht? / Du bist getäuscht in deinen alten Tagen, / Du hasts verdient, es geht dir grimmig schlecht!

Sie schlagen ein Loch in die Wand, reichen die Korbmöbel aus der alten in die neue Wohnung; dann mauern sie die Wand zu.

XII

Vier Menschen machen sich im Garten an alten Paletten zu schaffen. Sie hebelt mit einer Zinkenhacke die Leisten ab; er klopft die Klötzer von den Brettern – die Klötzer landen in der Feuerschale. Ein Dritter zieht die Nägel aus den Brettern. Im Hintergrund sägt der Vierte. Sein Sohn spaziert zwischen den Tomatenpflanzen. Eine Schaufensterpuppe mit elfenbeinweißer Haut und kahlem Haupt sitzt im mohnroten Kleid auf dem Gerüst und hält ihnen eine Perlenkette entgegen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle, / Daß ich ohne Ruhe bin!

Sie schaufeln den Phosphorbrei in die Eimer. Die Kinder tragen den brennenden Schutt aus den Häusern. Mit Wasser, Sand, Erde löschen sie die Flammen ab.

Eine alte Frau holt Post aus dem Briefkasten. Jeden Tag öffnet sie ihn, zur selben Stunde.

Vom Blech der Eimer tropft das Wasser auf die Dielen. Die Frauen nehmen die verstaubte Wäsche vom Dachboden, hängen sie in die Flure.

XIII

Das Haus schläft. In seinem Schoß ruhen die Kinderträume. Da kehrt der Vater mit Bonbons fürs Töchterchen nach Hause. Da packt ein Paar seine Koffer. Da gesellt sich eine alte Dame mit Postkarten zu ihrem Gatten. Bedächtig schleichen die Seelen durch die Räume. An den Fenstern verlöschen die Kerzen.

 

Olav Amende

 

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freiVERS | Harald Kappel

ElfelftelTakt

vermischt
werden Wochen
zwischen kalten Nerven
eine stumpfsinnige Sprachlosigkeit mästen
sich an die Worte heranmachen
sie unvermittelt auf nasses Papier klopfen
damit es so ganz einfach nicht wird
unterwegs ein kopfloses Dasein zum bloßen Schein führen
eine alte Schreibmaschine mit jungen Haselnüssen und Jakobsmuscheln verzieren
wer entspricht schon der verlangten Anstrengung in der reichen Bedürfnislosigkeit
dösen

ohne Worte den Hof kehren
verlangt zufriedene Tüchtigkeit im Kleinen
sparen an der Denkfähigkeit
erhöht die physikalische Rente
trinken und spielen
ist gleichzeitig möglich
und ein natürlicher Wunsch der Umstände
schwüle Sommer
begünstigen die Mattigkeit
das Innen bleibt schleierhaft

für die Frauen ein Witz
ist Hantieren in der Küche
gleichzeitig möglich
mit Überhörtwerden
Besenreisern Überbeinen und Schlafmangel
auf dem Land
gewöhnt man sich
an häusliche Funktion
der Schminktisch
steht im Vorratsraum
wird nur zum Kirchgang benutzt

drinnen ist Nebel am Herd
Zeichen der Äußerlichkeit
Wassertropfen hängen an Wäscheleinen
Tangas werden gestohlen
fremde Lebensformen des Ichs
existieren in der Dystopie
Kleinhalten ist wertvoll
ohne Vergleichsmöglichkeit
keine Bedürfnisse
Brauchtum und Tod
haben eine seltsame Ähnlichkeit

wo sind FlipFlops
Limonade und Leidenschaft
Heimweh nach Ferne
das Licht?
ordnet die Nachtstunden
das Unbegreifliche ein Ritual
Liebe
existiert handschriftlich
auf Rückseiten von Polaroids
das Tagebuch
Quersumme der Tagesschau

das
können
wir doch besser
die schlimmen Momente fehlen
die scharfe Unordnung ist nicht ansprechbar
der handzahme Körper ein schmerzloses Zeitvergehen
und doch erzähle ich sinnlos
am liebsten sofort abgelenkt
vom unhöflichen Zugehen
na hoffentlich
kurz

in dieser Zeit
half ich mir
aus dem Herausgehen
ich formulierte Berichte
über Traurigkeit
für das Radio
Prospekte aus Vergangenheit
sind Backpapier
für künftige Empfindungen
je mehr man fingiert
je fester wird der Glaube

nach den Kinderkrankheiten
unterschrieb ich das Darlehen
die Hypothek ist mein Ernstfall
meine Kinder liegen im Schatten
schweigen und atmen
lernen in der Schule
elementare Scham
summen Schlagertexte
werden frech
die Narben die Narben der Kinder
nach den Krankheiten

aus Hilflosigkeit
nahm ich Haltung an
keine Lust auf Abenteuer
das schwere Herz
ein Klumpen Embolie
verstockt vor Grausen
mein Doppelgänger
erwähnt ein tröstliches Ende
aber
identische Sprachlosigkeit
löst meine Rätsel nicht

hier werde ich stolz
früher hätte ich geprotzt
in der Ecke steht man stumm
das pure Auskommen
ein Beichte der Beschränktheit
das Ich erscheint mir fremder
als ein Stück Mond
in der Nacht
werde ich entpersönlicht
die guten Sitten
werden mein Rosenkranz

indem
die Zustände von frühen Neurosen nicht in der Notwendigkeit leben
gibt es nun tabellarische Momente von äußerst angespannten Deutungen
inzwischen habe ich euch elf sinnlose Briefe eingeschrieben
es sind private Szenen aus beweglichem Besitz
vielleicht treffen wir uns im Bewußtsein
oder in Alpträumen ohne Familiengeheimnis
eingefleischt im unheimischen Zuhause
vielleicht auch nicht
werden Wochen
vermischt

 

Harald Kappel

 

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freiTEXT | Sigune Schnabel

Die Zeit bleibt Kind

I

Es gab Menschen, in denen die Zeit schlief. Sie blinzelte morgens einmal in die Dunkelheit des Körpers, drehte sich um und schloss die Augen erneut. Der Atem ging so gleichmäßig und leis, dass ihre Anwesenheit aus den Köpfen verschwand.

Mit fünf Jahren hatte Johanna geglaubt, gänzlich von den Misslichkeiten des Lebens befreit zu sein. Damals hatte ihr Bruder eine eiternde Wunde auf dem Handrücken, die täglich versorgt werden musste. Johanna schaute angewidert zu, wie der Verband gewechselt wurde, und sagte sich im Stillen: Mir würde so etwas nicht passieren.

Erst als sie zur Schule ging, erkannte Johanna, dass die Zeit stärker war als sie. Ihre Großmutter ging ins Badezimmer und stellte den Fuß auf einem Hocker ab. Krampfadern überzogen das Bein vom Knie abwärts, schlängelten sich wie Flussbetten entlang und hatten beinahe die Dicke von Johannas kleinem Finger.

Sie hob ihr Kinderbein zu ihrer Großmutter empor und stellte es daneben. „Schau mal“, sagte sie und zeigte auf ihre Adern. Blau hoben sie sich vom Fuß ab. Ob sie einmal Krampfadern würden? Großmutter zwängte sich den Stützstrumpf über und antwortete: „Bestimmt.“

II

Später wurde die Zeit ein Strom. Je älter Johanna wurde, desto reißender stürzten die Jahre das Flussbett hinab. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, bewegten sie sich in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte Johanna bis zum Grund. Heute sah sie nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.

Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Sie sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte sie den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende ihres Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: „Ich bin der Schokoladenfresser!“ Leider war Johanna nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Reste vom letzten Osterfest anzubieten. Ihr kam nicht einmal der Gedanke, dass sie selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.

Mit den Jahren wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass Johanna nicht mehr zu ihnen durchdrang. Nur manchmal, wenn sie müde war, geriet sie für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnten. Gerüche und Orte vereinten sich in diesem Moment. Ihre Füße befanden sich plötzlich auf Straßen, die sie als Kind entlanggelaufen war, in Ecken, die ihr gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihr Leben in ihr ruhte. Sie waren ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.

III

Früher schrieb Johannas Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Die Kinder durften diese Seiten nicht lesen, wussten aber, dass es um sie ging, was sie wütend machte. Einmal fanden Johannas Bruder und sie Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Ihre Mutter störte sie nicht bei ihrer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an den Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten die Kinder aus, die Teile zusammenzusetzen. Am Ende schafften sie es. Es entstand ein Text.

Sekunden im Halbschlaf waren manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld ließ sich von ihnen einmal der Text der Kindheit ablesen. Das nächste Mal wollte Johanna ihn luftdicht in Flaschen verstauen und in ein Boot tragen, ihn vor dem reißenden Fluss schützen.

IV

Bei Paul war die Zeit kein Fluss. Schon früh rannte sie in seinem Körper auf und ab. Ein unbändiges Kind, das gegen die Zellen trommelte; das noch nicht gelernt hatte, Spuren zu verwischen und Scherben zu beseitigen. Manchmal erschrak es einen Augenblick, das Kind; vielleicht, weil ein Glas auf den Kacheln zersprang. Doch dann rannte es weiter umher, bis der nächste Gegenstand zu Bruch ging.

Manchmal sah Johanna vor sich, wir sie mit Paul durch den Sand lief. Die Sandalen baumelten in seiner linken Hand. Johanna trieb es immer weiter, bis zum hintersten Zipfel der Insel, an dem das Vogelschutzgebiet begann. Auf einmal war der Weg überflutet. Wellen umspülten ihre Fahrräder, die sie oben abgestellt hatten. Paul stieg ins knietiefe Wasser. Hinterher lachten sie, froh, dass sie sich rechtzeitig auf den Rückweg begeben hatten.

Wenn Paul auf dem Stuhl saß, wollte Johanna sagen: „Steh auf!“ Doch niemand konnte die Zeit in seinem Innern bremsen. Wie gern hätte Johanna ihn wie ein Fahrrad aus dem Meer gezogen.

V

Die Pflegerin schob ein großes Gestell heran. Sie musste aufpassen, dass es nicht anstieß. Dann ließ sie es herunter, gerade so tief, dass sie Paul daran befestigen konnte.

Als sie es wieder nach oben kurbelte, schwebte er in einer Schaukel. Zwischen den Armlehnen des Rollstuhls ließ sie ihn herunter, so passgenau, dass er in Sitzposition landete. Jedes Mal konnte Johanna nur zuschauen, wie die Zeit jede Regung von Paul nahm.

VI

Die Fähigkeit der Hingabe war abhandengekommen. Johanna schlüpfe in einen Raum, in den keine Berührungen reichten. Müdigkeit legte sich in ihre Sätze, ließ sie schwer werden und langsamer klingen. Sie versuchte, ihre Unsicherheit durch Verstand zu tarnen, zerschnitt ihr Leben in kleine Stücke und setzte es schlüssig zusammen, legte es auf einen Teller und sagte: „Sieht es nicht schön aus?“ Paul verzog das Gesicht.

VII

Johanna hatte gedacht, sie würden es schaffen, nichts zu erwarten. Nicht mehr zu spüren, wie sie dahinter verschwanden. Aber sie hatte sich geirrt. „Ich will dich noch einmal von vorne verlieren“, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Sie saß an Pauls Bett und sah zu, wie er immer weniger wurde. Wie seine Hände, seine Stimme ihm entglitten. Sie hatte Angst vor seinem Verschwinden, denn es lag außerhalb ihrer Ordnung. Außerhalb der Regeln ihrer Welt. Es ließ sich nicht erklären und beherrschen. Geradezu absurd in einer aufgeklärten Zeit. Lag hier nicht das größte Versagen, wenn nicht sogar ein Verspotten aller Errungenschaften?

VIII

Seit Pauls Körper ihm entglitt, war Johanna aus dem Takt geraten. Bei jedem Versuch, sich zu halten, fehlte das Gerüst, die Grundlage. Also fiel sie in sich hinein, bis sie sich nicht mehr auffinden konnte, so tief. In der Leere tauchte ihr altes Leben wieder auf, als Nordlicht. Wenn sie danach griff, stürzte sie weiter, denn die Farben hatten keine Substanz.

Sie konnte Paul nur zusehen, wie sich etwas um ihn auflöste; nichts war mehr möglich, außer in den Leerstellen zu versinken.

Ein Teil von Paul hatte sich in Johanna verankert. Wo er sich lockerte, riss er etwas auf. Ihre Wurzeln waren wund geworden an der Luft. Wie lange war es her, dass sie die Grenzen zwischen sich verloren hatten? Dass sie sich überschnitten und ineinander rankten? Auch auf Johannas Seite starb etwas.

IX

Manchmal hielten sie sich am Immergleichen, denn es täuschte sie über das Ende hinweg. Ihr Denken beruhigte sich in dem Schein von Beständigkeit. Sie ahmten die Tage nach, als könnten sie so die Zeit anhalten. „Glaubst du nicht auch, dass sie hinter Gewohnheit verschwindet? Dass sie ganz still wird, wenn wir sie in einen Rahmen pressen?“, fragte Johanna, doch sie sprach es nicht aus.

Und sie dachte weiter: „Kennst du die Angst vor der Zeit? Eine Wohnung, ein Möbelstück aufzugeben, weil dann auch ein Stück von dir verschwindet; ein Abschnitt beendet ist, der aus dir herausfällt und eine Lücke hinterlässt? Du haftest noch daran, zu einem kleinen Teil, und fühlst, wie sich ein Loch in dir bildet, ohne diesen Gegenstand. Die Zeit zerstört dich zunächst nur langsam, doch du wirst immer kleiner, bevor du etwas Neues werden kannst. Nein, selbst das ist nicht von Bestand. Bald wird dir die Fähigkeit zu werden abhandenkommen. Bleibst du dann ohne dich zurück? Weißt du, was ‚ohne dich‘ bedeutet?“ Johanna wusste es nicht.

X

Manchmal nahm sie ein kleines Stück Leben und warf es in die Leerstellen. Doch es verlor den Glanz, wenn es so einsam und zerschnitten an der falschen Stelle lag.

 

Sigune Schnabel

 

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