freiTEXT | Liona Binaev

Mindesthaltbarkeitsdatum

Mir ist heute eingefallen, dass ich gestern tot sein wollte, besser als andersrum. Du hast reichlich eingekauft: Tomaten, Gurken, Quark, Kaffee, Äpfel, Chips, drei Packungen, ich öffne sie alle, Kaugummis, zwei Packungen, ich schmeiße sie weg. Der Zeiger tickt so laut, als wolle er meine Wut erreichen, aber mir geht es großartig, seit nicht mehr gestern ist. Du hast auch drei Konservendosen mit Fisch gekauft, haltbar bis: siehe Seitenprägung, 01/2025.

»Ieh«, sage ich. »Fisch kommt mir nicht ins Haus.«

»Seit wann?«

»Seit gestern.«

Du lachst nicht, ich lache nicht, der Fisch lacht nicht. Ich bestehe darauf, dass wir den Fisch heute essen oder wegschmeißen, du sagst, hast du deine Tage, ich sage, unoriginellerweise ja, wir essen den Fisch zum Mittag, sagst du, mit Kartoffeln.

Heute ist Sonntag, also war gestern Samstag. Am Samstag hat eine junge Frau in unserer Nachbarschaft gegoogled.

Ich gehe spazieren. Du sagst, das Essen ist fertig, wenn du wiederkommst.

Ich biege rechts ab, links ab, geradeaus. Die Welt gefällt mir. Wenn ich lächle, lächelt etwas zurück. In der Bäckerei meines Vertrauens beschenkt man mich mit Spritzgebäck, wenn ich nur einmal im Monat komme. Ich war gestern schon da. Ich will rechts abbiegen, links, nicht geradeaus, da winkt mir jemand zu und ich gehe geradeaus. »Heiß aus der Fritteuse«, sagt jemand und packt mit der Zange zu. »Wie geht es dir?«

»Heute geht es mir großartig«, sage ich.

»Lass es dir schmecken.«

Am Samstag hat eine junge Frau in unserer Nachbarschaft gegoogled, wie man sehr wahrscheinlich am besten stirbt und komplexer Suizid war die Antwort. Sie hat sich diesen Begriff auf der Zunge zergehen lassen wollen, aber er ist nicht geschmolzen, nur wie ein Anker in ihren Bauch gesunken.

Gestern ereilten mich gute Nachrichten, es gibt Antworten auf meine Fragen.

Ich habe mal einem Menschen aus der Uni gesagt, er könne mich immer anrufen und gestern musste ich daran denken, dass ich eine Lügnerin bin, denn gestern hätte dieser Mensch mich nicht anrufen können, ich war unerreichbar. Er hätte im Sterben liegen können und ich war unerreichbar.

Das Essen ist fertig, ich bin heilfroh, dass der Fisch verwertet ist. »Lass es dir schmecken«, sagst du. »Weißt du, was mir aufgefallen ist«, sagst du. »Du hast alle Chipstüten geöffnet und die Kaugummis liegen im Müll.« »Lass es dir auch schmecken, mein Lieber!« »Ich frage mich natürlich, warum du das gemacht hast.« »Google kann dir sicher aushelfen!« Du lachst nicht, ich lache nicht, aber der tote Fisch in meinem Bauch freut sich, Frau Anker wiederzusehen.

»Ich will ein bisschen mehr im Jetzt leben«, sage ich. »Mich irritiert ein Kaugummi, der fünf Jahre haltbar ist. Und Chips, wenn sie immer knusprig bleiben. Das ist sehr unachtsam, so weit im Voraus zu denken.« Du räumst den Tisch ab. »Schauen wir unsere Serie weiter?«, frage ich. »Die geht mir zu lang«, sagst du.

Ich schreibe eine Karte an meine liebe Freundin aus der Uni, weil ich achtsam sein will. Es ist eine Beileidskarte; sie hat guten Humor. Der Tag hat noch neun Stunden und ich schreibe ein paar Karten mehr. Alles Gute an meine Mutter, Herzlichen Glückunsch zur Hochzeit an meinen Bruder, Mit 80 geht die Party erst los an meinen Vater, ich schreibe sogar dir kleinem, fiesen Arschloch ein paar liebe Worte. Deine Karte ist die einzige ohne Text auf ihrer Motivseite. Ein Schmetterling, der sich an einer roten Blüte nährt. Ich finde die Karte pervers, also passt sie gut zu dir.

Diese eine olle Frau aus der Nachbarschaft, die gestern die Macht des Internets entdeckte, hat eine Rasierklinge von ihrem Freund ausgeliehen, Aspirin und Quetiapin in einer Schublade gefunden und ist dann über ein Seil gestolpert.

Du gehst aus. Du sagst, ich gehe aus, weiß nicht, wann ich wiederkomme. Ich sage, du mich auch, du sagst, das finde ich unfair, ich sage, du mich immer noch auch. Du gehst aus. Früher hätte mich so eine Konversation tief getroffen. Gestern zum Beispiel. Gestern hätte ich vielleicht impulsiv gehandelt und versucht, dich meine Rache spüren zu lassen wie die kleinen Borderline-Mädchen mit Verlustangst. Aber heute ist nicht gestern und ich reagiere sehr erwachsen. Ich lasse mir ein Bad ein. Lege George Michael auf und singe fick dich im Takt der Blubberblasenplatzer. Mir fällt ein, dass du dich gestern auch sehr fragwürdig verhalten hast. Mir fällt außerdem ein, dass du dich für dein Verhalten gestern nicht entschuldigt hast. Und du hast der Frau aus der Nachbarschaft außerdem nicht gesagt: Bei deiner Vorgeschichte sollte ich wissen, dass dich solche Konversationen tief treffen. Die Frau hätte darauf wahrscheinlich geantwortet, dass sie sich bemüht, ihr Wohlsein nicht von anderen Menschen abhängig zu machen, da dies den endgültigen Verlust ihrer Autonomie bedeuten könnte. Du hättest vielleicht erwidert: Hä? Oder aber vielleicht: Wir kriegen das irgendwie hin. Vielleicht hättest du gar nichts gesagt und wärst ausgegangen. Ich würde dieser bescheuerten Frau aus der Nachbarschaft gerne mal sagen, dass es unverantwortlich ist, einem Menschen, der mit viel Geduld und Liebe mit ihr umzugehen versucht, eine so große Last aufzubürden und ihn hintergründig für ihre negativen Gefühle verantwortlich zu machen, da sie eben dies in ihren langjährigen Therapiesitzungen zu unterbinden versucht hätte und es eigentlich besser wissen müsste. Aber diese scheiß Frau von nebenan lernt es einfach nicht.

Das Badeöl färbt das Wasser so schön rot wie die Blüte auf der Karte mit dem Schmetterling.

Ich bin froh, dass heute Sonntag ist. Samstage sind schwere Tage für mich. Erstaunlicherweise freue ich mich am Freitagabend immer auf sie, ich steige in die U-Bahn und denke mir, eine Woche geschafft, dir geht’s gut, morgen gönnst du dir mal eine kleine Auszeit, Netflix und Paul Celan, aufstehen gegen 9, Kaffee kochen und während die Maschine schwarzes Gold tropft, meditieren, das goldene Licht überzieht meinen Körper, ein- und ausatmen und es bemerken, ich kann machen, was ich will, der Tag gehört mir, ich könnte jetzt, ich werde jetzt, aber dann kann ich plötzlich nicht und werde auch nicht. Es ist dieses Gefühl im Bauch. Dieser Schrei, nicht von Edvard Munch, es quietscht wie ein Schwein vor dem Bolzenschuss.

Aber daran will ich jetzt nicht denken, es ist Sonntag. Ich schau jetzt gleich Netflix und dann werde ich vielleicht ein paar von Celans Gedichten lesen. Aber erstmal mach ich mir Kaffee. Eine Packung ist leer, aber du hast ja heute neuen gekauft. Ich lächle kurz leicht irritiert, denn heute ist ja Sonntag und ich frage mich, wo du eigentlich eingekauft hast, wenn heute Sonntag ist. Aber dann meditiere ich meine Fragen einfach weg und rege mich nicht über das rote Badeöl auf, das mir aus dem Badezimmer gefolgt ist.

 

Liona Binaev

 

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freiTEXT | Christian Lange-Hausstein

Die schwarzen Löcher gegenüber

15. August 2020 - Eine Push-Notification meiner Corona-Tracing-App poppte auf:

„Sie haben sich in den letzten 48 Stunden länger als 15 Minuten in unmittelbarer Nähe einer Person aufgehalten, die soeben den Status COVID-19 positiv gemeldet hat.“

Ich war schon fast eingeschlafen. Ich hätte neben der COVID-19-Notification auf „Mehr“ drücken können aber ich schaltete das Handy mit einer Art gespielter Gleichgültigkeit aus. Gespielt? Vor wem?

Ich tat es, wie wenn ich eine Nachricht als unwichtig einstufte, bevor ich ihren eigentlichen Inhalt zur Kenntnis nahm - schon aufgrund der Meta-Informationen. <Bruder + Familienchat + Foto> Niemand erwartete in einem solchen Fall eine Antwort von mir.

Aber ich tat es eben doch nicht exakt so gleichgültig. Ob die Menschen hinter den schwarzen Löchern in der Hauswand gegenüber den Unterschied bemerkt hatten?

Ich aktivierte den „Darkmode“. Ich spürte, wie der schwarze Bildschirm zur Entspannung von Muskeln in meinen Augen führte. Das Ehepaar in der Wohnung neben mir schrie wieder. Ich regelte auch die Helligkeit der Buchstaben herunter und hielt mit einer Hand die Bettdecke hoch zwischen mich und die Möglichkeit der Blicke aus den schwarzen Löchern.

15 Minuten in unmittelbarer Nähe. War es im Lidl? Als Apple Pay nicht funktionierte und ich mit Bargeld an der Plexiglasscheibe vorbei zahlen musste? War es im Treppenhaus? Als der alte Mann aus dem vierten OG mir entgegenkam und wir kurz austänzelten, ob wir rechts oder links aneinander vorbeigingen? Die Joggerin, die mich schnaufend überholt hatte? Alles Kontakte, die mich beunruhigt hatten. Aber keine 15 Minuten - zu kurz für die App.

Plötzlich brauste für einen Moment der Bürger in mir auf. Aber er beschränkte sich, wie das in den Zeiten des Akzeptierens der Pandemie im „April-Mai“ üblich geworden war, auf das Stellen von Fragen: Wann werden diese Kurz-Kontakte von den Machern der Tracing-App für relevant gehalten? Wird die App automatisch upgedatet, um kurze Kontakte auch zu erfassen? Werde ich die Nutzungsbedingungen akzeptieren müssen, um das Handy weiter nutzen zu können? Ich hielt das Symbol der Corona-Tracing-App lange gedrückt und dann begann sie zu wackeln und ich hätte nur das „X“ drücken müssen, um sie zu löschen. Aber dann hörte ich die anderen sagen, „Aha, sie haben also die App nicht freiwillig installiert, aha!“

Dass ich 14 Tage in Isolation bleiben müsste, würde angezeigt werden, wenn ich neben der COVID-19-Notification auf „Mehr“ drücken würde. Was sonst. Dann zog ich die Decke ganz über mich.

14 Tage Isolation. Sei ehrlich, flüsterte ich in die Dunkelheit des Displays. Wie lange war das alles her? War das nicht...? -

Mir war das Lotterleben der anderen kurz vor Sommeranfang zu viel geworden. Entweder hatten wir eine Pandemie oder nicht, hatte ich zu meiner Frau gesagt, als der Berliner Senat Ende Mai die Maßnahmen lockerte. Wie viele Menschen hatte ich denn in den letzten 48 Stunden gesehen? Ich spürte, wie sich mein Atem unter der Decke um das Gesicht legte. Feuchte Wärme legte sich auf meinen Wangen ab.

In den Wochen davor hatten meine Frau und ich ohnehin so viel gestritten, dass sie nicht mehr... - Sie sagte, „Das überrascht mich jetzt auch nicht mehr“, als sie meine Argumentation zum Anlass nahm, um mit den Kindern zu ihrer Schwester nach Prenzlauer Berg zu ziehen.

Ich öffnete die Kalender-App und musste eine Weile scrollen, bis ich den letzten Tag mit einem Eintrag fand. Ich zählte. In Wahrheit hatte ich bereits die letzten 64 Tage niemanden gesehen. Ich hörte das Ehepaar in der Wohnung nebenan wieder schreien. Ging Bluetooth auch durch Wände? - 64 Tage. Niemanden. Nichtmal in den schwarzen Löchern gegenüber.

 

Christian Lange-Hausstein

 

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freiVERS | Milena Filipps

Der erste Regentropfen

Ein Tropfen traut sich
Ohne den Regen
Zu sinken, zu fallen, zu fliegen, zu schweigen
Ohne Rückweg in Sicht.

Asphalt, Erde oder Wiese
Unklares Ende einer Reise
Die überstürzt begann,
Als noch die Sonne schien.

Der Regen handelt nicht,
Der Regen denkt nicht nach,
Der Regen schmiedet keine Pläne,
Wenn er unsere streicht,
Steht hinter ihm der Zufall,
Der nichts weiter will,
Als eine Bewegung der Welt.

Der Tropfen, der ihm voran trat
Sah keine Zukunft, keine Gegenwart,
Fühlte keine Nähe des Sees,
Des Wassers, mit dem er sich vermischte.
Zu seinesgleichen blieb eine Distanz erhalten.
Wenn sie etwas spürten,
Dann spürten sie nur sich selbst.

Milena Filipps

 

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freiTEXT | Hatice Acikgoez

Die modifizierte Frau

7 Uhr. Wie jeden Morgen klingelt mein Wecker, den ich seufzend ausstelle. Neuer Tag im alten Leben, das mir nur zuwider wird. Ich stehe auf, sammle die Kleidungsstücke, die wie explodierte Fetzen auf dem Boden verteilt herumliegen auf und ziehe sie mühsam an. Alles wird anstrengender mit der Zeit, wenn man das Leben nur lange genug hasst. Ich laufe ins Bad, pinkle halb neben die Schüssel und springe unter die Dusche. Der fehlende Duschvorhang macht sich jedes Mal durch die Wasserspritzer auf dem Boden bemerkbar. Nach der Dusche steht mein Bad vollkommen unter Wasser. Mir egal.

Schüssel, Müsli, Milch. Löffel, löffeln, Mund. Kauen, Schlucken. Tagein, tagaus.

Wem macht das alles eigentlich noch Spaß?

Bei der Arbeit setze ich mich an meinen Computer und tippe. Nichts was ich hier tue ist von irgendeiner Bedeutung. Langeweile. Stinkende, gähnende Langeweile. Man checkt die Mails, Facebook, Instagram, Youtube, Twitter und Snapchat. Und scrollt. Und scrollt. Und dann? Bedeutungslose Leere, die einem nur vermittelt, wie wenig man wert ist. Und ein für die ganze Welt sichtbarer Beweis wie viel mehr Wert alle anderen sind.

Wieder zu Hause. Internet, Pizza, Klingel. Essen, Netflix, Duschen. Netflix. Netflix. Netflix. Netflix. Schlafen. Was für ein toller Tag.

19 Uhr. Mein Handy vibriert und ich nehme mit schnell schlagendem Herzen ab. Er ist es. Fragt, was ich heute mache. Was er denn machen will, frage ich. Ich wüsste schon, was er will.

Ich stehe auf, sammle die Kleidungsstücke aus dem Karton, die mir einst so heilig waren und ziehe sie aufgeregt an. Lässt man etwas lange genug zurück werden die Erinnerungen in unserem Gehirn durch einen Filter gezogen und sehen auf einmal fantastisch aus. Die Vergangenheit wird unschlagbar. Die Gegenwart nur eine bittere Enttäuschung.

Ich laufe ins Bad, suche die Tusche, Wimpern und Perücken zusammen.

Makeup, Gesicht, Pinsel. Malen, Verteilen. Wimpern, Zange, Tusche. Endlich wieder. Man, macht das Spaß.

Ich stehe auf der Bühne. Alles, was ich tue hat eine Bedeutung für mich. Mein Herz pocht, angetrieben durch meine schnellen Bewegungen zur Musik, meine Wangen glühen rot durch die Hitze, die Musik ist laut, aber das Dröhnen tut mir gut. An Langeweile kann ich gar nicht denken. Wie viel man auf einmal wert sein kann, wenn man sich selbst schätzt.

Endlich wieder bei ihm. Internet, Pizza, Klingel. Essen, Netflix, Duschen. Netflix. Netflix. Netflix. Netflix. Sex. Schlafen. Was für ein toller Tag.

 

Hatice Acikgoez

 

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freiVERS | Sagal Comafai

Schutz vor dem Wetter

Wir sitzen auf Gartenstühlen
Hinter einem alten Kiosk mit dreckigen Solarzellen
Über unsere Suppen gebeugt

Du hast eine pinke, ich eine blaue Regenjacke an
Unsere Köpfe sind in Kapuzen gepackt
Nicht wegen Regen, sondern Kälte

Der Plastiksack auf dem Fahrradsattel des Kochs wird weggeweht
Ichs sehe auf, laufe dem Sack kurz hinterher
Doch er fliegt davon

Ich nehme einen anderen, ich weiss nicht mehr von wo
Und binde ihn um den Fahrradsattel
Dann setze ich mich wieder zu dir

Der Koch läuft vom öffentlichen WC
An uns vorbei
Und zurück in den Kiosk

Sagal Comafai

 

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freiTEXT | Rolf Schönlau

Korsaren

Guck mal, da will einer mitfahren, sagte Leon. Halt an, Papa!

Blödsinn!

Wieso, wir haben hier hinten Platz genug. Leon rückte zur Mitte, nah an Anna heran, die sich ganz dünn machte: Bitte, Papa!

Seid ihr jetzt völlig durchgedreht?

Ich dachte, wir nehmen das ernst hier, empörte sich Leon.

Nicole zwinkerte ihrem Mann vom Beifahrersitz aus zu: Tu den Kindern doch den Gefallen.

Wenn ihr unbedingt wollt. Bitte! Stefan bremste abrupt.

Leon beugte sich grinsend zur Seite und öffnete die Tür.

Furchtbar nett, dass Sie mich mitnehmen.

Die Stimme gehörte zu einem jungen Mann, ganz in Schwarz, Cyber-Brille über die Stirn geschoben. Anna und Leon trauten ihren Augen nicht und rückten noch weiter zur Seite. Auch Stefan und Nicole starrten den Tramper an.

Leon hatte als erster begriffen und zeigte auf die Brille: Ist da derselbe Film drauf?

Jep.

Willst du nicht weiterfahren? sagte Anna zu ihrem Vater, der seine Frau fragend ansah, bevor er vorsichtig Gas gab.

Ich glaube, das ist sowas wie ein Schwarzfahrer, flüsterte sie.

Wir sind Korsaren!

Fresh. Immer noch Annas Lieblingswort.

Daraufhin Leon: Ihr doubelt Charaktere?

Nur die Randfiguren.

Und die Brille?

Eye-Trek, ein PMD von 2009. Schon mit See-through Modus. 1,30 Meter virtuelle Diagonale.

Darf ich mal? fragte Anna. Der Korsar reichte ihr Brille und Controller.

Wie lange mussten Sie warten? fragte Stefan mit einem Blick in den Rückspiegel.

Nicht lange. Er lachte. Ich kannte Ihre Buchung und die Strecke. Der Rest ist Berechnung.

Dieselbe Optik, sagte Anna, nachdem sie die Brille mehrmals ab- und wieder aufgesetzt hatte. Vom Motorrad, oder?

Honda CBR 600 RR.

Dürfen Sie das überhaupt? fragte Stefan.

Wir sind Korsaren!

Leon schaute ungeduldig zu Anna hinüber: Lass mich auch mal! Und dann zum Korsar: Darf ich? Noch bevor der nickte, schnappte er sich das Gear.

Nicole fragte den jungen Mann, ob er zu einer Gruppe gehörte.

Nein, antwortete der, aber alle würden sich so nennen, die sich einen Charakter als Avatar kapern und ihn rezzen.

Die was?

Auferstehen lassen, übersetzten Leon und Anna im Chor.

Nicole wollte wissen, ob noch mehr Korsaren unterwegs wären. Er schüttelte den Kopf: Hier nicht. Woanders schon. Auch harte.

Wie?

Einer, den er kennen würde, habe sich einen Jogger gekapert, der im Dunklen plötzlich am Straßenrand auftaucht. Wenn ein SimCar auf seiner Höhe ist, schlägt er auf die Karosserie ein. Da Nicole nicht ganz zu begreifen schien, erklärte er, die Insassen müssten denken, sie hätten den Jogger angefahren, würden aussteigen und ihn auf der Kühlerhaube liegen sehen. Mit Blut und allem.

Ein Albtraum!

Und die Bildspur, fragte Stefan, wo haben Sie die her?

Eine Runde legal fahren und grabben.

Nichts dahinter? hakte er nach. Keine Philosophie?

Na ja, es gebe schon welche, die sich als Sim-Guerilla sähen. Die wollten das Simulacrum per Affirmation aufheben.

Und Sie?

Ich platze gern in fremde Träume.

Schlechte Erfahrungen? wiederholte er Stefans nächste Frage. Nein, nie gemacht. Sein schönstes Erlebnis? Ein Reisebus. Essen, Trinken, alles frei. Super Party.

Leon, gib mir mal die Brille, sagte Nicole. Der reichte sie seiner Mutter und erklärte den Controller: Rechts. Links. Gas.

Los, wir fahren ein Stechen! forderte sie ihren Mann heraus.

Wie?

Motorrad gegen Auto. Sag mir, wo du bist.

Stefan gab markante Punkte an: Rechtskurve ParkplatzSteigung Wildwechsel. Nicole lag anfangs weit zurück, holte aber auf. Bei VW-Cabrio war sie dicht hinter ihm, um bei 12% Gefälle vorbeizuziehen. Auch Stefan gab Gas. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Von ihren Kindern angefeuert, jagten sie über die Landstraße.

Nicole hatte gerade einen kleinen Vorsprung herausgefahren, da erlosch das Straßenbild in der Frontscheibe. Flimmern und Rauschen. Dann der Claim des Betreibers: Mal wieder selber fahren? Wir haben die alten Marken – SimCar.

Gewonnen! triumphierte Nicole.

Nur, weil die Zeit um war, entgegnete Stefan.

Nicole nahm die Brille ab und gab sie zurück: War super! Der Korsar lachte und öffnete die Tür: Danke.

War mir ein Vergnügen, sagte Stefan.

Cheerio, riefen Anna und Leon ihm nach.

 

Rolf Schönlau

 

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freiVERS | Enno Ahrens

Mit ihm kam die Sonne

in die schattige Einkaufszone
sommers überstrahlte er
die matten Gesichter
der Passanten mit seinem
unermesslichen Lächeln

unangemessen meinten einige
Es gab keinen vernünftigen Grund
derart glücklich zu sein
zu arglos wäre so einer
brächte es fertig übers Wasser
laufen zu wollen und würde
selbst beim Absaufen noch lächeln

Man sperrte ihn weg
in Sicherheitsverwahrung
drei glanzlose Sommer
erlebte die Einkaufszone

Dann sah ich ihn wieder
an seinem alten Platz hocken

hatte ihn fast übersehen
im Heer der Passanten mit
seiner glanzlosen Miene

.

Enno Ahrens

 

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freiTEXT | Nils Dorenbeck

Gertruds Kleider

Die Bombe fiel in der Nacht zu meinem zehnten Geburtstag. Sie fiel durch das Dach und alle Stockwerke, und dann explodierte sie nicht. Auf dem Wohnzimmerteppich lag sie wie schlafend.

Da wir jetzt kein Zuhause mehr hatten, wurden wir verschickt. Das heißt: Ich wurde verschickt. Meine Brüder mussten wieder nach Frankreich. Ich kam zu Fröschkes. Die Fröschkes hatten Schokolade. Die Fröschkes hatten große Töchter, die kleinen Jungen Schokolade gaben. Dabei war ich ja gar nicht mehr klein, ich war ja jetzt schon zehn. Aber Schokolade hatten die und waren schon große Mädchen und hatten keinen Bruder. Lisbeth hieß die eine, Elisabeth eigentlich, die war sechzehn und hatte Zöpfe, links einen und rechts einen, die machte sie auf am Abend und kämmte sich lange und lachte mich aus, weil mein Mund offen stand, wenn ich zusah am Abend.

"Willste noch Schokolade?"

"Nee."

"Hab auch keine mehr. Darf dir auch nicht so viel geben."

"Will ja auch keine mehr."

"Was willste denn?"

"Nichts."

Und die andere hieß Anna. Die hatte nur einen Zopf, hinten, der war dafür länger; die war auch schon größer. Die hatte schon einen Soldaten. Sagten sie, aber der war nie da. Nur Anna war da. Und Lisbeth. Und die Eltern von Anna und Lisbeth waren da, die waren schon alt. Und Lisbeth kämmte ihr Haar glatt am Abend, und Anna stand schweigend am Tor schon am Morgen und wartete auf Post vom Soldaten. Wenn welche kam, rannte sie auf ihr Zimmer und schloss die Tür ab hinter sich und kam nicht mehr raus da für Stunden, denn der Soldat hat sehr lange Briefe geschrieben. Aber Anna hat nie was erzählt von dem, was er schrieb von der Front. Ich hab auch nie gefragt. Nur Herr Fröschke hat gefragt.

"Was hat er denn geschrieben?"

"Nichts."

"Irgendetwas wird er wohl geschrieben haben."

"Er hat aber nichts geschrieben!"

"Warum schickt er dann Briefe, wenn doch nichts drin steht?"

"Ach Papa!"

"Wo stehen sie denn?"

"Ist doch gleich."

"Nein, das ist nicht gleich, im Krieg ist es nie gleich, wo man steht mit seiner Einheit. Ich habe damals deiner Mutter immer geschrieben, wo wir standen, obwohl wir monatelang in unseren Stellungen hockten."

"Da wird die Mama sich aber gefreut haben."

"Jetzt werd noch frech!"

Und dann floh Anna wieder auf ihr Zimmer und schloss die Tür ab hinter sich, und Herr Fröschke hat erzählt, wie das war in seinem Krieg, wenn sie wochenlang in ihren Stellungen hockten und immer die gleichen Briefe nach Hause schickten. Denn es stand immer das Gleiche drin in den Briefen. Weil sie ihre Stellungen nie verlassen haben, weil die Front sich nicht bewegte, weil jeden Tag das Gleiche passierte, und weil man das, was passierte, nicht nach Hause schreiben konnte und schon gar nicht an sein Mädchen. Aber sein Mädchen hat er geheiratet nach dem Krieg, und sein Mädchen war froh, als es sich nicht mehr ängstigen musste über Briefen, in denen immer nur stand, wie schön der Himmel war über Frankreich. Herr Fröschke hat dann immer sehr lange erzählt, und ich glaube, er hat manches erzählt, was er seinem Mädchen nicht geschrieben hat. Ich war ja ein Junge. Und sein Mädchen ist dann der Anna nachgegangen und hat sie nach dem Brief gefragt, glaube ich, aber anders als Herr Fröschke, glaube ich, und ist dann sehr lange bei der Anna geblieben und hat auch erzählt von dem Krieg von Herrn Fröschke, aber auch anders. Und ich hab Herrn Fröschke zugehört und an Lisbeth gedacht, der ich auch gerne aus Frankreich geschrieben hätte.

Lisbeth aber interessierte sich nicht für den Krieg ihres Vaters und war immer froh, wenn er fertig erzählt hatte. Und manchmal war sie auch froh, wenn ich dann nicht wusste, was ich machen sollte, und dann hat sie mich manchmal gefragt, ob ich ihr nicht ein Bild malen wolle. Malen konnte ich ja, sogar besser als meine Brüder, und das haben sogar die gesagt, wenn ich Männekes malte auf dem Zeitungsrand, denn Papier war knapp. Und einmal hat sie mich gefragt, ob ich ihr nicht ein Bild von ihr malen wolle. Und ich hab ja gesagt.

Als das Bild fertig war, wollte ich es ihr nicht zeigen. Aber ich hatte es ja für sie gemalt, und also musste ich. Sie hat es sich lange angeschaut und nichts gesagt. Und dann hat sie gesagt, dass das Bild schön sei, und ich bin rot geworden und hab gesagt Du-bist-auch-schön. Und Lisbeth hat mich so angeschaut mit ihren Zöpfen.

Und einmal hat auch Frau Fröschke etwas erzählt, weil wieder so lange kein Brief da gewesen war von dem Soldaten, und das hatte auch mit Mädchen und mit Soldaten zu tun. Da war sie noch jung gewesen, noch jünger als Anna, noch jünger als Lisbeth, noch kleiner als ich, ein richtiges Kind noch, und das war noch vor dem Krieg von Herrn Fröschke gewesen, aber Soldaten gab's da auch schon und Mädchen. Frau Fröschke war da ein ganz kleines Mädchen und hatte eine Freundin, die hat sie immer besucht nach der Schule. Und die Freundin hatte eine Schwester oder eine Cousine, die war schon groß und hatte schöne Kleider in ihrem Schrank und viele davon – so viele und so schöne, dass die Freundin von Frau Fröschke immerzu davon erzählt und damit angegeben hat, was ihre große Schwester für Kleider hat. Und Frau Fröschke hat gesagt Das-stimmt-ja-gar-nicht, und die Freundin hat gesagt Es-stimmt-doch, und das ging ein paar Mal so hin und her. Und dann hat die Freundin von Frau Fröschke nichts mehr gesagt und bloß noch geguckt, weil sie so tief Luft geholt und dabei ganz große Augen gekriegt hat, und dann hat sie gesagt: "Und wenn ich sie dir zeige!" Und da hat Frau Fröschke vor Schreck gar nichts drauf gesagt.

"Aber du darfst es nicht meiner Schwester verraten."

"Ich sag nichts, versprochen."

"Los. Komm."

"Ja."

Und dann sind sie in das Haus geschlichen von den Eltern von der Freundin von Frau Fröschke und waren beide ganz aufgeregt, und die Freundin hat den Kleiderschrank von der Schwester aufgemacht ganz leise, und Frau Fröschke hat den Mund nicht mehr zugekriegt vor Staunen, so schöne Kleider hatte die Schwester von ihrer Freundin! Und Frau Fröschke war ganz neidisch auf die Schwester von ihrer Freundin, und ihre Freundin war auch neidisch auf ihre Schwester, aber außerdem stolz, weil Frau Fröschke noch neidischer war als sie selbst, weil das ja nicht ihre Schwester war, die so schöne Kleider hatte. Aber weil Frau Fröschke ihre beste Freundin war, hat sie sie getröstet und mit noch mehr Stolz und noch mehr Neid gesagt: "Die Gertrud hat ja auch schon ‘nen Soldaten!"

Jedenfalls ist Frau Fröschke ganz schnell nach Hause gelaufen und hat geweint und hat zu ihrer Mutter gesagt: "Mama, Mama, ich will auch ‘nen Soldaten!“ Und ihre Mutter war schrecklich entsetzt und hat mit ihr geschimpft. Aber ihr Vater hat sie in den Arm genommen und hat sie gestreichelt und gesagt: "Sei still, du kriegst gleich zwei."

So war das. Das hat Frau Fröschke beim Abendessen erzählt, und Herr Fröschke hat nichts mehr gesagt. Und Lisbeth hat so komisch auf ihre Schwester geschaut, und die hat gelächelt, und Frau Fröschke auch. Und abends im Bett hab ich an Lisbeth gedacht, die auch Kleider trug und schön war und gut roch, und der ich aus Frankreich geschrieben und die ich dann geheiratet hätte, denn die Lisbeth war knorke, und ich weiß nicht warum.

Am nächsten Tag war dann endlich wieder ein Brief da. Aber nicht von dem Soldaten, sondern von seinen Eltern, und Anna hat viel geweint.

 

Nils Dorenbeck

 

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freiVERS | Dorina Marlen Heller

hymne

(con dolore)

land der berge
du hast mich gehenlassen
meine heimat dein verlust
zum abschied auf einen donauwalzer
durch flugzeuglautsprecher

land der besessenen
wir gehen uns nicht aus
dem sinn
du riechst nach pferdeschweiß und wald
an schlechten tagen nach samtsitzen
und menschenschweiß

und immer wieder der staub
in der sonne im sonst dunklen kaffeehaus
unter fleckigen marmortischen
haben sich unsere knie berührt

land der besetzten
über den heldenplatz gehen wir
hand in hand
sie pfeifen dir nach
du lächelst

land der bedauerlichen
wir sind abgestürzt
und haben vergessen zwischenzuspeichern
unsere beziehung definiert sich
über ihre leerstellen

und immer wieder der staub
in der sonne

land der beklagenden
du schmeckst nach deinen jahrhunderten
lockst mich in deine ballsäle
wir drehen uns im tanz
linksherum rechtsherum

und immer wieder der staub

Dorina Marlen Heller

 

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freiTEXT | Simone Alber

Sinnlosigkeitsprobleme wirksam bekämpfen

Wenn man von einem Sinnlosigkeitsproblem befallen ist, sollte man nicht am Samstagvormittag zum Edeka gehen.

Ein Sinnlosigkeitsproblem krallt sich grau und schwer im Gehirn fest und wabert einem neblig trüb ums Gesicht herum. Es ernährt sich von der Lebensfreude seines Wirts und saugt ihm den Elan aus den Gliedern. „Wozu das alles.“, flüstert es. „Macht doch eh keinen Sinn.“ Ein Sinnlosigkeitsproblem ist in keiner Lebenslage förderlich, aber es gibt doch Tätigkeiten, die kann man trotz akutem Befall einigermaßen ausüben.

Putzen zum Beispiel ist auch mit Sinnlosigkeitsproblem möglich. Das Sinnlosigkeitsproblem motzt dann zwar: „Wird doch eh wieder dreckig!“, aber wenn es die frisch geschaffene Sauberkeit sieht, wird es ein wenig kleinlaut, und das Gemotze wird leiser.

Keller aufräumen, Steuererklärung machen, einen Pulli kaufen: alles Dinge, die sich trotz Sinnlosigkeitsproblem einigermaßen bewerkstelligen lassen.

Man kann mit einem Sinnlosigkeitsproblem auch relativ entspannt vor dem Fernseher sitzen. Das Sinnlosigkeitsproblem hockt daneben und mault vielleicht leise vor sich hin, aber durch die Fernsehberieselung wird es eingelullt und drängt sich nicht in den Vordergrund.

Richtig empfehlenswert ist Kino. Wenn man einen guten Film erwischt, kann es sein, dass das Sinnlosigkeitsproblem gar nicht erst mit rein kommt. Es wartet draußen, oder es geht schon mal nach Hause, und wenn man Glück hat, findet es den Heimweg nicht, und man ist es für eine Weile los.

 

Auch Joggen ist eine Möglichkeit, um es loszuwerden. Das Sinnlosigkeitsproblem ist eher unsportlich. Wenn man einigermaßen trainiert ist, kann man ihm davonlaufen.

Wäsche aufhängen dagegen ist nicht empfehlenswert bei akutem Sinnlosigkeitsproblem-Befall. Bei dieser Tätigkeit hockt es einem schwer im Nacken, so, und es flüstert einem ins Ohr: „Schon wieder diese Socken, schon wieder diese Unterhosen. Die hast du letzte Woche auch schon aufgehängt. Und morgen wirst du sie wieder abhängen. Und nächste Woche wieder aufhängen. Und dann wieder abhängen.“

Ja, beim Wäsche aufhängen fühlt sich das Sinnlosigkeitsproblem bestätigt.

Aber samstags beim Edeka, da entfaltet es sich zu seiner ganzen Größe. Da trumpft es richtig auf.

Schon die Tiefgarage ist seine Welt. Es schmiegt sich an die grauen Betonpfeiler, und man atmet es ein mit der kalt-feuchten Luft. Es suhlt sich im schmutzigen Wasser der Pfützen. Im Scheppern der Einkaufswagenräder hört man seine Stimme: „Wozu, wozu, wozu.“ Es quetscht sich mit hinein in den Aufzug. Neben die Aufzugknöpfe hat es einen alten Kaugummi geklebt, der seine Botschaft verbreitet: Hoffnungslos. Trostlos. Sinnlos.

Am Pfandflaschenautomat glotzt es einem aus dem Rohr entgegen, in dem die Plastikflaschen verschwinden und sofort geschreddert werden. Aus den überquellenden Süßigkeitenregalen höhnt es: „Auspacken, fressen, wegwerfen. Plastikschwemme. Karies.“

So richtig wohl fühlt es sich in den Gesichtern der Menschen, die einem auf dem Rollband auf dem Weg nach unten entgegenkommen. Müde, graue Sinnlosigkeitsgesichter mit bitteren Kerben um den Mund. „Und ich, und ich?“, fragen die Gesichter. „Wann bin ich dran? Und wer liebt mich?“ Das Sinnlosigkeitsproblem lässt ihre Leben jämmerlich und klein erscheinen.

Das Sinnlosigkeitsproblem klebt in den ungewaschenen Haaren der jogginghosigen Schlurfeinkäufer und ruft zur Resignation auf: „Wozu die mühevolle Prozedur mit dem Shampoo auf sich nehmen! Übermorgen sind sie eh wieder fettig.“

Kartoffeln, Bananen, Haferflocken, Nutella, Mehl, Spaghetti, Salami, Milch, Eier, Joghurt, Emmentaler. Ja, ja, und dann zum Schluss das Klopapier. Das Sinnlosigkeitsproblem nickt sinnig vor sich hin.

Der Wagen voll, das Überleben wieder für eine Woche gesichert. „So viel Mühe!“, sagt das Sinnlosigkeitsproblem. „Und wozu? Arbeiten, Geld verdienen, Einkaufen, Ausräumen, Einräumen, Kochen, Essen, Spülen. Ein ewiger Kreislauf. Und wozu? Alt werden. Sterben.“

Das Sinnlosigkeitsproblem ist kein angenehmer Zeitgenosse. Und Menschen, die von ihm befallen sind, sind ebenfalls unangenehm. Sie sind meist griesgrämig und schlecht gelaunt. Wenn man etwas von ihnen will, werden sie pampig. Und wenn man nett zu ihnen ist, fangen sie an zu heulen.

Wer ein Sinnlosigkeitsproblem hat, sollte möglichst nicht samstags zum Edeka gehen. Besser ist es, darüber zu schreiben. Schreiben findet das Sinnlosigkeitsproblem langweilig. Das gleichmäßige Flüstergeräusch des Stifts auf dem Papier macht es müde. Und in einem aktiven Gehirn kann es sich so schlecht festkrallen. Irgendwann schläft es ein und fällt ab. Da liegt es dann in seiner ganzen aufdringlichen grauen Hässlichkeit und schnarcht vor sich hin. Dann sollte man ganz leise den Stift aus der Hand legen und sich vorsichtig aus dem Zimmer schleichen. Pssssst! Tür zu!

 

Simone Alber

 

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