freiTEXT | Rolf Schönlau

Korsaren

Guck mal, da will einer mitfahren, sagte Leon. Halt an, Papa!

Blödsinn!

Wieso, wir haben hier hinten Platz genug. Leon rückte zur Mitte, nah an Anna heran, die sich ganz dünn machte: Bitte, Papa!

Seid ihr jetzt völlig durchgedreht?

Ich dachte, wir nehmen das ernst hier, empörte sich Leon.

Nicole zwinkerte ihrem Mann vom Beifahrersitz aus zu: Tu den Kindern doch den Gefallen.

Wenn ihr unbedingt wollt. Bitte! Stefan bremste abrupt.

Leon beugte sich grinsend zur Seite und öffnete die Tür.

Furchtbar nett, dass Sie mich mitnehmen.

Die Stimme gehörte zu einem jungen Mann, ganz in Schwarz, Cyber-Brille über die Stirn geschoben. Anna und Leon trauten ihren Augen nicht und rückten noch weiter zur Seite. Auch Stefan und Nicole starrten den Tramper an.

Leon hatte als erster begriffen und zeigte auf die Brille: Ist da derselbe Film drauf?

Jep.

Willst du nicht weiterfahren? sagte Anna zu ihrem Vater, der seine Frau fragend ansah, bevor er vorsichtig Gas gab.

Ich glaube, das ist sowas wie ein Schwarzfahrer, flüsterte sie.

Wir sind Korsaren!

Fresh. Immer noch Annas Lieblingswort.

Daraufhin Leon: Ihr doubelt Charaktere?

Nur die Randfiguren.

Und die Brille?

Eye-Trek, ein PMD von 2009. Schon mit See-through Modus. 1,30 Meter virtuelle Diagonale.

Darf ich mal? fragte Anna. Der Korsar reichte ihr Brille und Controller.

Wie lange mussten Sie warten? fragte Stefan mit einem Blick in den Rückspiegel.

Nicht lange. Er lachte. Ich kannte Ihre Buchung und die Strecke. Der Rest ist Berechnung.

Dieselbe Optik, sagte Anna, nachdem sie die Brille mehrmals ab- und wieder aufgesetzt hatte. Vom Motorrad, oder?

Honda CBR 600 RR.

Dürfen Sie das überhaupt? fragte Stefan.

Wir sind Korsaren!

Leon schaute ungeduldig zu Anna hinüber: Lass mich auch mal! Und dann zum Korsar: Darf ich? Noch bevor der nickte, schnappte er sich das Gear.

Nicole fragte den jungen Mann, ob er zu einer Gruppe gehörte.

Nein, antwortete der, aber alle würden sich so nennen, die sich einen Charakter als Avatar kapern und ihn rezzen.

Die was?

Auferstehen lassen, übersetzten Leon und Anna im Chor.

Nicole wollte wissen, ob noch mehr Korsaren unterwegs wären. Er schüttelte den Kopf: Hier nicht. Woanders schon. Auch harte.

Wie?

Einer, den er kennen würde, habe sich einen Jogger gekapert, der im Dunklen plötzlich am Straßenrand auftaucht. Wenn ein SimCar auf seiner Höhe ist, schlägt er auf die Karosserie ein. Da Nicole nicht ganz zu begreifen schien, erklärte er, die Insassen müssten denken, sie hätten den Jogger angefahren, würden aussteigen und ihn auf der Kühlerhaube liegen sehen. Mit Blut und allem.

Ein Albtraum!

Und die Bildspur, fragte Stefan, wo haben Sie die her?

Eine Runde legal fahren und grabben.

Nichts dahinter? hakte er nach. Keine Philosophie?

Na ja, es gebe schon welche, die sich als Sim-Guerilla sähen. Die wollten das Simulacrum per Affirmation aufheben.

Und Sie?

Ich platze gern in fremde Träume.

Schlechte Erfahrungen? wiederholte er Stefans nächste Frage. Nein, nie gemacht. Sein schönstes Erlebnis? Ein Reisebus. Essen, Trinken, alles frei. Super Party.

Leon, gib mir mal die Brille, sagte Nicole. Der reichte sie seiner Mutter und erklärte den Controller: Rechts. Links. Gas.

Los, wir fahren ein Stechen! forderte sie ihren Mann heraus.

Wie?

Motorrad gegen Auto. Sag mir, wo du bist.

Stefan gab markante Punkte an: Rechtskurve ParkplatzSteigung Wildwechsel. Nicole lag anfangs weit zurück, holte aber auf. Bei VW-Cabrio war sie dicht hinter ihm, um bei 12% Gefälle vorbeizuziehen. Auch Stefan gab Gas. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Von ihren Kindern angefeuert, jagten sie über die Landstraße.

Nicole hatte gerade einen kleinen Vorsprung herausgefahren, da erlosch das Straßenbild in der Frontscheibe. Flimmern und Rauschen. Dann der Claim des Betreibers: Mal wieder selber fahren? Wir haben die alten Marken – SimCar.

Gewonnen! triumphierte Nicole.

Nur, weil die Zeit um war, entgegnete Stefan.

Nicole nahm die Brille ab und gab sie zurück: War super! Der Korsar lachte und öffnete die Tür: Danke.

War mir ein Vergnügen, sagte Stefan.

Cheerio, riefen Anna und Leon ihm nach.

 

Rolf Schönlau

 

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freiVERS | Enno Ahrens

Mit ihm kam die Sonne

in die schattige Einkaufszone
sommers überstrahlte er
die matten Gesichter
der Passanten mit seinem
unermesslichen Lächeln

unangemessen meinten einige
Es gab keinen vernünftigen Grund
derart glücklich zu sein
zu arglos wäre so einer
brächte es fertig übers Wasser
laufen zu wollen und würde
selbst beim Absaufen noch lächeln

Man sperrte ihn weg
in Sicherheitsverwahrung
drei glanzlose Sommer
erlebte die Einkaufszone

Dann sah ich ihn wieder
an seinem alten Platz hocken

hatte ihn fast übersehen
im Heer der Passanten mit
seiner glanzlosen Miene

.

Enno Ahrens

 

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freiTEXT | Nils Dorenbeck

Gertruds Kleider

Die Bombe fiel in der Nacht zu meinem zehnten Geburtstag. Sie fiel durch das Dach und alle Stockwerke, und dann explodierte sie nicht. Auf dem Wohnzimmerteppich lag sie wie schlafend.

Da wir jetzt kein Zuhause mehr hatten, wurden wir verschickt. Das heißt: Ich wurde verschickt. Meine Brüder mussten wieder nach Frankreich. Ich kam zu Fröschkes. Die Fröschkes hatten Schokolade. Die Fröschkes hatten große Töchter, die kleinen Jungen Schokolade gaben. Dabei war ich ja gar nicht mehr klein, ich war ja jetzt schon zehn. Aber Schokolade hatten die und waren schon große Mädchen und hatten keinen Bruder. Lisbeth hieß die eine, Elisabeth eigentlich, die war sechzehn und hatte Zöpfe, links einen und rechts einen, die machte sie auf am Abend und kämmte sich lange und lachte mich aus, weil mein Mund offen stand, wenn ich zusah am Abend.

"Willste noch Schokolade?"

"Nee."

"Hab auch keine mehr. Darf dir auch nicht so viel geben."

"Will ja auch keine mehr."

"Was willste denn?"

"Nichts."

Und die andere hieß Anna. Die hatte nur einen Zopf, hinten, der war dafür länger; die war auch schon größer. Die hatte schon einen Soldaten. Sagten sie, aber der war nie da. Nur Anna war da. Und Lisbeth. Und die Eltern von Anna und Lisbeth waren da, die waren schon alt. Und Lisbeth kämmte ihr Haar glatt am Abend, und Anna stand schweigend am Tor schon am Morgen und wartete auf Post vom Soldaten. Wenn welche kam, rannte sie auf ihr Zimmer und schloss die Tür ab hinter sich und kam nicht mehr raus da für Stunden, denn der Soldat hat sehr lange Briefe geschrieben. Aber Anna hat nie was erzählt von dem, was er schrieb von der Front. Ich hab auch nie gefragt. Nur Herr Fröschke hat gefragt.

"Was hat er denn geschrieben?"

"Nichts."

"Irgendetwas wird er wohl geschrieben haben."

"Er hat aber nichts geschrieben!"

"Warum schickt er dann Briefe, wenn doch nichts drin steht?"

"Ach Papa!"

"Wo stehen sie denn?"

"Ist doch gleich."

"Nein, das ist nicht gleich, im Krieg ist es nie gleich, wo man steht mit seiner Einheit. Ich habe damals deiner Mutter immer geschrieben, wo wir standen, obwohl wir monatelang in unseren Stellungen hockten."

"Da wird die Mama sich aber gefreut haben."

"Jetzt werd noch frech!"

Und dann floh Anna wieder auf ihr Zimmer und schloss die Tür ab hinter sich, und Herr Fröschke hat erzählt, wie das war in seinem Krieg, wenn sie wochenlang in ihren Stellungen hockten und immer die gleichen Briefe nach Hause schickten. Denn es stand immer das Gleiche drin in den Briefen. Weil sie ihre Stellungen nie verlassen haben, weil die Front sich nicht bewegte, weil jeden Tag das Gleiche passierte, und weil man das, was passierte, nicht nach Hause schreiben konnte und schon gar nicht an sein Mädchen. Aber sein Mädchen hat er geheiratet nach dem Krieg, und sein Mädchen war froh, als es sich nicht mehr ängstigen musste über Briefen, in denen immer nur stand, wie schön der Himmel war über Frankreich. Herr Fröschke hat dann immer sehr lange erzählt, und ich glaube, er hat manches erzählt, was er seinem Mädchen nicht geschrieben hat. Ich war ja ein Junge. Und sein Mädchen ist dann der Anna nachgegangen und hat sie nach dem Brief gefragt, glaube ich, aber anders als Herr Fröschke, glaube ich, und ist dann sehr lange bei der Anna geblieben und hat auch erzählt von dem Krieg von Herrn Fröschke, aber auch anders. Und ich hab Herrn Fröschke zugehört und an Lisbeth gedacht, der ich auch gerne aus Frankreich geschrieben hätte.

Lisbeth aber interessierte sich nicht für den Krieg ihres Vaters und war immer froh, wenn er fertig erzählt hatte. Und manchmal war sie auch froh, wenn ich dann nicht wusste, was ich machen sollte, und dann hat sie mich manchmal gefragt, ob ich ihr nicht ein Bild malen wolle. Malen konnte ich ja, sogar besser als meine Brüder, und das haben sogar die gesagt, wenn ich Männekes malte auf dem Zeitungsrand, denn Papier war knapp. Und einmal hat sie mich gefragt, ob ich ihr nicht ein Bild von ihr malen wolle. Und ich hab ja gesagt.

Als das Bild fertig war, wollte ich es ihr nicht zeigen. Aber ich hatte es ja für sie gemalt, und also musste ich. Sie hat es sich lange angeschaut und nichts gesagt. Und dann hat sie gesagt, dass das Bild schön sei, und ich bin rot geworden und hab gesagt Du-bist-auch-schön. Und Lisbeth hat mich so angeschaut mit ihren Zöpfen.

Und einmal hat auch Frau Fröschke etwas erzählt, weil wieder so lange kein Brief da gewesen war von dem Soldaten, und das hatte auch mit Mädchen und mit Soldaten zu tun. Da war sie noch jung gewesen, noch jünger als Anna, noch jünger als Lisbeth, noch kleiner als ich, ein richtiges Kind noch, und das war noch vor dem Krieg von Herrn Fröschke gewesen, aber Soldaten gab's da auch schon und Mädchen. Frau Fröschke war da ein ganz kleines Mädchen und hatte eine Freundin, die hat sie immer besucht nach der Schule. Und die Freundin hatte eine Schwester oder eine Cousine, die war schon groß und hatte schöne Kleider in ihrem Schrank und viele davon – so viele und so schöne, dass die Freundin von Frau Fröschke immerzu davon erzählt und damit angegeben hat, was ihre große Schwester für Kleider hat. Und Frau Fröschke hat gesagt Das-stimmt-ja-gar-nicht, und die Freundin hat gesagt Es-stimmt-doch, und das ging ein paar Mal so hin und her. Und dann hat die Freundin von Frau Fröschke nichts mehr gesagt und bloß noch geguckt, weil sie so tief Luft geholt und dabei ganz große Augen gekriegt hat, und dann hat sie gesagt: "Und wenn ich sie dir zeige!" Und da hat Frau Fröschke vor Schreck gar nichts drauf gesagt.

"Aber du darfst es nicht meiner Schwester verraten."

"Ich sag nichts, versprochen."

"Los. Komm."

"Ja."

Und dann sind sie in das Haus geschlichen von den Eltern von der Freundin von Frau Fröschke und waren beide ganz aufgeregt, und die Freundin hat den Kleiderschrank von der Schwester aufgemacht ganz leise, und Frau Fröschke hat den Mund nicht mehr zugekriegt vor Staunen, so schöne Kleider hatte die Schwester von ihrer Freundin! Und Frau Fröschke war ganz neidisch auf die Schwester von ihrer Freundin, und ihre Freundin war auch neidisch auf ihre Schwester, aber außerdem stolz, weil Frau Fröschke noch neidischer war als sie selbst, weil das ja nicht ihre Schwester war, die so schöne Kleider hatte. Aber weil Frau Fröschke ihre beste Freundin war, hat sie sie getröstet und mit noch mehr Stolz und noch mehr Neid gesagt: "Die Gertrud hat ja auch schon ‘nen Soldaten!"

Jedenfalls ist Frau Fröschke ganz schnell nach Hause gelaufen und hat geweint und hat zu ihrer Mutter gesagt: "Mama, Mama, ich will auch ‘nen Soldaten!“ Und ihre Mutter war schrecklich entsetzt und hat mit ihr geschimpft. Aber ihr Vater hat sie in den Arm genommen und hat sie gestreichelt und gesagt: "Sei still, du kriegst gleich zwei."

So war das. Das hat Frau Fröschke beim Abendessen erzählt, und Herr Fröschke hat nichts mehr gesagt. Und Lisbeth hat so komisch auf ihre Schwester geschaut, und die hat gelächelt, und Frau Fröschke auch. Und abends im Bett hab ich an Lisbeth gedacht, die auch Kleider trug und schön war und gut roch, und der ich aus Frankreich geschrieben und die ich dann geheiratet hätte, denn die Lisbeth war knorke, und ich weiß nicht warum.

Am nächsten Tag war dann endlich wieder ein Brief da. Aber nicht von dem Soldaten, sondern von seinen Eltern, und Anna hat viel geweint.

 

Nils Dorenbeck

 

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freiVERS | Dorina Marlen Heller

hymne

(con dolore)

land der berge
du hast mich gehenlassen
meine heimat dein verlust
zum abschied auf einen donauwalzer
durch flugzeuglautsprecher

land der besessenen
wir gehen uns nicht aus
dem sinn
du riechst nach pferdeschweiß und wald
an schlechten tagen nach samtsitzen
und menschenschweiß

und immer wieder der staub
in der sonne im sonst dunklen kaffeehaus
unter fleckigen marmortischen
haben sich unsere knie berührt

land der besetzten
über den heldenplatz gehen wir
hand in hand
sie pfeifen dir nach
du lächelst

land der bedauerlichen
wir sind abgestürzt
und haben vergessen zwischenzuspeichern
unsere beziehung definiert sich
über ihre leerstellen

und immer wieder der staub
in der sonne

land der beklagenden
du schmeckst nach deinen jahrhunderten
lockst mich in deine ballsäle
wir drehen uns im tanz
linksherum rechtsherum

und immer wieder der staub

Dorina Marlen Heller

 

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freiTEXT | Simone Alber

Sinnlosigkeitsprobleme wirksam bekämpfen

Wenn man von einem Sinnlosigkeitsproblem befallen ist, sollte man nicht am Samstagvormittag zum Edeka gehen.

Ein Sinnlosigkeitsproblem krallt sich grau und schwer im Gehirn fest und wabert einem neblig trüb ums Gesicht herum. Es ernährt sich von der Lebensfreude seines Wirts und saugt ihm den Elan aus den Gliedern. „Wozu das alles.“, flüstert es. „Macht doch eh keinen Sinn.“ Ein Sinnlosigkeitsproblem ist in keiner Lebenslage förderlich, aber es gibt doch Tätigkeiten, die kann man trotz akutem Befall einigermaßen ausüben.

Putzen zum Beispiel ist auch mit Sinnlosigkeitsproblem möglich. Das Sinnlosigkeitsproblem motzt dann zwar: „Wird doch eh wieder dreckig!“, aber wenn es die frisch geschaffene Sauberkeit sieht, wird es ein wenig kleinlaut, und das Gemotze wird leiser.

Keller aufräumen, Steuererklärung machen, einen Pulli kaufen: alles Dinge, die sich trotz Sinnlosigkeitsproblem einigermaßen bewerkstelligen lassen.

Man kann mit einem Sinnlosigkeitsproblem auch relativ entspannt vor dem Fernseher sitzen. Das Sinnlosigkeitsproblem hockt daneben und mault vielleicht leise vor sich hin, aber durch die Fernsehberieselung wird es eingelullt und drängt sich nicht in den Vordergrund.

Richtig empfehlenswert ist Kino. Wenn man einen guten Film erwischt, kann es sein, dass das Sinnlosigkeitsproblem gar nicht erst mit rein kommt. Es wartet draußen, oder es geht schon mal nach Hause, und wenn man Glück hat, findet es den Heimweg nicht, und man ist es für eine Weile los.

 

Auch Joggen ist eine Möglichkeit, um es loszuwerden. Das Sinnlosigkeitsproblem ist eher unsportlich. Wenn man einigermaßen trainiert ist, kann man ihm davonlaufen.

Wäsche aufhängen dagegen ist nicht empfehlenswert bei akutem Sinnlosigkeitsproblem-Befall. Bei dieser Tätigkeit hockt es einem schwer im Nacken, so, und es flüstert einem ins Ohr: „Schon wieder diese Socken, schon wieder diese Unterhosen. Die hast du letzte Woche auch schon aufgehängt. Und morgen wirst du sie wieder abhängen. Und nächste Woche wieder aufhängen. Und dann wieder abhängen.“

Ja, beim Wäsche aufhängen fühlt sich das Sinnlosigkeitsproblem bestätigt.

Aber samstags beim Edeka, da entfaltet es sich zu seiner ganzen Größe. Da trumpft es richtig auf.

Schon die Tiefgarage ist seine Welt. Es schmiegt sich an die grauen Betonpfeiler, und man atmet es ein mit der kalt-feuchten Luft. Es suhlt sich im schmutzigen Wasser der Pfützen. Im Scheppern der Einkaufswagenräder hört man seine Stimme: „Wozu, wozu, wozu.“ Es quetscht sich mit hinein in den Aufzug. Neben die Aufzugknöpfe hat es einen alten Kaugummi geklebt, der seine Botschaft verbreitet: Hoffnungslos. Trostlos. Sinnlos.

Am Pfandflaschenautomat glotzt es einem aus dem Rohr entgegen, in dem die Plastikflaschen verschwinden und sofort geschreddert werden. Aus den überquellenden Süßigkeitenregalen höhnt es: „Auspacken, fressen, wegwerfen. Plastikschwemme. Karies.“

So richtig wohl fühlt es sich in den Gesichtern der Menschen, die einem auf dem Rollband auf dem Weg nach unten entgegenkommen. Müde, graue Sinnlosigkeitsgesichter mit bitteren Kerben um den Mund. „Und ich, und ich?“, fragen die Gesichter. „Wann bin ich dran? Und wer liebt mich?“ Das Sinnlosigkeitsproblem lässt ihre Leben jämmerlich und klein erscheinen.

Das Sinnlosigkeitsproblem klebt in den ungewaschenen Haaren der jogginghosigen Schlurfeinkäufer und ruft zur Resignation auf: „Wozu die mühevolle Prozedur mit dem Shampoo auf sich nehmen! Übermorgen sind sie eh wieder fettig.“

Kartoffeln, Bananen, Haferflocken, Nutella, Mehl, Spaghetti, Salami, Milch, Eier, Joghurt, Emmentaler. Ja, ja, und dann zum Schluss das Klopapier. Das Sinnlosigkeitsproblem nickt sinnig vor sich hin.

Der Wagen voll, das Überleben wieder für eine Woche gesichert. „So viel Mühe!“, sagt das Sinnlosigkeitsproblem. „Und wozu? Arbeiten, Geld verdienen, Einkaufen, Ausräumen, Einräumen, Kochen, Essen, Spülen. Ein ewiger Kreislauf. Und wozu? Alt werden. Sterben.“

Das Sinnlosigkeitsproblem ist kein angenehmer Zeitgenosse. Und Menschen, die von ihm befallen sind, sind ebenfalls unangenehm. Sie sind meist griesgrämig und schlecht gelaunt. Wenn man etwas von ihnen will, werden sie pampig. Und wenn man nett zu ihnen ist, fangen sie an zu heulen.

Wer ein Sinnlosigkeitsproblem hat, sollte möglichst nicht samstags zum Edeka gehen. Besser ist es, darüber zu schreiben. Schreiben findet das Sinnlosigkeitsproblem langweilig. Das gleichmäßige Flüstergeräusch des Stifts auf dem Papier macht es müde. Und in einem aktiven Gehirn kann es sich so schlecht festkrallen. Irgendwann schläft es ein und fällt ab. Da liegt es dann in seiner ganzen aufdringlichen grauen Hässlichkeit und schnarcht vor sich hin. Dann sollte man ganz leise den Stift aus der Hand legen und sich vorsichtig aus dem Zimmer schleichen. Pssssst! Tür zu!

 

Simone Alber

 

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freiVERS | Liza Wandermaler

Apokalyptische Zärtlichkeiten

Akrostichon

Als der weiße Riese seine Welt benannte,
Passten manche Wörter nicht ins Bilderbuch.
Oben schien der Mond wie eine Endkonstante,
Kernig trieb im Raum ein weites Sternentuch.
Alle seine Worte schwangen in der Ferne,
Lindenbäume hauchten und entstanden still,
Yachten fuhren senkrecht durch die Blaunachtsterne,
Papageien pflanzten grüne Silbenkerne,
Töne klangen gläsern, wie ein Weinglasspiel.
In der Luft verflossen Zeiten miteinander,
Säuselnd prophezeiten Stimmen von dem Tod.
Chaos war ein flinker Feuersalamander,
Harmoniegefasst und plötzlich durcheinander,
Endgültig verschwindend im Zinnoberrot.

 

Zögernd trat der Riese in die Welt und weinte.
Ärgerlich erblickte er am Horizont
Regnerische Worte, die sein Herz verneinte.
Tauend glitt vorbei und starb der letzte Mond.
Lange saß er einsam und erlebte wieder
Inseln seiner Worte in der leeren Welt.
Choreographien tanzten leise Lieder,
Hafensuchend flog der Klang im Schattenfeld,
Kalt verflogen Sterne. Doch der weiße Riese
Eilte hinterher und fing sie zärtlich ein.
In dem Nachtlichthimmel gibt es eine Wiese,
Tausend kleine Sterne bilden Bächleinkiese,
Endlos rauscht das All und weht die Sternenbrise.
Niemals wird der Riese wieder einsam sein.

 

Liza Wandermaler

 

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freiTEXT | Thomas Büch

Erinnerung an eine Insel

1.

Ringemeier saß im Nachtbus und bestand beinah vollständig aus Heimkehr. Dabei entzog sich ihr gerichtetes Existieren durch den Ortswechsel jeder Sehnsucht. In Ringemeiers Vorstellung war die Dunkelheit (von Sternen einmal abgesehen) ein vollkommen durchsichtiges Objekt in den weiß behandschuhten Händen ältlicher Pärchen, welche niemand mehr als Eltern beschrieb. Mag sein, dass Mütter, lange in der offenen Tür stehend und von einer gewaltigen Schafherde umgeben, mit nachtblinden Augen auf die ausbleibende Tochter warten. Mag sein, dass die Probleme beginnen, wenn die gute Erde in all ihrer Kugelförmigkeit sämtliche Grenzen an die Endlosigkeit verliert. Mag sein, dass spät nur eine Kategorie von Zeit darstellt. Ringemeier fuhr nach Hause. Sie war größtenteils keine zwanzig Jahre alt.

2.

Schneidinger liebte für sein Leben an R.'s Haut einzig und allein ihre Muttermaligkeit und obwohl man annehmen darf, dass es sonst niemanden auf dieser Welt gab, dem er ein Gefühl entgegenbrachte, das Zuneigung zumindest annähernd ähnelte, sprach er nie von Haut, sondern immer bloß von Integument, so sehr war er Gefangener einer Sprache, die das Verletzlichsein als Konzept des Miteinanders leugnete. Es kann daher kaum wundernehmen, dass er letztlich sogar in weitaus höherem Maße seiner Sterblichkeit zum Opfer fiel, als dies üblicherweise Angehörigen des männlichen Geschlechts möglich ist.

 

3.

In dem kleinen, ein bisschen verwilderten Gärtchen unserer Protagonistin lebte aber noch viele Jahre ein Maulwurf mit einem siebenzackigen hellen Fleck auf der Stirn. Sie hätte ihn gerne einmal einem ihrer Besucher gezeigt, nur kamen die immer erst in tiefer Nacht, und musste daher dieses pelzige Ding auch einer sehr überschaubaren Miniaturwelt zugehörig erscheinen, so hätte doch kein Mensch je die zum Gestreicheltwerden geschaffene Geschmeidigkeit seines Fells vergessen mögen oder die glücksverlorenen Quieklaute des Winzlings, wenn er sich am Köpfchen kraulen ließ.

4.

Wir alle sind Teil einer vollkommen linear erzählten Geschichte und falls es uns zuweilen auch so vorkommen mag, als bedürfe unsere Flüchtigkeit eines vielstimmigen Chores von Chronisten, wollen wir gleichwohl nie der Kränkung anheimfallen, sofern uns das Gegenteil bewiesen wird.

5.

Es dämmerte schon sehr zum folgenden Tag hin, als der inzwischen arg ramponierte Bus in die Hofeinfahrt einbog. Zu solch exzentrischer Besuchsstunde hielt sich das Empfangskomitee in engen Grenzen, aber ein paar Schafe standen herum. Manch einer wäre ob der Begrüßung durch spärliche Blöklaute und vereinzelte neugierige Blicke enttäuscht gewesen, Ringemeier indes sprang lachend aus dem Führerhaus, und am Himmel leuchtete der Morgenstern aus dem ungeheuren Licht seiner Möglichkeit.

 

Thomas Büch

 

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freiTEXT | Achim Stegmüller

Verfolgungen

1

„Ich war nicht immer so allein. Ich hatte mal eine Freundin. Wie ich nach ihr Sehnsucht habe. Wäre ich mit ihr zusammen geblieben, hätte mein Leben einen anderen Verlauf genommen. Ich wäre um die Sonne gekreist und nicht um den Mond. Ich säße nicht andauernd hier im Treppenhaus. Sie hat sich immer einen Hasen gewünscht. Einen kleinen weißen Hasen mit roten Augen. Ich habe diesen Wunsch nie erst genommen. Und dann hat sie mich an dem Tag, als ich ein Referat über Strukturwandel im Ruhrgebiet hielt, verlassen. Ich habe es nicht verstanden. Ich war noch beschwingt vom Lob meines Professors. Sie sagte: Du hast mir keinen Hasen gekauft. Und ich: Was? Sie: Du hast mir keinen Hasen gekauft, und deshalb verlasse ich dich. Ich kann ja nicht ewig darauf warten, dass man mir einen Hasen schenkt.“

2

„Ein weißes Monster verbreitet Angst und Schrecken. Es ist so groß wie zehn Eisbären. Wenn es nur einmal sein Maul so richtig aufreißt, ist schon ein halbes Reisbauerndorf weg. Wer kann, der flieht. Und wohin dieses weiße Monster auch kommt, überall sind die Dörfer und Städte schon verlassen. Das weiße Monster wird immer hungriger! Das Monster stößt auf ein neues Dorf. Alle Bewohner sind über Nacht geflohen, nur ein kleines Mädchen ist vergessen worden. Ein Waisenmädchen, eines aus dem Ausland, mit einer anderen Hautfarbe, eines, das die einfache Arbeit im Stall verrichtet. Und wie das Mädchen am frühen Morgen aufwacht, schaut es in die Augen des Monsters. Sie findet diese Augen nett. Das Monster nimmt sie in seine Pranken und hebt sie hoch in die Luft. Das Mädchen fühlt sich wie eine Königin. Sie zeigt dem Monster die Wasser- und Speichervorräte des Dorfes, damit es sich stärken kann. Und dann geht das Mädchen voraus und das Monster hinterher und wie sie so gehen wird das Monster immer kleiner, wird zu einem Hasen. Und noch bevor sie in der nächsten Stadt ankommen, weiß schon jeder: Das kleine Mädchen hat das weiße Monster gezähmt. Man feiert Feste für das Mädchen und das Monster, baut Tempel für sie, aber sie mögen die Stadtluft nicht und ziehen weiter. Erst in einem kleinen Dorf fühlen sie sich wohl. Das Mädchen bekommt dort eine warme Suppe, der Hase Salatblätter. Mit dem Mädchen und dem Hasen kehren Wohlstand und Reichtum in das Dorf ein.“

 

 

Achim Stegmüller

 

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freiVERS | Christl Greller

fjord-fälle

kippt das wasser über die kanten zu tal,
bei glätte grünlich. aber zerschellt
weiß an steinen, stetig stürmend, strömend.
ob regen und prasselt: unbeirrt vorwärts in
volten, voluten.
über den gipfeln nebel wie dampf.
und stürzen vom berg
dünne fäden in weiß, senkrecht oft,
zwischen sonnenflecken,
scheinen wie weiße haare im tann, oder.
das wasserschwert eingeschnitten im fels, tiefe
rinne schwarz im gestein.
quell und schmelzwasser, gletschergeboren,
senkrecht zum fjord, oder.
schwarzklares strömen zwischen moosen. brocken
hineingewürfelt vom berg. und wallt
und aufkocht in weiß.
wasserstaub wolkt über stein.
zwischen schwarznassen felsen
schäumend,
rückwirbelnd und überschlägt sich, vielfach gebrochen.
sprühnebelfülle.

nass, verwittert, am rand
ein hölzernes kreuz und vermoost.

 

Aus ‚und fließt die zeit wie wasser wie wort‘, Edition Lex Liszt 12, Oberwart, 2019

 

Christl Greller

 

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freiTEXT | Frederike Schäfer

Hugo

1

Ich stehe in einer überfüllten Küche und versuche, gelassen am Kühlschrank zu lehnen. Ich bin Studentin, ich bin auf einer Party. Ich finde das toll, ich muss das toll finden, mich wohlfühlen. Der Kartoffelsalat suppt vor sich hin, das warme Bier in der Wanne mit abgestandenem Wasser, vor einigen Stunden bestimmt frisch und kühl, jetzt den steigenden Temperaturen der Dachgeschosswohnung mit undefinierbarem Teppichboden ausgeliefert. Ich tippe auf Olive. Mit lilafarbenen Tupfen. Und piksen tut er auch. Ein bisschen wie Schmirgelpapier unter den nackten Füßen.

„Sockenparty“, hat Judith gerufen, als wir im fünften Stock ankamen.

„Jaa“, habe ich gesagt und nur gedacht, lustig, ich trage gar keine Socken.

Ja, denke ich, Party. Im Flur sitzen die anderen in einem großen Kreis, die Beine in die Mitte gestreckt. Sieht ein bisschen aus wie eine große, triste Blume, die morgen ihre Eltern besuchen wird und erzählt, wie wahnsinnig toll doch diese Party war. Und ihre Eltern werden sagen: „Jaja, diese Studenten. Als wir noch jung waren ...“ Ich will nicht Teil der Blume sein, aber in der Küche will ich eigentlich auch nicht sein. Um ehrlich zu sein, möchte ich überhaupt und gar nicht auf dieser Party sein. Es ist mittlerweile so eng, dass ich mich kaum rühren kann. Mein Kopf ragt unnatürlich weit in den Raum, weil sich hinter mir ein Gewürzregal befindet und ich meinen Kopf schlichtweg nicht anders halten kann.

Ich nehme mir ein zimmertemperaturwarmes Beck's Holunder und denke nur: Idiotenapostroph.

„Hat jemand einen Flaschenöffner“, fragt mein nach vorne gereckter Kopf.

„Klar“, sagt der Typ neben mir und öffnet meine Flasche mit seiner. Er braucht sechs Anläufe.

„Ich bin Hugo“, sagt er.

„Ich bin Frida“, sage ich.

„Hallo, Frida“, sagt er.

„Hi“, sage ich.

Wir trinken jeder einen Schluck, und irgendwie kommt es dazu, dass Hugo mir Fotos von Kleinkindern zeigt.

„Weißt du“, sagt er, „nur, weil ich ein Mann bin, kann ich Kinder ja trotzdem süß finden, so gar nicht sexuell, meine ich. Aber man muss sich immer irgendwelche perversen Witze anhören. Ist zum Kotzen.“
„Ja“, sage ich. „Ist echt beschissen.“

„Dabei“, sagt Hugo, „ist das doch voll okay. Ich meine wegen Frauenquote und so. Da darf ich doch wohl in einem Kindergarten arbeiten, oder nicht?“

„Ja“, sage ich. „Klar.“

Hugo packt sein Handy weg. Ich sage Handy und nicht Smartphone.

Hugo fragt: „Wollen wir vielleicht woanders hingehen? In Ruhe quatschen?“

„Ja“, sage ich. „Klar, gute Idee.“

Wir gehen in Judiths zehn-Quadratmeter-Zimmer und setzen uns auf die Matratze, die versucht, ein Bett zu sein, aber einfach nur eine harte Matratze auf einem kratzigen Teppichboden ist. Aber es ist ruhig, „zum quatschen“.

„Ich trinke ja keinen Alkohol“, sagt Hugo.

„Ach so“, sage ich, „wie kommt's?“, und trinke einen Schluck von meinem Beck's Holunder.

Hugo zuckt mit den Schultern. „Ach, war 'ne schwierige Zeit, also in der Schule. Alkohol und so. Hab dann entschieden, dass ich das nicht mehr brauche.“

„Ja“, sage ich. Mehr fällt mir nicht ein.

„Ja, auch mit Mobbing und so. Ich war auch richtig fett. War dann erst mal im Kindergarten und jetzt halt hier.“

„Wow“, sage ich. „Super, cool“, sage ich bestimmt auch noch. Hugo ist doch ganz in Ordnung.

2

Wir liegen auf einem neunzig-Zentimeter-Kinderzimmerbett im Haus seiner Eltern. Es müffelt. Irgendwie nach dreckigem Mann mit einer Spur Axe irgendwas.

Wir sind nackt. Ich liege unten. Meine Beine sind gespreizt, er auf mir drauf. Er schwitzt, und sein Rücken ist haarig. Wir küssen uns. Mit Zunge. Eigentlich mag ich das nicht, weil ich es nicht schaffe, meinen Speichelfluss zu kontrollieren, aber gut. Jetzt ist seine Hand zwischen meinen Beinen und versucht allem Anschein nach, seinen Penis in meine Vagina zu befördern. Irgendwie.

„Warte mal.“

Das war ich. Ich drücke Hugo von mir weg und wische mir schnell mit der Hand über den Mund.

Hugo sagt: „Äh.“

„Äh“, sage ich nicht, sondern: „Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht mit dir schlafen will. Also, nicht so, zum ersten Mal, meine ich. Ich will mit niemandem zum erstem Mal schlafen, der nicht mein Freund ist, das habe ich dir gesagt. Also, also richtig, meine ich, ein richtiger Freund, mein richtiger Freund.“

„Ja ...“, sagt Hugo. Mit drei Punkten am Ende, ohne zu erklären, wofür die drei Punkte stehen.

„Und ohne Kondom schon gar nicht“, sage ich.

„Ja, äh“, sagt Hugo, „also, es ist so, mit ist das für mich einfach nicht gut. Ich spür da nichts.“

Ich sage nichts.

Hugo sagt: „Ich hab ja auch keine Krankheit oder so. Ehrlich.“

Ich sage nichts.

Hugo küsst mich. Mit Zunge. Ich küsse ihn auch. Ich weiß nicht, wie lange wir uns küssen. Und ich liege immer noch so da, mit gespreizten Beinen. Alles andere würde auch keinen Sinn machen, wenn ich meine Beine lang ausstrecken würde, oder so. Oder wir nebeneinander lägen. Keinen Sinn. Und so ist das ja auch okay. Ich meine damit, Hugo ist schon okay. Lecken ist okay, und ich habe ihm auch einen runtergeholt. Das war in Ordnung. Und jetzt das Küssen, das ist auch in Ordnung. Er mit seiner Zunge, wie ein raues, kleines Tier in meiner Mundhöhle. Und jetzt bewegt er sich ein wenig. Sein Körper ist meinem so nahe, und ich merke erst gar nicht, was da passiert, da ist plötzlich nur so ein Schmerz, so ein Schmerz irgendwie in mir drinnen. Und ich realisiere: Okay, dann habe ich jetzt wohl Sex. So zum ersten Mal. Das ist scheinbar in Ordnung. Und es fühlt sich in mir ein bisschen so an wie beim Schulsport, wenn man durch die Halle rennt und stolpert und mit seiner nackten Haut über den Hallenboden rutscht. Und diese Haut, die gibt nach, und die reißt und die brennt, und gleichzeitig ist da dieses Gefühl von Kälte, das mit dem Schmerz kommt. Und ich, ich liege ganz ruhig da und bewege mich nicht und hoffe, hoffentlich sieht er den Schmerz nicht und die Kälte. Hoffentlich sieht er das nicht. Stattdessen sage ich: „Das tut weh.“ Und Hugo bewegt sich nicht mehr.

„Mann, tut mir leid“, sagt er. Und er küsst mich. Ich weiß nicht, ob ich das will.

Ich küsse ihn auch. Und Hugo bewegt sich jetzt, er wird richtig schnell und stößt und macht Geräusche. Und je länger er sich bewegt, desto weniger spüre ich den Schmerz. Und plötzlich bricht Hugo einfach zusammen, als wäre er bewusstlos. Er rollt sich neben mich, aber er ist nicht bewusstlos. Sein Augen sind zwar geschlossen, aber er lächelt. Ein seliges Lächeln ist das. Und aus mir, aus mir suppt eine warme, klebrige Flüssigkeit. Und mir wird übel, mir wird richtig übel. Und ich sage: „Ich muss mal auf die Toilette.“ Und irgendwie tut es jetzt wieder weh, so richtig weh. Ich pinkel, und es brennt, und da ist Blut. Aber das ist schon okay, das mit dem Blut, so beim ersten Mal.

Und ich komme zurück in sein Zimmer, und Hugo sitzt am Schreibtisch an seinem Computer, und er sagt: „Hey, kann ich eine Runde zocken?“

Und ich sage, „klar“, und lege mich auf das Bett.

„Du bist echt super“, sagt Hugo.

„Dann sind wir jetzt wohl in einer Beziehung“, sagt Hugo.

„Ja“, sage ich, „dann sind wir wohl in einer Beziehung.“

 

3

Ich nenne Hugo nicht mehr Hugo. Ich sage „Ügó“, französisch.

 

Frederike Schäfer

 

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