freiTEXT | Philipp-Henrik Jahn
Desperado
Unten tanzte Ribeiros Tochter. Ein wundersames Wesen mit perfekten Kurven und weißen Zähnen. Ich hasste sie. Sie umgarnte diesen Portugiesen und sie betranken sich gemeinsam an der Hitze, denn der versprochene Regen war ausgeblieben. Ich hasste sie und den alten Ribeiro hasste ich ganz besonders.
Ich saß auf dem einzigen Stuhl in meinem Apartment in der Rue Poço dos Negros, mitten in Lissabon. Zwei der Stuhlbeine ragten auf den französischen Balkon, die anderen steckten auf den Holzdielen im Zimmer fest, weil der Platz dafür nicht ausreichte. Der Deckenventilator brummte und ich sah den Einheimischen zu, wie sie sich in schattigen Gassen und unter großen Sonnenschirmen tummelten, kühle Biere tranken, und Café Cheirinho bestellten, mit einem Schuss Bagaço oder Brandy. Ich war pleite. Im Kühlschrank war ein Rest Bier, den ich für den Abend aufbewahren wollte. In einem Brief an meinen Bruder bat ich ihn um Geld. Wenigstens für einen Drink, vielleicht ein neues Farbband, doch dazu müsste er die Zeilen entziffern, denn die IBM drückte nur noch unleserlich die Buchstaben auf das Papier und ich musste sie mit einem blauen Kugelschreiber nachspuren. Die letzte Briefmarke klebte sorgfältig auf dem Umschlag. Es war mir nicht wohl dabei, ihn anzupumpen. Zu oft hatte ich früher geliehen und nie zurückgegeben. Aber wenn ich ein berühmter Schriftsteller sein wollte, brauchte ich eine funktionstüchtige Schreibmaschine. Bleistifte und Kugelschreiber gaben einem nicht das richtige Gefühl. Da fehlte das rhythmische Klicken, wie das Nachladen eines Unterhebelrepetierer aus einem alten Western, und ständig bekam man Schreibblockaden. Ich betete täglich, dass die Mystiker und Statistiker Recht behielten und die Küstengegenden von den Ozeanen verschlungen würden. Doch Apartment 153E und die Bar im Untergeschoss kämen auf seltsame Weise ungeschoren davon, bis ich meine Rechnungen beglichen hatte. Also wartete ich auf einen guten Augenblick. Auf eine große Wolke, die sich vor die Sonne schob und den Himmel verdunkelte, bevor ich zum Briefkasten aufbrach. Sie kam nicht. Stattdessen schien sie ununterbrochen und untermauerte die Aussichtslosigkeit, in der wir uns alle befanden. Esperança, sagten sie dazu.
Ich fand einige Zigarettenstummel im Aschenbecher und rauchte sie. Es war sehr mühselig. Immer wieder brannte eine Ecke zu weit ab, oder die Krümel fielen samt Asche heraus. Ich sehnte mich nach einer Packung vom Kiosk an der Ecke und einem ordentlichen Steak mit Rotweinsauce. Hier gab es bloß Nudeln mit Tomatensauce aus der Dose. Und wenn das Geld reichte, erstand ich etwas Käse bei Rui, raspelte ihn durch die alte Käsereibe und streute die Fitzel über die rote Pampe. Wenn es besonders schlecht lief, aß ich diese kleinen Sardinen aus der Dose. Sardinhas inteira em tomate. Ab und an erwischte man eine, an der der Kopf noch halb dran hing, und diese Glubschaugen starrten einen an. Es kostete eine Menge Überwindung ihn zu essen oder abzutrennen. Meistens rührte ich auch die restlichen Sardinen nicht mehr an. Der Gedanke an eine weitere Portion ließ mich fickrig werden.
Ich ging zum Kühlschrank. Stürzte das Bier runter. Es stärkte mich. Mein Körper und mein Geist wurden kühl. Ich schlüpfte in ein paar zerfledderte Bluejeans, setzte meinen Strohhut auf und rannte die Treppenstufen hinunter. Unten fand ich mich in der prallen Sonne wieder. Ein Schwall heißer Luft prallte von mir ab. Selbst die Kakerlaken, die um diese Jahreszeit üblich auf den Straßen herumlungern und nach heruntergefallenen Resten Ausschau hielten, versteckten sich unter den Gullideckeln und harrten auf die Nacht. Bis zum Briefkasten musste man eine gute Strecke bergauf. Müde Gesichter schleppten sich vor mir her. Vorbei an den an mit Azulejos verzierten Häusern. Blaue Linien, die sich an die weißen Fassaden schmiegten. Das Weiß reflektierte das Sonnenlicht und ließ die Stadt noch heller wirken als sonst. Alles war unerträglich heiß. Aber ich war Arthur Band, ein großer Hungerkünstler. Ich war stark und kalt und die Sonne konnte mir nichts anrichten. Wie eine Pfeilspitze segelte ich durch die Menschenmengen, angetrieben von tiefen Atemzügen, bis ich den Briefkasten erreichte. Die Dame vom CTT hatte gerade den roten Kasten geleert und war dabei, die Briefe in den Wagen zu sortieren. In große, rote Stapelboxen. Es müssen hunderte oder tausende Briefe dort auf der Ladefläche gewesen sein.
„Können Sie den mitnehmen?“, fragte ich.
Sie zeigte auf den Briefkasten. „Einwerfen. Wir holen morgen wieder.“
„Es ist dringend. Ein dringender Brief.“
„Morgen.“
„Er muss wirklich heute noch abgeschickt werden. Nach Deutschland.“
Sie nahm den Brief und sah ihn sich an.
„Deutschland? Alemanha? Nicht genug Porto“, sagte sie und gab ihn mir wieder. „Musst du auf dem Postamt zusätzliche Marken kaufen. Ausland teurer.“
O, wie ich sie hasste, allesamt. Das portugiesische Säufer-Pack, das Wetter, die Sonne, die Postbotin und den CTT. Herrn Ribeiro und seine Tochter, Sarai. Meine Sarai Ribeiro, meine. Eine Frevlerin vor dem Herrn! Ganz bestimmt ging sie gerade mit Paco auf Tuchfühlung. Paco, ein großgewachsener, von der Sonne braungebrannter Fischer, der nur darauf aus war, sie zu entjungfern. Herr, Gott! Richte uns hier und jetzt.
Schlapp und meiner eigenen Sünden schuldig, schlurfte ich die Straße hinunter, kickte Kieselsteine vor mich her. Es ging bergab. Ja, das ging es. Da gab es nichts, was Hoffnung in sich trug. Nirgendwo war man sicher. Nirgendwo blieb man verschont vom steinernen Blick der Medusa. Dort unten wartete er, der Abgrund, der Tartarus. Bewacht von den drei Hekatoncheiren, mit all ihren hundert Händen und fünfzig Köpfen, und die Sabber spie aus ihren Mäulern wie die Wasserfontänen am Fonte Luminosa. Ich starrte auf den Boden, wusch den Blicken der anderen aus, sah bloß Schuhe und Beine. Einige davon sahen gut aus. Beachtliche Beine, lange Beine, zarte Beine, Füße verpackt in Stöckelschuhen, die über die Pflastersteine klackerten. Ich hasste sie. Denn ich wollte nichts anderes als etwas weiter oben unter ihre Röcke gucken. Ich war wie Paco. Nur, dass ich keinen Erfolg hatte und auf ewig Arthur Band bleiben würde. Der misslungene Romanautor. Wie es mich plagte, daran zu denken. Es brachte mich in Rage. Ein fader, bitterer Geschmack formte sich in meinem Speichel. Die quietschende Tram 28 pochte in meinen Ohren. Kam immer näher. Wurde immer lauter. So laut, dass ich mich auf das Geräusch konzentrierte und nicht merkte, dass ich vor Ribeiros Antiquitätenladen stand, wenige Meter von meinem Apartment. Blank polierte Vitrinen im Schaufenster. Meine Visage spiegelte sich darin. Ich zog eine Grimasse, dann versuchte ich es mit einem Grinsen. Mir war nicht danach. Sowieso war das alles ziemlich blöde. Ich wollte gerade gehen, da kam der Alte raus und ließ die Ladentür zu fallen. Er war betrunken, hatte einen leichten Schwank. Der Schlüsselbund landete auf dem Boden. Er beugte sich runter, hob ihn auf und steckte ihn in die Hosentasche. Ein großer Bund, voller Schlüssel, die pünktlich morgens um sieben aneinander schlugen und mich von seiner Anwesenheit wissen ließen.
„Bon dia, Band“, sagte er und zeigte auf den Brief in meiner Hand. „Na, wie läuft’s mit dem Roman? Está acabado?“
„Ach, bloß ein Brief an meinen Verleger. Der große Lohmann bittet um weitere Seiten, er kann nicht aufhören zu lesen.“
„Dann schreib mal deine Seiten, Band, fleißig, fleißig.“
Ich zuckte mit den Schultern und deutete auf den grellen Feuerball am Himmel. „O sol“, sagte ich. „Sie macht einem zu schaffen. Heute trinke ich lieber ein kühles Bier.“
Er beachtete mich nicht weiter und drehte sich weg, stapfte davon mit der Heimtücke einer streunenden Katze.
Ich verlagerte mein Gewicht in den Hauseingang. Bespitzelte die Rue Poço dos Negros und behielt ihn im Auge. Er machte an einem Café halt. Stellte sich unter einen der Sonnenschirme und zog eine Packung Bidis aus seiner Hemdtasche. Eine Bedienung brachte ihm Sagres. Er wusste genau, dass ich Farbbänder brauchte, um den Roman fertig zu schreiben. War ich doch gerade erst letzte Woche wieder bei ihm gewesen und bat ihn darum, anschreiben zu lassen. Ich hätte ihm das Doppelte gezahlt. Reich müsste ich sein, den Laden kaufen und ihn und seine Familie verjagen. Ich warf einen Blick auf die Tür. Dann wieder zu ihm. Ribeiro mit seinen Bidis, Sagres süffelnd. Sein Rücken gekrümmt vom vielen Leiter kraxeln. Was solls, dachte ich und drückte mit der Hand dagegen. Die Tür war nicht abgesperrt. Es blieb mir ja nichts übrig, als rein zu gehen, auch wenn das Schild mit der Aufschrift fechado etwas anderes deutete.
Der Duft von modrigem Leder und morschem Holz stieg mir in die Nase. Alte Uhren und der Geruch von Messing. Asynchrones Ticken. Ich ging zu den Farbbändern und betrachtete sie mir. Es waren viele verschiedene, doch ich wusste, wo er die für die IBM Selectric lagerte. Zu oft war ich hierher gekommen und hatte danach gefragt. Stolz hat er sie präsentiert und auf das Preisschild getippt. „950 Escudos“, hatte er gesagt.
Ich öffnete den Utensilienkoffer und strich mit den Fingern über die Tinte, fand eins, das meine Fingerkuppe schwarz färbte, und schob es in die Hose, ganz bis in mein Hosenbein, sodass es niemand finden konnte. Einen Desperado würden sie mich schimpfen, wenn sie es wüssten. Mutter würde den Rosenkranz beten und hoffen, dass der liebe Gott, an den sie glaubte, mich ins Fegefeuer warf, statt in die Hölle. Mein Vater würde mir mit dem Gürtel eine Tracht Prügel verpassen. Es war keine Zeit, lange über mein Verbrechen nachzudenken. Hinten klappte die Tür auf. Sarai bauschte sich vor mir auf und klimperte mit dem Schlüsselbund. „Kannst du nicht lesen?“, fragte sie. „Geschlossen!“
Ich blickte in ihre wunderschönen, haselnussbraunen Augen und drückte mich an ihr vorbei auf die Straße. „Die Tür stand offen“, log ich.
Ich eilte hoch ins Apartment und begutachtete das Band. 950 Escudos. Ein überaus hoher Wert für einen einfachen Mann. Ein großer Fang, ein Marlin. Ich sah es alles vor mir. Den Titel, den Umschlag, die Widmung.
Für Sarai Ribeiro. Danke, dass du es deinem Vater nicht erzählt hast.
Es würde Furore geben. Er würde das Buch bei ihr finden. Ein Exemplar aus dem Buchladen. Versteckt unter einem olivgrünen Kopfkissen. Ribeiro außer sich vor Wut. Ribeiro schimpfend, seine Flasche Sagres über die Straße werfend. Braune, zersprungene Glasscherben.
Ich stellte mich auf den Balkon und lächelte. Geh doch mit Paco, ich hasse dich sowieso Sarai. Dann spannte ich das Farbband in die Schreibmaschine und setzte mich. Unten warf einer seine halb abgebrannte Zigarette in den Rinnstein. Ich wartete, bis es dunkel wurde und ging hinunter.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Petrus Akkordeon
dschungel
die erkenntnis
sitzt in der natur
sie bewirft uns
im paradies
läuft ein anderes tier
und frisst sie auf
ganz kurz
sieht man alles
klar
dann
reift schon die nächste
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Xaver Rohracher
Discovery Revolution
Blackout und wir stehen auf der Kippe. Die Haare hängen dir lotrecht vom Kopf. Windstill, kein Luftzug, der sie bewegen könnte.
Es sind Nächte zwischen Materialermüdung und Schlaflosigkeit, in denen heisere Träume die offenen Augen rot durchädern. Nächte in feuchten Laken, wenn die eigene Haut schon Dämmung zu viel ist, wenn selbst im Stromsparmodus alle Windungen heißlaufen und die Abwärme deines flüchtigsten Gedankens die Isolierschicht zwischen den Sinnen zum Schmelzen bringt. Raus, in Bewegung bleiben, zwischen den Häuserschluchten, am Ufer des Donaukanals, auf den Praterwiesen, unter freiem Himmel, mit den Massen an anderen, die hier keine Erfrischung suchen, aber nicht wissen wohin sonst mit ihren wundgewendeten Körpern.
Am ersten Abend verschaffen wir uns Zutritt zu den ausrangierten Schiffsschaukeln hinter dem Feuerdorf. Wir tauchen an, doch nichts geschieht. Unverrückbar ruht der Rumpf in den Fluten, die ihm aufgemalt sind, sonnengebleicht. Nicht einmal ein metallisches Seufzen sind unsere Bemühungen ihm wert. Wir können uns dieser Arche nicht sicher sein.
Das Bier, das wir trinken, ist warm und die Dinge, die wir einander gestehen, ein Flüstern. Am Ende liegen wir im steifen Gras, deine Finger berühren meinen Handrücken und ich bilde mir ein, sie seien kühl.
Vor einigen Jahren war man vom Stromausfall noch überrascht. Die Lichter gingen aus, die Fahrgeschäfte hielten an, die Bässe wurden stumm, nur das Kreischen legte kurzzeitig an Lautstärke zu. Die Feuerwehr rückte an, um die Leute zu befreien, die kopfüber in ihren Sitzen hingen. Später waren die Schlagzeilen voll und die Netzbetreiber um Beschwichtigung bemüht. Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt. Niemand verliert mehr die Nerven, nur weil er ein paar Minuten zwanzig Meter über dem Boden in einer Achterbahn festsitzt.
Nur in der Geisterbahn möchtest du jetzt nicht sein. Eine verkehrte Welt, damit könntest du leben, aber nicht mit einer finsteren.
Als du dich neben dem Tagada ins Gebüsch übergibst, halte ich dir die Haare aus dem Gesicht. Untertags ist es hier trocken und nass zugleich, wir waten durch Wogen aus Asphalt und Pfützen aus Luft. Ich erzähle dir, wie wir hier im Physikunterricht Winkelgeschwindigkeiten, Bahnradien und Zentrifugalbeschleunigungen gemessen haben. Du mir, wie die Revolution letzten Endes doch noch gelingen könne. Die Hitze zeichnet Luftschlösser in den Himmel, Glasfassaden und Metallverkleidungen blinzeln uns verschwörerisch zu. Verwelken oder Feuer fangen, sagst du, das seien die einzigen Optionen in dieser Welt.
Unser erster Kuss schmeckt nach Bosna und Magensaft.
Die Erde ist durchzogen von maroden Nervensträngen. Gebettet in brüchige Trockenheit, seit Wochen keine Kühlung, keine Linderung. Die Reizung in den unterirdischen Fasern, ein Jucken, das den Nachtwandlern in den Ohren surrt, eine Entzündung, die ihre Zunge pelzig werden lässt, eine Ermüdung, die ihnen die Nebenhöhlen verschlägt, bis ein unbedachtes Gähnen oder ein Kratzen im Augenwinkel zum Kollaps führt.
Das gewaltige Pendel sei deine Lieblingsattraktion. Sitzen würde man in einer Art Kreisel. Und nach und nach schaukle es sich auf, während man sich zeitgleich drehe. Mit jedem Durchlauf gewinne man an Tempo und an Höhe, verschiebe sich der Umkehrpunkt ein Stück nach oben, bis es weiter nicht mehr ginge. Das, sagst du, sei der Moment, auf den es ankomme. Einen Augenblick lang stehe nicht fest, ob man sich überschlage oder am selben Weg zurückschwinge. Alles sei in der Schwebe, der Erdboden sei einem fern und man selbst sich ganz leicht.
Statt zu schweben stehen wir am Kopf. Der Funkenflug der Stadtbeleuchtung erstarrt. Vom Praterstern her hupt der stockende Verkehr, und ihm nach Donnergrollen aus einiger Ferne.
Nicht lange, dann laufen die Notstromaggregate an und wir stürzen zurück zu Boden. Ich weiß nicht, ob in die eine oder andere Richtung.
.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Anne Martin
hätte ich dir heut geschrieben
(ich habe es nicht getan)
hätte ich erzählt
vom klebkraut am rocksaum
einem salto um die kehlkopfachse
einem dumpfen aufprall im spitzwegerich
einem ton der herauskroch
einem hund
der schrie zeter und mordio
der wind pfiff durch die schachtelhalme
und im aufruhr der glockenblumen
hörte man nicht
wie der mond sich von uns wegschleicht
jedes jahr
circa vier zentimeter
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Christa Blenk
Scham
„Weißt du, was IUCN ist, Tante Carlotta?“
Mit diesen Worten empfing mich mein 11 Jahre alter Neffe Philipp. Ich sollte mir die letzten Instruktionen bezüglich der Betreuung seines Hamsters abholen.
„Sag nicht immer Tante zu mir, Carlotta reicht!“
„Verschone Carlotta bitte mit deinem Vortrag und beeil dich, sie hat nicht den ganzen Tag Zeit“, ermahnte ihn seine Mutter.
Philipp musste mit seinen Eltern ein Wochenende in den Bergen verbringen und ich durfte seinen Hamster sittern. Er hasste diese Kurzurlaube, aber in seinem Alter hatte man nicht allzu viel Mitbestimmungsrecht, wenn es um Freizeitgestaltung ging.
Nicht dass ich Florian, dem Hamster, besondere Gefühle entgegen gebracht hätte, aber Philipp war mein Lieblingsneffe. Ich hätte Florian ja auch mit zu mir nehmen können, aber El Tato, mein Kater, war vehement dagegen.
„Morgens und abends je eine halbe Stunde Streicheleinheiten mindestens“, waren die Vorgaben von Philipp. Ich bin keine Frühaufsteherin und musste deshalb ein wenig schwindeln, aber Florian würde mich schon nicht verraten. Die Abende hingegen gehörten Florian. Ich fütterte ihn, streichelte ihn 30 Minuten lang und erzählte ihm meinen Büroalltag.
Wir hatten uns ein paar Monate nicht gesehen. Philipp hatte sich verändert, das merkte ich sofort. Eine Reportage im Fernsehen über aussterbende Tier hatte ihn geradezu erschüttert. Meine Schwester hatte mich schon vorgewarnt. Allerdings habe ich das nicht so ernst genommen, weil Kinder ständig für irgendetwas brennen.
Dieses Mal war es aber anders. Philipp glühte, vor Leidenschaft und vor Leid. Seit dieser Sendung durfte in seinem Elternhaus keine Fliege, kein Insekt, keine Biene, gar nichts mehr einfach nur so zerquetscht oder getötet werden. Er beobachtete mit Interesse Ameisenstraßen, freute sich über Spinnweben an der Wand und wenn ihn im Garten eine Biene umwarb, war er stolz.
Abgesehen von meinem Kater waren Florian oder die Kanarienvögel meiner Freundin die einzigen Tiere, mit denen ich in Berührung kam. Spinnen machen mir Angst, Fliegen nerven mich, Insekten stehe ich generell sehr skeptisch gegenüber und wenn eine Wespe über mein Tortenstück fliegt, werde ich hysterisch.
„IUCN, nein, tut mir leid, ist das eine neue Musikgruppe?“
„Ihr Erwachsenen seid einfach nur peinlich“, meinte Philipp und blickte mich bedauernd an.
„IUCN steht für International Union for Conservation of Natur, also eine Weltnaturschutzunion. Sie bringt einmal im Jahr eine rote Liste bedrohter Tiere, Insekten oder Fischen heraus. Aber von der Klimakrise hast du schon gehört, denn sie ist einer der Gründe, warum Tiere aussterben, aber auch unser Fleischverzehr, das Überdüngen, Abholzen und Überfischen sind schuldig. Wenn ein Meeressäugetier als Beifang im Netz eines Großfischers stirbt, dann nennt ihr das Kollateralschaden. Das Ihr sprach er mit Verachtung aus. Denk an aussterbende Dugongs oder die Tiger- oder Elefantenjagd. Aber wer braucht schon Tiger, wirst du jetzt sagen. Die sind doch gefährlich und außerdem gibt es im Zoo ja noch welche.“
Philipp hatte wirklich eine schreckliche Meinung von mir.
„Der Baltische Stör ist genauso bedroht wie der Feldhamster, von den unzähligen, gefährdeten Insekten ganz zu schweigen“, setzte er seinen heißblütigen Vortag fort.
„Und wenn dann unser Ökosystem komplett zerstört ist, werdet ihr aufwachen, aber nur weil euch der Honig auf dem Brot fehlt. Obwohl, dann erfindet ihr ja einfach ein chemisches Ersatzprodukt.“
Schon wieder war sein Ihr eine Ohrfeige an mich und die komplette Erwachsenen-Welt.
„Das wirst du sogar noch erleben, auch wenn du nur noch ein paar Jahre zu leben hast. Aber ich, ich habe ungefähr noch 70 Jahre vor mir!“
Also so alt war ich nun auch wieder nicht, fuhr es mir durch meinen hochroten Kopf.
„Was ist ein Dugong?“, fragte ich ihn, um mir irgendwie wieder Pluspunkte zu verschaffen.
„Eine herbivore Seekuh, also pflanzenfressend. Sie gehört zu den Gabelschwanzseekühen. Man findet sie an den Küsten vor Ostafrika und Australien.“
„Oh!“
Mir war diese Seekuh total unbekannt und ich hatte keine Ahnung von bedrohten Lemuren oder von seltsamen Meeresschnecken und Korallen kannte ich vor allem in Form von Schmuck. Aber nun hatte mich dieser 11-jährige Junge beschämt, in dem er mir vor Augen hielt, was für Tiere – oder waren Korallen Pflanzen? – praktisch täglich verschwinden, auf Nimmerwiedersehen. Er hat mir meinen bequemen, ruhigen und langweiligen Kokon madig gemacht, in dem ich es mir jeden Abend mit meinem schnurrenden Kater und einem Glas Rotwein vor einer dämlichen Fernsehserie gemütlich zu machen pflegte. Philipp hat mir unsere Unverantwortlichkeit, unseren Egoismus und unsere Kurzsichtigkeit um die Ohren gehauen.
Er erzählte weiter von Bienen und Honig und Spinnen und ich wagte es gar nicht auf deren Aggressivität aufmerksam zu machen oder die Bienen- oder Insektenallergiker in Schutz zu nehmen. Dies würde nur zu weiteren Vorhandlungen führen. Er wurde beinahe bedrohlich, als er von seiner Zukunft, der schwarzen Zukunft der heutigen Kinder, zu reden anfing.
In den Nachrichten hatte ich davon auch schon gehört, aber aus dem Mund dieses Kindes, klang das so viel mehr bedeutend, so vernichtend, so endgültig.
„Ich werde Biologie studieren und mich dann nur noch um den Erhalt von Tieren und Pflanzen kümmern. Weltweit gibt es ungefähr 150 000 erfasste Tierarten und circa 42 000, also fast ein Drittel, sind bedroht, werden aussterben, für immer weg! Denk mal darüber nach, Carlotta!“
Als ich nach einer Stunde die Wohnung meiner Schwester verließ, fühlte ich mich persönlich für das Aussterben der Dugongs verantwortlich. Schon auf dem Nachhauseweg kaufte ich mir direkt ein großes Glas mit Schraubverschluss, um damit die Spinnen im Haus in den Garten oder in den Wald zu transportieren. Das mit dem Glas war eine Order von Philipp. Den Staubsauger würde ich in Zukunft nur noch für den Teppich benutzen. Dass ich ihn früher auch zweckentfremdet eingesetzt habe, habe ich ihm vorsichtshalber nicht gebeichtet.
.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Steffen Diebold
riedgras & felsenbirne
ein rauschen setzt sich
vom strauch ab, der amsler
besorgt den frühen morgen,
nascht von him- & birnbeere,
hört viel rascheln
unterm gewölk, bis mittag
die postwurfsendungen
ins heim flattern:
standardschriftsätze
& alles absagen;
die angusrinder
jenseits des zauns
versehen dennoch
ungerührt ihren dienst
am riedgras der weiden.
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Thomas Glettler
Komm Igelchen, gehen wir eine rauchen
Stumpf und mit Gedanken, die aus Watte zu bestehen scheinen, trete ich auf eine kleine Lichtung, die links von Bäumen, an der Stirnseite von einem Müllhaufen und rechts von einer Art Gasrohr begrenzt ist. Das kommt grau und rund und hässlich aus dem von Dreck und Unrat gesprenkelten Waldboden, ist über und über mit Graffitis besprüht.
Irgendwo schreit eine Katze und es riecht nach Moder – Fliegen stieben von dem Müllhaufen auf, als ich näher komme; von einem kaputten Einkaufswagen, der da auf der Seite liegt; von den verrosteten Trümmern einer Waschmaschine; auch eine gelbliche Matratze liegt da, aufgerissen und zerfetzt, sodass ihr Innenleben aus Stahlfedern und grauem Schaum ekelerregend aus ihr hervorquillt. In ihrer Mitte prangt ein rostroter Fleck.
Ich versuche, mich links durch die Bäume zu schlagen, stoße jedoch bald auf eine querliegende Zypresse, die ein unbekannter Sturm gefällt haben muss; also versuche ich mein Glück hinter dem seltsamen Gas- oder Wasserrohr und finde tatsächlich einen kleinen Pfad, neben dem ein kaputter Schlafsack liegt, ein paar Einkaufstüten, Bierflaschen und darüber der beißende Geruch von Urin.
Ich folge dem Pfad – durch Disteln, Sträucher und noch mehr Unterholz; durch tote, dreckige, stinkende Pflanzen; durch Unkraut und Müll – mir graut, ich könnte kotzen.
Eine Dusche wird mich nicht kurieren – eine Tetanusimpfung schon eher. Ich erschaudere. Es ist die Art von Fleckchen Erde, die Mörder als Ablageplätze für ihre Leichen aussuchen.
„Ich geh hier morgens lang mit Saskia das ist mein Hund nicht meine Frau meine Frau heißt Rita die geht nicht gern spazieren“, sagt ein Mann mit Schnurrbart und gelb getönter Hornbrille in die Kamera – er ist sehr nervös und sichtlich nicht daran gewöhnt, nach der Schrift zu sprechen; schon gar nicht in eine Kamera. Neben ihm hechelt ein grau gewordener Dackel; der Mann zeigt ins Gebüsch.
„Da beginnt Saskia plötzlich zu bellen Saskia bellt sonst nie da wundere ich mich gleich da muss etwas nicht stimmen sag ich mir und schau nach den Büschen dort und echt wahr seh ich da eine Hand rausschauen ganz bleich war die und steif wie ein steifer Pokal.“
Die Kamera schwenkt nach besagtem Gebüsch und folgt dem Zeigefinger des Mannes mit dem Schnurrbart und der gelb getönten Hornbrille – natürlich ist da jetzt keine steife, bleiche Hand mehr zu erkennen; auch kein Pokal, sondern nur ein leeres, hässliches, stinkendes Gebüsch – doch die Kamera hält drauf, zoomt sogar noch ein wenig an das ereignislose Gebüsch heran, eine bedrohliche Fanfare setzt ein, unheilschwanger und dramatisch. – „Ich han mir gleich gedacht das muss eine Leiche sein so wie die ausgeschaut hat so tot und leblos das muss ein totes Kindchen gewesen sein.“ Plötzlich verliert das Bild an Qualität, wird das Gebüsch, das vor wenigen Wochen noch den grausigen Fund geborgen hat, blasser und verliert an Farbe – die Kamera zoomt heraus und wir erkennen: das Gebüsch flimmert jetzt nur noch über einen Bildschirm, der wiederum gefilmt wird. Die Musik schwillt weiter an. Ein Sprecher aus dem Off sagt – diesmal sehr versiert, diesmal sehr akkurat und gestochen, ganz im Gegenteil zum Mann mit Bart und gelb getönter Hornbrille, der mehr aussieht, wie sein Hund Saskia als der Hund Saskia selbst: „Der grausige Fund, den Herr K. an diesem feuchtkalten Septembermorgen gemacht hat, gibt der hiesigen Polizei nach wie vor Rätsel auf…“
Man spricht über Mord und Todschlag, über verschwundene Kinder, getötete Prostituierte, LKW-Fahrer, Raststätten, kleine Wäldchen mit verscharrten Körpern – und ich will nur noch weg von hier. Die Gebüsche ringsum starren mich an – unwillkürlich suche ich in jedem von ihnen nach einer steifen, toten Hand, die aussieht wie ein Pokal.
Schneller und schneller werden meine Schritte durch das stinkende Unterholz.
Dabei muss ich an meine Mutter denken. Sie hat solche Fernsehsendungen geliebt – Real Crime heißt das heute –, hat es geliebt, sich zu gruseln, dem Bösen so nah zu sein; und doch so sicher, so vermeintlich sicher, in der eigenen Burg… Immer samstags haben wir uns solche Sendungen zusammen angesehen, als ich klein war. Es gab Salzstangen und Cola und ich durfte etwas länger aufbleiben – eigentlich war ich viel zu klein dafür, aber mit wem hätte sie sie sonst ansehen sollen? Sie hatte ja nur mich. Und ich stand ihr bei, auch wenn das hieß, dass ich mich bis ins Mark gruselte und fürchtete, dass ich mich am liebsten nass gemacht hätte. Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. „Komm Igelchen, gehen wir eine rauchen“, sagte sie dann, wenn einer der Fälle vorbei war und der nächste begann – meistens wieder mit einem Kerl mit Schnurrbart und getönter Hornbrille, der irgendwo im Wald, mit seinem dämlichen Hund, eine Mädchenleiche gefunden hatte… Dann wusste ich, es war auch ihr zu viel geworden und wir flüchteten vom finsteren Schlafzimmer, wo der kleine Fernseher stand, in die dunkle Küche, die zu erhellen meine Mutter ungemütlich fand, sodass ihr Gesicht nur sporadisch erschien, aber dafür wild und abenteuerlich im Aufklimmen der Zigarette, an der sie sog.
Sie fehlt mir jetzt. Sie hätte es hier genauso unheimlich und hässlich gefunden wie ich.
Ich glaube, sie hätte mich wirklich verstanden.
Schneller folge ich dem schmalen Pfad und flüchte vor dem Pissegeruch, der mich von der versauten Schlafstätte hinter dem Gasrohr zu verfolgen scheint. Tiefer und tiefer dringe ich in den kleinen Wald. Ich muss nochmal zum Auto, etwas holen.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Nancy Ehrlich
Das letzte Heim
das letzte Heim
ist flüchtig
neben
gepackten Koffern
läuft es
sich einsam
wenn
die Füße
nicht wissen
wohin
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Dana Schällert
Floh im Ohr
Wer mir den Floh ins Ohr gesetzt hat, weiß ich selbst nicht so genau. Eigentlich vermute ich aber, dass er eigenständig hineingesprungen ist. Vielleicht wars auch ne Injektion. Mein Ohr ist tief und gedreht und verwinkelt, mein Gehör- ein richtiger Irrgang. Keine Ahnung, ob, wer sich darin verirrt, jemals die Chance darauf hätte, den Weg zurück hinaus zu finden. Wenn man sagt, jemand habe einem einen Floh ins Ohr gesetzt, dann meint man damit, dass die Person keinen klaren Gedanken mehr zu fassen imstande sei, weil der Floh ständig auf- und abhüpfe. Das aber ist nicht mein Problem. Ich habe kein Problem. Nur einen Floh. Und dieser scheint vollständig anderer Art zu sein. Kein hyperaktiver Ektoparasit, sondern ein tendenziell endoparasitärer Sinnsucher. So ein Gehörgang, mein Gehörgang, ist tief, ich sagte es schon, zum Verrücktwerden tief, verdreht, dunkel, unwohnlich, lebensfern. Mein Floh scheint hereingeraten aufgrund seiner geringen Größe. Möglicherweise gepaart mit einer unheilvollen Kombination aus Neugierde, unstillbarer Sehnsucht und dem Hang zur Dunkelheit.
Aber ohne den Igel wär es sicher nicht passiert. Und natürlich den Hund. Der Hund hat den Igel aufgestöbert. Es war anrührend, wie er so vorsichtig immer wieder die Pfote ausstreckte und dann, ohne sich an den Stacheln zu verletzen, sie wieder zurücknahm. Der Hund ist ein ängstlicher Geselle. Das Gemenge aus Faszination und Furcht vor dem Wildtier ließ es nicht zu, dass er sich dem Igel wirklich, wirklich näherte, sich entfernen schien ihm aber ebenso unmöglich. In meinem Fall bewog mich nicht die Angst, dem Igel fernzubleiben, ohne mich abzuwenden. Auch wenn ich wusste, dass der Igel sicherlich durch meine Anwesenheit gestört war, und er es vorgezogen hätte, dass ich schnellstmöglich das Weite suche, starrte ich ihn dennoch in einer Mischung aus Rücksichtslosigkeit und Hingezogenheit an. Ich setzte ihn meinem Blick aus und ließ zu, dass seine Nadeln ihn durchbohrten. Wie wusste das Tier so intuitiv, was es zu tun hatte! Wie war es im Einklang mit sich selbst und seiner Welt! Wie lag ihm das Gefühl, sich selbst ein Fremder zu sein, so fern!
Die Folgen meines Zögerns wurden erst einige Tage später offenbar, als ich glaubte, der verzärtelte Hund hätte kleine Käfer mit ins Haus getragen. Der Hund hat langes, weißes und wuschliges Fell, das ich regelmäßig mit speziellem Shampoo pflegen muss. Dass sich Kletten, Stöckchen oder kleinere Insekten darin verirren, ist nichts Außergewöhnliches. Erst die Anzahl der Tierchen und des Hundes beständiges Kratzen ließen mich schließlich stutzig werden, bis die Tierärztin mir bestätigte, was ich inzwischen vermutete: Archaeopsylla erinacei, der Igelfloh, hauptsächlich angepasst an den heimischen Braunbrustigel, dennoch gelegentlich auch bei Haustieren zu finden, die zu intensiven Kontakt mit dem Gartenbewohner gesucht hatten. Der Hund war rasch vom Flohbefall kuriert, auch die ganze Wohnung hatte ich mit der Chemiekeule peinlichst genau gereinigt. Ich glaubte, das Problem gelöst zu haben. Nur den einen, den bin ich nicht losgeworden. Vom Igel auf den Hund. Vom Hund auf den Menschen. Mich.
Floh er vor der Chemie? Vielleicht hat diese ihn auch erst mutieren lassen? Nein, ich bin mir sicher: Es muss ein ganz besondres Exemplar gewesen sein. Vermutlich wohnt dieser Spezies die Suche nach Sinn, das Streben nach Höherem, der Sprung ins Ungewisse einfach inne. Und ich war nicht sein erstes Opfer. Letztlich erscheint es mir folgelogisch, dass der Floh, einst voller Wissensdrang aus einem Ei geschlüpft, sich jetzt auf den Weg in mein Innres befand. Was ist der Mensch? Was unterscheidet ihn vom Igel? Vom Hund? Liegt es in seinem Blut? Ich bin mir sicher, dass der Floh auf direktem Weg in mein Gehirn ist. Er scheut keine Mühen, geht hartnäckig und streng wissenschaftlich vor. Noch während der Entnahme von Blutproben wird er die Hirnströme messen. Vom Igel. Zum Hund. Auf den Menschen. Ich ahne, was dieser babylonische Floh in allem Lebenden sucht. Was ists nur, das das Blut zum Fließen bringt? Wird er mich ausgesaugt haben, bevor er seine Antwort bekommt?
Seit ich den Floh im Ohr habe, kann ich kaum noch ruhig schlafen. Nein, es juckt und kratzt mich nicht, da sind keine Störgeräusche, nur leicht anämisch fühl ich mich, wenn ich tief drin so ein Wispern, so ein Flüstern hör. „Warum?“, fragt es. „Warum?“ „Wohin?“ und „Wohin?“. Ich liege dann wach, da ist kein Krankheitsgefühl. Ich möchte nicht zum Arzt gehen und ihn mir entfernen lassen, den Parasiten, denn ich mag die raue Stimme des Blutsaugers. Ein Floh im Ohr eines Mannes. Ein Mann im Ohr, klein wie ein Floh, mit großen Fragen. Sicher gäbe es einen Spezialisten, der genau das tun könnte: ihn entfernen. Mit guten Antibiotika, Skalpell, Psychopharmaka und Gehirnwäsche kriegt man jede physische und psychische Schrulle in den Griff. Auch Stimmen, die nicht mir gehören. Innere Schmarotzer. Terroristen. Ich aber lieg da und flüster mit: „Warum?“ und „Wohin?“ und „Wohin?“ und „Warum?“. Stell meinen Wecker aus, schieb mit dem nackten Fuß meine Arbeitstasche weit unters Bett, stell mir den Floh vor, wie er da kriecht, in Richtung meines Gehirns, ganz dunkel ist es hier wie dort, sein nackt-borstiger Körper überzogen von meinen Hörsekreten, unbeirrt kämpft er sich voran, kleine Widerhaken schlagen sich in mein Fleisch, „Warum?“, „Wohin?“, spring auf, geh raus in die Nacht, such unter dem dunklen, bewölkten Himmel, der eins ist mit dem schwarzen Grund, such nach dem Ein-, dem Aus-, dem Gehörgang der Welt, so gern würd ich sie durstig aussaugen. In meinem Sprunggelenk spür ich die Kraft, gern würd ich springen, hoch, noch höher, so wie er, irgendwo da oben müsst ich hin. Vielleicht weiß es der Floh, ich bete, er möge noch einmal, nur einmal noch, den Wirt wechseln und dies könnt ne Symbiose sein. Spring!, flüster ich. Dann häng ich mich an deine Beine und komm einfach mit.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Inna Krasnoper
was hast du zu sagen
was hast du dagegen
was macht das sagen
wie ist es mit der macht
was ist dazwischen
wohin mit dem sagen
hast du alles gesagt
was bleibt in der tasche
kann das sagen nicht mehr versteckt sein
wo ist mascha die katze
sie ist irgendwie versteckt
es ist laut daneben – viele haben was zu tun
es kann sein, dass mascha bald neue freunde macht
andere katzen
die gerade einen großen sprung zu vollführen versuchen
wie groß ist das
wie dein ist das
s a g e n
sag mal – n e i n
sag mehrmals
g r o ß
mit dem offenen mund
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at