freiVERS | Sigune Schnabel

Im Meer sind Geschichten weicher als an Land

I Ursprung

In einer Maus werde ich wachsen.
Ich liege in ihrem Schoß
und rieche, wer ich bin:
Wind und Gras oder ein Tag,
der räuberisch verklingt.

Sie glauben, sie kennen mich
aus früheren Zeiten, aus Waldgebieten
und Nächten.
Ich lief durch die engen Schatten
ihrer Rufe, schlief
auf wilden Worten.

Bald werde ich ein neuer
Tag; doch verschwinden soll ich,
wo alte Geschichten
unter Zungen hausen.

Die Steine wissen vielleicht
noch von mir.

II Niemand kennt den Grund

Im Meer drehen sich die Zeiten
in die Tiefe.
Ich rieche den Atem der Steine.

Einst nahm sich der Staat Gewässer
und nannte sie sein Eigen.
Aber sie schwimmen davon
wie ich.

Überleben will ich in Wasserhöhlen.
Immer seltener möchte ich sprechen.

Am schönsten ist das Meer,
wenn es mich hält.

III Die Nacht fällt von der schwarzen Liste

In Laubwäldern heult der Wind
durch Bäume.
Kinder sprechen von Farbmustern.
Ihre Stimmen kann ich dunkel
von der Landschaft unterscheiden.

Das Leben ist schneller als ich,
überquert Flüsse und Gezeiten.

Mein Haus erzählt eine Geschichte.
Ich höre zu
und weiß nicht: Ist sie wahr?
Nie bin ich größer als ihre Worte.
Vielleicht stirbt sie vor mir aus.
Die Gräber kenne ich
und die Stille. In der Nacht
gehören alle Farben mir.

.

Sigune Schnabel

.

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freiVERS | Julo Drescowitz

5,0

Du liegst
neben mir
im Bett
und du
fährst dir
auf diese
Art durch die
Haare
wie du es
immer tust,
und deine Arme
sind wie
Äste
und deine
Hände
würde ich unter
Millionen
erkennen;
und ich spüre die
Hitze und
Nässe
unter unserer
Bettdecke
und wir trinken
dieses
Billigbier
aus Dosen
es heißt:
5,0
und die Dosen
sind eiskalt
mit
Kondenstropfen
am Blech;
und wir trinken
das kalte
Bier
und du
fährst dir
durch die
Haare
und
sagst
die eine
Hälfte
deiner Familie
tränke,
weil sie die
Welt
nicht verstehen
würde,
und die andere
Hälfte
deiner Familie
sei tot
weil sie
sie
irgendwann
von Grund auf
verstanden
hätte;
und dann
schweigen wir
einen Moment,
und es ist
dunkel
in meinem
Zimmer
und kühle
Herbstluft
zieht durchs
Fenster
herein
und ich rieche
unsere
Haut
deine
Haare,
und du
trinkst und
lachst und
sagst
du würdest
einfach
nicht
wissen
wohin
du
gehörst

.

Julo Drescowitz

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freiVERS | Claudia Dvoracek-Iby

momentan

momentan
brauche ich nur
die paar Momente
um auf meine weiße Wand
zu starren

und die Momente davor
um auf dich
um auf dich
um auf dich
im Sonnenlicht
zu schauen

mehr braucht es nicht
um deinen Schatten
um deinen Schatten
um deinen Schatten
auf meine weiße Wand
zu bannen

mehr brauche ich nicht
momentan

.

Claudia Dvoracek-Iby

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freiVERS | Stefanie Adamitz

flugversuche. eine utopie.

in jeder wohnung wackeln blätterschatten
rauschen blätterzucken
zappeln kleine schattenkinder
sprühen chancen, setzen samen
wuchern üppig feuchte zonen
decken sanft mit licht
was noch nicht

in jeder wohnung wohnt ein komposthaufen
nahrhaft prall und weit und breit
gefüllt mit euren sanften blicken
und tiere atmen schlafes wind
der eine trägt. wohin?

in jeder wohnung wächst ein pflanzenkeim
keimt jeden tag ein neues sein
kein reim,
eine braucht nur sein.
sein weichstes und innerstes
ein pelz aus dir

in jeder wohnung traut eine sich jetzt
ICH zu sagen
das ist deine stimme:
ich bin in jeder wohnung
ich bin ein wort, das dir gefällt
das du sagst und dann im hall
schnallst du seine flügel an

aus jeder wohnung starten flugversuche
wachsen schanzen wacklig in den wind
jedes haus ein igel mit gespreizten stacheln
worte schallen, treiben auf
flieg hoch hinaus und
nimm mich mit

ich bin ein wort im zappelnden wind
im blätternen rauschen
bin ich schatten und licht
bin ich keim und kompost
bin ich zappeln und wind

in jeder wohnung wackel ich blätterschatten
rausche zuckend
und zappel kleine schattenkinder
bin der pelz, der um dich liegt
und dein schatten,
vor dem du dich erschreckst
und lachst

.

Stefanie Adamitz

.

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freiVERS | Eline Menke

Warte nicht

bis die Tage wie Türen an
unsere Sprache schlagen.

Im Zugwind fällt mein
Wort ins Schloss.

Du hast die Fenster des
Schweigens geöffnet,

scheuchst Erinnerung wie
einen Dieb aus dem Haus.

Er lässt seine Beute
unter dem Birnbaum

fallen, ich lese sie mit
dem Fallobst auf.

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Eline Menke

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freiVERS | Nasima Razizadeh

Flucht in den Flieder

Es bebt der Baum von
zwei kleinen Körpern,
im Flieder zueinander geflohen,
die Welt in der Schale fällt zu Boden,
liegt reglos nah des Stamms und
oben, hoch oben, huschen
hinauf, hinterher, hinaus,
von Zweig zu Zweig, bis an die äußersten Zweigspitzen,
zwei kleine Körper,
meinen Händen gleich.
Meinen Händen gleich
fürchten sie nicht die Luft,
nicht das Beben,
nicht die Regung,
meinen Händen gleich
reizen sie die Zweige,
rufen sie die Zweige
fort von dem Schalen, den
Schalen des Samens, der den Stamm
nicht hinauf kann, der den Flüchtigen, den
spitzohrigen Obrigkeiten,
nicht zu folgen vermag, der es
nicht aus der Schale schafft,
einhäusig da liegt,
einsilbig das eigene Wachsen darlegt,
dem Verstand gleich
nicht hinaus kommt, nie hinaus.
Zwei kleine Körper raufen,
brechen im Spiel den Friedensfluch des Flieders,
draußen bebt ein Baum,
wie nur ein Baum beben kann

Für R.

.

Nasima Razizadeh

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freiVERS | Avy Gdańsk

Slalom in Tartu

hinter der Sorge
läuft jemand her, weicht
dem Mondrotz aus, der
wie verächtliche Kometen
ausgespien auf den Straßen liegt
jede Nacht spuckt der Mond auf uns Pisser, amigo
unsere Visagen verstecken wir hinter
heruntergelassenen Rollos, während’s
im Treppenhaus klimpert: die Sorge schließt Türen auf
und schmeißt sich aufs Sofa; lass!
lass sie nur bleiben, die geht
schon wieder
eine Nacht mit Blutarmut und Erik
über den Kerzen Gedichte
Wörter brennen aus und wenn
wir einen Blick riskieren ist
manchmal ein Lächeln aus-
zumachen zwischen den runden
Augen der Autos, die leuchten
vor Staunen: sie bewundern die Dunkelheit
und bewahren das fröhliche Schwarz
am Tag in offenen Mündern; erinnern an
deine verspielten Zähne, dein
lückenhaftes Lächeln
wenn die Sorge dich in meine Wohnung führt

.

Avy Gdańsk

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freiVERS | FatimaDjamila

Brandenburg
(Ein weites Feld)

Durchsetzt von Steinen und Saatgut
Rehe am Waldesrand
Ist Furcht die Einzahl von Furchen
Ein Fuchs schleicht über den Sand

Wie Sargdeckel knarren die Bäume
Wohltönend stirbt er
Der Wald
Überall Manufakturen
Und der Ostwind
Weht dieses Jahr kalt

Heimat
Glaziale Serie
Wildverbiss
Zu wenig Geld

Müdigkeit küsst sanft die Sehnsucht

Es ist wohl ein weites Feld

.

FatimaDjamila

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freiVERS | Ferenc Liebig

Artenschutz

als würde man an einem Fenster
hinaus starren und plötzlich ist das
Licht anders und diese Andersartigkeit
anfangs noch ameisenklein wächst an
zu einem Knistern mit Flügeln und wo
waren noch die Sterne oder die Wolken
oder die Zeit denn so im Tüll ist es
wie weggewischt und nur das Licht erinnert
an die Unterschiede zwischen Hell und Dunkel
und nur das Licht weiß von Meer und Land
und nur das Land weiß von Licht und Meer
und nur das Meer weiß von Land und Licht
und man hat Hände in der Luft und berührt
sich durch die Witterung hindurch und durch
die Witterung hindurch ist der schlohweiße Blick
der vom Fenster hinausstarrt mit seinen gebogenen
Wimpern und seinen schneetief verwehten Fragen
ein Fisch der offenmundig am schlammigen Ufer
nur noch hinnehmen kann
und wozu das Ganze
wozu dieser Hinterhalt
der den Vorhang beiseite bewegt
als wären es rückwärtige Gezeiten
man durchlebt noch einmal und nochmal und nochmal
und am Ende ist man in einer Schleife des Erlebens
und das Fenster steht offen und das Licht ist auf der Haut
und die Haut glüht und kurz ist es eine Sehnsucht
bald schon eine Trauer
die man nicht erklären kann

 

Ferenc Liebig

 

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freiVERS | Georg Großmann

Zeitzikade

die Zeit raschelt
geflügelt, wie ein
Insekt
unter der Borke
des Kosmos

ich bilde
Früchte in deinem
Traubengerüst
tropfengroße Beeren
die nach uns schmecken

ich schwimme
zerreiße das
Tuch Wasser-
linsen, welches deine
Weiherhaut bedeckt

gefranste
Salamandersonnen
perlen aus
dem Legestachel

abgetreppte
Dunkelheit, die
Nacht, ein hohes
schmales Haus
mit Erkern, Schindel-
dach und Lampions

wir leben darin

der Tag verglimmt vor
dem geschlossenen Lid
unseres Schlafzimmerfensters

die Zeit zirpt
die Zeit stirbt
wir sterben
unter der Borke des Kosmos

Es ist schon wieder Herbst

Du bist noch immer bei mir
Seit neun Herbsten.

Die Kälte kommt gekrochen

Vielleicht gelingt mir endlich
ein gebührendes
Gedicht über den
Sommer.

.

Georg Großmann

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