freiVERS | Max Rauser
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar
das halbe haupt gehoben
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar
vom stamm die rinde weggeschoben
das licht in fahlen dunst zerstoben
die splitter hoch erhoben
nur was zerbrochen ist, ist sichtbar
das glas geworfen an die wand
nur was nicht nutzbar ist, ist sichtbar
ein siegel auf dem lockren land
ein haken in der flachen hand
ein becher liegt im feinen sand
nur was nicht nutzbar ist, ist sichtbar
im trommelfell ein leichter riss
nur was verwundet ist, ist sichtbar
hinterm ohr ein tiefer biss
im gesicht ein alter schmiss
auf dem thron ein fliegenschiss
nur was verwundet ist, ist sichtbar
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freiVERS | Elke Cremer
transparenz
an der grenze der haut verweilen
im schattenblick rasten haarfeine äste
adern und verzweigungen in pupillen
gespiegelt die rasterfahndung ein iris-scan
glaskörper voller steine
draußen löse ich die fußfesseln
sprinte über digitale friedhöfe
tausche mit der person neben mir
lautlos die hautpigmentierung
lösche den cache
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freiVERS | Martin Peichl
Orpheus in Tschernobyl
/1/
an sonnigen Tagen, bei ausgeschaltetem Licht
sind im Reaktor von oben herabfallende Lichtsäulen zu sehen
der Sarkophag: ein Leichnam, der noch atmet
Menschen, die sich in Kraftwerke verwandelt haben
(als sie sterben, wird das Krankenhaus renoviert)
ihre Körper: zerfallen (ein lauerndes Leuchten in ihren Augen)
/2/
eine Katastrophe der Zeit
ein noch ungedeutetes Zeichen
die Zerstörung des normalen Lebens
was bleibt: eine lebenslange Vorsilbe
unsichtbar, lautlos, ohne Geschmack
Radioaktivität, die sich nach Körpern sehnt
/3/
der kollektive Suizid der Feuerwehrleute
sie betreten eine undurchschaubare Welt
begraben Erde: in der Erde
für ein Leben im bankrotten Raum
Dinge und Landschaften ohne Menschen, Wege ins Nichts
ein Besetztzeichen, das in den Telefonleitungen pocht
/4/
etwas Unsichtbares liegt auf der Erde
und kriecht hinein
hängt in der Luft, in den Straßen
sie sagen: Dunkelheit ist nichts anderes als
die Abwesenheit von Licht
eine Substanz mehr, die wir nicht verstehen
/5/
Menschen, die wie Sandsäcke
auf den Reaktor geschleudert werden
sie waschen die Häuser
sie kämpfen mit Schaufeln gegen das Atom
sie werden sterben: den Tschernobyl-Tod
DAS IST KEINE ÜBUNG
/6/
die Kinder spielen:
nicht EINKAUFEN oder SCHULE,
sie spielen KRANKENHAUS
und wenn die Puppen sterben
werden sie mit einem weißen Tuch bedeckt
(und das Spiel beginnt von vorne)
/7/
Tschernobyl ist eine Mondlandschaft
ein Museum ohne Eintrittskarten
niemand hier braucht Science-Fiction
die Menschen haben sich in Astronauten verwandelt
in wandelnden Staub
ihre Tage sind Mondlandungen (ohne Fernsehübertragung)
/8/
wir haben Angst: vor Schnee,
vor dem Wald, Angst vor den Wolken,
vor dem Wind, vor der Physik,
in die wir verliebt waren
(wenn die Menschen weg sind,
vergeht auch die Zeit anders)
/9/
die Sperrzone als Magnet
wir stehen vor einer Kulisse
wir fotografieren (etwas stimmt nicht mit der Belichtung)
haben die Apokalypse im Sonderangebot gekauft
wir zahlen SARGGELD: eine Entschädigung dafür,
dass wir leben
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freiVERS | Nicola Quaß
Die Gestalt einer Mücke
im Wind. Der Tag fällt
in die Wiese. Wolken zerbrechen
das Licht. Wir streifen durch benachbarte Gärten.
Aus Häusern tritt ein Echo und erschreckt
die glitzernde Stille.
Adler kreisen
ohne Gewicht. Im Schlaf wäre jetzt alles
im richtigen Abstand. Die schwarzen Töne
des Abends, das farblose Wort. Wie Ohren
den Gesang der Tannen schlucken,
und etwas ohne Mühe vergeht.
Später: Stillstand unserer Körper
auf fotografiertem Papier.
Du, mit fremder Stimme
im Gesicht, erstarrt
im untergehenden Licht.
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freiVERS | Mara Wolf
Verhältnisse
Wie verhält es sich nun,
wenn ein Verhältnis darin besteht,
dass das Unterbrochene
unverhältnismäßig
auf unbestimmte Zeit vertagt wird?
Wie soll jemand sich verhalten,
wenn ein unbestimmtes Verhältnis
eintrifft,
vor dem Hintergrund des Untenstehenden,
wenn doch der Zeitpunkt auf unbestimmt lautet?
Jemand ging auf unbestimmt fort
Und säte Granatäpfel im Süden,
Und weil es so gut lief
Gleich Sanddorn im Norden.
Ein anderer streckte sich aus
Seiner bestimmten Größe nach
Und als er aufstand
Erblickte er schwangere Felder.
Und fragte den anderen,
Wie es sich nun verhielte,
Da er von den Früchten aß,
jetzt wolle er noch mehr davon.
Und der zweite meinte unverblümt,
er sei ja nur der Säer und nicht der Händler,
Habe es jetzt mit Glyphosaten aufgenommen
Und hätte selbst bestimmt nicht viel davon zu geben.
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freiVERS | Leontine Köhn
Supermarktenttäuschung
Morgens reflektieren meine lackierten Nägel
{hellblau wie der Himmel}
die Frühsommerstrahlen.
Ich frage mich wann er kommt,
um die Kälte in Dir abzuholen.
{seit ein paar Wochen bist Du so still geworden}
Im Supermarkt,
zwischen den Sonderangeboten,
kann ich kein Weichspülmittel fürs Herz finden.
{meine Tasche wäre zu klein gewesen}
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freiVERS | Armela Madreiter
Sommerbeinkleidung
Strassenbahn.
Neben ihr ein blasser Manneskörper
teigmassig in knapper Sommerbekleidung,
Sommerbeinkleidung,
Die Sommerbeinkleidung ist voller Palmblätter,
die sich zu knapp und verrutscht um das Päckchen
Geschlecht,
um das Päckchen Mannesgeschlecht ranken.
Die Oberschenkel keck breit aufgespreizt,
damit das Päckchen Geschlecht gemächlich gemächtig
abgelegt werden kann am Straßenbahnsitz ,
damit die engbepalmten Teigmassehoden,
damit auch diese wie der restliche westliche Manneskörper
ihre gemütliche Auflagefläche am Sitz finden.
Daneben sie,
ein begehrter fremder Frauenkörper,
sitzt Bein an Bein gepresst,
einen Becher Morgenkaffee in der Hand,
sitzt eng an sich selbst und an den Rand gepresst,
sitzt klein im Kleid,
sitzt ohne Platz auf ihrem Sitzplatz gepresst,
damit sich keine zufällige Berührung mit der Masse Mann
ergeben kann,
damit die massige Manneshand,
die gewohnt ist zu nehmen und schwere Lasten zu tragen,
nicht zufällig etwas nimmt, nicht seine Hand zufällig wie eine kühle Sommerbrise
zufällig auf ihre Schenkel nicht fallen lassen kann.
Aber es hilft nichts:
Die unvermeidbare Manneshand ist schon gelandet,
gehandet auf dem Schenkel
unverhofft kommt oft und er zwinkert
diese Masse Mann muss man mögen, denkt er sich vielleicht
und greift mit der zweiten Hand unvermeidbar an das engbepalmte, eingesackte, angelegte Geschlecht –
Ihr wird schlecht.
Sie zuckt zufälllig und zufällig fällt der Becher,
der Becher mit dem guten, frischen, heißen Morgenkaffe
fällt ihm zu,
direkt aus der Frauenhand auf das abgelegte Päckchen Geschlecht.
Der Mann schreit, schreit weit in die Strassenbahn hinein, weil er ist das Opfer der zufälligen Kaffeverschüttung der Sitznachbarin
Oh weh oh ach.
„Es ist schlecht fürs Geschlecht die Sommerhitze, ist gefährlich, zu viel Hitze sollten niemals nicht auf die zarten Hoden einwirken.
Es tut mir Leid
um den Kaffee.“
Und sie steigt aus dem Mannesgeschrei hervor aus der Strassenbahn hinaus siegreich in den Sommertag hinein.
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freiVERS | Larissa Böttcher
Druckstellen
Es ist aus zwischen Inhalt und Tiefe
auch die verträglichen Sieger
werben für die Kriege der Wachmacher
wie zeitlos überzeugte Minuten ohne Krone
und unterwegs hilft nur der süße Sand
denn im Handumdrehen packt einen die innere Legende
und dieser spektakuläre Abstand zwischen einfach und gut
erwärmt das Gedächtnis ohne Merkzettel
wie ein eingespieltes Schlafproblem
das Spiegel und Bild konfirmiert
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freiVERS | Florian Kranz
spekulationsblase
am anfang warst da du, und
ich war wohl auch irgendwo.
unsere gemeinsamen pläne waren bald schon zerplatzt wie
zu große seifenblasen, die durch die gegend wabern als
schwabblige, triefende luft und
derer es dieser tage ohnehin zu viele gibt.
wenn du unten lagst, half ich dir auf, was trotz einiger
anstrengung auf dem glitschigen
boden nicht immer so ganz gelang und man
muss ja auch aufpassen: ich hätte mich fast verhoben.
dann habe ich die fischstäbchen in den kühlschrank gelegt,
die ringelblumen noch einmal gegossen,
meine schuhe angezogen,
den seifenblasenring fachgerecht entsorgt und dann
warst da du. doch wo war
ich?
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freiVERS | Werner Weimar-Mazuhr
teheran
für Granaz Moussavi
eine wegwarte legten sie mir in den mund
die sich verlief
im schatten des waldes
fragte sie einen ziehenden wolf nach dem weg
über den glucksenden fluss sprang das tier mit mir
als sie mich fanden
später
im niemandsland
wunderte sich niemand über das büschel haare unter dem fingernagel
und den fetzen fell in der hand
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