freiTEXT | Katrin Theiner - Teil 2

Landschaft zum Verschwundensein (Auszug 2)

Dies ist Teil 2 - für Teil 1 aus der Vorwoche hier entlang.

Ich hatte es dunkel gelassen. Laute Schritte im Flur. Die schrille Stimme der Tante, die Hinweise abfeuerte: Seit elf Stunden, Sportschau, Herztabletten, Waffe weg, Vorstandstreffen. Männerstimmen um sie herum. Hundegebell. Arminius winselte. Sie gingen ums Haus, durch den Garten, über die Beete. Sie gingen weiter über die Felder zum Waldrand. Ihre Taschenlampen warfen weiße Lichtschleifen zwischen die Bäume. Ich zog die Gardinen zu, machte die Nachttischlampe an, operierte meinen Finger mit Nadeln. Ein Holzsplitter tief unter meinem Nagel. Später Polizei. Die Tante weinte, suchte Fotos von dem Herrn Onkel, den eh jeder kannte. Es klopfte. „Jan-Carl? Die Herren wollen dich sprechen.“ Hatte nix gesehen. Keine Ahnung. War nicht da. In der Schule. Hatte Musik an. In der Nacht sah ich meine Eltern im Traum. Wir saßen auf einer Decke im Freibad. Meine Mutter im Bikini, in einem anderen Bikini als die anderen Mütter. Mein Vater mit Lederjacke und Sonnenbrille, ein Bier in der Hand. Ich war nackt, ein hellblauer Schwimmring um die Hüften. Weißes Eis floss über meinen Bauch. Ich hatte schon früh verstanden, dass wir anders waren. Nicht schlechter, anders. Meine Eltern sahen anders aus, ich sah anders aus, hieß anders. Ich mochte das, mochte nicht die dicken Mütter deranderen Kinder, mochte die Rippen meiner Mutter, die langen Finger, die bunten Nägel, die mir Pommes in den Mund steckten, nachdem sie sie kalt gepustet hatte. Mein Vater setzte mich auf seinen Schoss. Mein Po klebte an seinem Bein. Überall Eis. Ich hab’s getan, Papa. Ich hab’s getan. Er strich mir über den Kopf. Is’ gut Junge. Ich muss nach Weiterstadt. Iss dein Eis.

„Komm runter. Ich kann das nicht sehen“, sagte ich zu Olga, streckte meine Hand zu ihr und griff mit der anderen ihren weißen Stiefel. „Hast Schiss, dass ich falle?“, lachte sie, lehnte sich weiter über die Brüstung des Hochstuhls und schaute mich auffordernd an. „Mann, krieg dich ein“, sagte sie. Sie kletterte runter zu mir, biss mir ins Ohr und inhalierte meinen Rauch. „Und? Wo liegt er?“ „Irgendwo dahinten“, sagte ich und schnippste Glut ins schwarze Dickicht. „Kann man jetzt nicht sehen. Zu dunkel.“ „Wie war das, den Alten zu killen? Geil, oder?“ „Will ich nicht drüber reden.“ “Komm. War geil, oder?“ „Ja, geil. War geil. Du bist geil. Lass uns zu dir gehen.“ „Geht nicht. Mein Alter...“

Der Herr Onkel hatte mir zum sechsten Geburtstag ein Sprengnetz geschenkt. „Ich nehm dich mit zum Frettieren“, sagte er, hielt mir die Maschen, in die ich mir einen Fußball gewünscht hätte, vor die Nase und lachte hustend. „Da wird uns das Ungeziefer nicht entkommen, Carl.“ Ich hatte mich im Dickicht verschanzt, traute mich nicht, die Ohren zuzuhalten. Wie hätte das ausgesehen? Ein Jägerkind, dem das Krepieren der Hasen zu viel war. Ich versuchte, mein Trommelfell zu ewegen, Druck zu verlagern, die Ohren innerlich zu verschließen, schaute knapp an meinem Onkel vorbei, wie er vor dem Bau lungerte und durch die Netzmaschen die zappelnden Tiere an den Ohren hielt. Zuhause war der Geburtstagstisch gedeckt. Folie lag über der Spanplatte in der Garage. Handschuhe und Messer, Skalpelle in Bechern, Flaschen mit Säuren. Der fleischige Hasenkörper umgekrempelt, wie eine alte Socke. Die Pfoten steckten noch im Fell. Die seien noch nichts für mich. Unter dem Tisch der Eimer. Der Eimer für die Innereien, an denen ich mich würde bedienen dürfen. Ich wollte verschwinden, aufgelöst sein. Ich wollte, dass er meinen richtigen Namen sagte. Ich wollte weinen, weg sein, wollte kotzen, die Unterhose gegen eine trockene tauschen, schreien. Versager. Wenigstens töten müsstest du doch können.

Sie kam mit zwei Freundinnen, küsste mich nicht, blieb außerhalb meiner Jacke, die Arme verschränkt mit forderndem Blick.
„Sag’s ihnen, J.C.! Sag ihnen, dass du den alten Wedekind umgelegt hast.“
„Hab ich.“
„Hast du nicht. Mein Alter und die anderen Bullen haben heute Morgen seine Leiche aus dem Wald gezogen. Kopfschuss.“
„Ja, war ich.“
„RAF oder was? Man Olga, der hat dich voll verarscht.“
Die Ellenbogen verschränkt gingen sie lachend weg, schauten sich nicht mehr um.

Halali, der Herr Onkel ist tot. Männer im Haus. Stiefelschritte. Stimmen. Suizid. Gewehrträger stehen Spalier. Dazwischen der helle Sarg aus Fichte. Das Jagdhorn wird geblasen. Es wird salutiert. Die Tante dahinter, wirft Sand, eine Rose. Und ich, ein Freigänger, weil der Wächter tot war. Er und ich, nicht länger verschwunden.

Katrin Theiner

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freiTEXT | Katrin Theiner - Teil 1

Landschaft zum Verschwundensein (Auszug 1)

Der Herr Onkel war tot. Den Mund voll brauner Fichtennadeln, den Bart auch, als hätte er einen zu großen Löffel Suppe in sich hineingeschaufelt, bei dem die Nudeln zwischen seinen Lippen wieder rauskamen. Oder als hätte er vor Hunger seine eigenen Bäume gefressen und war an Rinde, Harz und Zapfen erstickt. Die Tannenschonung hatte angefangen ihn zu beerdigen, warf Sand auf seinen muffigen Kompostsarg aus Ästen und Laub, aber bevor der Wald den Grabstein setzen konnte, den letzten Spruch aufgesagt hatte, und der Herr Onkel hätte es verabscheut, das Gefasel um Himmel, usw. usf., hätte geschrien, mit Gott und so hätten nur Arschkriecher was am Hut, und bevor die Bäume hinter der Lichtung an der Grabstätte für immer für Ruhe sorgen konnten, hatte ein Waldarbeiter seine Leiche in moosgrünen Gummistiefeln im Unterholz entdeckt.

Seit er verschwunden war, mit Hut, Stiefeln, Flinte und Korn, hatten mich die hellbraunen Erdklumpen seiner fehlenden Schuhsohlen angeglotzt. Wenn ich abends lautlos reinschlich, den Schlüssel an den Nagel in der Diele hing, stierten sie von der Fußmatte zu mir, als wollten sich mich warnen. Als wären sie dabei gewesen. Aus den Kopfhörern unter meinem Hoodie kam ihr und mein Lied. Dabei ein Schauer wie kriechende Tiere auf meinem Rücken. Sonst hörte ich nichts, kaute schnell den Rauch unter das Kaugummi und blickte auf seinen Dreck am Boden. Als wollte mir der Herr Onkel jetzt noch zeigen, was er von mir hielt. Als wollte er mich daran erinnern, nicht in Freudentränen auszubrechen, die ich unter meiner Kapuze hätte verstecken können oder als Trauertränen würde tarnen müssen. Halt dich zurück, bis man mich gefunden hat, elender Flegel, Sohn eines Verbrechers, und vergiss heute mal, dass du immer alles vorher weißt, sagte mir der pulverige Dreck seiner Füße und zerstaubte in der Rille zwischen Matte und Tür.

Die Tante, nur Tante, ohne Frau davor, trug brav ihre Schürze und kochte weiter die drei Portionen. Sie wollte angerichtet haben, wenn der Herr Onkel nach Hause kam. Eine Portion für sich, die sie nicht anrührte, eine Portion für mich, eine Portion für den Herrn Onkel. Steckrübeneintopf, Hühnerfrikassee, Grünkohl mit Mettendchen, Rouladen, die Arminius aus Mitleid, weil die Tante in seinem Winseln Trauer vermutete, mit Senf und Gurken fressen durfte. Nein, nein, wenn das der Herr Onkel wüsste. Mit erhobenem Haupt streute die Tante Sand auf die Platten vor dem Haus; er hätte es so gewollt, hätte gewollt, dass sie blieb, wer sie war, Haltung bewahrte, Contenance, Contenance, mit gespanntem Haar über den Ohren und straffer Knotenkontur am Hinterkopf, dass sie die Nachbarn über den Zaun grüßte, sich nichts anmerken ließ und man ihren festen Schritt weiter auf dem Gehsteig zur Bushaltestelle hörte.
„Hast’n aufgeknüpft, oder was? Du Freshmaker.“
„Fresse man.“
„Haste, ne? Hast ihm schön das Fell über die Ohren gezogen. Schön mit Messer und Gabel seine fette Wampe zerteilt.“
„Mann Ivo, halt’s Maul. Siehst doch, dass Terror traurig ist. Jetzt, wo der Alte weg ist.“
„...und Olga ihn nicht ranlässt.“
„Mann, fickt euch. Nennt mich nicht so, man. Und kein Wort über Olga. Verpisst euch doch.“
„Mann J.C., Mach dich mal locker, war nicht so gemeint. Warn Witz. Komm. Stunde fängt an.“

Eiszapfen fingen an, die Fenster zu vergittern. Frostiges Unkraut wucherte über die Glasscheiben, verkleinerte den Blick zum Waldrand. Die Tante lief umher durch den toten Waldzoo, den der Herr Onkel im Haus aufgebaut hatte, drehte ihr angelaufenes Eheschmuckstück um die zu groß gewordene Haut ihres Ringfingers, als vermute sie darin einen Kompass, der sie geradewegs zu der letzten Ruhestätte ihres Mannes führen würde und mit der letzten Ruhestätte meinte sie nicht sein Grab. Sie meinte vielmehr einen hölzernen Waldverschlag oder einen Hochstuhl, in dem sie den Herrn Onkel selbst nach Einbruch des Winters und drei Wochen nach seinem Verschwinden sturzbesoffen vermutete. Ihr Gesicht sah gewachst aus, gelblich und blass und traurig, ohne Tränen. Die gab’s nicht. Sie registrierte nicht den Geruch von Rauch in meinen Sachen, mied mein Zimmer, lief unsichtbar durch die unbeheizten Räume, eins geworden mit dem Gedanken, fern der Blicke und wenigstens in ihren eigenen vier Wänden, nicht mehr sein zu müssen als eine aufrechte, absterbende Hülle. Der grüne Wollpullover des Herrn Onkel, den er vor seinem Verschwinden in der Küche abgeworfen hatte, umschlang die Rückenlehne an seinem Platz, zeigte Haltung, die Haltung eines Jägers im Ruhestand, er hielt seinen Rücken gerade, den Rücken eines Kriegsveteranen, eines Waidmanns, eines Präparators, eines Vorstandsvorsitzenden, eines Frühschoppers, eines Schützenkönigs, eines ehrenwerten Bürgers, der sich nie hat unterkriegen lassen, selbst als der eigene Sohn, dieses Pack von einem Mörder, ihm die eigene Brut hinterließ und das Ansehen der Familie beschmutzt hatte. Spuckefarbene Hirschhornknöpfe blitzten mich an. Ich wusste, der Pullover von dem Herrn Onkel würde lange dort hängen bleiben, wie eine Fahne auf Halbmast, die niemand hinablassen würde.

Das Essen der Tante verschlang ich im Akkord. Bloß nicht länger bei ihr sitzen, bloß keinen Verdacht auf mich lenken. Der Blick auf das unberührte Set mit dem Bauernkalender auf dem leeren Platz von dem Herrn Onkel, ließ mich zum ersten Mal denken, ob es in all dem Scheiß nicht vielleicht doch sowas wie einen Gott geben könnte. Denn wie sonst könnte es denn sein, dass ausgerechnet mir so ein Glück, so ein unvorstellbares Glück an Gerechtigkeit passieren konnte, das der Herr Onkel weg war, verreckt war. Er war nicht mehr die gelbgrauen Zahnkronen, die zuerst die Haut der triefenden Fleischkeulen abschälten, um sich dann fest im unteren Gänsegewebe zu verbeißen und es in einzelnen Fasern zerteilt laut schluckend mit Bier hinunterzuspülen. Er war nicht mehr die Tageszeitung, die auf Arminius’ gekrümmtes Hinterteil hinabdonnerte, wenn er versuchte, Krümel unter dem Esstisch aufzulecken. Er war nicht mehr der Schweiß der Tante, wenn sie seinen fetten Arm um ihren Hals schwang, ihn fest im Gürtel unter die Hüfte griff und gegen ihr neues Gelenk gepresst die Treppe hoch ins Schlafzimmer zog. Er war nicht mehr das Lallen, das er wieder und wieder zwischen meine Tapeten warf, meine Mutter sei eine dreckige Nutte gewesen, die einen elenden Terroristen wie meinen Vater nur verdient hätte, und ich, nach einem Dickicht suchend, in das ich mich hätte verkriechen können, wäre längst verreckt, wäre er nicht gewesen, der Herr Onkel. Er war auch nicht mehr im Schuppen zwischen Fell und Holzwolle, Nadeln, Kleber, Fäden und den Messern, mit denen er die Kadaver der frischtoten Tiere aufschälte, sie abbalgte und ausnahm, bis alle Organreste ausgekratzt waren. Er konservierte auch nicht mehr, wirkte nicht mehr dem Fettfraß entgegen, polsterte kein Hautgewebe mehr mit Füllstoff auf und gestaltete keine putzigen Nagetierkörper mehr, in dem er ihre zerteilten Gliedmaßen neu zusammensetzte und sie mit Draht fixierte. Das alles hatte er nun selber nötig. Er war auch nicht mehr das Staubtuch, das die Geweihe putzte, die endlos aufgereihten Totenschädel an der Holzvertäfelung, in der der Bock leise klopft. Ich stellte mir seinen aufgetriebenen Kopf vor, wie er zwischen seinen Trophäen auf einem Holzbrett von der Wand hinabschaut. Hutlos. Das rote Bluthochdruckgesicht mit Schaumstoff ausgestopft, seinen tabakgelbe Schnäuzer, ja den, einfach abrasiert, das schüttere Haar, das früher fuchsrot war, ungekämmt, pomadenlos. Ohne Form. Formlos. Die Tante hatte geschwärmt von ihm, dem Herrn Onkel, hatte gesagt, das Jägergrün und sein rotes Haar, da habe sie nicht wiederstehen können, als sie noch jung war. Meine Trophäe. Er war jetzt meine Trophäe.

Wir waren zu einer Jacke geworden. Zu einem vierarmigen Daunenknäul, in dessen Ärmeln ich ihre zarten Finger hielt. Wir waren ein dickes Winterding an der Schule. Sie und ich. Die große Sensation. Wir waren zu einer Zigarette, zu einem Kaugummi geworden. Zu einem minzigen Stück Gummi, das sie mit ihren spitzen Fingern zwischen meinen Schneidezähnen hervorzog, eine Hälfte abriss, in ihren Mund steckte und die Arme wieder zwischen meinen verschwinden ließ. Ich an Graffiti gelehnt, sie davor, an mir dran, den Reißverschluss meiner Jacke auf ihrem Rücken. In meiner Nase ihr süßes Parfum mit Lolligeruch, ihr Haar an meinem Kinn. Meine neue Welt, mein Versteck, mein  Verschwundensein, ein anderes Verschwinden, meine Luft voll von ihr, von ihrem Geruch, den ich auftrinken wollte.
„Was is jetzt?“, saugte Olga gegen mein Hals. Ein Kopfhörer in ihrem, der andere in meinem Ohr. Unser Lied. Wir froren.
„Womit?“
„Deinem Onkel?“
„Nix.“
„Ist er tot?“
„Klar man. Klar ist er tot.“
Ihr Blick zwischen einem dunkel geschminkten Wimpernkreis. Sie küsste mein Kinn, meinen Hals, küsste sich rauf zu meinem Mund, schob ihre Hüfte nah an meine, öffnete mit ihrer Zungenspitze meinen Mund, schmeckte nach Lip Gloss, ihr Kaugummi suchte meins, ich bekam beide Hälften, kaute weiter.
„Woher willst du das wissen? Is doch keine Leiche da.“
„Klar is die Leiche da. Im Wald. Irgendwo. Ich weiß wo.“
„Glaub ich nicht.“
„Glaubst was nicht?“
„Dass du weißt, wo der liegt.“
„Klar weiß ich. Ich war da. War dabei. Zeig ich dir.“
„Wie, dabei?“
„Hab ihn umgelegt.“
„Haste nicht.“
„Hab ich.“
„Will ich sehen.“

Das ist der erste Teil - Wer Teil zwei des Textes sehen will, muss sich auf kommende Woche gedulden.

Katrin Theiner

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freiTEXT | André Patten

freiTEXT_Illus7-5

no results

das übliche Adrenalin
bei acht neuen E-Mails
doch wieder fehlt
das passende RE

in allen Netzwerken präsent
warte ich
wie ein schläfriges Smiley

André Patten

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freiTEXT | Kerstin Fischer

freiTEXT_Illus7-6

Todesblume

Die Todesblume kennt den toten Leib,
zeichnet weiße Linien in seinen stillen Ernst.
Auf das Bett ist die Hoffnung geträufelt.
Die Augen sind noch geöffnet.
Niemand wagt sie zu schließen,
bei all dem, was sie gesehen haben –
und Blut ist an den Füßen.
Durch Scherben sind sie gelaufen
in den gläsernen Abrissbauten der Kindheit.
Und blass sind die Finger,
der Lebenssaft zurückgezogen.
Der Geist indes sitzt wachsam daneben.
Er ist ansprechbar für jedermann,
der ihm zuhört
und kreuzt die Lilie über den weißen Händen.

Kerstin Fischer

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freiTEXT | Lütfiye Güzel

freiTEXT_Illus7-7
hatte so großes vor
bis mir auffiel
dass es so großes gar nicht gibt
& es ist mir gleich
die wäsche in den waschsalon
zu schleppen
& 54 minuten kreise zu drehen
& wenn es dann
dampft & stockt
bleibe ich sitzen
& warte was passiert
& es endet dann damit
wie so oft
dass nichts passiert
 -
Lütfiye Güzel
-

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freiTEXT | Philipp Böhm

freiTEXT_Illus6-9

Ruhende Kräfte

Bald, ja bald werde ich ein Flieger sein. Ein Junge braucht seine Ziele und Wünsche. An den Rändern unseres Gartens, wo die Verkrautung der Grundstücksgrenzen bereits weit fortgeschritten ist, proben wir für den Ernstfall und freuen uns bereits auf den nächsten Krieg. Mein Großvater sagte immer, die Zeichen seien damals klar gewesen. So sind sie auch jetzt, wir sind uns da sicher. Also liegen wir im Gras, wenn wir nicht gerade den Absprung üben, und blicken in den ungetrübten Himmel in der Hoffnung auf baldigen Bombenabwurf. Stets versichern wir uns aufs Neue, es könne sich nur noch um Tage, schlimmstenfalls Wochen handeln, ehe sie fallen. Doch der Sommer vergeht mit Hoffen und mit ihm unsere Euphorie. Für den Herbst wünschen wir uns keinen Krieg herbei. Nein, es muss der Sommer sein. So begrüßen wir die ersten fallenden Blätter mit Schweigen im Wissen um ein verlorenes Jahr.

Philipp Böhm

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freiTEXT | Jonis Hartmann

freiTEXT_Illus6-12

Zangenabdruck am Ticket, Zahnabdruck am Hals

W. aus B. prüft die Fahrkarten im Zug. Heute Nacht hat ihn jemand geprüft. Man kann es sehen, wenn er sich über sein elektronisches Multitool mit Schulterriemen beugt. Bald wird er Nachtschichten fliegen, der W. aus B.

Jonis Hartmann

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freiTEXT | Lina Mairinger

freiTEXT_Illus6-10

Ich bin die Sprache los

Ich habe meine Sprache verloren. All meine Worte, welche ich für normal pausenlos aus meiner Lunge quetsche, sind abgehauen, ohne Abschiedsworte, ohne große Reden. Es war ein sprachliches Ende, das ich eigentlich hätte vorhersehen können, denn nach wochenlangen algebraischen Rätseln, war annehmbar, dass meine sprachlich fähigere linke Gehirnhälfte, die nicht in Worte fassen konnte was ich an Zahlen zu verstehen versuchte und was ich bei den Zahlen überhaupt suchte, kapitulieren und sich aus dem Staub machen würde. Aber es ist gut, somit habe ich nämlich mehr Zeit dafür, ohne vorher lange Reden zu halten, auszurechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass meine linke Gehirnhälfte nach Argentinien geflüchtet war und nun ein als, verschwiegen bekanntes Opossum, erfreut. Dieses Opossum begeistert womöglich nun mit meiner sprachlichen Gehirnhälfte, zahlreiche vor Erstaunen sprachlose Opossums, mit verwirrten Reden und konjugiert die Möglichkeitsformen von possum.

Vielleicht gründet das Opossum eine neue sprachliche Gattung. Nicht umsonst berichteten schon früh in der Antike Op-mer, Op-vid und Op-laton von dem kommenden Staatssystem der Op-olitiker, angeführt von Op-ama. Die Opossums wären auch bald viel beliebter als alle Menschen, denn während diese sich mit mathematischen Formeln definieren, gewinnen die Opossums mit wörtlichem argumentieren. Sie würden die Sprache revolutionieren, denn die tote Sprache Latein, würde neu fungieren. Mit O-possum als moderne Möglichleiten etwas zu können.

Menschliche Forscher ziehen sich wortlos in die Statistiken über Sterberaten von „an Worten erstickten Opossums „ zurück und hätten somit ein Hobby für ihre restliche Existenz. Inzwischen habe ich mich vermutlich einhirnig und verkrüppelt zurückgezogen. Denn der bessere, schwerere Teil meines Gehirns fehlte ja nun und ich gehe ich ja stets schief. Mit meinen neu erworbenen mathematischen Kenntnissen, kalkuliere ich vermutlich meinen beruflichen Erfolg als Bestattungsunternehmer für Opossums, denn das spannende, waren die vielen Scheintoten Opposums, die sich die Möglichkeiten des O-possum seins zunutze machen und ihren Tod vortäuschen um an ihr O-Pension ranzukommen.

Eines Tages wenn ich dann gerade kritisch ein scheintotes Opposum untersuchen würde, sehe ich vielleicht ein Opa-ossum, das die Straße entlang an mir vorbeispaziert, mich erkennt, mir und den vielen Mathematiknachprüfungen dankt, die ihnen das Wort in den Mund legten und sich dann unsicher wegen meiner bedeutungsschweren Existenz tot oder ‚nichttot‘ umfallen würde. Schweigend würde ich mich dann für mein restliches Leben wie Prometheus fühlen können, wenn nicht sogar besser, denn was ist schon das Leben verglichen mit der Sprache.

Ja, so wäre es wohl, wenn meine linke Gehirnhälfte nicht, nach langen mathematischen Foltermethoden, abgehauen und Ich nun für immer sprachlos wäre.

Lina Mairinger

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freiTEXT | Satie Gaia

freiTEXT_Illus6-11

Sandmensch

Sie bröckelt wie Sand auseinander, wenn niemand da ist, der sie hält,
sie rinnt aus, wie Wasser aus einem zersplitterten Glas,
Vom In-die-Höhe-Schießen
kam ihr der Boden unter den Füßen abhanden.
Jetzt schwebt sie irgendwo über allen Menschen,
doch auch nur der geringste Windhauch
vermag sie herumzuschleudern,
wie ein Orkan eine Papierblume.

Satie Gaia

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freiTEXT | Marie Gamillscheg

freiTEXT_Illus6-8

Julian (Auszug)

Als der Bus nicht kam, ging Julian das kurze Wegstück den Berg hinauf zu Fuß. Der Boden war eisig und Julian rutschte in seinen glatten Lederschuhen immer wieder ein wenig ab. Wenn es in den nächsten Tagen weiterschneite, würde er festere Stiefel für den Weg nehmen und seine schönen Lederschuhe erst in der Schule anziehen, beschloss er. Als er die Tür aufschloss, rief er ein „Hallo“ in das leere Haus. Es roch nach Nivea-Creme und Staub. Erst als er durch das Wohnzimmer ging und die Tür zur Küche öffnete, hörte er, wie Pfannen und Töpfe geräumt wurden und Metall und Glas aufeinander klangen.

„Hallo.“ Julian holte sich ein Glas aus der Kommode, das seine Mitbewohnerin wohl gerade eingeräumt hatte. Die gelblichen Kästen und Ablagen der Küche waren schmierig. Julian hatte einmal versucht sie zu putzen, doch es hatte nicht geholfen. Als ob die ölige Schicht nicht mehr zu durchbrechen war.

„Ah, Julian.“ Seine Großmutter stand in der Speisekammer. Julian glaubte, dass sie oft aus Langweile einfach Lebensmittel und Küchengeräte von einem Ort an den anderen räumte. So lange sie nicht seine Kaffeemaschine anfasste, war ihm das egal. Sie trug heute einen dunkelblauen, langen Rock und eine grüne Wollweste über der weißen Bluse, die sie oft anhatte, wenn sie nicht außer Haus ging. Ihre dicken Füße steckten in schwarzen, festen Hauspantoffel, die klackerten, wenn sie über den Laminatboden in der Küche ging. Sie beobachtete Julian, wie er den Kochtopf mit Wasser auf die Herdplatte stellte, die Hitze auf die höchste Stufe drehte und Zwiebel und Knoblauch schnitt. Julian hasste das. Er war zu seiner Großmutter gezogen, weil er seine Wohnung nicht mit fremden Menschen teilen wollte und um allein zu sein, wenn er es wollte.

„Gehst du heute noch außer Haus?“ Er hatte auf diese Frage gewartet. Sie konnte nicht schlafen, wenn sie allein im Haus war. Er antwortete nicht und holte Tomaten aus dem Kühlschrank, die er langsam in kleine Stücke schnitt, den Saft ließ er vom Schneidbrett auf den Boden tropfen. Er wusste, dass es sie quälte, wenn er nichts sagte, aber vielleicht würde sie es sich dann abgewöhnen. Als Julian sich die dampfenden Nudeln aus dem Sieb auf einen Teller kippte und sich ins Esszimmer setzte, blieb sie in der Küche. Er hörte bald, wie Gläser aneinander stießen und er wusste, dass sie wieder Gläserstapel auseinander nahm um sie neu anzuordnen oder vielleicht um die kleineren auf die größeren zu setzen oder um einige davon erneut abzuwaschen.

Nachdem Julian sich geduscht und umgezogen hatte, zog er sich seine Stiefel an und nahm leise seinen Mantel von der Garderobe. Erst als er laut die Tür zuwarf, würde seine Großmutter merken, dass er gegangen war. Er lächelte noch immer, als er in den Bus stieg und sich die verzweifelten kleinen Schritte seiner Großmutter von der Küche in ihr Schlafzimmer vorstellte. Vielleicht würde sie seine Mutter anrufen und sich beschweren. Die Fensterscheiben im Bus waren beschlagen, trotzdem sah Julian nach draußen. Es schneite schon wieder. Wenn er nicht wiederkommen würde, würde sie einfach zwischen ihren Pfannen und Töpfen verrecken, dachte er. Er stellte sich vor, wie sie am Boden lag, um sie herum Gläser, Tassen und Teller, teilweise zerbrochen. Er würde sich hinknien und ihr die Augen schließen, wie er es aus den Filmen kannte, und ihre Haut wäre von einem Ölfilm belegt, wie ihre Pfannen.

Der Gedanke mit den Kindern kam ihm erst, als er die Schule betrat. Die Lehrerin, die eine prall gefüllte, abgegriffene Ledermappe unter dem Arm trug, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Schön, dass auch heute noch junge, engagierte Männer in den Lehrberuf streben.“ Julian nickte und folgte ihr in die Klasse, zwanzig Kinder starrten ihn an. Er stellte sich kurz vor und sagte, dass er in der letzten Reihe sitzen würde, um den Unterricht zu beobachten. „Hospitanz, Pflichtseminar von der Uni“, fügte er hinzu. Er faltete seine Hände vor seinem Körper, er hätte auch gern eine Ledermappe in der Hand. Den Schülern war keine Reaktion anzusehen, sie hingen in ihren Stühlen und auf den Tischen, als ob die Pubertät ihnen zu viel Kraft rauben würde. Die Mädchen wussten, wie sie ihre jungen Körper, die sich gerade zu formen beginnen, am besten in enge T-Shirts zwängten und deren Ausschnitt so ausdehnten, dass der erste BH darunter zu sehen war. Die Jungs wirkten daneben jung, in ihren zu großen Pullovern, in die sie noch hineinwachsen mussten. Julian war erschöpft, als er sich hinten in die letzte Reihe setzte. Er war froh, dass er nicht selbst unterrichten musste. Von hinten waren es weniger Augen und weniger Aufmerksamkeit, Julian entspannte sich wieder. Die Lehrerin referierte über den Präpositionsgebrauch im Englischen, doch Julian konnte sich nicht konzentrieren. Er beobachtete, wie vor dem Fenster die kargen Bäume im Schneewind zitterten und drinnen, obwohl es vorgab eine andere Welt zu sein, in den Tischreihen die Mädchen sich scheinbar im selben Takt bewegten, wie sie ihre schmalen Rücken in die Höhe streckten oder sich gen die Tische beugten.

Der Rauch verflüchtigte sich schnell im hohen Raum, als ob er sich vor der Großmutter einen Stock darunter verstecken müsste. Julian machte seine Lippen schmal und versuchte Ringe auszustoßen, aber auch diese behielten nur kurz ihre Form. Der Raum war hell und trocken vom Morgenlicht. Julian fühlte sich ein bisschen wie die blonde, schöne Frau in weißer Unterwäsche in diesem Schwarz-Weiß-Film, die sich im Bett räkelte und rauchte. Vielleicht war es Brigitte Bardot, Julian wusste es nicht. Selten hatte er etwas ähnlich Ästhetisches gesehen wie diese Frau. Als er den Film vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er mehrmals wieder zurückgespult, um sie wieder zu sehen; wie sie sich im Bett zur Seite drehte, sich aufrichtete und wieder zurück fallen ließ, wie sie sprach, dunkel, rauchig säuselte sie ihre Worte, das Bett groß, weiß, um sich darin zu verlieren – mit ihr. Vielleicht hatte er wegen ihr zu rauchen begonnen, überlegte er sich, und nicht nur, um sein Spießertum zu verstecken. Er griff unter der Decke neben sich und fasste auf einen nackten, behaarten Oberschenkel. Sebastian schlief immer so lang. Seine Großmutter würde bemerken, wenn er das Haus verließ und Julian müsste wieder sagen, dass er auf der Couch übernachtet hatte, weil er zu viel getrunken hätte, um noch Auto zu fahren. Julian drückte die Zigarette im Aschenbecher am Nachtisch aus und stieg vorsichtig aus dem Bett. Er öffnete die großen Flügeltüren, auch hier weiße Vorhänge, und trat nach draußen auf den Balkon. Er blickte über die Terrasse bis zur Innenstadt, wo sich die roten Dächer aneinanderdrängten, obwohl es rundherum noch genug Platz gäbe. Julian wollte schon immer auf einer Anhöhe wohnen; er hatte die Ebene der Vorstadt satt.

Es hatte geschneit über Nacht. Die zwei hohen Fichten trugen so schwer, dass sich die Äste zu Boden neigten, die Naturgeräusche klangen gedämpft, wie eingehüllt vom Schnee. Seine Großmutter würde ihm sofort sagen, dass er den Schnee aus der Einfahrt räumen müsste, wenn sie ihn sah. Julian trat wieder nach drinnen. Unter der Decke war es warm, Julian drängte seine kalten Beine gegen Sebastians. Langsam öffnete er seine Augen und gähnte, er rieb sich die von der Nacht zugequollenen Augen, um sie wieder in ihre natürliche Form zurückzudrängen. Er schmeckte nach ungeputzten Zähnen, als er Julian küsste. „Guten Morgen“, sagte Julian. „gut geschlafen?“

Sebastian nickte und drückte sich noch tiefer in den weißen Polster.

„Wann hast du Uni heute?“

Marie Gamillscheg

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