Landschaft zum Verschwundensein (Auszug 1)

Der Herr Onkel war tot. Den Mund voll brauner Fichtennadeln, den Bart auch, als hätte er einen zu großen Löffel Suppe in sich hineingeschaufelt, bei dem die Nudeln zwischen seinen Lippen wieder rauskamen. Oder als hätte er vor Hunger seine eigenen Bäume gefressen und war an Rinde, Harz und Zapfen erstickt. Die Tannenschonung hatte angefangen ihn zu beerdigen, warf Sand auf seinen muffigen Kompostsarg aus Ästen und Laub, aber bevor der Wald den Grabstein setzen konnte, den letzten Spruch aufgesagt hatte, und der Herr Onkel hätte es verabscheut, das Gefasel um Himmel, usw. usf., hätte geschrien, mit Gott und so hätten nur Arschkriecher was am Hut, und bevor die Bäume hinter der Lichtung an der Grabstätte für immer für Ruhe sorgen konnten, hatte ein Waldarbeiter seine Leiche in moosgrünen Gummistiefeln im Unterholz entdeckt.

Seit er verschwunden war, mit Hut, Stiefeln, Flinte und Korn, hatten mich die hellbraunen Erdklumpen seiner fehlenden Schuhsohlen angeglotzt. Wenn ich abends lautlos reinschlich, den Schlüssel an den Nagel in der Diele hing, stierten sie von der Fußmatte zu mir, als wollten sich mich warnen. Als wären sie dabei gewesen. Aus den Kopfhörern unter meinem Hoodie kam ihr und mein Lied. Dabei ein Schauer wie kriechende Tiere auf meinem Rücken. Sonst hörte ich nichts, kaute schnell den Rauch unter das Kaugummi und blickte auf seinen Dreck am Boden. Als wollte mir der Herr Onkel jetzt noch zeigen, was er von mir hielt. Als wollte er mich daran erinnern, nicht in Freudentränen auszubrechen, die ich unter meiner Kapuze hätte verstecken können oder als Trauertränen würde tarnen müssen. Halt dich zurück, bis man mich gefunden hat, elender Flegel, Sohn eines Verbrechers, und vergiss heute mal, dass du immer alles vorher weißt, sagte mir der pulverige Dreck seiner Füße und zerstaubte in der Rille zwischen Matte und Tür.

Die Tante, nur Tante, ohne Frau davor, trug brav ihre Schürze und kochte weiter die drei Portionen. Sie wollte angerichtet haben, wenn der Herr Onkel nach Hause kam. Eine Portion für sich, die sie nicht anrührte, eine Portion für mich, eine Portion für den Herrn Onkel. Steckrübeneintopf, Hühnerfrikassee, Grünkohl mit Mettendchen, Rouladen, die Arminius aus Mitleid, weil die Tante in seinem Winseln Trauer vermutete, mit Senf und Gurken fressen durfte. Nein, nein, wenn das der Herr Onkel wüsste. Mit erhobenem Haupt streute die Tante Sand auf die Platten vor dem Haus; er hätte es so gewollt, hätte gewollt, dass sie blieb, wer sie war, Haltung bewahrte, Contenance, Contenance, mit gespanntem Haar über den Ohren und straffer Knotenkontur am Hinterkopf, dass sie die Nachbarn über den Zaun grüßte, sich nichts anmerken ließ und man ihren festen Schritt weiter auf dem Gehsteig zur Bushaltestelle hörte.
„Hast’n aufgeknüpft, oder was? Du Freshmaker.“
„Fresse man.“
„Haste, ne? Hast ihm schön das Fell über die Ohren gezogen. Schön mit Messer und Gabel seine fette Wampe zerteilt.“
„Mann Ivo, halt’s Maul. Siehst doch, dass Terror traurig ist. Jetzt, wo der Alte weg ist.“
„…und Olga ihn nicht ranlässt.“
„Mann, fickt euch. Nennt mich nicht so, man. Und kein Wort über Olga. Verpisst euch doch.“
„Mann J.C., Mach dich mal locker, war nicht so gemeint. Warn Witz. Komm. Stunde fängt an.“

Eiszapfen fingen an, die Fenster zu vergittern. Frostiges Unkraut wucherte über die Glasscheiben, verkleinerte den Blick zum Waldrand. Die Tante lief umher durch den toten Waldzoo, den der Herr Onkel im Haus aufgebaut hatte, drehte ihr angelaufenes Eheschmuckstück um die zu groß gewordene Haut ihres Ringfingers, als vermute sie darin einen Kompass, der sie geradewegs zu der letzten Ruhestätte ihres Mannes führen würde und mit der letzten Ruhestätte meinte sie nicht sein Grab. Sie meinte vielmehr einen hölzernen Waldverschlag oder einen Hochstuhl, in dem sie den Herrn Onkel selbst nach Einbruch des Winters und drei Wochen nach seinem Verschwinden sturzbesoffen vermutete. Ihr Gesicht sah gewachst aus, gelblich und blass und traurig, ohne Tränen. Die gab’s nicht. Sie registrierte nicht den Geruch von Rauch in meinen Sachen, mied mein Zimmer, lief unsichtbar durch die unbeheizten Räume, eins geworden mit dem Gedanken, fern der Blicke und wenigstens in ihren eigenen vier Wänden, nicht mehr sein zu müssen als eine aufrechte, absterbende Hülle. Der grüne Wollpullover des Herrn Onkel, den er vor seinem Verschwinden in der Küche abgeworfen hatte, umschlang die Rückenlehne an seinem Platz, zeigte Haltung, die Haltung eines Jägers im Ruhestand, er hielt seinen Rücken gerade, den Rücken eines Kriegsveteranen, eines Waidmanns, eines Präparators, eines Vorstandsvorsitzenden, eines Frühschoppers, eines Schützenkönigs, eines ehrenwerten Bürgers, der sich nie hat unterkriegen lassen, selbst als der eigene Sohn, dieses Pack von einem Mörder, ihm die eigene Brut hinterließ und das Ansehen der Familie beschmutzt hatte. Spuckefarbene Hirschhornknöpfe blitzten mich an. Ich wusste, der Pullover von dem Herrn Onkel würde lange dort hängen bleiben, wie eine Fahne auf Halbmast, die niemand hinablassen würde.

Das Essen der Tante verschlang ich im Akkord. Bloß nicht länger bei ihr sitzen, bloß keinen Verdacht auf mich lenken. Der Blick auf das unberührte Set mit dem Bauernkalender auf dem leeren Platz von dem Herrn Onkel, ließ mich zum ersten Mal denken, ob es in all dem Scheiß nicht vielleicht doch sowas wie einen Gott geben könnte. Denn wie sonst könnte es denn sein, dass ausgerechnet mir so ein Glück, so ein unvorstellbares Glück an Gerechtigkeit passieren konnte, das der Herr Onkel weg war, verreckt war. Er war nicht mehr die gelbgrauen Zahnkronen, die zuerst die Haut der triefenden Fleischkeulen abschälten, um sich dann fest im unteren Gänsegewebe zu verbeißen und es in einzelnen Fasern zerteilt laut schluckend mit Bier hinunterzuspülen. Er war nicht mehr die Tageszeitung, die auf Arminius’ gekrümmtes Hinterteil hinabdonnerte, wenn er versuchte, Krümel unter dem Esstisch aufzulecken. Er war nicht mehr der Schweiß der Tante, wenn sie seinen fetten Arm um ihren Hals schwang, ihn fest im Gürtel unter die Hüfte griff und gegen ihr neues Gelenk gepresst die Treppe hoch ins Schlafzimmer zog. Er war nicht mehr das Lallen, das er wieder und wieder zwischen meine Tapeten warf, meine Mutter sei eine dreckige Nutte gewesen, die einen elenden Terroristen wie meinen Vater nur verdient hätte, und ich, nach einem Dickicht suchend, in das ich mich hätte verkriechen können, wäre längst verreckt, wäre er nicht gewesen, der Herr Onkel. Er war auch nicht mehr im Schuppen zwischen Fell und Holzwolle, Nadeln, Kleber, Fäden und den Messern, mit denen er die Kadaver der frischtoten Tiere aufschälte, sie abbalgte und ausnahm, bis alle Organreste ausgekratzt waren. Er konservierte auch nicht mehr, wirkte nicht mehr dem Fettfraß entgegen, polsterte kein Hautgewebe mehr mit Füllstoff auf und gestaltete keine putzigen Nagetierkörper mehr, in dem er ihre zerteilten Gliedmaßen neu zusammensetzte und sie mit Draht fixierte. Das alles hatte er nun selber nötig. Er war auch nicht mehr das Staubtuch, das die Geweihe putzte, die endlos aufgereihten Totenschädel an der Holzvertäfelung, in der der Bock leise klopft. Ich stellte mir seinen aufgetriebenen Kopf vor, wie er zwischen seinen Trophäen auf einem Holzbrett von der Wand hinabschaut. Hutlos. Das rote Bluthochdruckgesicht mit Schaumstoff ausgestopft, seinen tabakgelbe Schnäuzer, ja den, einfach abrasiert, das schüttere Haar, das früher fuchsrot war, ungekämmt, pomadenlos. Ohne Form. Formlos. Die Tante hatte geschwärmt von ihm, dem Herrn Onkel, hatte gesagt, das Jägergrün und sein rotes Haar, da habe sie nicht wiederstehen können, als sie noch jung war. Meine Trophäe. Er war jetzt meine Trophäe.

Wir waren zu einer Jacke geworden. Zu einem vierarmigen Daunenknäul, in dessen Ärmeln ich ihre zarten Finger hielt. Wir waren ein dickes Winterding an der Schule. Sie und ich. Die große Sensation. Wir waren zu einer Zigarette, zu einem Kaugummi geworden. Zu einem minzigen Stück Gummi, das sie mit ihren spitzen Fingern zwischen meinen Schneidezähnen hervorzog, eine Hälfte abriss, in ihren Mund steckte und die Arme wieder zwischen meinen verschwinden ließ. Ich an Graffiti gelehnt, sie davor, an mir dran, den Reißverschluss meiner Jacke auf ihrem Rücken. In meiner Nase ihr süßes Parfum mit Lolligeruch, ihr Haar an meinem Kinn. Meine neue Welt, mein Versteck, mein  Verschwundensein, ein anderes Verschwinden, meine Luft voll von ihr, von ihrem Geruch, den ich auftrinken wollte.
„Was is jetzt?“, saugte Olga gegen mein Hals. Ein Kopfhörer in ihrem, der andere in meinem Ohr. Unser Lied. Wir froren.
„Womit?“
„Deinem Onkel?“
„Nix.“
„Ist er tot?“
„Klar man. Klar ist er tot.“
Ihr Blick zwischen einem dunkel geschminkten Wimpernkreis. Sie küsste mein Kinn, meinen Hals, küsste sich rauf zu meinem Mund, schob ihre Hüfte nah an meine, öffnete mit ihrer Zungenspitze meinen Mund, schmeckte nach Lip Gloss, ihr Kaugummi suchte meins, ich bekam beide Hälften, kaute weiter.
„Woher willst du das wissen? Is doch keine Leiche da.“
„Klar is die Leiche da. Im Wald. Irgendwo. Ich weiß wo.“
„Glaub ich nicht.“
„Glaubst was nicht?“
„Dass du weißt, wo der liegt.“
„Klar weiß ich. Ich war da. War dabei. Zeig ich dir.“
„Wie, dabei?“
„Hab ihn umgelegt.“
„Haste nicht.“
„Hab ich.“
„Will ich sehen.“

Das ist der erste Teil – Wer Teil zwei des Textes sehen will, muss sich auf kommende Woche gedulden.

Katrin Theiner

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