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Ich war heute auf dem Petersfriedhof in Salzburg. Ein Ort der Ruhe und Stille. Mitten in der Stadt, aber doch einsam. Friedlich.
Mein Großonkel liegt hier begraben. Wie die meisten aus unserer Groß- oder Urgroßelterngeneration hat auch er den letzten großen Krieg in dieser Gegend miterlebt. Und überlebt. Wie seine Schwester, meine Oma. Ohne sie würde es mich so nicht geben. Zumindest nicht in dieser Form.


Mein Großonkel war Priester. Als er im Zweiten Weltkrieg seiner Jugend beraubt wurde und kämpfen musste, hat er sich, so wurde es mir erzählt, mit Gott ausgemacht, nach dem Krieg Priester zu werden und sein Leben in den Dienst der Kirche zu stellen – falls er überleben sollte. Er hat überlebt. Und wohl die allerschlimmsten Dinge mitgemacht und selbst gemacht, die ich mir gar nicht vorstellen möchte. Und trotzdem muss. Ich weiß so einiges, und vieles kann ich mir denken. Darüber reden wollte er kaum, und jetzt kann ich ihn nicht mehr fragen.Täter und Opfer. Unschuldig und schuldig. Mit dabei. Ich war es nicht, und doch betrifft es mich. Betrifft es uns. Alle. NIE WIEDER! Das würde ich mir wünschen. Ein lautes: „Nie wieder!“

Waren nicht eure Vorfahren, genauso wie meine, Teil dieses unsagbar grausamen Krieges? Und spielt es denn überhaupt noch eine Rolle, auf welcher „Seite“ sie standen? Was sie erlebt haben? Getan haben? Die Frage ist doch, ob wir so etwas jemals wieder wollen? Ich nicht.

Jetzt, heute, wo ich durch diese wunderschöne Stadt gehe und die Sonne am blauen Himmel strahlt, fällt es leicht, nicht an diese Zeit zu denken. Sie zu vergessen. Wie oft haben wir schon gehört, dass wir „endlich einen Schlussstrich ziehen“ und „vergessen“ sollten. Weitermachen. Das Leben geht weiter. Ja, klar, das Leben geht immer wieder. Und doch sage ich: „Nein!“

Denn da drüben, in der Alpenstraße, auch wenn sie gut in ein paar Zelten versteckt werden, sind Menschen, die auch Krieg erlebt haben. Wie meine Oma. Mein Großonkel. Deine Urgroßeltern. Deren Nachbarn. Die Menschen, die einmal in deiner Wohnung gelebt haben, lang, bevor du geboren wurdest. Die Wohnung, die ihnen vielleicht einfach weggenommen worden ist, weil sie zufällig das „Falsche“ im Ausweis stehen hatten. Eine andere politische Einstellung als die Masse. Ein bestimmtes Aussehen. Mit einer Behinderung geboren wurden. Nicht das glaubten, was als das „Richtige“ galt. Die dann nicht das Glück hatten, so wie meine Oma zum Beispiel, während dem Krieg hier in Österreich arbeiten zu dürfen, sondern in Züge gepfercht und ermordet wurden. NIE WIEDER! Wo ist es?

Denn nicht nur da drüben in der Alpenstraße sind Menschen, die unfassbares Leid erleben mussten. Da gibt es noch ein paar mehr davon. Warum sie hier sind? Ich glaube, sicher nicht wegen dem schönen Wetter und dem Petersfriedhof. Auch nicht, weil sie uns was „wegnehmen“ wollen. Sie sind hier, weil es keine andere Option für sie gegeben hat. Freiheit oder Folter. Fliehen oder bleiben. Leben oder sterben. Die Liste ließe sich unendlich lange fortsetzen.

Und falls es noch nicht allen klar geworden ist – so toll ist Österreich gar nicht, dass Menschen freiwillig hier her kommen, um in Zeltstädten zu versauern. Oder würdet ihr freiwillig in ein Land gehen, in dem ihr mit Schildern begrüßt werdet, auf denen steht „Nein zum Asylantenheim“? Klar, wer erwartet schon Mitgefühl oder eine ehrliche Begrüßung, nachdem er oder sie vielleicht gerade alles bis auf das eigene Leben verloren hat? Ein Land, in dem Flyer an Flüchtlinge verteilt werden, auf denen steht „But if you didn’t flee and if you came here illegally we want to assure you: NO WAY. YOU WILL NOT MAKE EUROPA HOME.“ Also, ich würde hier nicht so gern herkommen, nachdem vielleicht gerade meine komplette Familie und Freunde ermordet worden sind. Auch wenn ich dann laut diesem Flyer wohl doch kommen dürfte, da ich ja dann hoffentlich als „legaler“ Flüchtling angesehen werden würde. Was auch immer legale und illegale Menschen sein sollen. Ein Land, wo ihr nicht einmal aufs Klo gehen könntet, wann ihr wollt, denn – oh, da war ja was – in den tollen Zelten, wo ihr mit zu wenig Kleidung und zu dünnen Decken untergebracht werdet, gibt es zu wenige davon. Ein Land, in dem ihr Menschen seht, die sich darüber beschweren, dass der Bus Verspätung hat und der Kaffee nicht schwarz genug ist, während ihr keine Socken zum Anziehen habt. Ja, Socken, die einige bei uns einmal anziehen und dann wegschmeißen.

Aber nein, nicht genug damit, dass Menschen in absolut unwürdigen Unterkünften untergebracht und wie der letzte Dreck empfangen werden. Sie werden auch noch mit Dreck beworfen, und zwar dem Dreck der übelsten Sorte.

Seit Tagen, Wochen, ist mir irgendwie schlecht. Ich habe ein Gefühl in mir, das ich so noch nicht kannte. Angst. Sehr viel Angst. Vor Wortmeldungen, die ich immer wieder lese und höre. Offene Aufrufe zum Mord auf Facebook. Tausendfach. Der Wunsch, dass jemand wie Hitler „das schon richten würde“. Eine Partei, die 1/3 in diesem Land wählen und der auch ihr zehntausendster „Fehltritt“ und „Ausrutscher“ noch vergeben werden wird. Andere Parteien, die auf den gleichen Zug aus Hass, Angst und Hetze aufspringen. Ein Parteiobmann, der sich selbst wieder und wieder als Opfer inszeniert. Der offen hetzt und dessen Rassismus nach dem schrecklichen Vorfall in Graz Ausmaße erreicht hat, die ich mir nie vorstellen konnte und wollte. Und der anscheinend gerade deswegen auch noch Zulauf und Zuspruch bekommt. Wieder sind die Beispiele endlos. Erschreckend endlos.

In meinem Kopf schrillen die Alarmglocken. Wie kann das sein? Wie? Was ist mit diesem „Nie wieder!“?

Unser Land hat versagt. Unsere Bildung. Ich studiere Geschichte genau aus diesem Bedürfnis heraus, dass solche Grausamkeiten wie im Zweiten Weltkrieg nie wieder geschehen dürfen. Nicht vergessen, kein Schlussstrich, nein! Wofür sind die Brüder eures Opas gestorben? Was ist mit den ehemaligen Nachbarn von ihnen, denen alles genommen wurde und die keine Nachfahren mehr in Österreich haben, weil sie alle getötet wurden? Wofür sind sie gestorben? Für nichts, weil es sinnlos war. Ja, für einen Krieg, ein „Vaterland“ zu sterben, halte ich für sinnfrei. Menschen machen es trotzdem, und sie verdienen unsere unendliche Bewunderung und Dankbarkeit dafür. Verstehen kann ich es nicht.

Und trotzdem leben wir. Wir dürfen leben. Jetzt und hier. Haben so vieles. Und leben in einem der verdammt noch mal reichsten Länder der Welt!

Ich habe Angst, bin wütend, traurig, voller Scham. Ich schäme mich dafür, wie GERADE WIR, mit unserer Geschichte und den Geschichten unserer Vorfahren andere Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Grausamkeiten etc. fliehen mussten, SO empfangen. Mit so viel Hass, Missgunst, Misstrauen und Kälte.

Und es gibt keine Ausreden. Ja, ich weiß, dass es auch hier viele Probleme gibt. Dass auch in Österreich viele Menschen leben, die es schwer haben, die wenig oder keine Hilfe erhalten, die diskriminiert werden, die den ganzen Tag arbeiten müssen und am Ende doch nicht genug haben. Wieder eine Liste, die endlos ist. Vieles ist nicht okay, und das wissen wir auch. Aber trotzdem: Wir haben Bildung, Internet, Schulpflicht, können lesen, werden konfrontiert. Jede und jeder von euch hat zumindest schon ein Mal in seinem Leben etwas über Krieg mitbekommen. Dass Krieg nicht so viel Spaß macht, könnten dann wohl auch fast alle irgendwie verstehen, oder? Natürlich kann ich mir die hundertste Folge von irgend einer blöden Serie ansehen und mich dabei wunderbar fühlen. Das ist auch okay. Wir dürfen unser Leben genießen und machen, worauf wir Lust haben.

ABER, was nicht okay ist und was wir nicht mehr akzeptieren dürfen ist das, was hier, in Österreich, gerade vor sich geht. Wir müssen jetzt handeln. Ein Zeichen setzen. Ein überdimensional großes Zeichen. Ein „NEIN!“ zu all dem Schwachsinn, der da gerade geschieht. Wir müssen helfen. Unseren Reichtum teilen. Zusammenhalten. Miteinander reden. Wir haben so viel Glück, in diesem Land zu leben, zu dieser Zeit, ohne Krieg. Was morgen ist, wissen wir nicht. Aber denkt an den einen Großonkel von euch, der irgendwo im Krieg sterben musste. Für nichts. Für die Hirngespinste und Wahnvorstellungen einiger Mächtiger.

Wollt ihr in Frieden leben? Wollt ihr, dass eure Kinder in Frieden aufwachsen können? Dass es euren Freunden gut geht? Ihr euer Leben leben könnt, so gut es eben geht und so wie ihr wollt? Ja? Ich vermute, das trifft ebenfalls auf die meisten Menschen zu. Ob aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Kanada, Neuseeland, Indonesien, Österreich, Papa-Neuguinea oder Kosovo. Aus Zufall oder Vorsehung oder wegen irgend einem höheren Wesen – wie ihr wollt – sind sie in einem dieser Länder geboren. Sie können nichts dafür. Wir auch nicht. Aber was wir können, ist handeln und Entscheidungen treffen. Und uns fragen, was wir wollen.

Ich will helfen, zusammenarbeiten, Brücken bauen. Gemeinsam, nicht gegeneinander. Die Frage ist, was willst du? Ja, genau du, wenn du das hier liest. Wofür entscheidest du dich?

Zurück am Petersfriedhof lese ich beim Hinausgehen die Worte Georg Trakls:

Der Himmel lächelt still herab
In diesen traumverschlossenen Garten

Ja, an einem Tag wie heute lächelt der Himmel herab, und nichts wäre leichter, als nicht an diese Menschen da drüben in den Zelten zu denken. An die Menschen an den Grenzen. Auf den Booten. Am Meeresgrund. In den Gefängnissen. Menschen, die Angst haben. Menschen, die leben wollen. Einfach nur leben.
Am Ende bleibt die Frage: Wofür entscheidest du dich?

Veronika Wintersteller

Beitragsbild (c) Frau Nowak