freiTEXT | Anna Sophia Merwald
Sie an der Leine
Sie bauen ein Haus, leben sich ein und kleben auseinander, sie vegetieren in vorbildlichen Gärten mit gestriegelten Kindern und verriegelten Türen.
Sie zwingen die Mundwinkel und sie wippen mit dem Kopf, im Takt ihre vollautomatischen Rasenmäher, die nichts machen und auch Lärm.
Sie lugen über ihre tapezierte Hibiskushecke, ihre Perücken Ton in Ton, die Kinder tragen Maulkorb, der Terrier Schnuller, sie selbst eine Leine.
Eigenmächtig mähen sie den Rasen, weil der Roboter tuts doch nicht.
Die Kinder, eins, zwei, sie haben den Überblick verloren, machen ihnen Nudeln in der Mikrowelle kalt.
Eigenmächtig mähen sie den Rasen, weil sie wollen, dass er nicht mehr ist.
Und als er dann nicht mehr ist als geschredderte Erde, schlucken sie in 30 Gramm dosierte kalte Nudeln.
Die Kinder wissen einfach, was ihnen schmeckt, sagt Kind zwei. Oder drei.
Sie haben den Überlick verloren.
Geht in die Arbeit, spielen, sagen sie zu den Kindern, drei, zwei, sie haben die Rollen verloren.
Die Kinder schleudern zur verriegelten Tür und schnellen zurück.
Sie ersticken fast, ziehen sich die Nudeln wieder aus dem Hals, wer soll denn das alles schlucken. Mit bloßer Hand wühlen sie in ihren Hälsen.
Sie suchen nach sinnhaftiger Ordnung, doch ihre Körper sind Hülsen. Sie sind offene Rohre und gestaute Vakua. Sie sind an Überwässerung getrocknete Pfützen.
Die Kinder, eins, vier, sie haben die Fassung gewonnen, reißen die Hibiskushecke von der Wand, trampeln sie zu Boden.
Sie werden gestürzt und laufen aus.
Und später bleiben die Gärten leer und dann ist der Terrier - Leinen los! - an der Leere ertrunken.
Anna Sophia Merwald
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freiTEXT | Julia Knaß
In Tagen wie Wahnsinn
in tagen wie wahnsinn liegen die toten am gang, ob ich die toten am gang sehen würde, wer die toten am gang denn seien, wer da schießen würde, wer da denn schießen würde, aber da sind längst keine toten mehr am gang, am gang hängen nur kinderfotos von mir und meinen schwestern und das hochzeitsfoto meiner eltern, am gang frisst die katze, am gang stehen die schuhe und der wlan-router und das telefon, aber da sind keine toten am gang, sage ich zu ihm, ich sage, er habe nur geträumt, das sei nur ein traum, das mit den toten, aber er beharrt darauf, er beharrt auf den toten, nach 100.000 bier und einem hausbau, einer karriere bei der gendarmerie, „herr inspektor!“, nach drei kindern und detaillierten fotografien in geordneten alben und noch akribischerem briefmarkensammeln, nach der produktion von honig, immer mehr honig, nach der beerdigung von seinem einzigen sohn, nach der leitung des ÖKB, nach dem zusammenbauen von puzzlespielen mit mehreren 10.000 teilen, ist da wirklich alles, was bleibt, die toten am gang, die toten am gang, die toten am gang, aber dann schläft er wieder ein und ich falle über alle leichen
in tagen wie wahnsinn zitieren wir gemeinsam mephistos faust „ich bin der geist der stets verneint“, über einem glas bier verneinen wir uns voreinander, sonst dürften wir uns nicht annähern, aber gemeinsam mephisto zitieren ist unser klopstock und später holt er mich mit dem motorrad ab und wir kurven durch die gegend, meine heimat, die ich nicht kennen will, und das plastik an meinen docmartins verschmort und meine füße werden heiß, während er mich hundert mal fragt, was ich von ihm wolle, wie ich mir das vorstelle, dass er mit jemanden wie mir nicht reden könne, dass er mit jemanden wie mir normalerweise gar nicht reden würde, dass ich mit jemanden wie ihm nicht reden dürfte, weiß ich auch, aber er isst schweinsbraten wie mein opa und er ist beim ÖKB wie mein opa und er vertritt ansichten wie mein opa, aber mit ihm kann ich streiten, ihm kann ich alles an den kopf werfen, ich sage ihm, dass es falsch ist, was er denkt, ich sage ihm, dass alles gefährlich ist, was er denkt, ich erkläre und rede und erkläre und rede, damit er endlich aufhören kann, weil „cui bono“ nützt niemanden, ich erkläre und rede und erkläre und rede, damit er endlich aufhört zu denken, ziehe ich mich aus
in tagen wie wahnsinn erzählt mir meine oma vom schafe hüten, von der theatergruppe, die sie in ihrer jugend geleitet hat, von den gelungenen aufführungen und wie schwierig es war, dafür alles zu organisieren, sie erzählt mir, dass sie aber keine jugend gehabt hat, weil die schönsten ihrer jahre waren krieg, und dass sie in die kirche gegangen sei, statt zu den treffen der nazis, dass die dort schon überlegt hätten, was sie mit ihr machen sollen und dass die bdm-führerin aber gemeint hätte „was wollt’s denn mit der? die tut doch keinem was“, dass sie in die kirche gegangen wäre anstelle und gott sei dank anstelle, dass sie schindlers liste gelesen habe, viel später, und dann zitiert sie mir die gedichte, die sie schreibt, weil sie andauernd schreibt, zuerst im kopf und dann schreibt sie die texte auf, das erste gedicht hat sie während des schafe hütens geschrieben, das kann sie auch noch, und früher habe sie mit meinem opa gemeinsam geschrieben, als er noch lustig war, meint sie, damals als er noch lustig war, später erzählt mir mein papa im auto, mehr über das schreiben meiner oma, später im auto will mir mein papa mehr erzählen von seinem früher, aber sein ganzes sprechen schweigen
in tagen wie wahnsinn lüge ich wie gedruckt auf papier, im internet, in umgangssprache, im dialekt, in standarddeutsch oder hochdeutsch, wie man umgangssprachlich sagt, ich umgehe alles, denke, dass ich doch verstehen können muss, entschuldige zu vieles oder sehe darüber hinweg, denke zu oft „ja, aber“, und sage weder das eine noch das andere, weil ich selbst eine einzige leerstelle bin, denn wer bin ich, wenn ich über feuerwehren, über botanikvereine, philatelie, über verkehrsunfälle, bienen, über faschingssitzungen, über die eröffnung von unterführungen und die hegeringschau schreibe und mir ein video anschaue von einem mann, der die geflüchteten gefilmt hat, wie sie durch die stadt gehen, weil „da muss man ja was tun dagegen“, wer bin ich, wenn überall gesagt wird, aber „auslända woll ma keine haben“, und ich nicht mehr dagegen halte, weil ich nicht stark genug bin, weil es mir nur ums eigene überleben geht, wer bin ich, wenn ich in meiner freizeit hannah arendt zitiere und verena stefans häutungen zehnmal lese und für das frauen*volksbegehren aufrufe, und wen macht man aus mir, wenn der einzige kommentar dazu ist „ist eh liab, was du denkst, ist eh liab“, vielleicht bin ich wirklich nur mehr eine liabe hülle, das fräulein, das fräulein redakteurin „a liabes diarndle, was wollt’s denn mit der? die tut eh keinem was“
Julia Knaß
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freiTEXT | Claudia Dvoracek-Iby
Im Rucksack
Anfangs fanden wir ihn amüsant. Ehrlich gesagt lachten wir uns halbtot nach der ersten Begegnung mit ihm.
„Ich bin der Willi “, hatte er gesagt, ein zappeliger, älterer Mann, den ein riesiger, grauer Rucksack nach hinten zog. Dünn war er und klein, kleiner als Marie, die zu mir an die Tür kam, um zu sehen, wer da bei uns Sturm geläutet hatte.
„Ich bin der Willi, jaja“, zwinkerte er unruhig, „und der Willi hat die Wohnung neben euch gemietet, jaja, und da wird er ganz alleine wohnen, jaja, weil niemand mit ihm sein will - was weiß ich, warum! Aber!“ hob er den Zeigefinger, „Aber dafür besitzt der Willi viele, viele Schätze, und da drinnen“, wies der Finger Richtung Rucksack, „da sind neue Schätze. Die hat der Willi vorhin gefunden, an der Donau, jaja, und jetzt“, verbeugte er sich leicht, „muss sich der Willi verabschieden und seine Schätze auspacken!“
Einige Tage später fand ich ihn im Stiegenhaus vor, als er dabei war, seinen gigantischen Rucksack aus dem Lift zu zerren.
„Jaja!“ keuchte er, als ich anbot, ihm zu helfen.
Mit vereinten Kräften zogen wir den Rucksack, der unglaublich schwer war, vor seine Wohnungstür. „Sind da Steine drinnen?“ scherzte ich.
„Jaja!“ rief er ungeduldig, sperrte fahrig die Tür auf, rief „Komm rein, komm rein!“, öffnete flink gleich im Vorraum den Rucksack. Es waren tatsächlich Steine darin, verschieden große, gewöhnliche Steine. Er nahm einen runden, hellen in die eine, einen flachen Stein in die andere Hand und stieß mit dem Fuß die Tür zu einem großen Zimmer auf.
„Komm rein!“ rief er wieder, lief in den Raum, legte die Steine behutsam auf einen Tisch zwischen unzählige andere. Sie lagen überall, bedeckten den Boden bis auf ein paar freigelassene Pfade, stapelten sich auf zwei Bänken, in Regalen - massenhaft Steine, wohin ich auch blickte.
„Jaja, das sind meine Schätze!“ rief er in trotzigem Tonfall, während er unermüdlich Nachschub aus dem Rucksack holte und arrangierte. „Wenn kein Mensch den Willi leiden mag, ihm die Katze wegläuft, ihm die Pflanzen eingehen - was weiß ich, warum! Was bleibt da noch? Steine! Jaja!“
Und er erklärte, dass die besten Steine an der Donau lägen, er die allerbesten aber in der Donau vermute, nur könne er leider weder schwimmen noch tauchen. Dann streichelte er ehrfürchtig einen Stein nach dem anderen, beschrieb und lobte wortreich jedes Fleckchen an ihnen. Erst nach geraumer Zeit schaffte ich es, ihn zu unterbrechen und zu gehen.
„Ein Spinner! Und furchtbar anstrengend“, teilte Marie meine Meinung, die ihm wie ich eines Tages beim Rucksack-Schleppen behilflich war und seinen Steinschwärmereien ebenfalls nur mit Mühe entkommen konnte. Sie erfuhr unter anderem, dass er, der Willi, sich oft wundere, dass er anscheinend der einzige Mensch war, der erkannte, wie schön, wie einzigartig, wie seelenvoll so mancher Stein am Wegesrand war.
„Dieser Verrückte passt absolut nicht in unser Haus“, sagten auch die anderen Mieter untereinander und zum Hauseigentümer. Nach weiteren Begegnungen, bei denen unser neuer Nachbar ungefragt und detailreich von seinen neuesten Schätzen erzählte, gingen wir ihm aus dem Weg, machten auch nicht mehr auf, wenn er an unserer Tür war.
Einmal sahen wir ihn beim Spazieren gehen an der Donau. Er nahm uns nicht wahr, ging an uns vorüber, seinen Blick konzentriert auf den Schotterweg gerichtet. Wir beobachteten belustigt, wie er erfreut in die Hände klatschte, sich bückte und Steine in seinen Rucksack legte. Im Scherz klatschte ich später wie er in die Hände, hob einen großen Kieselstein auf, rief, „Ein Schatz, jaja, ein Schatz!“, und schenkte ihn Marie.
Vor drei Tagen läutete er spätabends bei uns, minutenlang. Als ich schließlich ärgerlich öffnete, fuchtelte er aufgeregt mit einem Brief in der Hand und rief:
„Der Willi kommt sich verabschieden, jaja, dem Willi wurde die Wohnung gekündigt, wieder einmal, was weiß ich warum, denn der Willi hat immer die Miete bezahlt, jaja, und ..“
„Dann wünsche ich dem Willi alles Gute!“, unterbrach ich ihn, wich seinem fassungslosen Blick aus und schloss die Tür.
Marie tat er leid, sie legte ihm am nächsten Tag den großen Kieselstein von mir vor die Tür.
Wir sahen ihn nicht wieder. Gestern waren zwei Polizisten bei uns, die sich erkundigten, was wir über den Mann wussten, der neben uns gewohnt hatte und den sie in der Donau gefunden hatten, tot, ertrunken, hinabgezogen von einem Rucksack voller Steine.
Seitdem beschäftigt Marie die Frage, ob auch unser Kieselstein im Rucksack gewesen ist.
Claudia Dvorazek-Iby
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freiTEXT | Fabian Hartmann
Der Tag, an dem Mindy Miller dicke Oberschenkel bekam
Wie so oft in jenem Sommer fuhr Mindy (Mindy Miller, elfeinhalb, geboren in Winston-Salem, North Carolina) schon früh am Tag zu einem abgelegenen kleinen Fußballplatz am Rande von Walnut Cove, ihrem Heimatort. Sie fuhr auf ihrem Fahrrad, einem Jungenrad mit einem 24er-Rahmen, der gerade erst wieder frisch von ihr besprüht worden war, wobei sie sich für ein sattes Dunkelgrün entschied. Vielleicht dachte sie bei dieser Wahl an die Farbe des Nadelwaldes, in dem der kleine Fußballplatz gelegen war. Gerade als Mindy den Middlefork Drive verlassen hatte und in die Martin Luther King Jr Road einbog, wunderte sie sich, wie sehr der Geruch dieses Sommermorgens dem von feuchter Erde glich.
Die Martin Luther King Jr. Road ist eine lange, gerade und ebenmäßig asphaltierte Straße, an dessen Rändern jeweils tiefer Nadelwald beginnt. Dies jedoch erst ab ihrer Hälfte, davor erstrecken sich zu den Seiten Rapsfelder – mittlerweile zwar halb vertrocknet – aber dennoch weit genug, als dass sie Mindy regelmäßig dazu brachten, den Blick von der Straße abzuwenden und über die Felder schweifen zu lassen. um zu schwelgen in einem Gefühl der Überzeugung, sie würde den Sommer in seiner Gesamtheit erfahren. Gebündelt in diesem einen langen, ausgeruhten Blick in die Ferne.
Mindy spielte in einem Team der jüngsten Altersklasse an der South Stokes High School, im Mittelfeld, wo sie praktisch jede Spielrolle annehmen konnte. Jetzt, im Sommer, pausierte die Mannschaft für acht Wochen mit dem Training, und so traf sich Mindy beinahe täglich mit ihrer Freundin Susan auf dem kleinen Fußballplatz, dessen immer frisch gemähter Rasen von einem etwa drei Meter hohen Netzzaun umgeben war.
Als Mindy auf dem Fahrrad angerollt kam, klingelte sie kurz und Susan – die gerade versuchte, den Ball aus einigen Metern an die Querlatte des Tores zu schießen – drehte sich um, nachdem sie die unbeabsichtigte Flugbahn des Balls bis zu ihrem Ende verfolgt hatte. (Er landete einige Meter tief im Wald zwischen den Tannen, die durch die andauernde Trockenheit beinahe morsch geworden waren). Nachdem sie sich – wie bei jeder ihrer Begrüßungen – ein low five gegeben hatten, lief Susan los in Richtung der kleinen Tür im Zaun, durch die man den Wald betreten konnte. Mindy setzte sich auf den Rasen, um sich ihre Schienbeinschoner und Stutzen und Stollenschuhe anzuziehen.
Die Stutzen – ein Geschenk ihrer Mutter – waren knallig rot und gefielen ihr nicht sonderlich. Aus dem einfachen Grund, sie nicht enttäuschen zu wollen, zog Mindy die Stutzen nun dennoch über ihre Waden. Mindy schaute in den Himmel, als sie sich die Schuhe band. In einen allzu klaren Himmel, durch den hin und wieder eine seichte Wolke zog, und dann auf ihre Waden in diesem prall gefüllten, dicken, roten Sockenstoff und war schockiert: Hatte sie jemals so dicke Waden gehabt? Hatte sie jemals den Sommer gerochen? Ihr Blick wanderte die Beine hinauf zu den Oberschenkeln, dessen Anblick sie nicht weniger entsetzte. Susan kam aus dem Wald zurück, den Fußball unterm Arm.
„Susan, sag mal“, sagte Mindy. „Findest du, dass ich dicke Oberschenkel hab'?“
Fabian Hartmann
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freiTEXT | Anna Gawlitta
Wenn die Zikaden zirpen
Schlafen nachts die Zikaden? Oder zirpen sie unentwegt?
Aufstehen müsste man, mitten in der Nacht, und lauschen, wie lange die Zikaden zirpen, dachte ich als ich an einem Sommerabend am offenen Fenster stand, meinen Kummer und meine Einsamkeit beweinte. Gregor hatte mich verlassen, einfach so, ohne Vorwarnung, ohne vorherige Anzeichen. Mir war ausschließlich aufgefallen, dass er seit einiger Zeit nicht mehr „Ich liebe dich“ gesagt hatte. Das hätte mir zu denken geben können. Vorher hatte er es mir unter die Nase geschmiert, diese drei berühmten Worte. Er hatte es in unterschiedlichen Sprachen gesagt, förmlich aufgezählt, ich bringe nur Je t`aime, I love you, Kocham Cie und Ich liebe dich beisammen. Gregor hatte mich mal zum Geburtstag überrascht, und in fünfzehn Sprachen die drei berühmten Worte deklamiert. Damals habe ich lachen müssen wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter gekitzelt wird, er hatte mit seinem Ton gespielt, die Worte in die Länge gezogen, sie mal leiser, dann wieder lauter betont, mit den Händen gestikuliert, ist auf und ab gesprungen, auf die Knie gefallen, hat seinen Arm ausgestreckt und hatte mir ein schwarzes, viereckiges Döschen hingehalten, es geöffnet und mir war ein funkelndes Etwas in Ringform entgegen gestrahlt. Es dauerte eine Weile bis ich begriff, die Hände vor den Mund nahm, aufstöhnte, auf ihn zu rannte, gemeinsam mit ihm umfiel, sein gesamtes Gesicht abküsste und so laut ich konnte Ja schrie. Wir hatten uns verlobt!
Nach der Verlobung veränderte sich alles zum Positiven, es intensivierte unsere Beziehung. Wir liebten einander intensiver, mit jedem vergehendem Tage; wir hielten fester Händchen, wir küssten einander stärker, wir redeten länger und rührten tiefere Themen an. Es hatte sich eine Innigkeit entwickelt, die uns beiden vorher unbekannt gewesen war, die wir vorher nie gehabt haben. Wir waren enger zusammengeschweißt worden, durch diesen Akt, durch diesen Ring an meinem Finger. Zumindest war es mir so gegangen, hatte ich so gefühlt, es so erlebt und habe es so in Erinnerung. Schließlich trug ich den Ring! Und genau hier setzt das Problem an, Gregor trug keinen. Und so lenkte er seine Aufmerksamkeit auf sein Promotionsthema. Gregor war Biologe, hatte sein Studium beendet und einen Promotionsplatz ergattern können. Das Thema: Zikaden. Zikaden hier, Zikaden dort. Ich hatte nicht einmal gewusst, was Zikaden sind. Gregor begann seine Liebe zu mir auf die Zikaden über zu lenken. Ich sah, wie er immer bissiger sich in sein Thema hinein lebte, regelrecht einen Fanatismus in puncto Zikaden entwickelte. Zikaden, Zikaden, Zikaden währte ich mich, als er eine von ihnen nach einem Forschungsgang in der Natur in einem leeren Marmeladenglas stolz wie Oskar nach Hause transportierte.
Igiitt, igitigit, igit brachte ich nur hervor. Nahm das Marmeladenglas samt der Zikade, flitzte so schnell ich nur konnte aus der Wohnung, die Treppe hinunter, öffnete das Glas und warf die Zikade ins Gras. Da fing die Zikade an zu zirpen. Ich erschrak und sprang zurück. Da ging mir auf, was eine Zikade ist, es ist das zirpende Etwas zwischen den Grashalmen an einem warmen Sommerabend. Ich war auf Anhieb begeistert, die Zikade gab ihr Konzert und ich lauschte. Gregor kam mit fuchtelnden Armen mir hinterher, blieb stehen und konnte nicht glauben, was er sah. Ich saß im Gras und lauschte der Zikade. Komm, sagte ich, setzt dich zu mir. Er blickte irritiert, sah sich um, ob niemand uns sehe und setzte sich zu mir. Schön, nicht, sagte er. Ich nickte begeistert, gleich einem Kleinkind. Hier entfachte meine Zikadenliebe und schweißte Gregors Liebe zu den Zikaden mit der meinen zusammen. Ich wurde zur Doktorandin im Thema Zikaden, las alle Materialien, die Gregor bis dahin zusammengestellt hatte, forschte sogar selbst in Bibliotheken nach, korrigierte, vermerkte, ergänzte Gregors Notizen. Seit diesem Zirpen waren die Zikaden zu meiner Leidenschaft geworden. Ich ersetzte Gregor gegen die Zikaden. Wir drückten unsere Händchen nun nicht mehr so fest zusammen, küssten uns nicht mehr stärker, redeten nicht intensiver. Aber das fiel mir erst gar nicht auf, weil ich, solange noch Sommer war, die Zikaden zirpen hören wollte, jeden Abend. Gregor fing an mir den Vogel zu zeigen, aber das machte mir nichts aus, nur dass er jetzt öfters den Finger an den Kopf hielt, und sagte, dass ich spinne, anstatt wie früher den Finger zum Herzen zu führen, und mir zu sagen, dass er mich liebe. Aber dennoch beruhigte es mich nicht, schließlich gehörten wir seit dem Ring an meinem Finger zusammen, so dachte ich. Als ich begann meine Kritik auch mündlich zu äußern, neue Fragestellungen zu entwickeln und überhaupt unentwegt über die Zikaden zu schwärmen, gab Gregor auf, und machte mit mir Schluss. Den Ring wollte er zurück, aber ich bekam ihn nicht mehr vom Finger, so beließ er es dabei, räumte den Schreibtisch, den er bei mir stehen hatte, beisammen, packte seine halb fertige Doktorarbeit zusammen und zog wieder komplett zu seinen Eltern.
Doch wir sahen uns nun häufiger als es ihm lieb war. Ich hatte mich nämlich an der Universität immatrikuliert und forschte zum Thema Zikaden. Ich hatte meine eigenen Fragestellungen und dachte daran über Zikaden meine Abschlussarbeit zu schreiben. Ich besuchte schon sehr bald die Kolloquien, in denen auch Gregor saß, zu seinem Leidwesen, denn ich merkte, wie wütend er auf mich war. Dabei hatte ich nichts anderes als meine Leidenschaft zu Zikaden entdeckt – das war alles! Doch für Gregor war es nicht genug, er ließ sich nicht mehr bei den Kolloquien blicken, ich machte mir Sorgen. Als er das gesamte Semester über weg blieb, rief ich bei seinen Eltern an und erkundigte mich nach ihm. Gregor, sagte sein Vater, habe seine Notizen und Bücher eingepackt und sei ausgewandert, aus Forschungszwecken. Wirklich, sagte ich, und da ging mir auf, dass ich bisher ausschließlich die deutschen Meinungen gelesen hatte.
Anna Gawlitta
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freiTEXT | Isabella Krainer
Edith
Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, da diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.
Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.
Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.
Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.
Isabella Krainer
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freiTEXT | Lisa Krusche
Maritim Grand Hotel
Das Flattern des Absperrbandes im Wind. Die Locke, die über deine Wange Richtung Mund streicht. Du, den Joint in der Hand mit dem Siegelring, wie du einatmest, noch mal einatmest, damit der Joint mehr reinknallt. Dein Blick in Richtung Plakate und was du erzählst. Dein Ausatmen und um die Ecke der Obdachlose im Schlafsack und ich, die ich mich frage, ob er schon erfroren ist. Das Maritim Grand Hotel im Hintergrund, Waschbetongebäude, mit diesen Fenstern, innen warmes oranges Licht und die weißen, mal halb mal ganz zugezogenen Gardinen. Du sagst, du müsstest noch mal herkommen, bevor wir überhaupt richtig da sind. Die Kälte und das Bild auf dem Plakat und zu jeder Sekunde mein Körper und das Gefühl meines Körpers, der sehr bewusst ist in seinem hier stehen und noch bewusster in seinem Sehnen. Die Strähne, das Klackern des Absperrbandes, quadratische Betonplatten auf dem Boden, die Härchen auf deinen Fingern, die Strähne und mein Gedanke, ich müsste Film machen, Film ist das Mittel der Wahl, weil es alles hat, Bild und Ton und Text, wenn man will, und der Wunsch eine Kamera zu haben, um alles, um dich aufzunehmen und die Strähne und die Hand und der Joint an deinen Lippen, und noch viel mehr der Wunsch endlich aufzuhören diese Dinge zu tun, die ich tue, aus Pflichtbewusstsein, und stattdessen nur noch dich zu filmen und alles aus Lust.
Lisa Krusche
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freiTEXT | Bas Lindgaard
Von Licht und Schatten und Wind und Ratten
Ich bin ein Landstreicher und brate Ratten über offenem Feuer, wenn der Hunger zu groß wird. Eigentlich will ich kein Fleisch essen, vor allem nicht das von quietschenden, pfeifenden Abfallwesen, aber oft bleibt mir keine andere Wahl. Ich mag Beeren und Gemüse, und letzten Herbst habe ich mir meinen Beutel bis obenhin mit Mais vollgestopft und tagelang nichts anderes gegessen. Was würde ich jetzt für einen dieser saftigen Maiskolben geben! Stattdessen kämpfe ich dagegen an, mich zu übergeben, während der beißende Fleischgeruch mir in die Nase steigt und das Rattengesicht im Feuer dahinschmilzt.
Aber danach geht es mir besser und wenn ich ehrlich bin, ist es mir schon währenddessen egal, was genau ich da eigentlich in mich hineinstopfe. Manchmal gelingt es mir, einen Vogel zu fangen, und manchmal ist es sogar ein schöner Vogel, einer mit gemusterten Federn, und wenn ich mich erstmal dazu überwunden habe, ihm die Flügel auszureißen, und den ersten Bissen des zarten Fleisches auf meiner Zunge spüre, kann ich das unwürdige Mahl fast ohne Probleme genießen.
Wirklich schlimm wird es erst wieder, wenn der Magen rebelliert, so, als würde er wissen, welche Abartigkeiten er da zersetzen muss. Dann hilft es meistens, zu laufen.
Beim Laufen prasseln ständig neue Eindrücke auf mich ein, ich bekomme so viel zu sehen, dass ich gar nicht erst auf die Idee komme, an mich selbst oder das Zeug in meinem Inneren zu denken. Ich denke an das Geräusch, das die Schritte auf dem Feldweg verursachen, denke an den Wind, der durch die Bäume und die Gräser streicht, daran, dass er das schon getan hat, bevor ich hier war und es noch tun wird, wenn ich schon lange mehr da bin. Vielleicht werde ich irgendwann selbst zum Wind und muss mir keine Gedanken mehr machen, über die nächste Mahlzeit oder den nächsten Winter, wenn es wieder nur Ratten zu essen gibt.
Komme ich an einen Fluss, kann ich nicht anders, als ihm ein Stück weit zu folgen. Ich stelle mir dann gerne vor, dass ich irgendwann seinen Ursprung erreiche, einen kleinen Spalt in einem großen Felsen, der bis weit über die Wolken reicht, und da oben sitzen die Götter und trinken Wein und wundern sich über die Menschen. Darüber, dass sie Ratten fressen, statt zum Wind zu werden.
Die Steine am Ufer sind älter als ich und müssen nichts sagen, damit ich von ihnen lernen kann, sie können nicht denken, also sind sie glücklich. Mit ihnen würde ich mir gerne den Magen vollschlagen, ich würde mich nicht schlecht fühlen dabei, vielleicht würde ich in den Fluss steigen und auf den Grund sinken, zu den anderen Glücklichen, die einfach da sind und an nichts weiter denken.
Aber heute noch nicht. Heute streife ich durch die Felder und wenn die Sonne droht, hinterm Horizont zu verschwinden, lege ich mich in einer Scheune zur Ruhe …
Am nächsten Morgen schaue ich zuerst in den Lauf einer Schrotflinte, dann in das harte Gesicht des Mannes dahinter. Und ich verstehe ihn nicht, ich verstehe seine Worte, aber ich weiß nicht, warum er wütend ist, ich weiß nicht mal, ob es wirklich Wut ist oder irgendwas anderes, irgendwas, das er selbst nicht versteht. Und weil ich nichts verstehe, schließe ich die Augen, und sehe wieder das schmelzende Gesicht der Ratte, und als der Schuss ausbleibt und ich die Augen wieder öffne, sehe ich das Gesicht des Mannes, das langsam zerschmilzt und weich wird und dann lässt er die Schrotflinte sinken.
Er will wissen wie ich heiße und ich sage Fedka und dann will er wissen, was ich mache, außer in fremde Scheunen einzubrechen, und ich erzähle ihm von den Ratten und von den Vögeln, und dann fragt er mich, ob ich für ihn arbeiten will. Will ich, sag ich.
Und jetzt esse ich Eier von Ulinovs Hühnern und all die anderen Leckereien, die seine Vorratskammer hergibt, und helfe ihm auf seinem Hof und den Feldern, was meistens bedeutet, dass ich die Krähen verscheuche, die in den Baumwipfeln ausharren und lauern.
So vergehen die Tage und Ulinov ist zufrieden mit mir. An das harte Gesicht kann ich mich kaum noch erinnern, er nennt mich liebevoll »Vogelscheuche Fedka« und erzählt von seiner Frau, davon, wie sie eines Nachts mit seiner Tochter fortging und nicht mehr wiederkam, und wie sehr er die beiden liebt und vermisst und ich verspreche ihm, die beste Vogelscheuche weit und breit zu werden, damit die Vorratskammer aus allen Nähten platzt, wenn seine Frau und seine Tochter zurückkommen. Und er lacht und er freut sich und sagt ja, mein Sohn.
Dann kommt der Briefträger. Es ist das erste Mal, seitdem ich hier bin, dass Ulinov Post bekommt, und es soll auch das letzte Mal bleiben, denn nachdem der Briefträger ihm den Brief vorgelesen hat, fasst mein Freund sich ans Herz, und ich hätte ihn gerne noch gefragt, was denn los ist, und noch tausend andere Dinge, doch sein Gesicht ist schlohweiß und so hart, wie es damals war, und ich habe Angst und bleibe still. Ich bleibe auch dann noch still, als er zu Boden sackt und fange erst an zu weinen, als ich seinen leblosen Körper in den Armen halte und in ein fremdes Gesicht blicke, eines, das weder hart noch weich ist.
Dann wird Ulinov begraben. Ich war noch nie auf einer Beerdigung, ich verstehe nichts von dem, was der Mann im schwarzen Umhang spricht und werde sauer auf ihn und frage mich, ob er der Tod ist.
In den Friedhöfsbüschen lauern die Ratten wie die Krähen, und nachdem Ulinov in der Erde versunken ist, erschlage ich aus Wut jede einzelne von ihnen, und ich weiß noch nicht mal, ob es Wut ist oder irgendwas anderes, was mich das tun lässt. Ich stopfe sie in den Beutel, den gleichen Beutel, der letzten Herbst noch voll mit saftigen Maiskolben war, früher, als alles besser war.
Denn jetzt sitze ich alleine auf Ulinovs Feld und brate Ratten und sein Gesicht hab ich schon fast wieder vergessen. Aber vielleicht ist er noch da, vielleicht ist mein Freund jetzt der Wind, der die Glut entfacht und das Feuer nährt, der gleiche Wind, der die Funken fliegen lässt, der untergehenden, blutroten Abendsonne entgegen, und das Feld in Brand setzt. Und diesmal wird es mein Gesicht sein, das in den Flammen knackt und dahinschmilzt, und ich werde still sein, während ich langsam auf den Grund des Flusses sinke und aufhöre zu denken.
Bas Lindgaard
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freiTEXT | Hannah Bründl
Luftblasenluft, Frieda
Manchmal ist Frieda die Blume. Morgens aufwachen, den Schlaf in Zigaretten ersticken, nichts mehr spüren: hoffentlich. Um Frieda dreht sich das Leben. Und sie hat das größte Verlangen danach. Sie war ein schönes Kind. Weich und gelockt, rund köpfig, speckig. Eine mit Marmelade gefüllte Buchtel.
Die Tiefe hängt sich wie ein Bleigewicht an ihr Inneres. Es wird aus ihr herausgezogen und schwebt nach unten, sie sieht ihm angewidert hinterher. Ein ewig dunkler Raum unter ihren paddelnden Füßen. Fische werden an Stangen von Menschen in schwarzen Anzügen vorbeigetragen. Sie formen Seifenblasen in der kalten Bühnenluft: Haut zerreißende Drahtwindungen mit Seifenlauge.
Friedas Mutter ist oft in der Früh dort gewesen. Große gläsernen Insektenblasen klirren. Sie schwirren blind durch die kalte Luft, klinken hell aneinander. Manche baumeln von durchsichtigen Fäden an den Ästen der Knotenbäume. Friedas Mutter hebt die Äpfel vom nassen Boden. Es ist Frieda immer ein Rätsel gewesen, wie sie so schrecklich jung sein konnte. Sie macht ihr dafür Vorwürfe. Die Äpfel schmecken sauer und tragen altmodische Namen.
Mittwoch ist ein guter Tag für Regen. Das Fenster offen, entblößt vor der sperrangelweiten Welt. Frieda davor. Stumm und sprachlos angesichts der gewaltigen Normalität. Auf ihrer Haut tauchen kleine pulsierende Punkte auf. Sie leuchten, blinken, färben sich blau und platzen in ihr Blut auf. Auf dem Boden unter ihr hat sich eine Pfütze gebildet.
Frieda heißt eigentlich nicht so. Sie ist entwachsen, ist werdend, etwas werdend. Eine Aufgabe meisternd, die Socken zumindest selbst stopfend. Kaffee auf Vorrat kaufend. Und ganz viel Puder auf der Nase. Die Äpfel schrumpeln zwar in ihrer ledrigen Schale dahin, aber Friedas vergangene Mutter kann neue pflücken.
Wenn sich Frieda bückt, um ihr Kleid rauschend vom Boden zu heben und es über ihre Hüften zu streifen, zerrt der Wind ihre Haare hoch in die Luft. Sie war lange nicht mehr zuhause, außerhalb der speerspitzen Türme und Mauern, ist schlaflos angetrieben durch die Stadt gelaufen, aber abends erkennt sie, dass der Herbst beinahe zu Ende ist. Der Sturm hat ihr bereits schlürfend die Haut von den Knochen gesaugt, wie Spaghetti, und die Sonne scheint blank auf die kahle Erde. Alles fehlt.
Nachts ist es ruhig und plüschig in der Luft. Leere Flaschen auf dem Parkett. Das gleißende Licht vertieft die leeren Namen. Jung sein, um traurig zu sein, denkt Frieda. Luftblasen zerbrechen an ihrem runden Kopf. Er verformt sich dabei.
Hannah Bründl
Dieser Text erschien vor kurzem im Souterrain Magazin.
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freiTEXT | Katharina Goetze
Der Senior Change Manager Samsa geht baden und gewinnt an Profil
Diese Dinge passieren gerade dann, wenn man glaubt, man sei auf alles vorbereitet. Das ist klar.
Aber die Erkenntnis, dass ich meine Veränderung nicht ändern kann, traf mich erst, als ich heute Morgen aus der Badewanne stieg und das Wasser von meiner ledernen Haut abperlte, ohne Feuchtigkeit zu hinterlassen. Ich brauchte plötzlich kein Handtuch, die Nässe formte sich auf mir zu kleinen Flüssen, die ihren Weg gen Boden fanden und in den Ritzen der Badezimmerfließen mündeten, wo Ozeane entstanden. Ohne Erstaunen stellte ich fest: Ich war so schnell wie nie zuvor trocken, ich war gut gepanzert gegen das Wasser.
Ich hatte schon eine Weile zuvor den Verdacht gehegt, dass ich in eine Abwärtsspirale geraten bin. In der Burnoutdiagnostik wahrscheinlich irgendwo zwischen Stufe sieben und elf. Man kennt das: Es beginnt mit Rückzug und Meidung sozialer Kontakte, dreht sich dann weiter zu deutlicher Verhaltensänderung, danach bei Stufe neun Depersonalisierung durch Kontaktverlust zu sich selbst und anderen, und so weiter. Bei Stufe zwölf sind die Suizidgedanken kaum mehr auszuhalten und werden in der Regel auch nicht mehr ausgehalten.
Ein paar Wochen oder Monate lang schon hatte ich mich seltsam gefühlt, irgendwie down und under pressure. Seit dem desaströsen Acquisition Pitch in Abu Dhabi mindestens, soweit ich mich erinnere. Als würde ein Gewicht auf mir liegen. Je höher ich mich reckte, je stolzer ich mich aufrichtete, desto weiter drückte es mich nach unten. Und ich griff ja immerhin hauptberuflich nach den Sternen, sollte ich an dieser Stelle erwähnen.
Die Frau war verreist, vielleicht war das schon eine Weile so. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal von ihr gehört hatte. Ich hatte versucht, den Zustand, so gut es ging, zu ignorieren. Mir meine noise-cancelling headphones, die ich sonst nur auf Interkontinentalflügen benutzte, auf die Ohren geschoben, um das Grillenzirpen und Wellenrauschen loszuwerden. Heimlich hatte ich sogar ein paar Pilatesübungen gemacht, und dabei verzweifelt versucht, mein Powerhouse zu reaktivieren.
Gestern war es dann allerdings so schlimm gewesen, dass ich mich fast krankgemeldet hätte.
Es war weniger das Unwohlsein selbst, als die Sorge darüber, dass es mir auffiel. Dass mein Körper plötzlich so präsent war, wie bei keinem Ultramarathon-Training, bei keinem High Intensity Workout zuvor. Wenn es mir in meinem Erwachsenenleben je irgendwie gegangen wäre, so konnte ich mich zumindest nicht daran erinnern. Das hier erschütterte mich.
Aber dann wog die Angst vor den Folgen einer Krankmeldung im Allgemeinen und im Speziellen meinem Chef, dem Director of People and Culture, der in zwei Wochen mein Appraisal durchführen würde, doch schwerer. Ohne einen nicht selbst verschuldeten Autounfall oder Dengue-Fieber brauchte ich es gar nicht zu versuchen.
Also schleifte ich mich durch den Tag. Doch all die Dinge, die mir sonst eine gewisse Befriedigung gegeben hatten – zum Beispiel im Vice President’s Office unter den Augen der Board Members mit Keywords bekritzelte Papierbögen vom Flipchart reißen, allein im Aufzug meinen Elevator Pitch vor dem Spiegel üben und mich dabei filmen, nach 22 Uhr Emails ans Team weiterleiten, oder den Junior Associate bitten, sich bis morgen um meine Reisekostenabrechnungen von letztem Jahr zu kümmern – bewegten nichts in mir.
Nach vier hielt ich es nicht mehr aus und verließ, unter dem Vorwand noch zwei Client Meetings und ein Working Dinner zu haben, das Office. Daheim brach ich schon auf dem Flur zusammen. Das Rooftop Loft war leer. Meine Atemgeräusche prallten an den perlgrauen Wänden ab und verstärkten sich zum Echo, als hätte jemand die Bluetooth Speaker übersteuert. Ich lag auf dem Boden, starrte die Zimmerdecke an und fragte mich, warum niemand außer mir da war. Dabei wurde ich starrer und starrer und der Geruch abgezogener Tierhaut breitete sich aus. Mein Äußeres war ausgetrocknet, hart und unnachgiebig und meine Bewegungen veränderten stufenweise ihre Frequenz. Mein Hirn hatte die Steuerung verloren, ihm hierarchisch unterstellte Körperteile mutierten plötzlich zu Anarchisten, die gegen die Befehle von oben Sturm liefen und frech machten, was sie wollten. Es war ein Zappeln, ein Kribbeln, ein Surren und Zwitschern in mir, ein ganzer wildgewordener Zirkus mit Tigern und Zaubertricks, die ich selbst nicht durchschaute. Ich merkte, wie nutzlos ich allein war. Das Verlangen, von jemand anderem, der die Richtung kennt, mitgenommen zu werden, jemandem einfach nur so zu folgen und behilflich zu sein, kam mir in den Sinn.
Der Gedanke machte mich wütend, dann ängstlich. Grundsätzlich diagnostizierte ich eine tiefe Verunsicherung in mir. Sie saß ein paar Schichten unter der Oberfläche, hatte sich verkeilt unter dem Brustbein, wo sie leise und doch beharrlich vibrierte. Wie konnte das sein? Ich war doch gottverdammtnochmal ein Leader, kein Follower. Ich war ein Creator. Dafür hatte ich mein eigenes American-Style Office mit Jalousien am Ende des Ganges, samt gläsernem Besprechungstisch, gerahmter Banksy-Streetart an den Wänden und bequemen Bean Bags aus einer Kooperative in Guatemala. War ich nicht jemand, zu dem die Heerscharen von Teamleadern und Assistants ehrfürchtig aufschauten, dessen Blick sie bei flüchtigen Begegnungen auf den Korridoren lieber auswichen, jemand der wusste, wo es langgeht?
Doch als erfahrener Change Manager war mir auch klar, dass Change bei den Betroffenen nie gut ankommt. So auch bei mir nicht. Ich versuchte mir die einzelnen Stages nach Lewins Modell in Erinnerung zu rufen. Aber es ist etwas Anderes, wenn man sie auf sich selber anwenden soll, statt auf eine Gruppe alternder Telefonistinnen, deren Jobs nach Manila ausgelagert werden. Wie so viele meiner Stakeholder zuvor, versuchte ich das Offensichtliche zu leugnen, wand ich mich, wehrte ich mich – und gab doch schließlich den Kampf gegen den Change auf. Ich wurde resignierter, schwächer, dann friedlicher. Ganz am Ende der Nacht embracete ich den Change sogar. Ich drückte mich fest an ihn und sog seinen salzigen Meeresgeruch ein. Dann wuschelte ich ihm durch das sonnengebleichte Haar und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze, was uns beide zum Kichern brachte.
Heute Morgen, als der Change in der Küche war, wo er die Espressomaschine übersah und mir stattdessen ein Glas Milch warm machte, während ich das wimmelnde, wuselnde Leben in den Ozeanen zwischen den Badezimmerfließen bestaunte, akzeptierte ich dann endlich, dass ich nicht mehr der Alte war. Ich würde nicht mehr in dieses Büro gehen, ich würde nicht mehr führen können.
Ich bin jetzt nur noch ein Wanderschuh. Das ist die ganze Wahrheit.
Ich bin graubraun, matt. Mit hellbraunen Schnürsenkeln, ohne Einlage, kein Markenname. Die Größe unlesbar, vielleicht eine 42, grob geschätzt.
Die Leute werden Fragen stellen, was das denn zu bedeuten hätte, und ich werde keine Antworten geben können. Die Jüngeren werden es vielleicht noch als selbstironisches Statement interpretieren, der Rest die Blickrichtung ändern, von jetzt an auf mich herabschauen. So oder so wird man über mich reden. Ein Wanderschuh, gütiger Gott. Noch nicht mal ein Sneaker, noch nicht mal ein Mid Cut, werden sie sich zuraunen. Noch nicht mal „Just do it!“.
Aber was soll ich ihnen entgegnen, wozu mich mit ihnen anlegen. Es ist ja so, wie sie sagen. Ich erhebe nicht mehr den Anspruch, irgendetwas Besseres zu sein. Lieber verbringe ich mein Leben in einer Ecke stehend, jedenfalls solange da niemand kommt, der mich will.
Auf der Haben-Seite rechne ich mir zu, dass ich imprägniert bin und eine robuste Sohle mit ordentlichem Profil besitze.
Ich habe keinen Selbstzweck und kenne keine Selbstwirksamkeit.
Ich muss jemanden halten, um rennen zu können.
Katharina Goetze
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