freiVERS | Karin Posth

vatersprache. mutterland

sage: sprache. sage: mutter, vater.
und nun setze die wörter zusammen. du sagst:
muttersprache. vatersprache gibt es nicht.
obwohl dein vater alleinerziehend ist?
wie sollen kinder sagen, die eltern aus
zwei ländern haben?
und flüchtlingskinder,
geflohen aus dem heimatland, in dem sie längst
keine heimat mehr haben.

sage: land. sage: mutter, vater.
und nun setze die wörter zusammen. du sagst:
vaterland. mutterland gibt es nicht.
weißt du nicht, dass der engländer von
motherland spricht?
sollten wir nicht lieber mutterland
sagen, um nicht noch einmal zu beklagen,
dass der mensch durch nichts
so leicht, so schnell
zum mörder wird
wie durch sein vaterland.

Karin Posth

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freiVERS | Simone Scharbert

aufräumen I, 10:05

(eine schneise schlagen, zögernd)

abgewischte leere auf tischen und bänken haftet
ein übergang eingefasster räume von a bis b wenig
distanz nur ein paar schritte über den schulhof und
wieder zurück zwischen mauern auf betonierten
metern in quadraten mit kleinen kindern auf
rädern später einfach so eine schneise schlagen in
diesen moment in diesen tag oder den zaun die
wenigen stunden bis mittag und zur nächsten reihe
vor biertischen und warmhalteplatten die eigene
anwesenheit spüren

(Die Flucht ins Chaos. Auf der Balkanroute sind derzeit so viele Menschen unterwegs wie nie zuvor. Wegen der »massiven Überlastung« stoppt Österreich den Zugverkehr zwischen Wien und Budapest. SZ, 11.9.15)

Simone Scharbert

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23 | Andreas Haider

Der Weihnachtsbaum

Dem Wald entrissen,
der lange schon keinen Schnee mehr sah,
ins Wohnzimmer gestellt,
geschmückt mit Glitzerzeug und Kerzen,
und Süßem in Alufolie.

Da steht er nun,
eingeschraubt ins Christbaumkreuz,
quasi gekreuzigt,
so, als ob es zwischen Weihnachten und Karfreitag
einen Zusammenhang gäbe.

Schon brennen die Kerzen,
die Lichter erhellen Raum und Baum.
Und während das Lied ertönt,
weinen die Kerzen ihre Wachstränen.
Oh Tannenbaum, Oh Flammenbaum.

Andreas Haider

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.


22 | Martin Piekar

Wintersonnenwende

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
und Schatten der Erde?
(Friedrich Hölderlin)

Amour, Amour
Alle wollen nur dich zähmen
(Rammstein)

In meinem Kopf: Ameisenrennen
Oder Blizzard –  wie du willst
– ziemlich dunkel jedenfalls. Und
Alles um mich herum hat zum Gegenteil
Den Kittel der Jahreszeit so
Abweisend und vertuschend angenommen.
Ich knittere ihn bald. Mit Spuren ins
Weiße, hinein
Ins Caspar David Friedrichsche – tief, tief
Schlafen meine Versuchungen
Und Vermutungen noch. Unter Frösteln.

Mein Herzblut, es ist meine Zeit
Des Erwachens. Aber ich will
Noch gar nicht, nur noch
Ganz kurz… bitte. Ich weiß um meine Furcht. Sie
Gurgelt schon. Jetzt. Lasse ich’s doch
Noch schlummern. Ich steige allein.
Aus dem Höhlengleichnis
Unserer Liebe. Dem Bett.
Mon Amour… Alte Minne.
Verkriech dich, glaub mir.
Verkriech dich vor mir.

Ach Herz. Reife nur, aber
Reif nicht zu viel; es ist Winter-
Sonnenwende: die Schatten fallen
Über ihre Lichter her. Wir sind,
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben.

Schlaf einfach winters. Wir
Sehen uns wieder.
Schlaf einfach durch.

 

für Benjamin Lebert

bereits veröffentlicht in Bastard Echo (Verlagshaus Berlin, 2014)
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21 | Claudia Wallner

Ein harter Winter.

Früh
dunkelt mein Tag
sich zum Abend

Lang
verbleiben eisige
Schattennächte

Wo
durchzitterte Lippen
erblaut sind

Sich
da zu erwärmen
fällt schwer

Und
dünne Haut friert
schutzlos dahin

Wo
mehr und mehr
Eiskristalle

wuchern

Weil
nichts mehr da ist
um sie zu

schmelzen.

Claudia Wallner

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20 | Gundula Maria von Traunstein

Eisverkrustetes Zweiggewirr

Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.
Ich bin gegangen,
hab dich zurückgelassen,
alleine.
Im Schein der Straßenlaterne
steh ich jetzt
und weine.
Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.

Gundula Maria von Traunsee

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19 | Andreas Schumacher

Hymnen an die Weihnacht

Welcher überarbeitete, feierabendfixierte Familienvater
fürchtet nicht vor allen Verpflichtungen des Kalenderjahres
den – Jesus Maria! – frustrierenden Einkauf der Weihnachtsgeschenke –
mit seinen hieroglyphischen Wunschzetteln und unausgesprochenen Erpressungen,
der heillosen Hektik und Schnäppchenpreisjagd.
Wie ein zwischenmenschliches Wundermittel kittet er
familiäre Spannungen,
mildert Vernachlässigungen,
radiert verletzende Worte.
Seine zuverlässige Erledigung allein
garantiert eine friedvolle Stimmung
am Abend des Herrn.

Einst da ich astronomische Summen verpulverte,
da in ein Nichts sich auflösend meine MasterCard zerbröselte,
in ein phänomenal schwarzes Loch
sich ohnehin längst verflüchtigt hatte mein Kontoguthaben
und ich mit lausig-lächerlichen einhundertsiebenunddreißig Euro in der Tasche
im SATURN stand, einsam wie kein Mensch zuvor,
zahlen nicht konnte und auf Raten finanzieren nicht,
und an den von meinen Geliebten begehrten Warengütern
mit unendlicher Sehnsucht hing,
ein Waschlappen wie kein Mann zuvor,
da besann ich mich eines alten, verbotenen, geheimnisvollen Kunstgriffs –
du, Kleptomanie, Triebabfuhr gelangweilter Aufsichtsratsgattinnen,
kamst über mich, und mit einem Mal
schwand meine kleinkarierte, bürgerliche Rechtschaffenheit.
Zum Staubwölkchen wurde das Preisschild.
Tütenweise mopste ich, und erst seitdem fühle ich
die schwitzende Hand des allmächtigen Vaters.

Wie dumm und überaus unnötig
dünkt mir das ordnungsgemäße Bezahlen der Ware an der Kasse nun –
wie königlich-würdig der Ausgang am Drehkreuz.
Gern will ich die fleißigen Flossen rühren,
überall einstecken, was man grad so braucht,
entfernen die kleinen versteckten Sicherungsetiketten.

Die Kinder werden strahlen,
ich schiebe alles ein.
Ich werde nicht bezahlen
und Superdaddy sein!

Muss denn immer dieser Hansel, der Ladendetektiv, wiederkommen?
Endet nie seine Schicht?
Gottverdammter Motherfucker,
verzehrt den himmlischen Anflug der Weihnacht.
Kann denn nie einfach mal dieses ganze
elektronische Überwachungsdingens ausfallen
und dann am Eingang bitte freundlichst darauf hingewiesen werden?

Längst weiß ich, wann die letzte Bescherung sein wird –
wenn, in Handschellen gelegt, ich einst heimgeführt werde.

So komm ich – mit dem blauen Bus
und leerem Sack – nach Haus am Schluss.

Gnad Gott, dass ich die Schuld begleich’,
umsonst ist nur das Himmelreich.

Andreas Schumacher

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18 | Sigune Schnabel

Tagschmelze

Du sagtest,
Erinnerungen wachsen im Schatten
zwischen Gesteinsbrocken.
Doch der Gipfel lag karg im Dunst,
die Luft so dünn,
dass sie von der Last der Vögel
zerbrach.

Als wir von Flüssen sprachen,
taute der Schnee in den Grund der Worte,
und deine Haare flatterten
wie Segel.

Ich pflückte das Moos
von deiner Stirn
und ließ es zwischen Felsen liegen.

Lange vor den ersten Flocken
trieben Silben
auf den Wegen
und zerfielen unter den Füßen.

Sigune Schnabel

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16 | Maximilian Michl

Darstellung gemeinsamer Topologie (geometrisch, mäandrierend)

Wenn du ziehst
dann geb ich Druck
sanft, folgend deinem Weichen

Das, was du willst
wollt’ ich bereits
umriss schon erste Zeichen

Wenn wir wo sind
sind wir ein Tanz
umkreisen gemeinsam

Weil wir wer sind
sind wir sonst einzeln
alleine, nicht einsam

Dann, wenn mein Kreis
den deinen deckt
in filigranster Passung

Trinke ich gierig
aus dir Kraft
und geb dir dafür Fassung

Du lässt dich
setzen, fassen
uns: klinken ineinander

Ich: berste schier vor Kraft
wir: waren Kreis,
werden Mäander

Deine Facetten brechen Licht
umgeben dich mit Funkeln
nur

neben dir
bin ich bei mir
Ich möchte, dass wir schunkeln

Maximilian Michl

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15 | Claudia Maria Kraml

zwischenstation

stummes wispern ferner zeiten
allegorie dem raureif gleich
lässt zurück des frühlings leiden
das neuer namen kenntnis weicht

alte lettern voll der mären
erwachend hoffnung leicht zerspringt
aufenthalt nicht um zu währen
kälte bald durch rückgrat dringt

wo der winterwind mit flocken
blasse straßen nachts durchfährt
und zerreißend hell der glocken
luftbotschaft einlass begehrt

und engelsschwert geformt aus stahl
vor des trubels froher schar
erdolcht der grenzen flieh’nde qual
rettet zukunft übers jahr

funkelnd blick wie kieselsteine
bleibt in traumes mut besteh’n
geflüstert wort es ist das meine
verweile doch du warst so schön

Claudia Maria Kraml

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