ZZZ 10/12 | Katrin Theiner
Katrin Theiner, 1981 in Steinheim (Westfalen) geboren. Hat 2006 den Sprung aus der Provinz nach Berlin geschafft – mit einem Magister in Germanistik und Medienwissenschaft in der Tasche. Sie arbeitet als Texterin und Schreibcoach und veröffentlicht online und in Literaturzeitschriften. Aktuelle Texte sind in der„Trashpool“ und in „Das Prinzip der sparsamsten Erklärung“ zu finden. Sie war Finalistin beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2016 und veröffentlicht im Herbst 2016 Erzählungen beim Hamburger Literatur Quickie Verlag.
Katrin ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Die Dunkelheit störte, die Locken auch" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.
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Buchstabierte Blumen
Vielleicht könnte ich ihre Welt besser verstehen, wenn ich in ihren Schuhen laufen würde.
Aber ich lasse sie schlafen. Durch die getönten Scheiben sah alles, was nichts mit uns zu tun hatte, nutzlos aus. Verlassene Fabrikhallen, übersonnte Weiden, breitschultrige Wassertürme und dahingekleckerte Häuser. Spargelfelder schmissen sich vor uns hin, Wolkenschwärme malten fliehende Schatten auf zu große Felder. Wir fuhren die Strecke zum vierten Mal. Tim und ich. Zweimal hin, zweimal zurück. Vorbei an dem Bahnübergang mit den gelben Schranken, daneben die verhüllten Tennisplätze, gleich das Rapsfeld mit den Gülletanks, die spitz zum Himmel zeigten. Der Zug glitt zu leise über die Schienen. Mir fehlte etwas. Das Rumpeln, die Geräusche, das Knacken von Lautsprechern. Irgendwas Echtes, am besten was zum Anfassen oder Riechen. Vielleicht etwas, das in der Hand schmolz, sich auflöste, einen klebrigen Film auf der Haut hinterließ. Etwas, das zu mir gehörte, wie Nowitzki zu den Mavericks. Etwas, das mir das Gefühl geben konnte, noch in meinem Körper zu stecken, diesem Ding, das ich immer für zu Peter Parker gehalten hatte – vor dem Spinnenbiss. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt roch alles nach ihr. Und über ihren Duft hatte ich mein Lakers-Trikot gezogen, die Nr. 24. Das hielt ich für das mindeste, auch wenn es das alte Trikot meines Vaters war, das er mir dagelassen hatte, an dem Tag, als er ausgezogen war. „Mach was draus“, hatte er gesagt und mich angeschaut, als warte er auf eine Entschuldigung für die letzten vierzehn Jahre.
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Wind, Kind, Blind, Rind
Polly, so möchte sie genannt werden, habe ich in einem Forum für Allergiker kennengelernt. Erst schrieb ich mir mit Ellen, die unter kreisrundem Haarausfall und einer pelzigen Zunge litt und gerade dabei war, einer Unverträglichkeit gegen Zitrusfrüchte und vielleicht auch gegen ein neues Waschmittel auf die Schliche zu kommen, aber auf ihrem Profil-Bild hatte sie dieses typische Verena-Gesicht; schmales Kinn, pädagogisches Lächeln, durchsichtige Zahnkanten, massenweise Wirbel am Haaransatz, und so sehr ich mich auch bemühte, es fühlte sich einfach falsch an, sie nicht Verena zu nennen. Irgendwann schrieb sie, ich solle doch an einer Pekannuss ersticken, ich sei geisteskrank und seitdem hat sie nicht mehr geantwortet. Gestern schrieb mir Polly und erzählte von Nährstoffmangel, Brust-Migräne, einer abgebrochenen Darmsanierung und ihrer Liebe zu Nirvana. Ich beichtete ihr, dass mein Schnäuzer alleine dafür dient, die Blätterkrokanthaut in meinem Gesicht zumindest zwischen Nase und Mund zu unterbrechen und dass Schließfrüchte aller Art mein Tod seien. Come as you are, schrieb sie und heute treffen wir uns.
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Landschaft zum Verschwundensein
Der Herr Onkel war tot. Den Mund voll brauner Fichtennadeln, den Bart auch, als hätte er einen zu großen Löffel Suppe in sich hineingeschaufelt, bei dem die Nudeln zwischen seinen Lippen wieder rauskamen. Oder als hätte er vor Hunger seine eigenen Bäume gefressen und war an Rinde, Harz und Zapfen erstickt. Die Tannenschonung hatte angefangen ihn zu beerdigen, warf Sand auf seinen muffigen Kompostsarg aus Ästen und Laub, aber bevor der Wald den Grabstein setzen konnte, den letzten Spruch aufgesagt hatte, und der Herr Onkel hätte es verabscheut, das Gefasel um Himmel, usw. usf., hätte geschrien, mit Gott und so hätten nur Arschkriecher was am Hut, und bevor die Bäume hinter der Lichtung an der Grabstätte für immer für Ruhe sorgen konnten, hatte ein Waldarbeiter seine Leiche in moosgrünen Gummistiefeln im Unterholz entdeckt.
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freiTEXT | Maik Gerecke
Schriftstellernöte
Für mein Romanprojekt, in dem es um einen Swinger-Club geht, betrat ich die Höhle des Löwen, setzte mich mit einer Freundin in die U8 und fuhr zur Heinrich-Heine-Straße, um im berühmt-berüchtigten KitKatClub Berlin Input zu finden.
Und ich bekam, was ich wollte.
Schon als wir der Tür nur näher kamen, steigerte sich die Aufregung merklich. Wir zitterten etwas und ich hatte das Gefühl, meine Atmung unter Kontrolle halten zu müssen. Neben uns stiegen drei Kerle in Tutus und engen Strumpfhosen lachend aus einem Taxi und es war klar, wohin sie in diesem Aufzug wollten. Meine Begleitung packte mich sofort am Arm und beteuerte, wir müssten uns beeilen, um noch vor »denen da« die Türsteher zu passieren. Denn im Vergleich zu ihnen wirkten unsere Aufzüge äußerst langweilig. Vorallem meiner.
An der Tür wurden wir kurz aber eindringlich gemustert und ich sah die Skepsis in den Augen des Türstehers aufflammen. Er zuckte mit den Schultern, seufzte, schaute dann zu seiner Kollegin und sagte: »Mach du dit ma.«
Die erste Hürde war genommen, beim Bezahlen wurde es jedoch kritisch. Ich trug eine lange schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein offenes schwarzes Hemd darüber. Die Frau an der Kasse musterte mich ungläubig und sagte: »Haste vor, dich noch umzuziehen, oder wie?« Ihr Blick verharrte auf meinem Körper. »Also so … nää, so jeht dit nich.« Und ich sagte nur: »Ähm …« und dann erst Mal nichts mehr.
»Naja«, mischte sich meine Begleiterin schulterzuckend ein, »er ist halt Schriftsteller« und verzierte ihre Aussage mit einer Was-willste-machen-Geste. Sie wolle einfach mal mit mir tanzen gehen, erklärte sie weiter, und setzte dann ein bittendes, zuckersüßes Gesicht auf. Passend zu ihrer pinken Strumpfhose.
»Na, dassa Schriftsteller is, is ja schon ma jut, aber kanna nich wenigstens dit T-Shirt ausziehen?«
Die Verhandlungen begannen. Witzigerweise erledigten die beiden Frauen den Bärenanteil der Gespräche. Ich war wieder acht Jahre alt, fühlte mich klein und als beobachtete ich Mütter, wie sie in der dritten Person über mich redeten.
Man versicherte mir, es habe nichts mit mir zu tun, ich könne sein, wie ich wolle, aussehen, wie ich wolle, aber eben nicht hier. Und nicht so! Das sei zu sportlich. Aber wenn ich, nun ja, das T-Shirt ausziehen würde und mit – zumindest halb – aufgeknöpftem Hemd rumliefe, dann, ja, ihretwegen. Und auch wenn die Angestellten des Clubs die gewohnte Strenge des Berliners aufwiesen, erfuhr ich sie als ungewöhnlich freundlich. Regelrecht einladend. Für Berliner Verhältnisse.
Ich musste mich also umziehen.
Aber wo tut man das hier doch gleich? Wo sind die Umkleidekabinen? Ich suchte vergeblich. Das Umziehen erledigt man direkt an der Tür, gegenüber von der Kasse, da aber noch kaum jemand anwesend war, bekam ich davon nichts mit. Also ging ich wie ein verschüchtertes Pastorentöchterchen aufs Herren-Klo, an ein paar nackten, mit Lederriemen behangenen Kerlen vorbei, verkroch mich in einer Kabine und zog mich um. In dem merkwürdigen Bewusstsein, einen Fehler zu begehen. Danach wurde ich erneut der Frau an der Kasse präsentiert, die mich jetzt freundlich anlächelte, mir dann auf die etwas behaarte, bleiche Brust starrte und sagte: »Na siehste! Das ist doch schon echt sexy!«
Ich war in keiner besonders guten körperlichen Verfassung an diesem Tag, da ich den Abend zuvor bereits ziemlich über die Strenge geschlagen hatte. Ausgerechnet heute hatte ich einen dieser Tage, an denen man schwört: Heute kein Tropfen Alkohol.
Wir gingen als erstes ein wenig durch den Laden, schauten uns alles an. Den Pool-Bereich, die Chill-out-Area, die verschiedenen Floors, Ecken und Ebenen. Es war noch früh und der Laden relativ leer. Die ersten nackten Kerle streunten bereits durch den Club oder saßen herum. Ich sah einen älteren Herren mit Lederoberteil, dessen bestes Stück von einem Metallring gehalten wurde, erste weibliche Brüste flogen durch mein Blickfeld und auch ein paar männliche. Ein Kerl in teurem Anzug und Krawatte fernöstlicher Herkunft, der mich an das Wort »Businesstrip« denken lies, inspizierte interessiert aber verhalten die Räumlichkeiten, kletterte dann irgendwann hoch auf das Podest mit den Poles darauf und begann zu tanzen. Vornehmlich mit den Hüften.
Dann kamen die Lederanzüge, die Hundeleinen, Ketten, Strapse, die hier von beiden Geschlechtern getragen werden, genau so wie die Netzhemden, Netzstrumpfhosen oder Stringtangas.
Ich brauchte Alkohol.
Die Reize wurden zunehmend reichhaltiger und ich dachte mir, ein guter alter Aufenthalt an der Bar würde mir eine kleine Auszeit verschaffen. Dort angekommen stellte ich fest, dass die Bedienungen nackt waren. Sowohl oben, als auch unten. Und aus einem inneren Impuls, Anstand walten zu lassen, bemühte ich mich reflexartig, meine visuelle Neugier zu unterdrücken. Nicht direkt hinzusehen. So richtig hatte ich das Prinzip dieses Laden noch immer nicht begriffen.
Drei Bier später ist der Laden auf einmal rappelvoll. Die Leute tummeln sich auf den Tanzflächen. Penisse, Vaginas, Brüste soweit das Auge reicht. Ich sehe Menschen in Ganzkörper-Bärenkostümen, Männer, die sich permanent am Glied herumfummeln. Mir verlangt es nach Bier – immer mehr Bier – und meine Knie werden schwach. Es ist, als geschehe ganz langsam etwas mit meinem Körper, das man nur auf einen Drogenkonsum zurückführen kann. Jeder Raum ist von einer bis ins Unendliche gesteigerten Scheißegal-Einstellung erfüllt, dass man glauben möchte, man befände sich in einer Parallelwelt. Plötzlich erkennst du Grenzen – in dir und der restlichen Welt –, weil sie auf einmal nicht mehr da sind. Du bist frei auf eine Art und Weise, wie du diesen Begriff noch nie zuvor verstanden hast. Ein Gefühl, glaube ich, nachdem man leicht süchtig werden kann.
Der Laden füllt sich.
Dieser Ort, er lockt dich mit süßen, nie gekannten Möglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion immer tiefer in sein Innerstes. Nackte Arschbacken berühren dich, eine Brustwarze streift deinen Oberarm, auf einem Podest tanzt ein alter, dünner Kerl in Strapse und Nylons mit einer zappelnden Erektion, lächelt zufrieden dabei. So zufrieden, wie es nur irgend geht. Ich lache, freue mich für ihn.
Ach, was soll's. Drauf geschissen. Also los, noch'n Bier geholt, Begleiterin geschnappt und ab in die Menge. Mein Taktgefühl wird zunehmend physiologisch ausgelebt und auf einmal ist das alles hier gar nicht mehr so schlimm. Menschen ziehen sich aus, klatschen sich auf die Hintern, peitschen sich, betreiben BDSM und ich denke: Ja. Warum denn auch nicht?
Ich rauche, rauche, rauche. Trinke, trinke, trinke. Tanze synchron dazu. Die ersten lüsternen Blicke von attraktiven, leicht bekleideten Frauen grienen mich an. Ganz offen und unverhohlen. Das ist ungewöhnlich in dieser Stadt, auch wenn ihr Ruf etwas anderes verspricht. So direkt werde ich normalerweise nicht beäugt, muss in der Regel viel mehr arbeiten für einen einfachen Flirt. Ist dies hier – dieser Ort – vielleicht das wirkliche Berlin, von dem jenseits seiner Grenzen so viel gesprochen wird?
Meine Hemmschwelle sinkt und sinkt. Sinkt immer weiter. Der Drang, zu der langbeinigen Blondine da drüben rüberzugehen, aus einem Lächeln die Berührung namenloser Zungen und Körperteile werden zu lassen, steigt. Aber dann suchen mich Gedanken aus der Welt da draußen wieder heim. Zweifel, Bedenken, Ängste. Was, wenn dies? Was, wenn das? Krankheiten, trickbetrügende Prostituierte, unerkannte Transsexuelle.
Ich lasse sie links liegen, nur so zur Sicherheit, aber da kommt schon die nächste, lächelt mir zu. Von etwas weiter weg. Größere Brüste, süßes Gesicht, breitere Hüften, dunkle Haare. Nicht schlecht, nicht schlecht, denke ich mir.
Warum, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an früher. Wieder bin ich ein kleines Kind, denke an die Besuche beim Fleischer mit meiner Mutter und wie die Frau hinter der Theke mir immer eine »Gesichtsmortadella« schenkte. So nannte ich sie. Ich denke an den Anblick des Fleisches hinter dem Glas und wie nur sie, die Fleischfrau, die Macht hatte, mir eine dieser Genüsse zu gewähren.
Aber dann, kurz bevor ich mich zu vergessen beginne, werde ich von meiner Begleiterin beiseite genommen, die mich wieder an die beruflichen Gründe erinnert, aus denen ich überhaupt erst hier her gekommen bin. Sie zeigt auf etwas, hat ein Gesicht, das sagt: »Schau mal, dort!« Denn hinter uns geht der Abend gerade in die nächste Phase über.
Das Gang-Bang-Armageddon beginnt.
Das KitKat verschluckt dich, definiert Normalität für dich neu. Man kann nicht leugnen, dass du an kaum einem Ort so sehr akzeptiert wirst, wie hier. Ob du alt, dick, kahl oder vollbusig bist, ob du männlichen, weiblichen, dritten, vierten oder welchen Geschlechtes auch immer bist – all das spielt hier wirklich keine so große Rolle. Ein Gefühl, dass mir keine political correctness dieser Welt je verschafft hat. Denn die gewöhnliche Werteskala ist schlicht außer kraft gesetzt. Es herrscht ein so ungewöhnliches Höchstmaß an Akzeptanz, Offenheit und Neugier. Die Menschen haben sich in der Sexualisierung des sozialen Miteinanders vereinigt. Und die Welt da draußen, sie wird in so weite Ferne getragen, wie es kein Zug, Flugzeug oder Raumschiff je bewerkstelligen könnte. Sie ist ansteckend, diese Atmosphäre. Es ist, als kämst du in die Hölle und würdest feststellen, dass die Schauergeschichten über sie sittlich befangene Verunglimpfungen waren. Keine objektiven Schilderungen.
In einer Ecke sehe ich jetzt die hübsche junge Frau liegen, die am Beginn des Abends auf der Tanzfläche noch ihren BH auszog, ein wenig tanzte und ihn dann wieder anzog. Ich dachte, es sei ihr dann doch zu viel gewesen, aber jetzt liegt sie da. Die Beine mit den Highheels daran in die Höhe gestreckt und um sie herum tummelt sich eine Horde Männer. Auf ihr liegt etwas, das aus meinem Winkel nur ein sich auf und ab bewegender Hintern mit zwei Oberschenkeln unten dran ist. Der nächste in der Reihe ist ein Kerl im Arztkostüm. Sein Vorgänger ist fertig und er klettert in die Ausgangsposition. Versenkt sein Glied.
Ein Dutzend Männer hämmert vor meinen Augen diese zierliche Frau – dieses Mädchen – durch und ich bin überrascht, dass es mich nicht so sehr schockt, wie erwartet. Mich wundert nur, dass ich kein Kondom am Penis des Arztes gesehen habe bevor er sich an ihr verging.
Ich schaue mich weiter um. Über uns auf der Hochebene hängen zwei Frauen über dem Geländer, hinter ihnen Männerschlagen, rechts und links Hände an ihren Brüsten. Die Frauen schreien lustvoll und mit geschlossenen Augen, aber weil die Musik so laut ist, hörst du es nicht. Siehst es nur. Mir ist, als schaute ich einen Porno mit einem VR-Helm und statt mich zu verkriechen, mich zu genieren, bemerke ich auf einmal Aktivitäten in meiner Hose und die Neugier in meinem Bauch kitzeln. Ganz so, als sei ich allein Zuhaus'.
Überall um mich herum wird gevögelt. Neben mir, hinter mir, über mir. Ich bin Schriftsteller denke ich mir. Stülpe mir diese Berufsbezeichnung über wie ein schützendes Tuch und mache mir mentale Notizen. Dabei interessieren mich die vögelnden Gruppen mehr als die vögelnden Paare. Die Erfahrenen Clubgänger, mutmaße ich, spüren es wahrscheinlich schon nahezu präkognitiv sich ankündigen, wenn eine Frau ihr Okay zu einem solchen Intermezzo aussendet. Gieren sehnsüchtig nach Gang-Bang-Gelegenheiten. Trauben aus gierigen, ungeduldigen Männern entstehen und die Frauen liegen dort wie eine Bienenköniginnen, entscheiden über Ja und Nein. Erleben einen beinahe religiösen Trance-Zustand des vollkommenen Kontrollverlustes.
Und nachdem ich mich von all diesen Eindrücken habe verprügeln lassen, nachdem mein Geschlechtsteil sich gegen mich verschworen hat, nachdem die Welt dort draußen nur noch eine vage Erinnerung ist, sagt meine Begleiterin zu mir: »Ich glaub', ich hab genug für heute.«
Wir verlassen den Club. Die Welt, die ich jetzt betrete, ist nicht mehr dieselbe. Die Straßen sehen »merkwürdig« aus, obwohl es genau die gleichen sind, wie vor ein paar Stunden noch. Sie sind unwirklich geworden. Überhaupt sind Realität und Wirklichkeit nur noch zwei deformierte Gebilde.
Minuten später sitze ich in der U8 auf dem Weg nach Neukölln. Völlig fertig. Erschlagen. Körperlich, psychisch und geistig. Die Normalität, durch die ich alltäglich wandele, sie verstört mich auf einmal. Ist irgendwie nicht mehr »richtig«. Ich schaue nach links, schaue nach rechts, wundere mich, dass die Leute nicht einfach vögeln, wäre nicht überrascht, wenn sie es täten. Hier in der U8. Warum auch nicht? Ist doch egal. Was ist denn unser soziales Miteinander, außer eine komplexe Systematik aus Grenzen und Privilegien, die Handlungen und Möglichkeiten in eine Ordnung bringt? Grenzen, die wir selbst – als Menschen – gezogen haben, um uns in ihnen zu bewegen, und die wir auch selbst problemlos übertreten können wie den weißen Streifen auf einer Fahrbahn.
Etwas aus dem KitKatClub muss mir gefolgt sein, sich an mich geheftet haben. Wie ein finsterer Dämon. Mir ist, als könnte ich in dieser Welt hier draußen nur noch mit großer Anstrengung funktionieren. Ich habe gesehen, was sein kann, habe erlebt, dass diese Welt hier nicht so sein muss, wie sie ist.
Die Erfahrungen, die ich machen, die Bilder und Eindrücke, die ich sammeln wollte – ich habe sie alle bekommen. Habe sogar feststellen dürfen, dass meine Fantasie in Bezug auf den geplanten Roman einiges davon vorweggenommen hat. Aber in die Menge der Erfahrungen hat sich eine Reihe unerwarteter Selbsterfahrungen eingeschlichen, die ich ohne den KitKatClub niemals hätte machen können. Dafür muss ich ihm und den Menschen darin danken. Ganz ernsthaft.
Und die letzte Erfahrung, die ich an diesem Abend machte, war eine, die ich bis jetzt noch nicht ganz verstehe. Es ist merkwürdig, da ich normalerweise ganz anders bin. Denn das letzte, was ich heute Nacht wollte, war, allein zu sein.
Maik Gerecke
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
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ZZZ 9/12 | Petrus Akkordeon
herr petrus akkordeon wurde am 27.september.1971 in berlin steglitz geboren. neben unzählbaren bildern und zeichnungen, graphiken, objekten und aktionen schreibt herr akkordeon auch. seine texte vertreibt er auf unterschiedliche weise. in verschiedenen verlagen hat er drei dutzend bücher veröffentlicht. zum teil vom ihm geschrieben und zu einem teil von ihm illustriert. studien der philosophie, psychologie,religionswissenschaften an der fu-berlin und sehr lange kunst an der hdk.berlin bei f.w.bernstein
Petrus ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "wer rollt den stein" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.
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komm komm komm
wir zerstören die stadt
wie losgerissene einhörner
und staub
bedeckt alles
und staub
schütteln wir
aus unseren echsenpanzern
und wieder staub
wenn wir uns grausam
küssen
das unsere geweihe brechen
es rieselt
meine liebste
dein pony
die katze minka sowieso
sitzen auf einer
immergrünen weide
amseln lächeln
und die leute
vegessen
die stadt
der morgen riecht nach sandelholz
und er möchte kirschblüten würgen
soviel von zuviel
und der tod
kuschelt sich dichter
er riecht nach kater
und ist eigentlich sehr schön
ein weiteres jahr gefressen
und ratten
flügelschlagsexplosionen
und ich wache auf
eine schneeflocke schmilzt
und zwischen den dörfern
alles nur schwarzer nebel
ich möchte
das ende der welt
in das amaturenbrett
deines autos kratzen
lasse es aber
wird, wenn ich recht habe,
niemand lesen
ZZZ 8/12 | Silke Vogt
Silke Vogt wurde 1966 in Hannover geboren, studierte bis 1992 in Bonn Geographie, Volkswirtschaft und Städtebau. Mitte und Ende der 90er Jahre war sie für insg. drei Jahre in Japan. Seit 1999 wohnt sie im Westerwald, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Dissertation wurde 2001 beim Deutschen Institut für Japanstudien (DIJ) publiziert. Zur Zeit ist sie “schreibende Hausfrau” und hat erste Lyrik- und Kurzprosabeiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.
Silke ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Unzweifelhafte Zwieback-Geschichten" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.
Unzweifelhafte Zwiebacks-Geschichte(n)
Zweifel zwischen Zwieback - ein zweifelhaftes Thema? Nein, weltbewegend, wie einige Stippvisiten in verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte beweisen. Chronologisch aufbereitet, damit der rote Faden zweifelsfrei erkennbar ist, kein geneigter Leser vor zu viel Neigung aus dem Gleichgewicht kommt, wobei er sich auf der globalen Universalreise verzweifelt verkrümeln könnte, unterwegs aufgepickt wird wie bei Hänsel und Gretel. Hier geht es nicht um Märchen, sondern um nackte, de facto zugleich anziehende Tatsachen. Anzügliche lassen wir weg.
Das am längsten zurückliegende Ereignis verdient ebenso die Bezeichnung historisch wie hysterisch. Es widerfuhr dem Erfinder des Zwiebacks, einem antiken Griechen Namens Πυρά, gelesen Pira, was, nomen est omen (kleiner Exkurs ins Lateinische), wahlweise „Feuerstelle“ oder „Scheiterhaufen“ bedeutet. Nicht bloß Name, zugleich Berufsbezeichnung, war er doch als versierter Bäcker berühmt für seine leckeren Brote, die nach wohltemperiertem, zeitlich minutiös, nein, sekundiös dosiertem Backen eine unvergleichliche Saftigkeit aufwiesen. Kein Konkurrent konnte ihm das Mehl reichen, was manch einen zum Konkursenten degradierte. Mit der Zeit schürte das, analog zum Feuer, auch den Neid.
Eines unglückseligen Tages ließ der größte Nebenbuhler einen metaphorisch-finalen Rettungsschuss in den Ofen los: Er lenkte das Genie mit einer schier endlosen Geschichte über unglaublich günstige Kornbezugsquellen derart geschickt ab, dass der Superbäcker, ganz Feuer und Flamme, alle Brote in der Hitze des Gefechts, in diesem Falle Ofens, vergaß. Tatsächlich schaute er erst wieder nach ihnen, als sie das Doppelte der üblichen Zeit darin geschmort hatten, eingegangen in die Geschichte als „Doppler-Effekt“. Rein mathematisch betrachtet, worin die alten Griechen schon seit Adam riesig sind, war der Teig quasi zweimal gebacken worden. So blieb ihm nur, knochentrockene, hellbraune, fast steinharte Gebilde aus der Glut hervorzuholen, und das, obwohl er sonst nichts anbrennen ließ. Die Dauer der Backzeit dauerte ihn zutiefst, mit höchst fatalen Folgen.
Unser Grieche war nicht nur antik, zugleich auch äußerst antiquiert, weshalb er Neuerungen jeglicher Art zweifelnd, dem von ihm zwangserfundenen Zwieback sogar verzweifelnd gegenüberstand. Für ihn als Mann von Ehre, die damals noch viel zählte (eins, zwei, drei, viele), bot sich nur ein vertretbarer Ausweg an: er musste aus dem Weg, weg. Minimal zwiespältig biss der Zwiebäcker todesmutig in eines der misslungenen Etwasse hinein, brach dabei einen unter Kollateralschaden zu verbuchenden Schneidezahn ab und spülte das Zwieback-Zahn-Blutgemisch, für uns heute schier unglaublich, mit einem Schierlingsbecher hinunter.
[...]
Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback
24 | Stefan Heyer
Ein Stück Seife
In die Socken hatte er den Zettel getan. Mühe sich gegeben. Viel Mühe. Die schönste Schrift. Mit Bleistift und Lineal Linien gezogen auf dem Blatt. Vorgeschrieben jeden Buchstaben. Jeden Schwung. Auch beim Pfarrer war gewesen. Zum Beichten. Wie jedes Jahr. Es war schwierig, ihn zu finden. Gerne wollte er einen Christbaum. Doch es war keiner aufzutreiben. Nicht für Geld, nicht im Tausch. Wie immer würde er an Weihnachten in die Kirche gehen, zum Gottesdienst. Auch ein altes Spielzeug wollte er dem Pfarrer geben, für andere Kinder. Doch fand kein geeignetes. Früher hatte sein Großvater immer besondere Süßigkeiten gebacken. Hatte eine eigene Bäckerei gehabt. Jetzt gab es diese Backstube nicht mehr. Aber Großvater buk hin und wieder, wenn er Mehl bekam, Brot im Keller. Dort hatte er jetzt einen kleinen Ofen, hatte ihn selbst gebaut. Aus Ziegel. Tat seinen Dienst. Aber es war schwierig an Mehl zu kommen. Weihnachten würde auch dies Jahr schön werden, ganz bestimmt. Wie jedes Jahr. Auf den Zettel hatte er nicht viel geschrieben. Ein Stück Seife hat er sich gewünscht, sein Vater machte sie immer noch, auch wenn Olivenöl knapp geworden war, Lorbeer war noch seltener. Ein Stück Seife. Er träumte von einem Bad. Das Haus stand schon lang nicht mehr. Sie wohnten jetzt bei den Großeltern, die hatten mehr Glück gehabt. Bombenangriffe. Auch die Kirche hat es getroffen. Eingestürzt. Nur noch Schutt und Asche. Der Pfarrer lebt noch. Irgendwo würde die Heilige Nacht gefeiert werden. Freiwillig würde seine Familie die Stadt nicht verlassen. Nachts hatte er oft Angst. Schüsse. Raketen. Bomben. Da verkroch er sich ganz tief in sein Bett. Seine Großmutter erzählte dann immer von früher. Aleppo war eine schöne Stadt gewesen. Früher. Eine sehr alte Stadt. 4000 Jahre alt. Viele Menschen haben hier gewohnt, früher, vor dem Krieg. Seine ganzen Freunde sind geflohen. Oder tot. Oft hat er Hunger. Er wusste nicht, ob er die Toten beneiden sollte. Er hat sich ein Stück Seife gewünscht. Weihnachten würde schön werden. Bestimmt. Ganz bestimmt. Und Schnee hatte er sich gewünscht. Schnee für Aleppo. Dann wäre die Stadt wieder schön. Aleppo als Schneelandschaft, kein Staub mehr, keine Steinwüste. Alles wäre ruhig.
Stefan Heyer
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23 | Markus Grundtner
Das Streben nach Unglück
Wenn ich daran denke, wie ich damit umgehe, mir etwas zu wünschen und es tatsächlich zu bekommen, erinnere ich mich an die Nächte vor Weihnachten, als ich noch ein Kind war:
Das Kind schwingt sich auf sein Stockbett und schmiegt den Kopf in das weiche Kissen, um tief und fest einzuschlafen. Dann beginnt das Kind zu träumen. Es träumt von seiner Vorfreude auf Familie und Geschenke. Es träumt von einer Maschine, die das Vergehen der Zeit beschleunigt. Es träumt, wie es sich hellwach hin und her wälzt. Es träumt, dass es im Bett nur Unruhe findet. Es träumt von seiner feuchten Stirn und seinem trockenen Mund. Es träumt von seiner Decke, die einerseits zu dick und andererseits zu kurz ist.
Unerwartet nähert sich der erhoffte Moment dann doch. Das Kind träumt, wie seine Glieder nicht mehr zucken, sondern matt werden. Es träumt, wie sein Geist sich entspannt und zerfließt. Es träumt, wie seine Augen sich schließen und geschlossen bleiben. Das Kind träumt vom Einschlafen.
Der Glücksfall tritt ein. Doch dabei drängen sich Zweifel auf: „Einfach so, ganz plötzlich und unverdient? Das kann doch nur ein Trugbild sein.“ So vertraut das Kind seiner eigenen Gewissheit: „Tatsächlich schlafe ich gar nicht.“ Als der Schlaf im Traum kommt, nimmt das Kind den einzig logischen Ausweg aus seiner Angst, getäuscht zu werden, und erwacht so in eine Nacht, die noch lange andauert.
Inzwischen verlebe ich meine Tage nach diesem Muster. Ich fliehe vor Wünschen, von denen ich nicht glauben will, dass sie schon wahr geworden sind, damit sie sich endlich erfüllen.
Markus Grundtner
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ZZZ 7/12 | Ulrich Moebius
Geboren 1964 in Bonn, studierte Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaften und Geschichte in Hamburg und Colorado, arbeitet seit 1992 als Lehrer in Berlin und lebt in Kreuzberg. Reist viel und gern. Schreibt Kurzgeschichten und Skizzen.
Ulrich ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Home sweet Home" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.
Home sweet home
Sein Blick blieb auf dem Display des Telefons hängen, als könnte von dort noch ein Nachsatz kommen. Arun hatte gerade mit seiner Mutter telefoniert. Es war das übliche Sonntags-Ritual. Wenn es irgendwie ging, rief Arun seine Mutter nach dem Frühstück an. Das passte meist. Seine Mutter versuchte dann im Haus ihres Bruders zu sein. Hier gab es seit einem Jahr einen Anschluss. Es hatte lange gedauert, bis sich Aruns Mutter daran gewöhnt hatte, mit ihm zu telefonieren. Sie war nicht ungestört bei ihrem Bruder, aber so konnten sie gut Kontakt halten. Seinen Schwestern fiel das leichter – sie schickten ihm mittlerweile Nachrichten über Skype, wenn sie in einem der Internetcafés der Stadt waren.
Aruns Mutter hatte sich anfangs schwer getan, aus der Distanz mit ihm zu reden. Die Zeitverschiebung betrug 5 Stunden. Sein Leben in Deutschland war ihr fremd. Es waren immer wieder die gleichen Fragen, die sie stellte.
Heute war es anders gewesen. Heute hatte sie nicht gefragt, heute hatte sie ihm erklärt, was sie für ihn geplant hatte, wenn er im Juli nach Battambang käme. Sie war in ihrem Eifer nicht zu bremsen gewesen. In ihrem Kopf hatte sie sich schon alles ausgemalt. Lange hatte sie auf diesen Tag gewartet.
Martin werkelte draußen im Garten, Arun sah ihn durch die Fenster in der Erde buddeln. Er war ganz eifrig dabei, Ordnung in den noch frischen Garten zu bringen. Mit kräftigen Armen grub er voller Tatendrang ein Beet um. Fast zwei Jahre wohnten Arun und er nun in diesem Reihenhaus in Teltow. Der Garten war Martins Sonntagsritual.
Arun spürte, dass er rausgehen und ihm helfen sollte, blieb aber am Telefon stehen.
Das Gespräch mit seiner Mutter wiederholte sich in seinem Kopf. Er versuchte die Worte zu begreifen. Warum hatte er ihr nicht widersprochen? Alles drehte sich. Wörter in Khmer, Deutsch und Englisch... und dann immer wieder ihr Name: Srey Leak! Srey Leak, das perfekte Mädchen. Hatte er sie schon einmal gesehen, so wie seine Mutter es gesagt hatte?
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Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback
22 | Andreas Haider
Weihnachtsgschicht 2016
In Idomeni kumt a kloans Kind auf’d Wöt,
in an koidn Zöt,
weis Boot wieda amoi voi is;
In Afghanistan flücht a junge Familie,
mit nix aussa eahn nocktn Lebn,
weis eahna des a nu nehma wion.
In Syrien haum a poar Terroristn
in an Weisnhaus
hundat Kinda ogschlocht;
Waun i heit de Zeidung lies -
Herbergssuche, Flucht, Kindamord -
es is eh fost wia im Weihnachtsevangelium;
wia vor zwatausnd Johr -
und de Menschheit wird net gscheida!
Andreas Haider
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21 | Valerie-Katharina Meyer
Die Bluse meiner Tante
Weisser Duft umhüllt das feine Fadengeflecht. Immer die Hände waschen, bevor du dich auf den Schoss setzt. So bleiben der Duft, die weissen Fäden unbefleckt. Und dann kommt die Geschichte, die mehr wie ein Lied ist. Das wissen deine Kinderhände. Sitzt du aber mit sauberen Händen im Schoss der Tante, so schmiegst du dich an das Kleid, drückst die Rotznase in das duftende Geflecht: Jasmin, Geborgenheit und Tante fügen sich zusammen. Kein anderes Stoffstück ist edler, feiner und zarter. Perlenstoff ist die Bluse für deine Kinderhände, und sie streicheln immer wieder darüber. Perlenstoff mit Zauberknöpfen. Sie umklammern ihn mit ihren schweissigen Fingern und wollen nicht mehr loslassen, warten auf die Geschichte, die mehr ein Lied ist. Für immer im Kokon der Tante eingehüllt sein - umspannt von der Geborgenheit der Stoffperlen, umflogen von der tiefen Stimme. Und die Tante singt ein Lied, das eigentlich eine Geschichte ist.
Valerie-Katharina Meyer
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20 | Sabrina Albers
Der Nebel In Mir
Mein Schmollen hat mir dieses Mal nur ein Rückfahrticket für den Zug eingebracht. Dass der ICE dabei überfüllt war und gar nicht bis in meine Stadt fuhr, war dir egal. Mir auch. Ich war mit Schmollen beschäftigt. Du sagst, du hast mich mehr als gern, und dafür kann ich dich nicht ausstehen. Du sagst, wir leben seit fünf Jahren so. Das ist wohl der Grund, warum ich keine Luft bekomme. Deine Nähe engt mich ein. Dein Fernbleiben noch viel mehr. An deiner Seite bin ich so inkonsequent, dass es schon wieder eine gewisse Konsequenz in sich birgt. Warum ich dich mag, weiß ich nicht. Warum deine Gleichgültigkeit mich wahnsinnig macht, noch viel weniger.
Du bist der Grund für alles und nichts. Die Lösung und das Problem. Jeden Satz wäge ich ab, aus Furcht, er könnte mich näher zu dir bringen, näher zum Abgrund. Wie es dir dabei ergeht, darüber wage ich noch nicht einmal nachzudenken. Doch ich habe eine Ahnung, dass es nicht viel anders ist.
Ich bewundere, dass du nie von deinem Weg abkommst, du magst keine Abhängigkeiten, nichts, was dich ablenkt. Ab und an gönnst du dir mich zum Zeitvertreib, als wäre ich die einzige Schwäche, die du dir gelegentlich leistest. Wenn ich wieder weg bin, hast du mehr Platz in deinem Bett, keine Klamotten mehr in der Wohnung verteilt, deine Ruhe zurück. Ich frage mich, ob du mich trotzdem ein bisschen vermisst, mein Kissen zum Einschlafen benutzt, dich fragst, wo ich gerade bin und mit wem. Als ob es neben dir jemand anderen gäbe.
Ich vertraue dir nicht, und das ist das Verrückte. Nach allem, was war, nach allem, was ist und sein wird, vertraue ich dir nicht. Das mache ich mir zumindest selbst glauben, obwohl ich genau weiß, dass ich diejenige bin, der man nicht trauen kann. Du hast es schon einmal versucht, ich bin weggelaufen. Und nun kostest du deinen Triumph über mich aus. Ich kann dich wirklich nicht ausstehen.
Die Fenster im Zug sind verschmiert, den typischen Nebel kann ich spüren, aber nicht sehen. Muss ich auch gar nicht. Ich weiß, dass er da ist. Dass er mich umgibt, seit der Minute, als ich letzte Woche beschlossen habe, zu dir zu kommen. Seitdem ist der Nebel und taucht alles um mich herum in Milch. Ich kann dich noch immer an mir riechen. Deinen Atem an meinem Ohr spüren. Deine Blicke sehen.
Deine Küsse kann nicht mehr schmecken, sie verblassen mit jedem Kilometer, den ich weiter von dir wegfahre. Was bleibt, ist dein Geruch auf meinem Körper und die Erinnerung an deine Blicke, fordernd und vorwurfsvoll. Ich vermisse dich schon jetzt. Und verfluche den Nebel. Es ist, als schicktest du ihn jedes Mal, um mich abzuholen. Wenn ich bei dir bin, kreierst du eine Zuckererbsenidylle, in der ich mich wohlfühle, mich ausruhe, du mir Sicherheit gibst, aber nur so viel, dass es gerade ausreicht, um mich in die Falle zu locken. Dann lässt du mich los und durch den Aufprall bekomme ich blaue Flecken, die mich Wochen später noch daran erinnern, dass du ebenso wenig weißt wie ich, welche Rolle ich in deinem Leben spiele. Ohne dich wäre mein Leben nicht so.
Ohne dich wäre mein Leben nicht so ...
Ob ich dich vermissen würde, ohne dich zu kennen? Die berüchtigte Sehnsucht nach einem unbekannten Ort? Ich erinnere mich noch genau an die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal sahen. Vor dir tue ich gerne so, als wäre das nicht der Fall. Vielleicht, weil es dem Ganzen mehr Bedeutung gibt, wenn du es bist, der davon sprichst. Dann kann ich für einen Moment sehen, wie wichtig ich für dich bin. Das es stimmt, dass du mich mehr als gern hast. Dass ich mehr als ein bisschen Zerstreuung für dich bin. Nicht nur eine Laune, der man ab und an nachgeht.
Natürlich erinnere ich mich noch genau an unseren ersten Kuss, denn seit dieser Nacht trage ich vor dir keine Maske mehr. Ich legte meine ganze Verletzlichkeit vor dir offen, um zu sehen, ob du damit zurechtkommst, ob du stark genug bist, an meiner Seite zu sein. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass das Ergebnis mich so sehr erschrecken würde. Manchmal fordert man etwas heraus, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein.
Zu dem Nebel mischt sich nun Regen. Ich musste den Zug wechseln, da er im Nirgendwo hielt und beschloss, keine einzige Station mehr weiterzufahren. Zwar hat der neue Zug saubere Scheiben, aber die Klimaanlage zwingt mich dazu, in meinem Mantel zu bleiben. Meine Haare riechen nach deinen Haaren, ich frage mich, wie das möglich ist. Meine Sentimentalität kotzt mich an. Du machst dich jetzt wahrscheinlich völlig zurecht über mich lustig. Du sagst, ich sei wie ein Kind. Immer dann, wenn ich meinen Willen nicht bekomme, wenn ich verschlafen bin, wenn ich gegen die Glasscheibe laufe, die du gelegentlich zu deiner Unterhaltung zwischen uns aufbaust. Und während ich dich dann trotzig anschaue und meine Beule am Kopf mit dem Eiswürfel aus meinem Havanna-Cola kühle, frage ich mich, ob du weißt, welch schönes Kompliment das ist. Wie du kann auch ich die meisten Menschen nicht ausstehen. Sie langweilen und lähmen mich. Dennoch suche ich immer nach der einen Kleinigkeit, die mich an ihnen erfreut, die mir zeigt, dass noch nicht alles verloren ist. Ich weiß, wie düster diese Welt sein kann und habe trotzdem noch genügend Naivität in mir, um das Schöne im Dunkeln zu sehen. Ist es das, was du an mir magst? Ich habe keine Ahnung, was es sonst sein soll. Was es ist, das eine Faszination über so lange Zeit aufrechterhält. Natürlich haben wir dazwischen andere gesehen, waren aus, aber am Ende gab es immer nur uns zwei. Wir haben Beziehungen beendet, als wären sie bedeutungslos, wir haben uns dem entledigt, was uns lästig war. Mir schien immer, als würdest du aus Vernunft handeln. Eine Trennung aus Vernunft. Wahrscheinlich weigere ich mich deshalb, dir mehr als das zu geben, denn irgendwann müsstest du feststellen, dass ich das wohl Unvernünftigste in deinem Leben bin. Würdest du mich einfach so wegstreichen können? Was würdest du dann tun?
Ich kann die Veränderung zwischen uns spüren, wir sind an dem Punkt, an dem ich nur verlieren kann. Das Interessante ist, dass die Veränderung nicht schleichend kam, nicht langsam zwischen uns wuchs, bis wir unfähig waren, sie zu fassen. Sie kam ganz plötzlich. Eben war sie noch nicht vorhanden, eine Sekunde später in deinem Blick. Wir schimpften uns zum Spaß, doch damit fügten wir uns keine Verletzungen zu. Das, was uns seit Jahren verletzte, war das Unausgesprochene zwischen uns. Das, was im richtigen Moment nicht gesagt wurde, das, was beabsichtigt im Raum stand, das, was im Nebensatz fiel und wie kleine Bomben auf unserer Haut explodierte. Wir begegnen einander vertrauensvoll misstrauisch. Die Frage ist einfach, ob wir einander Fluch oder Segen sind – oder schlicht nur das, was wir verdienen.
Ich werde dir zu anhänglich, deshalb gehst du auf Distanz zu mir. In ein paar Wochen wirst du für einige Zeit das Land verlassen. Du reist gerne mit wenig Gepäck, ein vorwurfsvoller Blick von mir passt da nicht rein, so viel Platz hast du für mich nicht übrig. Mir ist bewusst, dass normale Menschen in unserer Situation schon längst ein klärendes Gespräch gesucht hätten. Dinge müssen einen Namen haben, Beziehungen als solche zu erkennen sein. Für mich sind das Trivialitäten. Du hast einmal gesagt, ich solle den Moment genießen. Jetzt, da ich es tue, scheinst du mir nicht zu glauben. Dabei müsstest du doch wissen, wie sehr es mir gefällt, mit dir Zeit zu verschwenden.
Doch ich bin mir selbst genug, auch wieder alleine klar zu kommen. Ist es das, was du an mir nicht magst? Ich will doch nur im Moment sein. Irgendwann werden wir wieder andere Lippen küssen. Wir werden uns davon erzählen, als ob es das dazwischen - das Uns - nie gegeben hätte. Wir werden so tun, als freuten wir uns füreinander, und den anderen in Gedanken mit einem Messer töten. Ich werde meine Beziehung in dem Moment beenden, wenn er meine Freundschaft zu dir in Frage stellt, du deine, wenn sie deinen Plänen widerspricht. Dann haben wir wieder nur uns zwei und sind einmal mehr der Absurdität dieser Situation ausgesetzt. Alles andere wäre uns zu einfach. Zu gewöhnlich. Gar nicht wir.
Mein Zug irrt noch immer quer durch das Land und ich widerstehe der Idee, meine Haare im Waschbecken der Zugtoilette zu waschen. Der Geruch nach dir nervt mich. Ich wette, du hast mich schon längst wieder losgelassen, während ich noch mit deinem Geist kämpfe. Der Nebel wird immer dichter und ich starre mein Telefon an, um es zum Klingeln zu bringen, dabei weiß ich es doch besser. Du kannst telefonieren sogar noch weniger ausstehen als ich. Jedes Mal musst du dich zu einem Telefonat mit mir durchringen, doch wenn wir dann miteinander sprechen, all die Belanglosigkeiten miteinander teilen, so tun, als wären wir normal, genießen wir es. Du liebst es, meine Stimme zu hören, und ich plappere von all den Albernheiten meines Alltags. Und ich, die es mag, wenn man ihr Geschichten erzählt, lass dich von deinem erzählen.
Ich setze meine Kopfhörer auf und höre »Am I Only« von Black Rebel Motorcycle Club. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich in deine Augen. Den warmen, forschenden Blick. Als würdest du mit deinen Gedanken ein Bild von mir machen und in deinen Erinnerungen abheften. Du schlingst deine Arme um mich, ziehst mich an dich und flüsterst meinen Namen, als wäre er ein Fluch, unter dem du leidest.
Eine Hand berührt meine Schulter. Ich schrecke auf und schaue verschlafen den Schaffner an, der mir sagt, dass wir an der Endstation angekommen sind. Ich nehme meine Reisetasche, steige hinaus in die Nacht und rieche an meinen Haaren, die nun gar nichts mehr von dir, sondern wieder alles von mir haben. Ich bin wieder ganz ich. Aber nur solange, bis du wieder vor mir stehst.
Oder ist es genau anders herum?
Sabrina Albers
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen: