freiVERS | Clara Heinrich
frühling
wir jumehrten in der ersten wonne, bistrotteten im sichten gepente. die pursi figerten, das frein gelierte. du sukzessiertest, nur kein tabell, alles bitte nur kein tabell, fruh mich nicht! ich grandete, karierte, gaspelte. du bist ein pepin, abandest du. ich lanzierte dir meschui das dormionte. der etrang war lanur und espisch. wie im denti jaunerten wir, klamaukerten die hepte mit harisch, die greine mit lisen. rüstel ist aber zirrich heute, wirschelst du. quellte wie er zalpe, vertriente ich. ja, quellte wie er zalpe, verlöst du. oh, wie gezerrlich das sichte gepente, gepöselst du noch. Ich gemunierte.
Clara Heinrich
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freiTEXT | Katharina Goetze
Der Senior Change Manager Samsa geht baden und gewinnt an Profil
Diese Dinge passieren gerade dann, wenn man glaubt, man sei auf alles vorbereitet. Das ist klar.
Aber die Erkenntnis, dass ich meine Veränderung nicht ändern kann, traf mich erst, als ich heute Morgen aus der Badewanne stieg und das Wasser von meiner ledernen Haut abperlte, ohne Feuchtigkeit zu hinterlassen. Ich brauchte plötzlich kein Handtuch, die Nässe formte sich auf mir zu kleinen Flüssen, die ihren Weg gen Boden fanden und in den Ritzen der Badezimmerfließen mündeten, wo Ozeane entstanden. Ohne Erstaunen stellte ich fest: Ich war so schnell wie nie zuvor trocken, ich war gut gepanzert gegen das Wasser.
Ich hatte schon eine Weile zuvor den Verdacht gehegt, dass ich in eine Abwärtsspirale geraten bin. In der Burnoutdiagnostik wahrscheinlich irgendwo zwischen Stufe sieben und elf. Man kennt das: Es beginnt mit Rückzug und Meidung sozialer Kontakte, dreht sich dann weiter zu deutlicher Verhaltensänderung, danach bei Stufe neun Depersonalisierung durch Kontaktverlust zu sich selbst und anderen, und so weiter. Bei Stufe zwölf sind die Suizidgedanken kaum mehr auszuhalten und werden in der Regel auch nicht mehr ausgehalten.
Ein paar Wochen oder Monate lang schon hatte ich mich seltsam gefühlt, irgendwie down und under pressure. Seit dem desaströsen Acquisition Pitch in Abu Dhabi mindestens, soweit ich mich erinnere. Als würde ein Gewicht auf mir liegen. Je höher ich mich reckte, je stolzer ich mich aufrichtete, desto weiter drückte es mich nach unten. Und ich griff ja immerhin hauptberuflich nach den Sternen, sollte ich an dieser Stelle erwähnen.
Die Frau war verreist, vielleicht war das schon eine Weile so. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal von ihr gehört hatte. Ich hatte versucht, den Zustand, so gut es ging, zu ignorieren. Mir meine noise-cancelling headphones, die ich sonst nur auf Interkontinentalflügen benutzte, auf die Ohren geschoben, um das Grillenzirpen und Wellenrauschen loszuwerden. Heimlich hatte ich sogar ein paar Pilatesübungen gemacht, und dabei verzweifelt versucht, mein Powerhouse zu reaktivieren.
Gestern war es dann allerdings so schlimm gewesen, dass ich mich fast krankgemeldet hätte.
Es war weniger das Unwohlsein selbst, als die Sorge darüber, dass es mir auffiel. Dass mein Körper plötzlich so präsent war, wie bei keinem Ultramarathon-Training, bei keinem High Intensity Workout zuvor. Wenn es mir in meinem Erwachsenenleben je irgendwie gegangen wäre, so konnte ich mich zumindest nicht daran erinnern. Das hier erschütterte mich.
Aber dann wog die Angst vor den Folgen einer Krankmeldung im Allgemeinen und im Speziellen meinem Chef, dem Director of People and Culture, der in zwei Wochen mein Appraisal durchführen würde, doch schwerer. Ohne einen nicht selbst verschuldeten Autounfall oder Dengue-Fieber brauchte ich es gar nicht zu versuchen.
Also schleifte ich mich durch den Tag. Doch all die Dinge, die mir sonst eine gewisse Befriedigung gegeben hatten – zum Beispiel im Vice President’s Office unter den Augen der Board Members mit Keywords bekritzelte Papierbögen vom Flipchart reißen, allein im Aufzug meinen Elevator Pitch vor dem Spiegel üben und mich dabei filmen, nach 22 Uhr Emails ans Team weiterleiten, oder den Junior Associate bitten, sich bis morgen um meine Reisekostenabrechnungen von letztem Jahr zu kümmern – bewegten nichts in mir.
Nach vier hielt ich es nicht mehr aus und verließ, unter dem Vorwand noch zwei Client Meetings und ein Working Dinner zu haben, das Office. Daheim brach ich schon auf dem Flur zusammen. Das Rooftop Loft war leer. Meine Atemgeräusche prallten an den perlgrauen Wänden ab und verstärkten sich zum Echo, als hätte jemand die Bluetooth Speaker übersteuert. Ich lag auf dem Boden, starrte die Zimmerdecke an und fragte mich, warum niemand außer mir da war. Dabei wurde ich starrer und starrer und der Geruch abgezogener Tierhaut breitete sich aus. Mein Äußeres war ausgetrocknet, hart und unnachgiebig und meine Bewegungen veränderten stufenweise ihre Frequenz. Mein Hirn hatte die Steuerung verloren, ihm hierarchisch unterstellte Körperteile mutierten plötzlich zu Anarchisten, die gegen die Befehle von oben Sturm liefen und frech machten, was sie wollten. Es war ein Zappeln, ein Kribbeln, ein Surren und Zwitschern in mir, ein ganzer wildgewordener Zirkus mit Tigern und Zaubertricks, die ich selbst nicht durchschaute. Ich merkte, wie nutzlos ich allein war. Das Verlangen, von jemand anderem, der die Richtung kennt, mitgenommen zu werden, jemandem einfach nur so zu folgen und behilflich zu sein, kam mir in den Sinn.
Der Gedanke machte mich wütend, dann ängstlich. Grundsätzlich diagnostizierte ich eine tiefe Verunsicherung in mir. Sie saß ein paar Schichten unter der Oberfläche, hatte sich verkeilt unter dem Brustbein, wo sie leise und doch beharrlich vibrierte. Wie konnte das sein? Ich war doch gottverdammtnochmal ein Leader, kein Follower. Ich war ein Creator. Dafür hatte ich mein eigenes American-Style Office mit Jalousien am Ende des Ganges, samt gläsernem Besprechungstisch, gerahmter Banksy-Streetart an den Wänden und bequemen Bean Bags aus einer Kooperative in Guatemala. War ich nicht jemand, zu dem die Heerscharen von Teamleadern und Assistants ehrfürchtig aufschauten, dessen Blick sie bei flüchtigen Begegnungen auf den Korridoren lieber auswichen, jemand der wusste, wo es langgeht?
Doch als erfahrener Change Manager war mir auch klar, dass Change bei den Betroffenen nie gut ankommt. So auch bei mir nicht. Ich versuchte mir die einzelnen Stages nach Lewins Modell in Erinnerung zu rufen. Aber es ist etwas Anderes, wenn man sie auf sich selber anwenden soll, statt auf eine Gruppe alternder Telefonistinnen, deren Jobs nach Manila ausgelagert werden. Wie so viele meiner Stakeholder zuvor, versuchte ich das Offensichtliche zu leugnen, wand ich mich, wehrte ich mich – und gab doch schließlich den Kampf gegen den Change auf. Ich wurde resignierter, schwächer, dann friedlicher. Ganz am Ende der Nacht embracete ich den Change sogar. Ich drückte mich fest an ihn und sog seinen salzigen Meeresgeruch ein. Dann wuschelte ich ihm durch das sonnengebleichte Haar und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze, was uns beide zum Kichern brachte.
Heute Morgen, als der Change in der Küche war, wo er die Espressomaschine übersah und mir stattdessen ein Glas Milch warm machte, während ich das wimmelnde, wuselnde Leben in den Ozeanen zwischen den Badezimmerfließen bestaunte, akzeptierte ich dann endlich, dass ich nicht mehr der Alte war. Ich würde nicht mehr in dieses Büro gehen, ich würde nicht mehr führen können.
Ich bin jetzt nur noch ein Wanderschuh. Das ist die ganze Wahrheit.
Ich bin graubraun, matt. Mit hellbraunen Schnürsenkeln, ohne Einlage, kein Markenname. Die Größe unlesbar, vielleicht eine 42, grob geschätzt.
Die Leute werden Fragen stellen, was das denn zu bedeuten hätte, und ich werde keine Antworten geben können. Die Jüngeren werden es vielleicht noch als selbstironisches Statement interpretieren, der Rest die Blickrichtung ändern, von jetzt an auf mich herabschauen. So oder so wird man über mich reden. Ein Wanderschuh, gütiger Gott. Noch nicht mal ein Sneaker, noch nicht mal ein Mid Cut, werden sie sich zuraunen. Noch nicht mal „Just do it!“.
Aber was soll ich ihnen entgegnen, wozu mich mit ihnen anlegen. Es ist ja so, wie sie sagen. Ich erhebe nicht mehr den Anspruch, irgendetwas Besseres zu sein. Lieber verbringe ich mein Leben in einer Ecke stehend, jedenfalls solange da niemand kommt, der mich will.
Auf der Haben-Seite rechne ich mir zu, dass ich imprägniert bin und eine robuste Sohle mit ordentlichem Profil besitze.
Ich habe keinen Selbstzweck und kenne keine Selbstwirksamkeit.
Ich muss jemanden halten, um rennen zu können.
Katharina Goetze
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freiVERS | Urs Böke
Feldjacke
Urs Böke
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freiTEXT | Alexander Kerber
immer wieder schön, das ende der welt
mosaiksonntag. wir sind alle sternchen, steinchen, kies. im getriebe steckt der kies und macht, dass die zahnräder der bürokratie nicht mahlen. da braucht man dann öl. öliges öl so ganz grau oder braun, zwei farben, die sich meistens sehr ähnlich sind.
am bürosonntag ist man von blattwerk eingedeckt. sortier die blätter schon, komm! trau dich, ordnung zu machen. siehst du? in die folie mit dem blatt und abheften. alphabetisch? papperlapapp! unsinn, sag ich dir. sortier nach dem datum.
meldebescheinigung hier, mahnung da. bankkonto, betriebskrankenkasse, gesundheitskarte, tan-liste. michael burnham sagt engage. pilzsporen in lungen und kopf.
arno denkt an die ukraine und masturbiert zum piktogramm des sternzeichen löwe.
rundfunkbeitrag, beitrag zur gesellschaft, wir sind papierhaufen, wir sind unterlagen, nummern, einsortieren, abheften. der schattenkönig war eine dunkle aber erhabene gestalt. seine haut bücherseiten. was für ein nachtmahriger albtraum eine gestalt aus diesen blättern wäre. gewerkschaft für erziehung und wissenschaft. wissenschaftliche buchgesellschaft. diba diba du. bkk-vbu.
schneid dir die finger nicht wund am papierschnitt, sagt die mutter. der tote vater ist ein ablagestapel von akten. aktenzeichen ungelöst, der fernseher ist allgegenwärtig. fiona kauft sich einen waschsalon und nimmt eine hypothek auf ihr haus auf. monika stirbt. frank ist immer noch nicht tot. debbie ist dumm, lip macht dumme sachen. die sachlage ist folgende: du bist begraben unter papier, das du nicht beschrieben hast. dabei bist du doch nur auf der suche.
frank und lip suchen auch nämlich alkohol. deine zitternde hand sucht kaffee und kippen. gut für die gesundheit ist das beides nicht.
die große gesundheit sagt nun aber folgendes: sei die große krankheit, die große überwindung, der große tod.
tot ist man länger als lebending, denkt man sich. denken ist dann auch vorbei. schreiben ist vorbei. atmen, so schwer es auch fallen mag, ist dann auch vorbei. lebensabseits.
im abseits steht man dann mit einer katze an der leine, die schnurrende sprache. sie ist nämlich kein hund wie elfriede sagt, sie ist und war schon immer eine katze. statt neun hat sie unendlich viele leben. unendlich viele perspektiven. unendlich viele mosaiksteinchen fell, die glitzern im halbschatten.
im halbschatten steht man im abseits, am ende ganz allein. wie es immer ist. auch die sprache spendet keinen trost vor sprachlosigkeit. leben ist einübung in die große einsamkeit, die am ende des absatzes steht.
Alexander Kerber
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freiVERS | Hasune El-Choly
Zwischen Motten
Da waren noch Namen an den
Klingelschildern, verschwommene
Lettern in Großbuchstaben,
hinter einer dünnen Schicht aus
beschlagenem Glas.
In den ersichtlichen Spuren einer
kalten Winternacht, versteckend im
zerbrochenen Lichtkegelschein der
Haustür, wo Motten in vorbeifliegenden
Lichtern in Ehrenrunden versinkend
zu Boden fielen;
war alles leer und still.
Und so fielen auch wir.
Hasune El-Choli
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freiTEXT | Ann-Christin Kumm
So oder anders
Sie bleibt stehen.
Die Bäume sind grün geworden, es muss in den letzten Wochen passiert sein, sie weiß es nicht, plötzlich Blätter. Die Sonne rutscht über den grauen Asphalt. Seine Haare sind rot.
Was weiß sie über ihn?
Er mag keine Eier, er will, das hat er dem mit dem Leberfleck gesagt, nichts essen, was jemandem aus dem Arsch gekrochen sei. Als er klein war, trat seine Mutter auf sein Lieblingsmatchboxauto. Mit Absicht. Er raucht Gauloises (sie freut das, es kommt ihr besser vor als Camel, sie hat sich oft vorgenommen ihn nach einer Zigarette zu fragen, er könnte ihr Feuer geben, seine Hand an ihrem Gesicht. Sie schafft es nie).
Er hat Sommersprossen im Halsausschnitt. Er hat keine Tätowierung auf den Oberarmen. Er ist gut. Sie nur manchmal, es gibt immer zu viel andere Dinge, außerdem ist sie faul, war sie schon immer.
Das Wichtigste, denkt sie oft, das fehlt. Das weiß sie nicht. Sie mutmaßt nur, und Mutmaßungen helfen nicht.
Jedes Mal stand es in ihrem Zeugnis, tut zu wenig, könnte mehr, so ein langweiliger Satz. Jedes Mal wartete sie auf die neue Formulierung, die nie kam; ein einziges Wort anders, das hätte schon gereicht.
Sie glaubt nicht, dass er jemals solche Sätze in seinen Zeugnissen gefunden hat.
Die erste Woche, sie hat es aufgeschrieben, aber sie hätte es auch so behalten, das erste Mal regnete es. Ihre Haare waren ein bisschen feucht. Sie saß ganz hinten, sie sitzt immer hinten, die Wand kühlt die Schultern, wenn man in der letzten Reihe sitzt. Und keiner kann auf ihren Hinterkopf starren. Sie hat den noch nie gemocht. Wenn sie als Säugling, gleich am Anfang, in den Spiegel geschielt hätte, sie hätte das da schon gefunden. Was für ein hässlicher Hinterkopf. Im Spiegel bekommt man kaum ein richtiges Bild davon, aber auf Fotos ist es eindeutig. Als hätte man ein Stück abgemeißelt.
Sein Kopf ist komplett. Schon deshalb kann sie ihn nicht ansprechen.
Sie steht da, sie fühlt genau, wie groß ihre Augen sind, der Straßenlärm hält nicht mit. Ihr ist ein bisschen übel.
In seinen Kopf passt also viel hinein. Auf der Liste hat sie seinen Namen gesucht, sie zählt die Leute ab zwischen ihm und ihr. Sie macht es jede Woche. Sie hat sich vorgetastet, eine Reihe, dann zwei, meistens sitzt er im vorderen Drittel. Sie hat die Wand verlassen. Sie kommt nicht immer auf denselben Namen, manchmal unterschreibt jemand nicht, das stört das System. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten.
Es gibt, denkt sie, hinübersehend, Wahrscheinlichkeiten.
Sie hat ihn ein einziges Mal berührt. Er stellte sein Tablett neben ihres auf das Band, sie drehte sich zu schnell um, er entschuldigte sich freundlich, er ging sehr schnell weg. Sie stand und beobachtete seine Nudelreste beim Verschwinden. Sie traute sich nicht.
Heute ist sie zu spät. Das erste Mal. Sie stimmt sich immer mit ihm ab, das weiß er nicht, aber sie geht immer direkt nach ihm in den Raum. Er ist ein pünktlicher Mensch. Oder das Thema interessiert ihn sehr. Oder beides.
Inzwischen sitzt sie direkt hinter ihm, ihm und dem mit dem Leberfleck, der immer dabei ist. Sie mag den mit dem Leberfleck nicht, aber er ist wichtig. Sie hört ihnen zu, manchmal schreibt sie etwas auf, zwischen die Zahlen. Er könnte es merken. Es kann sein, eines Tages dreht er sich um und fragt sie, warum sie sich immer hinter ihn setzt.
Was sie dann tun wird, weiß sie nicht.
Sie hat überhaupt immer das Gefühl, dass sie angestarrt wird. Wenn sie die Treppen zu ihrer Wohnung hochgeht, bedeutet jedes Stockwerk eine Pause. Schon seit einiger Zeit kauft sie fast jeden Tag ein, es sind dann viel kleinere Mengen. Sie geht in verschiedene Läden.
Wenn es also nicht der Hinterkopf ist, das kann sie sich problemlos ausmalen, dann ist es das. Er kann sie so nicht wollen. Sie würde es selbst nicht.
Die Sommersprossen an seinem Hals hat sie schon gezählt, wie oft, weiß sie nicht, oft. Die Anzahl hat sie aufgeschrieben. Überhaupt wird sie die Vorlesung nächstes Semester wiederholen müssen.
Seinetwegen, denkt sie. Das Wort gibt allem einen guten Klang.
Sie sieht, wie er sein Fahrrad an den Plakaten vorbeischiebt, wie er sich die Haare aus der Stirn holt, wie er den anderen ausweicht.
Deshalb muss sie stehen bleiben. Sie sieht.
Ihn zu küssen stellt sie sich nie vor. In ihrem Studiengang gibt es nicht viele Frauen. Und keine, die so sind wie sie. Man hat sich gewundert, was willst du denn damit, wenn es wenigstens Medizin gewesen wäre, als Mädchen. Sie hat die Familie jetzt schon eine Weile nicht mehr gesehen, nicht mal an Weihnachten. Sie will keine Fragen beantworten.
Sie denkt sich oft aus, wie sie ihn doch noch anspricht, in ihrem Kopf ist es einfach, in ihrem Kopf ist es real. Sie könnte ihn nach seinen Unterlagen fragen, falls er ihr keine Zigarette geben will. Er sollte es jedenfalls nicht. Sie war da allerdings noch nie gut drin. Verantwortung ist keins ihrer Wörter, es gehört nicht zu ihr. Sie hat also Angst.
Ob es darum mit dem letzten nicht geklappt hat, weiß sie nicht. Wenn sie versucht ihn zu erinnern, dann springen die roten Haare dazwischen. Es hätte viel mehr sein können. Mit hätte kommt man nicht weiter. Mach das nicht, hat er immer wieder gesagt, es war ihm wichtig, aber sie kann nichts dafür. Mach das nicht, es passt nicht zu dir, er hat sie gebeten. Dass sie da hingeht, dass es aus der Welt ist. Wegmachen. Er hat ihre Wörter auch gekannt. Seine Nachrichten bleiben unbeantwortet. Sie haben einfach aufgehört sich zu sehen.
Vielleicht, denkt sie, ist der Rothaarige nur da, weil sie letztes Jahr nicht richtig zugehört hat. Dabei glaubt sie gar nicht an Schicksale.
Sie sieht ihn, er ist fast vorbei, er braucht Monate, denkt sie, für diese kurze Strecke.
Sieh her, denkt sie. Sieh mich an. Er ist fast vorbei.
Als sie anfing, aus ihrer Kleidung zu platzen, hätte sie gern jemand anders in die Geschäfte geschickt. Es war keiner da. Vielleicht muss das so sein. Vielleicht braucht man das, aber wenn sie schöner wäre, wenn sie nicht so unförmig wäre, wie sie jetzt ist, dann könnte er sie bemerken. Sie hat sich noch nie überreden können.
Ihr Gesicht ist jetzt plötzlich in einer Schräglage. Es wird immer schräger.
Und er sieht sie an.
Der Krach in ihrem Kopf ist ganz zeitversetzt, der mechanische Krach, er ist hässlich. Die Bremsen tun in den Gehörgängen weh, etwas geht kaputt. Sie hört eine junge Frau schreien, es ist verwunderlich, denkt sie, dass jemand anders auch ihre Stimme hat. Sie würde gern überprüfen, ob ihre noch da ist, aber sie hat keine Zeit. Sie kann ihre Tasche sehen, wie sie sanft neben ihrem Gesicht auf die Straße klatscht. Das gehört da alles nicht hin, sie weiß das, sie ist sich sicher. Die Haut schürft über den Teer. Der Teer ist ziemlich warm. Dann hört die Bewegung auf. Sie schließt die Augen.
Als sie ein Kind war, hatte sie einen Hund. Er war klein und hässlich und gelb, ihre Eltern hatten nicht diskutiert, als sie vor seinem Käfig stehen blieb. Er kam überall hin mit. Nur in die Badewanne durfte er nicht, sie tat es heimlich, wenn sie allein waren. Sie tröstete ihn, wenn er sich nicht schön fand. Für sie war er schön, war seine Krummheit schön und sein Stummelschwanz und sein linkes Auge, das heller war als das andere. Sie war überzeugt, dass er alles verstand, was sie ihm in die verfilzten Ohren sagte.
Der Geruch nach Blut und Hundescheiße, als er überfahren wurde.
Die Arme und Beine da, denkt sie, die gehören ihr gar nicht. Man hat sie dort abgelegt, ohne sie zu fragen. Es sind so viele Menschen auf der Straße, es wird bald Sommer, bald werden sie mit ihrem Eis spazieren gehen. Ein Eis wäre jetzt gar nicht schlecht, der Geschmack kriecht über die Zunge. Ihr fällt ein, dass sie zu spät zur Vorlesung kommt. Das ist ihr noch nie passiert.
Es vergeht Zeit. Sie macht die Augen wieder auf, als sie etwas gefragt wird, sie reagiert. Jemand möchte das.
Sie denkt an seine Augen, es war etwas Komisches in ihnen, sie kommt nicht darauf, was es war. Sie wird hochgehoben und hingelegt. Sie macht die Augen ein zweites Mal auf.
Das ist, denkt sie, alles sehr freundlich. Sie würde gern aufstehen und gehen, irgendwo muss ihre Tasche sein, da sind alle ihre Unterlagen drin. Sie würde auch Finderlohn bezahlen, bestimmt hat sie jemand aufgehoben, es ist eine blaue Tasche, denkt sie. Der Reißverschluss ist an einer Stelle ausgefranst.
Sie würde gern gehen. Sie wagt es nicht, es scheint nicht vorgesehen zu sein. Jemand hat ihr etwas an den Kopf geklebt.
So sieht das also aus, denkt sie. Was war denn in seinen Augen, es fällt ihr nicht ein, das stört sie.
Der kleine gelbe Hund mochte keinen Schaum. Deshalb badete sie immer ohne, solange er da war. Es war ein echtes Opfer. Sie hat die Badekugeln ihrer Mutter sehr geliebt, sie hatten bunte Farben, giftbunt, sie rochen gut. Sie glitschten einem durch die Hand, wenn man sie ins Wasser hielt.
Sie würde sich gerne am Arm kratzen, auch das ist irgendwie nicht vorgesehen. Dieser hochgewölbte Bauch vor ihr, ihr Bauch, sie hält sich nicht damit auf. Sie würde gern etwas sagen. Jemand diskutiert, der Himmel, denkt sie, ist sehr blau heute. Es ist ihr nur selten passiert, dass man Dinge mit ihr macht, und sie ist nur einmal beim Arzt gewesen, das ist wie mit dem Rauchen und allen Verantwortungsdingen, denkt sie. Dann vergisst sie es.
Sie sieht ihn an.
Er sitzt neben ihr, hier ist nicht viel Platz, wie hat er das geschafft, denkt sie, sein Gesicht ist so nah bei ihr, dass sie es anfassen könnte. Sie will ihn fragen, wo er sein Fahrrad gelassen hat.
Sie lächelt ihn an, sie ist sicher, dass ihr ganzer Körper lächelt. Sie muss den Kopf nur wenig drehen. Er hat ihre Hand genommen, er isst keine Eier, seine Mutter hat sein Lieblingsauto zertreten, er raucht, er hat ihre Hand genommen. Matchboxautos, denkt sie, kriegt man doch gar nicht kaputt. Das Licht ist sehr hässlich, aber ihm kann es nichts anhaben. Er streichelt ihr Haar, sie ist verblüfft, dass er das gleichzeitig tun kann, dann fällt ihr ein, dass er ja zwei Hände hat.
Jemand sagt, dass dem Baby sehr wahrscheinlich nichts passiert ist.
Sie hört es nicht.
Ann-Christin Kumm
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freiVERS | Nikola Huppertz
camera obscura
flüchtig kommen
und gehen die Szenen
es sei denn
ich gewähre ihnen einlass
in den papiernen raum
meiner gedanken
und drehe und wende und
stelle sie auf den kopf
so lasse ich sie eine weile
im abglanz der wörter verharren
und du kannst sie betrachten
ehe ich mich wieder verschließe
und sie im dunkeln
verschwinden
Nikola Huppertz
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freiTEXT | Olaf Lahayne
Die grelle Griselda
Sie hieß nicht wirklich Griselda.
Eh klar. Wer nennt sein Kind schon Griselda?
Sie nannte sich also selbst so. Griselda Grill, alias die grelle Griselda. Grill, so hieß sie wirklich. Mit Nachnamen. Mit Vornamen eigentlich Gisela.
Gisela, werden Sie jetzt sagen, das ist ja kaum besser als Griselda!
Nun, Gisela hatte halt eine gleichnamige Oma als Taufpatin. Eine durchaus wohlhabende Patin. Eine Patin, die ihre erste Enkelin stolz über den Taufstein hielt.
So lange jedenfalls, bis Gisela zu schreien anfing.
Das Geschrei war – man ahnt es – grell.
So grell, dass es außerhalb der Kirche zu hören war.
Sagt man.
Auf der anderen Straßenseite.
Jenseits einer sechsspurigen Hauptverkehrsstraße.
Aber das ist natürlich übertrieben.
Vermutlich.
Jedenfalls ließ sich die Großmutter künftig nur noch selten sehen. Im Gemeindebau aber, wo Giselas Familie lebte, da erweiterte sich rasch deren Bekanntenkreis. Leute schauten vorbei, die Vater und Mutter noch nie gesehen hatten. Selbst Nachbarn aus dem Parterre. Dabei wohnten die Grills im sechsten Stock. Und die Fenster wurden nur geöffnet, wenn Gisela schlief.
Also eher selten.
Angeblich schuf damals ein Nachbarsjunge den Spitznamen ›die grelle Gisela‹. Ein Junge, der erst seit ein, zwei Jahren im Land war, und Grell, Grill, das verwechselt man schon mal.
Wie auch immer: Bald schon, da fanden Giselas Eltern ein Mittel, ihr Töchterchen zu kalmieren: Nämlich mit Zuckerln und Spielzeug. Und Gisela lernte rasch. Sie lernte auch, dass man ein Mittel nicht überstrapazieren darf, wenn es wirksam bleiben soll. Somit schrie Gisela nur noch selten so grell, dass der halbe Gemeindebau aus den Federn fiel.
Auch in der Schule, da lernte Gisela schnell.
Und wer glaubt, dass sie dauernd störte: Oh nein!
Jedenfalls nicht dauernd. Nur, wenn es passte. Ihr. Oder auch anderen. So wurde sie prompt Klassensprecherin. Niemand störte, wenn sie sprach. Niemand sprach, wenn sie die Stimme erhob. Das mied man besser.
Sie meldete sich aber auch sonst zu Wort.
Im Unterricht. In allen Fächern. Ganz normal. Normal für ihre Verhältnisse, heißt das. Nicht gerade grell, aber nie sagte wer ›Lauter, Gisela!‹
Niemals!
Die Lehrer liebten sie. Meistens. Gisela konnte man immer fragen, selbst wenn keiner aufzeigte. Sie wusste immer was zu sagen. Klar, oft war es Unsinn, aber, so sagte man ihr: Besser was Falsches sagen als gar nichts!
In der Schule, da lernte Gisela wirklich was fürs Leben: Grell, das sind nicht nur Töne, nein, grell können auch Farben sein.
Grelles Grün, grelles Blau, grelles Rot. Besser noch: Grelles Gelb. Beim Zeichnen und Malen, da mochten die anderen Schüler Farben mischen, doch nicht Gisela: Stets nahm sie nur die reinen Farben.
Wie Gisela mit der Schule fertig war, da war ihr auch klar, was sie machen wollte: Kunst! Irgendwas mit Kunst!
Auch an der Universität, da lief es gut für Gisela. Schon im ersten Semester bekam sie ein Stipendium. Dazu verfasste ihr ein Kommilitone etwas theoretisches Zeugs zu dem Zeugs, das Gisela anfangs produzierte, von wegen Reinheit der Farbe, Berufung auf den Pointilismus, so etwas halt. Denn anfangs, da benutzte Gisela weiter die unvermischten Grundfarben. Auch ihren echten Vornamen benutzte sie noch, aber das änderte sich bald: Und zwar mit der Entdeckung dessen, was als ‚Grellweiß’ bekannt werden sollte.
Aber der Reihe nach.
Von einem Chemiker – dem Cousin jenes Kommilitonen –, da hörte Gisela von einem Farbstoff, der Weißer als Weiß sein soll, der mehr Licht ausstrahle, als er absorbiert, bis zu 30 Prozent mehr.
Unmöglich, sagen Sie?
Was meinen Sie, wie Ihre Waschmittel funktionieren?
Wie Ihre Gardinen Weißer als Weiß werden?
Weißmacher, das ist das Zauberwort! Die machen aus Ultraviolett sichtbares Licht.
Ist also nichts Neues. Neu war, dass dies auch bei normaler Farbe funktionierte, Farbe, die man wie üblich verarbeiten konnte, mit Pinsel, Rolle, Spachtel und Spray.
Dies, das wusste Gisela gleich, war genau ihr Ding. Und dank eines Anwalts – ein Nachbar jenes Cousins ihres Kommilitonen –, da gelang ihr der Coup: Für den Bereich der Bildenden Kunst erhielt sie einen Exklusiv-Vertrag: Sie und nur sie durfte da diese Farbe nutzen, ein Weiß, das ‚Grellweiß’ getauft ward. Und bei der Gelegenheit, da wurde Gisela zu Griselda, mit Eintrag im Ausweis und allem.
Dies war gefundenes Fressen für die Presse, und Griselda gab ihr, was sie wollte: Kuriose Fotos, schrille Stories, schräge Interviews, grelle Geschichten eben.
So ward ›die grelle Griselda‹ geboren. Von einer Designerin – der Freundin jenes Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – bekam sie Klamotten auf den Leib geschneidert, alles in Grellweiß. Griselda erwog gar, ihre schwarzen Haare platinblond zu färben, aber ihr Friseur – der Bruder jener Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – riet ihr ab. So begnügte sie sich einer Sonnenbrille, in Schwarz, wenn auch nicht in Vantablack.
Natürlich setzte Griselda ihr Grellweiß ein, wo immer sie konnte. Sie wechselte zu grellweißen Installationen, bevorzugt aus Objekten, die vorher Schwarz waren: Alte Pneus, Vinyl-Platten, Smokings, Unterhaltungselektronik, ganze Klaviere. Auch dafür verfasste ihr jener Kommilitone theoretische Texte; schließlich muss man irgendwas neben die Werke schreiben.
Am liebsten aber trug Griselda diese Texte selbst vor, in Interviews, auf Ausstellungen, immer in Grellweiß gestylt, immer sehr selbstsicher, wenn auch mit inhaltlichen Abschweifungen, die viele befremdeten. Aber gute Stories gab es allemal ab.
Griselda merkte natürlich, dass sie gut ankam. So ging sie dazu über, Auftritte auch unabhängig von ihrer Kunst anzusetzen. Bei Happenings, bei Demos, bei Poetry Slams, in Talkshows. Stets lieferte sie eine Show ab, nicht immer eine gute, doch eine wirkungsvolle allemal, eine, die in Erinnerung blieb.
Eh klar, dass bald Agenten auf Griseldas Auftritte aufmerksam wurden. Speziell einer, nämlich der Vater jenes Bruders der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen – der übrigens nicht auch der Vater der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen war. Denn der Bruder, der war eigentlich ein Halbbruder.
Wie auch immer: Er – der Agent also –, der vermittelte Griselda den Kontakt zu einem Manager – seinem Golfpartner –, und der verschaffte ihr erste Auftritte, ließ ihr Songs und Videos auf den Leib schreiben, die Griseldas Organ und Erscheinung erst so recht zur Geltung brachten.
Das schlug ein. Wie eine Bombe. Eine grellweiße Bombe.
„Sie lässt Britney Spears und Lady Gaga bieder wirken“ hieß es. Rasch war ein Slogan geboren: „Grell, greller, Griselda.“
Dank ihres Managers stiegen Griseldas Gagen, stiegen die Preise für ihre Kunst um das Zehn- und Hundertfache. Ihre Alben stürmten die Charts, Alben, alle natürlich mit grellweißen Covern, die das ›White Album‹ blass aussehen ließen. Kurz, Griselda scheffelte Geld, richtig Geld.
Natürlich kam es, wie es kommen musste: Schon bei ihrem dritten Album, da hieß es, es sei unoriginell, allzu kommerziell, und die Kunstkritiker bemängelten, dass sie sich bei ihren Installationen nur noch selbst kopiere. Da konnte Griselda nur grinsen: Genau genommen, kopierten mehrere, bescheiden bezahlte Kunststudenten für sie.
Irgendwann, da schlug ihr Manager vor, dass Griselda auch als Schauspielerin arbeiten könne; er habe schon das eine oder andere Angebot. Griselda ließ sich das durch den Kopf gehen.
Damit stand sie vor der Wahl:
- Sie konnte versuchen, sich weiter zu steigern, bis ihr Publikum sie nicht mehr sehen, nicht mehr hören konnte und wollte.
- Sie konnte sich wiederholen, bis die Kopie von der Kopie von der Kopie immer blasser wurde, bis sie irgendwann tot von der Bühne fiel.
- Sie konnte versuchen, sich neu zu erfinden, sich ein neues Image zu verschaffen.
- Sie konnte Schluss machen. Klar, sie war erst knapp über Dreißig, aber sie hatte ihr Geld gut angelegt, dank ihres Anlageberaters, übrigens ein Parteifreund jenes Golfpartners des Vater vom Halbbruder der Freundin des Nachbarn des Cousins ihres Kommilitonen. Jedenfalls konnte sie bequem vom Kapital leben.
Griselda entschied sich für letztere Option.
Sie machte Schluss.
Mit der ihr eigenen Konsequenz: Keine Kunst mehr, keine Auftritte, kein grelles Scheinwerferlicht mehr, keine grellen Töne.
Was aus ihr wurde, wollt ihr wissen?
Falsche Frage!
Hier gibt’s kein Fadeout, sondern einen harten Schnitt.
Ende.
Olaf Lahayne
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freiVERS | Harald Kappel
beiläufige Sätze
unter der gelben Kugelleuchte
bei den Wollsocken
liegen beiläufige Sätze
ein wundersamer Frieden
du küsst durch
meinen lauten Großvortrag
hindurch
ein groteskes Nebeneinander
von verlegenen Worten
und risikoloser Leidenschaft
sie führt
schon bald
zur Bauchhochzeit
und ins Möbelhaus
die hellen Stunden
versiegen im Holzregal
dort steht lange die Weile
und zahlt den Preis
für beiläufige Sätze
unter der Kugelleuchte
bei den Wollsocken
Harald Kappel
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freiTEXT | Kerstin Meixner
…dann kriecht man eben
Am Eingang des Friedhofs: Plötzliche Kindheitserinnerungen. Gedankenstakkato. Die erste Woche an einer neuen Schule und die damit verbundene Einsamkeit. Ein Junge auf dem Gipfel eines Schuttberges, der zu weiteren Kindern an dessen Fuß herabspricht. Assoziation des erwachsenen Ichs: Als habe er uns in eine Revolution führen wollen. Damals, mit neun Jahren: Noch kein Wissen über Aufstände. Blankes Staunen über den da oben. Das Gefühl der unter den eigenen Händen und Füßen herabgleitenden Trümmer ist wieder da. Der verbissene Wettkampf darum, den steilen Gipfel der gesprengten Lagerhalle zu erreichen, die aufgeschüttet vor ihnen liegt. Links und rechts die Schatten von Gleichaltrigen, die es ebenfalls versuchen. Er selbst noch hartnäckiger und unnachgiebiger ringend als sie, denn er ist neu in der Siedlung und verspürt in sich den Drang, sich vor den anderen behaupten zu müssen. Vielleicht ist es das beständige Knirschen der kleinen Steine, die auf dem Friedhofsweg ausgesät sind, unter seinen Schuhen, das ihn zurück an jenen Ort bringt.
Hendrik war damals nicht sofort mit ihnen losgerannt, als sie beschlossen hatten, den Berg zu stürmen. In einem gleichgültigen Trab war er ihnen auf das Fabrikgelände gefolgt und hatte vom Fuß des Hanges aus gelassen ihre fruchtlosen Versuche beobachtet, gegen die Trümmerteile anzukämpfen, die ihnen auf allen Seiten entgegenrutschten. Nach und nach hatten sie alle aufgegeben. Als letztes auch er selbst. Und plötzlich hatte Hendrik doch Anlauf genommen, sich auf der steilen Schräge merkwürdig flach auf alle Viere ausgestreckt und in dieser fast robbenden Haltung bald unter ihrem Jubel die Spitze des Schutthaufens erreicht. Später am Abend hatte er ihn gefragt, wie er es bis nach oben geschafft habe. Das erste Gespräch bester Freunde. »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben«, hatte Hendrik geantwortet. Mit schiefgelegtem Kopf.
Zwei Wochen später waren sie zum ersten Mal gemeinsam in Schwierigkeiten geraten. Sie hatten im Wald einen Stützpunkt für eine Bande errichten wollen, die zu gründen sie beabsichtigten. Hendrik hatte darauf bestanden, dass dieser nur perfekt sein würde, wenn sie ihn mit einigen Trümmerteilen vom alten Fabrikgelände ausstatteten. Dort jedoch hatte sie der neue Wachmann des Grundstücks erwischt und sofort zur Rede gestellt. Ob sein Freund wirklich nicht gewusst hatte, dass man auch Müll nicht einfach mitnehmen durfte, hatte er nie erfahren. Man hatte bei Hendrik überhaupt nie so genau gewusst, wo dessen Geschichten endeten und die Wahrheit begann.
Schon am Abend waren sie allen Warnungen zum Trotz wieder an der Fabrik gewesen. Das Hoftor war fest verschlossen und er selbst wäre sofort wieder nach Hause gegangen, aber Hendrik war, seinem Lebensmotto treu, so lange um das Gelände herumgeschlichen, bis er eine Stelle gefunden hatte, an der er unter dem Zaun hindurchkriechen konnte, wenn er sich nur eifrig genug bemühte. Als ihn der strenge Wächter am darauffolgenden Tag zu den fehlenden Stücken befragte, hatte sein bester Freund nur unschuldig zu diesem aufgeschaut und gesagt, er hätte die Schuttstücke wohl gerne haben mögen, doch die Mauern seien leider zu hoch für ihn gewesen.
Die Erinnerungen haben ihn über den Hauptweg des Friedhofs bis zu einer Abzweigung begleitet. Abschnitt B, Gang 3, Reihe III. Wie der Geheimcode für eine Bande, die es an ihrem Stützpunkt nie gegeben hatte. Stattdessen: Verbrannte Schulbenachrichtigungen. Blutsbrüderschaft. Freie Nachmittage. Vormittage auch. Irgendwann Mädchen. Streit darum sowieso, aber man kann vieles teilen. Heimat unter einem flachen Dach aus Trümmerteilen. Dann waren sie ihr entwachsen.
Gemeinsam beendeten sie die Schule und während er selbst seinen Zivildienst in einem der Altenheime der Stadt ableistete, entschied Hendrik sich für die Bundeswehr. Er hatte den Freund nicht verstehen können, aber Hendrik hatte nur gelacht und gesagt, dass man es dem deutschen Heer kaum vorenthalten dürfe, den weltbesten Durch-den-Dreck-Kriecher endlich persönlich kennenzulernen. Es war seit ihrem neunten Lebensjahr das erste Mal gewesen, dass sie nicht mehr in der gleichen Siedlung gelebt hatten und es hatte auch keine Rückkehr mehr zu diesem Status gegeben. Als der andere zwei Jahre später endgültig aus der Kaserne zurückgekehrt war, hatte er selbst schon zusammen mit seiner damaligen Freundin in der nächstgelegenen Großstadt gewohnt. Die Zeit des Teilens war vorbeigewesen. In mehr als einer Hinsicht. Einmal noch hatte Hendrik ihn abgeholt und sie waren gemeinsam heimlich in das alte Fabrikgelände eingestiegen, doch das Hindurchkriechen unter Zäunen hatte für ihn als angehenden Studenten den Reiz verloren gehabt. Auch Hendrik hatte bald darauf seine Taschen gepackt und sein Talent, auch dort noch weiterzukriechen, wo der Verstand einem sagte, dass nichts mehr zu erreichen sei, in der Welt erprobt. »Für den Sommer«, hatte er gesagt und war doch nur noch zu Weihnachten oder runden Geburtstagen in die Heimat zurückgekehrt und stets innerhalb von einer Woche wieder verschwunden. Umso überraschter war er daher im vergangenen Jahr gewesen, als Hendrik ihn kurz nach Neujahr angerufen und gefragt hatte, ob er ihn ins Krankenhaus fahren könne. Er hatte sofort zugesagt und war wartend auf dem Gang geblieben. Warum, das wusste er bis heute nicht. Niemand hatte ihn darum gebeten. Mit ernsten Gesichtern hatten zwei Ärzte ihren Patienten aus dem Behandlungszimmer begleitet. Auch, ob die Diagnose dieses Tages für Hendrik wirklich eine Neuigkeit gewesen war, gehörte zu den Dingen, bei denen er nicht sicher war, wo die Wahrheit begann und dessen Geschichten endeten.
Sie hatten noch einmal ihre alte Hütte im Wald besucht. Sie waren unter den fast eingestürzten Wänden hindurch in das Innere des Unterschlupfs gekrochen und hatten den Nachmittag weitestgehend schweigend verbracht, bis Hendrik plötzlich gefragt hatte, ob wohl der Wachmann von damals noch lebe und ob sie ihm nicht die Trümmerteile zurückbringen wollten. Tatsächlich hatten sie den Mann in ihrer alten Siedlung wiedergefunden. »Ich habe immer gewusst, dass du das warst«, hatte er nüchtern festgestellt und ausgesehen, als habe er in diesem Moment eine Art Frieden mit dem Freund geschlossen. Drei Wochen später war Hendrik gestorben.
Die letzten Meter sind die schwersten. Keine Kindheitserinnerungen mehr, stattdessen Erinnerungen an die Beerdigung. Er hatte den Sarg tragen wollen, aber es nicht gekonnt. Er hatte zur Andacht gehen wollen, aber nicht gewusst wie. Schließlich war er doch gegangen und am Rand geblieben.
Der Weg ist jetzt fremd. Zu selten hier gewesen. Verdrängung funktioniert so sehr, dass man Besuche am Grab vergisst. Rückkehr nur an besonderen Tagen. Stärkeres Vermissen des Jugendfreundes, als des Mannes, der gestorben ist. Diffuse Schuldgefühle. Noch einmal nur: Verbrannte Schulbenachrichtigungen, Blutsbrüderschaft, Heimat unter Trümmerteilen und irgendwann Mädchen - - Aber man kann nicht zu den freien Nachmittagen zurück. Zu den Vormittagen auch nicht.
Am Grab steht Hendriks Großmutter und versucht, mit ihrem Gehstock etwas am oberen Ende der Fläche zu erreichen. Sie erkennt ihn sofort. Unter der dichten Hecke liegt ein ausgebranntes Grablicht, das wohl der Wind dorthin geweht haben muss. Er bietet seine Hilfe an, sie nickt. Er betritt mit einem langen Schritt vorsichtig die vom Regen der vergangenen Nacht noch leicht rutschige Steinplatte in der Mitte der rechteckigen Ruhestätte. Von hier versucht er aus der Hocke heraus, die umgestürzte Kerze zu erreichen, aber es gelingt ihm nicht, also lässt er sich vorsichtig weiter auf seine Knie nieder und streckt sich merkwürdig flach über das Grab aus, bis er den kleinen, roten Plastikzylinder an der Hecke erreicht hat. Sein Hemd streift die feuchte Erde und als er sich wieder aufrichtet und vorsichtig die kleinen, schwarzen Klümpchen von seiner Brust abklopft, sieht er Hendriks Großmutter entschuldigend an. Die alte Dame aber nimmt ihm lächelnd die ausgebrannte Kerze aus der Hand und sagt: »Wenn nichts mehr geht, dann kriecht man eben.« Sie legt dabei den Kopf schief.
Kerstin Meixner
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