freiVERS | Sofie Morin
Pilze, ach! (Fungus gemitus)
Ach, Pilze! Geflecht aus Hochmut und verwegenen Träumen. Und keiner gleicht sich. Hörnling bestimmt die Nuancen meiner Regungen je, Erdsterne verklären mir die Zukunft, Morchel kleidet meinen Stolz innen aus. Und Täubling klingt nach dem Spickzettel eines Minnesängers. Nachts, wenn keiner hinschaut, verschlingt er rohe Eier ganz.
Ach, Pilze! Bissfestes Gebaren, beinahe fleischlich, so wölbt sich der Pilzkörper einem Verlangen entgegen, nach Erdgeruch und klebrigen Texturen von Raunächten. So sind sie und so, schießen geweihhoch zwischen Wurzelfingern aus dem Erdreich, durchstoßen mit grellen Farben den moossatten Luftraum, verströmen Sporen wie Milchstraßen in die sichtbare und unsichtbare Welt hinter meinen Augenlidern.
Ach, Pilze! Von oben besehen mag euer Wuchs verstehbar sein, unterirdisch aber, da durchpflügt ihr Wahrheit um Wahrheit nach sternenfernen Gefilden, die Ursuppe, der wir alle entstammen. Und nichts wird gesagt von euren Schleimhäuten, nichts von den prekären Bündnissen, nichts von der Ungewissheit, mit der wir euch pflanzlich anreden. Viel aber von den Lamellen, von der Genießbarkeit und von euren Kappen, wo sie Eicheln nicht ähneln, und wo sie das tun.
Ach, Pilze! Ich singe euch Hymnen von fleischlicher Querung des engumzäunten Begehrens. Nichts, keine Lamelle, keine Rundung widerspricht mir. Die dünne Haut über dem prallen Körper, auch die wird nicht mehr normal sein, wenn wir einander aufs Genaueste besehen haben, Falte um Falte aus der Ummantelung gebügelt, bis wir alle so lustvoll anders sind wie unser eigenes Wollen.
Ach, Pilze! Geflecht aus Hochmut und verwegenen Träumen. Keiner gleicht euch wie ich. Im Herbarium halten wirs miteinander nicht aus, die Feldforschung aber unser Terrain. Aus dem Waldboden taucht ein Vater Erdfrüchte, die mir verborgen waren, und ich spüre es ist meiner. Seine Pilzgerichte lehren mich sachte, Tochter zu sein.
.
Auszug aus: „Liebeleien mit Wuchsformen. Eine translibidinöse Pflanzenkunde.“
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Olivia Mettang
Urlaub vom Alten
Er öffnet seinen Geldbeutel. So öffnet er auch seinen Gürtel, kurz bevor es bei ihm und Frauchen zur Sache geht, denkt Marie. Ganz langsam, als ob gleich was von großer Bedeutung passiert.
„Gib mir hundert, nicht fünfzig“, sagt sie.
Ihr Vater zieht zwei Scheine hervor. Marie nimmt das Geld wortlos aus seiner Hand, da ist Widerstand zwischen seinen Fingern. Nicht mal hundert Öcken kann er springen lassen, alter weißer Geizkragen. Sie verschwindet durch den Flur in ihr Zimmer am Ende des Gangs. Natürlich, am Ende des Gangs. Das einzige Zimmer mit Teppichboden, wieder hat er an ihr gespart. Sie wirft sich aufs Bett und rollt die Scheine um die Zeigefinger. Hundert Euro. Shit. Was man damit alles machen kann. Neue Sneakers kaufen. Sich zum Mond schießen. Enten füttern, kleinen Kindern Schnaps besorgen. Sie dreht den Schlüssel zu ihrem Zimmer, greift unters Bett und zieht die Schachtel Lucky Strike hervor. Auf die hat sie jetzt Lust, extra strong, damit es kratzt in der Lunge. Sie zündet sich eine an und raucht, das Fenster lässt sie zu. Wenn sie nachher von ihrem cosy Wohnzimmer zurück in den Flur kommen, wird ihnen der kalte Rauch entgegenschlagen.
Später klopft ihr Vater an die Tür. Abendessen. Frauchen hat Spaghetti Bolognese gekocht. Kohlenhydrate mit Zucker und totem Tier. Wenn Frauchen so weitermacht, wird sie bald platzen. Hätte sich dann ja richtig gelohnt mit dem Fremdgehen und der Scheidung, denkt Marie.
„Marie, komm, es wird kalt“, sagt ihr Vater ruhig durch die Tür.
Sie bleibt stumm, reinkommen kann er eh nicht. Sie weiß, dass er vor der Tür steht und wartet, und da kann er stehen bleiben bis morgen früh, wenn er will. Sie öffnet ihm nicht, sie antwortet ihm nicht, sie braucht ihn nicht. Den fürsorglichen Vater kann er dann in drei Monaten für sein neues Kind spielen. Sie rollt sich auf den Rücken, im Zimmer ist fast kein Licht mehr, dieses Scheißzimmer, in dem nur ein Bett steht, ein Schrank und ein Schreibtisch. Natürlich, ein Schreibtisch. Damit sie auch brav ihre Hausaufgaben macht. Sie raucht noch eine Kippe bis zur Hälfte und drückt sie im Teppich aus.
In der Schule schlägt sie mit zwei Packungen Kippen auf. Sie erzählt es den anderen schon nach der ersten Stunde. Im Park hinter der Schule gibt es ein Versteck, das rechts zu den Zuggleisen abfällt, links von Büschen umgeben ist. Die Oberstufenschüler pissen hier manchmal hin, wenn es ihnen zu weit ist zurück ins Schulgebäude. Sie sitzen im Kreis auf ihren Jacken. Schon verdammt kalt für Juni. Marie hält das Gesicht in die warme Luft aus den Mündern der anderen. Gustav ist der schnellste, aber die Kippen sind abgezählt, acht für jeden. Josefine ist noch bei der ersten, sie erzählt von ihrem neuen Pferd, das sie am Nachmittag „einreiten“ will. Sie zeigt ein Foto auf ihrem Smartphone, das Pferd ist grau mit weisser Mähne. Leon hat einen Arm um Josefine gelegt, aber die merkt das gar nicht und quatscht immer weiter. Das neue Pferd braucht noch einen Namen, und sie selbst neue Reitschuhe. Kleine Bonze, denkt Marie, und wundert sich darüber, weil sie Josefine eigentlich mag.
„Nenn es doch Princess, das Pferd”, schlägt sie vor. Sie hofft, dass das nicht zynisch klingt.
Als die Schulglocke läutet, sind sie immer noch bei der ersten Packung Kippen.
„Lasst lieber zurückgehen“, sagt Hannah, süße brave Hannah mit dem Pferdeschwanz. Leon und Josefine wollen auch in den Unterricht, aber Gustav sagt, dass er bleibt. Sie raucht noch drei Kippen mit Gustav, dabei sagen sie fast nichts. Das ist angenehm. Über ihnen im Baum ist ein Vogelnest, vielleicht Meisen, jedenfalls fliegen Vogelmutter und Vogelvater unermüdlich in der Gegend herum um Futter zu sammeln. Einmal kommen sie sogar bis auf Augenhöhe um zu sehen, ob nicht ein paar Chips oder Pizzakrümel für sie abfallen. Gustav nimmt Maries Hand, und sie erschrickt, weil sie denkt, dass Gustav jetzt was starten will. Sie ist sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie nichts mit Gustav starten will. Aber Gustav hält nur ihre Hand, mit den Fingerkuppen auf ihren Knöcheln, und drückt seinen Daumen in ihre Handinnenfläche.
Sie geht alleine zur U-Bahn, ihr ist schwindelig und ziemlich übel, aber gut übel, leicht im Kopf und in den Beinen. Sie hat noch fünfundachtzig Euro. Vielleicht wird sie zu ihrer Mutter fahren. Sie muss sich setzen, muss sich an der Haltestelle hinsetzen, neben eine Frau mit einem Baby, das vom Teufel besessen ist, zumindest sieht es so aus. Es sieht sie aus fiesen blassen Augen an und wenn es könnte, würde es sie anspucken. Marie starrt hinunter auf das Baby, du kannst mir nichts, du kleiner böser Wicht. Sie hält seinem Blick stand, bis die Bahn einfährt. Sie fährt bis ins Zentrum, das dauert fast dreißig Minuten. Es ist sicher fünf Monate her, dass sie das letzte Mal alleine hier war, damals ist sie bis zwei Uhr morgens bei irgendwelchen Pennern auf der Parkbank gehockt. Die Penner haben sie schweigend akzeptiert, keiner wollte mit ihr reden, sie wollten in Ruhe ihre Bierdosen kippen und in das Laternenlicht glotzen.
Marie rechnet damit, dass ihre Mutter nicht zu Hause ist, irgendwo unterwegs, arbeiten oder beim Psychiater, und sie die Wohnung ein, zwei Stunden für sich hat. Sie holt sich den Ersatzschlüssel, der unsichtbar an einem Haken an der Innenseite der Kellertüre hängt. Die Wohnung riecht nach Rauch und Haarschaum, der ihrer Mutter immer durch die Finger flutscht und dann auf dem Fußboden festtrocknet. Marie ruft nicht Mama oder Jemand zuhause, natürlich nicht, sie geht direkt ins Schlafzimmer und sieht nach. Wenn sie da ist, ist sie hier, um sich die Augen aus dem Kopf zu heulen, das Häufchen Elend. Sie ist nicht da. Marie geht zurück ins Wohnzimmer, das gleichzeitig die Küche ist. Sie setzt sich auf das kleine Sofa, das ihre Mutter neu gekauft haben muss. Vielleicht wurde es ihr auch geschenkt, von einer ihrer Freundinnen, die jetzt pausenlos um sie herumwuseln. Jedenfalls ist es hässlich, genau wie der Rest der Einrichtung. Marie fragt sich, wie man für ein kleines hartes braunes Sofa überhaupt Geld ausgeben kann. Sie steht auf und geht zurück ins Schlafzimmer, nicht mal drei Schritte, die Wohnung ist wirklich winzig. Im Schrank oben links hat ihre Mutter eine Box mit Kleingeld und ein paar losen Scheinen, Marie greift hinein. Ihre Mutter wird überhaupt nicht merken, dass da ein paar Handvoll Geld fehlen. Sie lässt das Geld in ihre Jackentaschen fallen, müssten so um die zwanzig Euro sein. Für zwanzig Euro bekommt man jede Menge Schminke bei dm, oder eben zwei Packungen Kippen und einen Döner. Sie hat Hunger, und da im Kühlschrank nichts steht außer einem Bier und einer Tüte Milch verlässt sie die Wohnung früher als geplant. Kurz bevor sie die Tür zuzieht geht sie nochmal hinein, um ihrer Mutter die zweite Packung Luckys dazulassen.
Der Dönertyp ist richtig nett zu ihr. Schenkt ihr einen Ayran und versucht ein bisschen zu flirten, obwohl er locker zehn Jahre älter ist als sie. Marie lächelt zurück, sie weiß, dass sie älter aussieht als sie ist. Sie würde gerne noch ein bisschen in der Dönerbude sitzen bleiben und versucht langsam zu essen. Als sie fertig ist kauft sie noch einen Börek mit Spinat. „Hunger, ha?“, sagt der Dönertyp grinsend und packt den Börek in den Ofen. „Nimm noch mal Ayran, Kleine.“ Marie nimmt sich einen Ayran aus dem Kühlschrank, der hinten völlig vereist ist. Außer ihr ist niemand in der Dönerbude, aber es hätten auch nicht viel mehr Leute Platz gehabt. Marie wischt mit dem Ellenbogen ein Stück Tomate vom Bistrotisch. Draußen leuchtet der Asphalt in der Sonne, obwohl es schon fast acht Uhr ist. Zwei Männer kommen herein, sie begrüßen den Dönertyp mit Handschlag und unterhalten sich, vermutlich auf Türkisch. Schöne Sache, so eine Dönerbude zu haben, denkt Marie. Muss Spaß machen, den ganzen Tag mit Leuten zu quatschen, Ayran zu verschenken und ab und zu den Kühlschrank abzutauen. Sie guckt zu den Typen rüber, die jetzt in der offenen Tür stehen, jeder einen Yufka in der Hand, und mit dem Dönertyp Witze reißen. Wenn er lacht, sieht er jünger aus. Er öffnet den Ofen und schiebt ihr den Börek über die Theke ohne hinzusehen.
Als die Männer gegangen sind steht Marie auf.
„Alles gut?“, fragt der Dönertyp, „hat geschmeckt?“
„Ja“, sagt Marie.
„Weil ich ess nie Döner. Hab vergessen, wie schmeckt.“
Marie findet, dass seine Wimpern ziemlich lang sind für einen Mann.
„Ich weiß“, sagt sie, „Döner ist gar kein türkisches Essen.“
„Ja, genau. Kein türkisches Essen. Aber wir essen viel Fleisch. Viel Schaf, uh“, der Dönertyp sucht das Wort mit den Fingern, „so kleine Schaf.“
Sein Deutsch hört sich extra-nett an, weil er ein kleines bisschen lispelt.
„Seit wann bist du in Deutschland?“, fragt Marie, sie will mehr wissen.
„Vielleicht zwei Jahre. Bisschen länger. Hier ist besser, weil ich kann in Dönerbude arbeiten und mit schöne Frauen reden.“
Er zwinkert ihr zu.
„In der Türkei gibt’s doch auch schöne Frauen“, sagt Marie.
„Klar, klar. Aber ich komm gar nicht aus Türkei. Ich komm aus Zypern.“
„Ist das nicht griechisch“, sagt Marie, aber der Dönertyp wedelt mit der Hand.
„Neee, ist auch türkisch. In Nordteil ist türkisch. Gibt’s nix dort, nur Armee und kaputte Häuser und paar Hotels für Touristen.“
Marie öffnet ihren Browser und googelt Zypern. Türkisenes Wasser, hellbraune Steine.
„Ich war noch nie dort“, sagt Marie und der Dönertyp sagt, das macht nichts.
Marie bleibt in der Dönerbude. Der Dönertyp heißt Ali und wohnt mit seiner ganzen Familie in Stuttgart. Seine Eltern heißen Yusuf und Elif, seine Geschwister Olcay, Ahmet und Meryem. Ali redet von ihnen, als würde Marie sie längst alle kennen. Auf Zypern war er beim Militär, das war gar nicht sein Ding, weil sie bei fünfundvierzig Grad auf den Truppenübungsplatz Kniebeugen machen mussten. Irgendein Arschloch hat ihm außerdem in der Kaserne bei einem Streit eine Rippe gebrochen, die dann nie ganz verheilt ist. Jetzt kippt er beim Gehen ein bisschen nach links, er kommt hinter dem Tresen vor um es vorzuführen. Die Dönerbude gehört seinem Onkel, und so richtig sein Ding ist das auch nicht, Döner verkaufen. Lieber würde er beim Fernsehen arbeiten. Und er hat auch schon versucht zu wechseln, hat sich für eine Ausbildung zum Kameramann beworben.
„Aber gibt keine Arbeit, weil Leute denken ich bin Türke. Aber ich hab europäische Pass. Ich kann überall arbeiten, in ganze EU!“
Ali ist ein bisschen laut geworden. Marie versteht ihn. Sie hat das Bedürfnis, Ali auch was aus ihrem Leben zu erzählen. Sie wartet, dass er nachfragt, aber er fragt nicht.
„Mein Vater hat meine Mutter geschlagen“, sagt sie, und es fühlt sich ein bisschen falsch an, das zu sagen, vor allem, weil es nicht stimmt. Tatsächlich hat sie ziemlich lange nicht gewusst, was eigentlich Sache war. Es gab es einen Streit in der Küche, und danach wurde nicht mehr gesprochen. Dann stand irgendwann ein Möbelwagen vor dem Haus, als sie von der Schule zurückkam. Als er ging hat ihr Vater die Wohnungstür ganz leise geschlossen, und ihre Mutter hat ein paar Pillen eingeworfen und sich schlafen gelegt. Sie selbst ist feiern gegangen und hatte nach sieben Berentzen-Apfel Shots eine kleine Fummelei mit Nico aus der Zehnten.
Niemand hat niemanden geschlagen, sie reden ja nicht mal miteinander. Aber sie hat Lust die Geschichte so zu erzählen, darum tut sie es.
„Er hat sie geschlagen, bis sie nur noch auf dem Bett herumlag und nicht mehr aufstehen konnte“, sagt sie.
Ali sieht sie aufmerksam an, er zwinkert nicht einmal. Also setzt Marie noch einen drauf.
„Mich hat er auch geschlagen. Ins Gesicht.“ Das ist nicht ganz gelogen, es entspricht metaphorisch gesehen der Wahrheit.
Ali will wissen, was eine Ohrfeige ist, und Marie demonstriert es an sich selbst. Ali nickt voller Mitgefühl. Er sagt, dass Eltern, die ihre Kinder schlagen, keinen Respekt vor dem Leben haben. Marie stimmt ihm zu. Sie sagt: „Manchmal würde ich gerne abhauen, in ein anders Land, weißt du, so wie du das gemacht hast.“
Ihr Vater hat ihr am Nachmittag eine SMS geschrieben. Sie hat die SMS nur überflogen, aber es wird wohl darauf hinauslaufen, dass ihr Vater ihr diesen Monat kein Taschengeld geben wird. Alter Choleriker. Die Zahnbürste von Frauchen ist ihr aus Versehen ins Klo gefallen heute Morgen, der Zahnputzbecher stand so wacklig, dass er umfallen musste. Soll sie etwa ins Klo greifen und das Ding wieder rausholen? Ist ja nicht ihre Schuld, dass Frauchen ihren bescheuerten Becher nicht richtig hinstellen kann.
„Wie lange dauert es nach Zypern?“, will Marie wissen.
„Mit Flugzeug paar Stunden“, sagt Ali. „Mit dem Schiff dauert länger.“
„Kannst du mir ein Ticket kaufen?“, fragt Marie. Ali sieht sie an, als wäre sie verrückt.
„Ich hab auch keine Geld, Kleine. Denkst du in Dönerbude man wird reich, oder was?“
Er lacht. Marie zieht die zwei Scheine aus ihrer Hosentasche und legt sie auf den Tresen. Ein fünfziger und ein zwanziger. Dann greift sie in ihre Jackentaschen und holt das Kleingeld heraus. Sie hat sie noch nicht gezählt, aber es muss ziemlich viel sein.
„Ich hab Geld“, sagt Marie, während sie zwei Euro Münzen stapelt, „ich hab nur keine Kreditkarte.“
Ali schweigt kurz. „Warum willst du nach Zypern?“, fragt er dann und widerholt: „Gibt nix dort außer Armee und kaputte Häuser.“
„Ich will mal Urlaub machen“, sagt Marie, „Urlaub von meinem Alten.“
„Okay“, sagt Ali, „aber machst du Urlaub lieber woanders, oder? Italien? Spanien?“
Marie schüttelt den Kopf.
„Nee. Zypern ist gut. Auf Zypern kommt keiner.“
Sie öffnet wieder den Browser. Die günstigste Verbindung ist nächsten Dienstag um zehn Uhr morgens, vierundachtzig Euro, sechseinhalb Stunden Reisezeit. Sie schiebt Ali ihr Handy hin und hundertzwei Euro.
„Kannst du mir den buchen“, sagt sie. „Bitte.“
Ali zieht seine Kreditkarte aus dem Geldbeutel.
„Kannst du selber buchen“, sagt er, „aber mach schnell, bevor ich anders überlege.“
Marie tippt ihre Daten ein, zuletzt die Kreditkartennummer. Sie klickt Kaufen, ihr Magen hüpft. Wenige Sekunden später blinkt die Buchungsbestätigung in ihrem Emailpostfach auf. Als sie den Kopf hebt, hat Ali das Geld schon weggeräumt. Er steckt die Kreditkarte zurück in seinen Geldbeutel, holt zwei kleine Schnapsgläser aus einer Schublade und nimmt eine Flasche mit blauem Schraubverschluss aus dem Kühlschrank.
„Raki“, sagt er, „zum Feiern. Weil du Urlaub machst von deinem Alten.“
Marie trinkt ihren Raki, wie man ihn trinken muss, schnell und ohne nachzudenken. Kann sein, dass man die meisten Dinge im Leben so angehen sollte. Draußen ist es jetzt dunkel. Sie würde gerne länger in der Dönerbude sitzen bleiben, aber Ali möchte Schluss machen. Also nimmt sie ihre Jacke vom Stuhl und verabschiedet sich von ihm. Er nickt ihr zu. Sie hätte ihn gerne umarmt. Draußen hat es höchstens fünfzehn Grad. Verdammt kalt für Juni. Sie steckt ihre Hände tief in die Jackentasche und macht sich auf den Weg nach Hause.
.
.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Yvonne Koval
ein Gefühl
wie aufgeraute Felsen
vom Wasser verschlagen
die Sprache.
& ganz unten, in der Tiefe, Risse
dort wo niemand tastet
schon lange Zeit, nicht aufgebrochen, nur stetig
stetig am Sauerstoff ziehend, zerrend
dem Wind entgegen, ergraut der Felsen.
aufgeraut, rissig & porös
dort wo niemand achtsam
niemals wach geworden
vom Zerfallen, da nur allmählich
alltäglich, mitgenommen von den Wellen
aufgebraucht, doch standgehalten.
nur dazwischen die Fissuren
die schon lange Zeit
ganz unbemerkt
davon erzählen.
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Anne Martin
sieben punkte gegen einsamkeit
aus der apothekenumschau seite 16
ausgabe märz
erster punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabe märz
Denken sie positiv über sich. Sagen sie sich:
'ich bin so liebenswert wie jeder andere hier auch.'
denken sie postiv. sagen sie sich ich so liebenswert.
denken sie positiv. sagen sie. ich bin
denken sie postiv, sagen.
denken
ich bin.
ich bin anne und das meine ich positiv
überaus
es ist die wahrheit
denn oft sage ich mir
anne, was machst du hier und wofür
ich trage dunkle trauben durch die stadt
ich sage mir, anne, die trauben sind zucker, wasser und kern
ich sage mir, anne, dass das alles zusammenhängt
die anzahl der kerne
das einzugsgebiet
wie wenig proportional zu meinem durst
die straßen liegen in diesem bezirk
ein sonnenfleck klebt noch am stromkasten
die restlichen liegen versprengt auf dem kies
als wär die platane ein tollpatsch
dem das tageslicht runterfiel
ohne scherben und schrei
das feste und flüssige
wo es anfängt
und übergeht
gegenseitig und in sich
welche sachen sinken und welche schwimmen
was mir kern und was mir hülle
das soll der kanal mir wissen
da lauf ich hin
mit dunklen trauben durch den kiez
das setting ist ein violettes quartier
da sind linien aus gummi und linien aus stahl
die lenken verkehre und lenken menschen
wie erstaunlich es ist
wie selten wir an uns rempeln
und auch sonst dabei nicht berühren
und wahrnehmen als wolken im hintergrund
gerüche kleben an steinen.
an mündern und drüsen.
an dönerrollen und flacons
zweiter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabe märz
Kleider machen Leute: Ziehen Sie etwas an,
in dem Sie sich wohlfühlen und sich schick finden.
(der requistige wurde inflationsbedingt der etat gekürzt)
ich trage schwarzes fleece seit sieben jahren
und braune schuhe aus rhythmischem material
mit taktschlägen auf zwei und vier
einen schlüssel
zwei klemmen
drei abgekaute nägel einer entzündet bis ins fleisch
zwei zusammengenähte namen
und blaue trauben zum halben preis
ein leuchtender sticker schreit es mir zu
alles sonderangebote
ich fühl mich sonderbar, kurz vorm schließen der läden
ich steuer eine klimax an
der kanal mir als illustration
wie schwer es mit dem unterschied von festem und flüssigem ist
dem was wir natürlich nennen und dem, was wir konstruieren
dritter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabe märz
Eine offene Körperhaltung signalisiert Interesse.
Arme beim Reden nicht vor der Brust verschränken.
(hier rät die regie:
scheitel gen himmel
hände fallend herab
locker nach außen
lass die schultern nicht hängen
und wusstest du, dass du ein hohlkreuz hast)
ich trage dunkle trauben durch die stadt
ich presse sinne in die gegend hinein
eine blassblaue minute aus allem getropft
und zwei sekundenvogelschwarm
ich quetsche gehörtes. ich keltere ahnung
aus der ankündigung von einem next-big-thing
ein abgelaufenes prospekt rät: kalzium essen im september
ich bin auf dem weg zu künftigem. warum also nicht
kalzium essen in entsprechung denn
aus vorauseilendem gehorsam
verbrennen die espen ihr laub
ich trage trauben die tragen kalzium
aus veranlagung und für den herbst
und manchmal bin ich traurig
aber eigentlich oft
über das viele was im umfeld liegt
und das wenige, was darin grüßt
vierter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Halten Sie Blickkontakt. Lächeln Sie,
das bringt Ihnen Sympathiepunkte ein.
die zeit geht am stock den fußweg entlang
ich geh untergehakt mit ihr am rand.
ich frag sie nach wurzeln, die den asphalt sprengen
und wieviele platanen man braucht
für einen coup
wir würden gut aussehen in tweed und cord
doch ich trage trauben und angst
wir wollen bier trinken im park
als gäbs kein morgen. einfach sitzen bleiben
und mutmaßungen anstellen
über das alleinsein. wie ein therapeut aus westfalen
zum veröffentlichen
auf hochglanz in bunt
es kann die kranke hüfte sein, die am besuch der sportgruppe hindert
und manchmal liegt es daran, dass man zu hohe erwartungen hat,
die sich nicht erfüllen
(oder vielleicht dass man keinen vereinssport mag
oder keine gruppen
aus vereinsssportliebhabern)
oder gar nichts mehr erwartet vom kuchenbasar
der freiwilligen feuerwehr im ort
und doch würden wir gern mitglied sein in einem club
die zeit und ich
und briefe schreiben
an mitglieder
fünfter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Erzählen Sie über sich, aber gehen Sie auch
auf Ihr Gegenüber ein. Fragen Sie interessiert nach.
die letzte google anfrage+
die ich kürzlich stellte
wie depressionen überwinden
erzielt an erster stelle den treffer
www.ghostwriter-arbeiten.de
masterarbeit schreiben lassen
in fünf bis sechs raten
passieren ihnen auch solche bescheuerten dinge
ich frage hier
mit interesse
ich tragen dunkle trauben durch die stadt
ich sage mir, anne, die trauben sind wässrig im mund
die kerne haben mir einen schlarz in den zahn geknackt
ich sage mir, thomas, sich an das feste im flüssigen zutschen
ich sage mir, anne, du bist wasser und wunsch
auf dem weg zu festem und flüssigen
von weiten eine szene am bahnsteig mit zweien
der eine schlägt sich die stirn, nachdem er aufprallt
und rot fließt es ihm über die linke seite
wie sich festes und flüssiges bedingen
und dann rappelt der sich auf wacklige beine
und der andere verbiegt seinen arm so geschickt
durch den schlitz des mülleimers als wär er wasser
und eine flasche zieht er heraus und darin glitzert noch was
und der wacklige setzt zu rennen an
als sei der goldene spuckrest darin
die härteste währung im land
sechster punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Machen sie ehrlich gemeinte Komplimente.
Sprechen sie Gemeinsamkeiten an, falls sie diese erkennen.
hallo, sie hier
an dieser stelle im text
schön, dass sie es bis hierher geschafft haben
danke
mir fielen auch schon dinge leichter
siebter punkt im rotgerahmten schaukasten
der apothekenumschau, seite 16/ ausgabemärz
Sagen sie am Ende des Gesprächs,
dass sie es schön gefunden haben
und sich auf ein baldiges wiedersehen freuen.
auf bald.
es war schön.
der kanal führt dunkles wasser
in festen bahnen
ein bewältigungsversuch
beton und stahl
bin ich fisch und fleisch und fest und flüssig
ein organ wünsch ich mir wie die plötzen es haben
damit ihre silbernen bäuche nicht oben treiben
zum halt
eine schwimmblase für trockenes
knapp überm kies
sich zu halten
in mittleren lagen
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Ulla Schuh
Wannabe I-III
(versions between my 30s & 40s)
.
-I-
Ich will goldgelben Tee zum Frühstück
Ich will Häuptling sein. Ich will im Fluss baden
und in der Badewanne liegen, ohne dass die Haut schrumpelt
Ich will morgens voller Elan aus dem Bett springen
Ich will tanzen können und weniger frieren
Ich will im stillen Tal sitzen und einen Schwimmteich anlegen
Ich will geöffnete Fensterläden in Taubenblau
oder Lindgrün (lieber in Taubenblau)
Ich will, dass jemand meinen Rasen mäht
und mir über die Haare streicht
Ich will mein Kind glucksen hören und die Bienen summen
Ich will hin und wieder unangemeldeten Besuch
und einen vollen Kühlschrank
Ich will barfuß schreiben mit Blick ins Grüne
und einer Katze auf dem Schoß
Ich will ein Bett in einem hellen Zimmer
und gekalkte Wände, wie man sie früher hatte
Ich will viel Luft, viel Zeit, viel Raum für mein Leben
.
-II-
Was, wenn ich den gelben Sack
rausbringe, anstatt Häuptling
zu sein, wenn ich auf
Flachdachhäuser blicke
anstatt auf einen Schwimmteich
Wenn mein Kind am Kreisverkehr
spielt statt im grünen Gras
Wenn der Laubbläser
des Nachbarn
die Katze verscheucht
Fensterläden und Rasenmäher
rosten und mir niemand
über die Haare streicht,
– mir die Luft ausgeht,
Freiraum fehlt?
.
-III-
Heute Morgen
hat mir
mein Nachbar,
der laute
aus der 2,
einen Ableger
vor die Gartentür
gelegt:
Was
will
man
mehr?
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Tetyana Dagovych
Die Zwei-Wände-Regel
der spielt mit den Schlangen der schreibt
Paul Celan
.
klebe die Fenster mit Tesafilm zu
damit die Scheiben nicht zerbrechen
damit mein Herz nicht zerbricht
du wirst diesen Frühling nicht sehen
aber vielleicht erleben
wenn du wirklich Glück hast
hast du die Luftalarm-App installiert
hast du? falls du
es zum Bunker nicht schaffst
lerne die Zwei-Wände-Regel
lerne sie auswendig
zwei Wände müssen sein
zwischen dir und der Rakete
am besten bei dir im Flur
dort kannst du dich aufhalten
das kann dir das Leben retten
kann aber muss es nicht
in Czernowitz geboren
wo es ruhiger als
in anderen Regionen
der gekreuzigten Ukraine
ist, Paul Celan sagte
damals damals aber heute
kommt es von der anderen Seite
der Tod ist ein Meister aus Russland
deswegen musst du die Fenster
mit Tesafilm gut zukleben
die Zwei-Wände-Regel lernen
lerne sie auswendig
ein Mann sitzt im dunklen Bunker
er spielt mit Raketen er schreibt
er will die Geschichte umschreiben
er will dich vernichten verbrennen
deine goldenen Locken Maria
dein aschenes Haar Mariupol
die Stadt tut mir weh im unteren
Bauchbereich die Gebär-
mutter ist es, die schmerzt
Maria sie wurde ermordet
in Odessa wo es so ruhig
war wie in deiner Stadt
nur ab und zu Raketen
Valeria hatte ein Baby
ein Mädchen namens Kira
sie hatte die Mutter Ludmyla
zu dritt waren sie Maria
zu dritt wurden sie ermordet
klebe ordentlich deine Fenster
mit Tesafilm zu und die Regel
die Zwei-Wände-Regel du musst
sie auswendig können
sie hat ihnen nichts geholfen
das war ein direkter Treffer
hast du die Luftalarm-App
vollkommen nutzlos war sie
in Butscha Hostomel Irpen
es tut mir weh an den Händen
es tut mir weh in der Scheide
der Staub verbrennt Atemwege
der Tod ist ein Meister er spielt
du – lern seine Spielregeln endlich!
vor allem die Zwei-Wände-Regel
den Kopf mit den Händen zudecken
nicht weinen nicht lachen nur singen
(u lusi tscherwona kalyna...*)
* ukrainisches Lied; von Pink Floyd wurde es als „Hey Hey Rise Up“ veröffentlicht
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Leonard Merkes
Alles ganz normal
Ich nehme das Buch in beide Hände, lege es auf den Teppich und beuge mich darüber. Mein Zeigefinger bewegt sich von Zeile zu Zeile, immer an den Buchstaben entlang. Meine Lehrerin sagt immer, dass ich das nicht brauche. „Nur mit den Augen“, sagt sie. Aber ich traue ihr nicht. Die Wörter, die ich noch nicht kenne, murmele ich vor mich hin, damit ich mich später besser an sie erinnern kann. Sie würde seufzen, wenn sie mich jetzt sähe. Mir ist das egal. Ich bin acht Jahre alt. Ich lese flüssig und schnell.
In dem Buch vor meinen Knien gibt es viele Bilder. Ich blättere kreuz und quer darin, lese etwas über Masern, Mumps, Röteln und die Anwendung von Wadenwickeln. Die Seiten sind aus dickem, matt glänzendem Papier. Es ist ein Ratgeber über Kinderkrankheiten, den Mama und Papa im Bücherregal im Wohnzimmer aufbewahren. Sie holen ihn hervor, wenn es mir schlecht geht, aber sie nicht richtig sagen können warum.
In einem grün umrandeten Infokästchen im Kapitel über Babys steht, dass der menschliche Körper bei der Geburt zu 95 Prozent aus Wasser besteht, dieser Anteil sich aber im Laufe des Erwachsenwerdens um 25 Prozent reduziert. Warum erfahre ich nicht.
Bekommt der Körper beim Wachsen undichte Stellen? Ich überlege, ob es bei allen möglichen Gelegenheiten aus mir heraustropft. Beim Fußball, beim Einkaufen, wenn ich wütend bin. Vielleicht habe ich ja schon 10 Prozent Wasser verloren. Ich gehe in die Küche und fülle ein großes Glas bis zum Rand. Ich trinke es in einem Zug. Nachher ist mir schlecht, aber ich bin irgendwie beruhigt. Ich fühle mich bei 80 Prozent.
Am Abend steht Papa vor mir, er beugt sich zu mir herab. Sein Gesicht ist ganz nah bei meinem. Er schreit mich an und schüttelt mich. Mama drückt sich gegen die Wand und ruft „Stopp“, aber er hört sie nicht. Etwas muss ihn verärgert haben, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig. Ich glaube er hat es sogar vergessen. Die Spuke läuft ihm übers Kinn. Ich würde sie ihm abwischen, aber das traue ich mich nicht. Um mich herum ist so viel Lärm.
Der Blick aus dem Fenster zeigt ein Großstadtpanorama. Leuchtreklame, Bürogebäude, das Dach des Fußballstadions. In der Ferne vier, fünf Hügel. Die Sonne verschwindet hinter der Müllverbrennungsanlage. In der Dämmerung jagen zwei Spatzen einander, stürzen hinunter Richtung Straße. Auf dem Fensterbrett Erdnussschalen und in der Bierflasche ein paar Kippen. Vor dem Café auf der anderen Straßenseite stehen Teenager, trinken Glühwein und lachen. Wind aus allen Richtungen. Die Teenager rücken näher zusammen. Neben dem Café hält ein Bus, dann die Straßenbahn. Ein Streufahrzeug kriecht durch die Straßen. Sirenen, Lichter. Er öffnet die Wohnungstür, atmen.
Später ist es im Flur wie auf dem Bach hinterm Haus, der seit einigen Tagen gefroren ist, aber jetzt zu tauen anfängt. Vorsichtig drücke ich die Kufen ins Eis. Ich bewege mich lautlos. Auf dem Weg zum Badezimmer drehe ich eine Pirouette, drehe mich im Kreis, immer um die eigene Achse, immer schneller werde ich.
„Was machst du da? Komm geh ins Bett!“ Mama steht im Flur, ein paar Schritte von mir entfernt. Zwischen uns gibt es eine Stelle, da bricht schon das Eis. Deswegen gehe ich lieber nicht näher heran. Sie wünscht mir noch eine gute Nacht und geht dann ins Schlafzimmer zurück. Ich krieche mit Schlittschuhen an den Füßen ins Bett.
Bevor ich einschlafe, frage ich mich, ob der Körper noch immer Wasser verliert, auch wenn man schon erwachsen ist. Ich will nicht weniger werden, sage ich laut vor mich hin und halte die Tränen zurück.
Seine Hand greift nach dem Fahrschein, der ihm ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn zuschiebt, bevor er sich wieder dem Bildschirm zuwendet und zu tippen beginnt. Das Kuppeldach, die Fassade. Der ganze Bahnhof ist aus Glas. Er schlendert an Donut Shops vorbei, an Nagelstudios, an einem Media-Markt. Ein Mann verkauft in einem winzigen Laden Handyhüllen zum halben Preis. Sein Zug geht erst in einer halben Stunde. Er öffnet das Dosenbier, das er im Supermarkt gekauft hat. Es spritzt beim Öffnen und er hält es weit von seinem Körper entfernt. Durch das Kuppeldach kann man schon den Mond sehen. Er trinkt in kleinen Schlucken, trotzdem läuft ihm Bier übers Kinn. Er wischt es am Jackenärmel ab. Als er auf die Uhr schaut, sind es nur noch ein paar Minuten bis zur Abfahrt und er hastet über die Rolltreppen zum Gleis, das unterirdisch liegt.
Ich springe vom Fünfmeterbrett, die Arme eng an den Körper gepresst. Das letzte, was ich sehe sind meine Füße, wie ich sie zwinge einen Schritt in die Luft zu tun. Danach schließe ich die Augen und halte mir die Nase zu. Fast senkrecht tauche ich ins Wasser ein. Ich bin überrascht, dass es kaum weh tut. Ich schwimme nicht sofort zum Beckenrand, ich schaue mir die Welt von unten an, solange bis ich nicht mehr kann und Luft holen muss.
Er stolpert durch den Gang, schiebt sich am Schaffner vorbei, streift die schwammige Brust, den Bauch, der sich unter der Weste spannt. Er ist unsicher wohin, auf welchen Platz, ob im richtigen Abteil, bleibt stehen, wartet, schaut ins Gepäckfach, nach unten. Vor seinen Augen dunkelblauer Teppichboden, übersät mit schwarzen Quadraten, in unterschiedlichen Abständen, ohne Ordnung.
Ich bin allein. Durch einen Schlauch fließt glasklare Flüssigkeit in meinen rechten Arm. Ich sitze aufrecht im Krankenhausbett. Der Leopard mit dem weichen Fell muss mir beim Schlafen aus dem Bett gefallen sein, ich spüre seine Schnurrbarthaare nicht an meinen nackten Beinen. Ich drehe mich um, ich schaue unters Bett. Außer einem alten Müsliriegel ist da nichts. Mein Arm tut weh. Ich dachte es wäre angenehm, wenn sie etwas in dich hineinfließen lassen, was dich wieder gesund macht, wie der Arzt es gesagt hat. Die Krankenschwester trägt mein Frühstück herein. Ein Becher Joghurt und ein paar Cornflakes, in Plastik verpackt. „Bei wie viel Prozent bin ich jetzt“, frage ich und hebe meinen Arm, aber die Krankenschwester versteht meine Frage nicht und zupft die Vorhänge am Fenster zurecht.
Den Leoparden finden wir nicht. Keiner hat ihn gesehen. Ich sage ok, weil ich fühle, dass ich eigentlich zu groß für ein Stofftier bin. Sechs Jahre bin ich schon. Zum Geburtstag habe ich endlich ein Fahrrad bekommen. Es ist gelb, auf dem Rahmen sind schwarze Punkte drauf. Ein bisschen so, wie beim Leoparden, der einfach verschwunden ist. Nächste Woche will ich nicht mehr mit Stützrädern fahren.
Schnee, der wie Asche leere Felder überzieht, auf Hochhausbalkone und Autobahnbrücken fällt. Ein paar Kilometer weiter wieder geschmolzen ist. Nur noch ein paar Gestalten vor ihm. Versunken in ihren Sitzen, die Hälse geknickt, die Münder schlagen gegen das Glas. Ein Taubheitsgefühl in den Knochen. Seine Tasche liegt neben ihm, die Tasche mit den Sachen, den Klamotten und dem Handyladekabel. In der Zugtoilette schwappt Urin und Erbrochenes.
Papa ist auf dem Stuhl zusammengesackt. Er schluchzt. An der Wand hängt die Landkarte mit Ländern, die es so gar nicht mehr gibt. Jugoslawien Rhodesien, Deutsche Demokratische Republik. Er stammelt, dass er nicht mehr kann. Ich schlinge meine Arme um ihn und flüstere: Aber ich, ich bin noch bei mindestens 89 Prozent.
Wo bist du jetzt? Kannst du das nochmal sagen? Die Verbindung ist so schlecht. Zu beiden Seiten durchziehen Fabriktürme die Landschaft, stehen in Gruppen zu dritt oder viert. Dazwischen Silos, groß wie Einfamilienhäuser. Was? Nein, du brauchst mich nicht abzuholen. Überall Flutlichtstrahler, wie Tiefseefische im schwarzen Wasser. Seegras wiegt sich vor dem Fenster. Atmen, schon mal an die Tür treten. Noch zehn Minuten, kurz nach Mitternacht. Von hier an nur noch Vororte.
Mein nackter Körper spiegelt sich in der Milchglasscheibe des Badezimmerfensters. Ich hasse euch. Ich hasse euch sosehr. Ich gehe weg von hier, noch heute mache ich das. Ich balle meine Hände zu Fäusten, ich reiße den Heizlüfter aus der Wand. Aber die Gestalt im Milchglas bewegt sich nicht, sie verschwimmt mit der Fassade des Nachbarhauses und dem Baum, der davorsteht.
Unter ihm Zigarettenkippen und gefrorenes Laub. Fahrradständer links und rechts an der grauverschmierten Plakatwand. Zwei Fahrräder parken in einigem Abstand voneinander. Bei einem fehlt das Vorderrad. Die Sporttasche zieht an seinem Schultergelenk. Vor ihm das Haus, das Dorf. Sonst nichts. Er schlägt einen Bogen über den Platz. Nur ein Snackautomat steht im Weg.
Die Wut ist so groß. Viel größer als du und ich. Sie macht mir Angst. Ich weiß nicht wohin mit ihr, ich halte die Luft an. Mir wird schwindelig. Tage später meldet sie sich zurück, sie steckt irgendwo im hinteren Teil meines Kopfes und beschimpft mich. Ich schlage den Kopf gegen die Wand, ganz fest. Ich hoffe, dass die Wut von der Erschütterung Angst kriegt und ganz weit weggeht.
Über ihm Starkstrommasten. Er klettert durch das Gleisbett, schlägt sich durch eine Böschung, ein Brennnesselfeld, bis er zu einem Schotterweg gelangt. Schrebergärten im Mondlicht, dicht an dicht an die Gleise gedrückt. Die einzelnen Parzellen durch Maschendrahtzäune voneinander getrennt. Er legt den Kopf in den Nacken. Eine Deutschlandfahne zappelt im Wind.
Im Sommer sind wir in Südfrankreich in einem Ferienhaus, das direkt am Meer ist. Am zweiten Tag wirft Papa Mama einen Spüllappen ins Gesicht. Wasser spritzt mir auf die Zehennägel. „Du dumme Sau“, er hat Schaum vor dem Mund. Mama weicht zurück und schreit ihn an. „So lasse ich mich von dir nicht behandeln“. Ich gehe zwischen Pinien auf und ab. Das Meer ist ruhig und der Himmel ganz klar.
Streusalz unter den Sneakern, knirscht wie Sand zwischen den Zähnen. Vorbei am Wohnblock, wo man die Sozialhilfeempfänger untergebracht hat, die Obdachlosen, die Verrückten. Er zündet sich eine Zigarette an. Fernsehlicht in der oberen Etage. Flackert auf und erlischt. Im Gehen den Rauch durch die Nase blasen, durch den Mund atmen. Wie es ist, wenn die Luft an den Fingerknöcheln zieht.
„Geht niemals zu weit rein, wenn ihr im Fluss baden wollt“, sagt meine Lehrerin immer zu uns, „die Strömung reißt euch sonst mit, auch wenn ihr schon gut schwimmen könnt.
Auf dem Weg zum Bäcker bleibe ich bei einer Pfütze stehen. Mir fällt ein, dass man auch in Pfützen wie diese hier ertrinken kann, wenn man nicht aufpasst, weil man gestolpert ist und hineinfällt und mit dem Gesicht im Wasser liegen bleibt, weil man nicht mehr aufstehen kann. Auch wenn Arme und Beine gar nicht im Wasser sind. Das habe ich in einem Film gesehen.
Auf dem Rückweg fällt mir ein, dass ich Mamas Mohnbrötchen vergessen habe. Zu Hause schüttelt sie nur den Kopf. Ich habe nicht aufgepasst, es tut mir leid, dass ich dich vergessen habe, denke ich. Dass mich der Pfützentod abgelenkt hat, erzähle ich nicht. Meine Socken sind ganz nass.
Ein schmales Geländer trennt ihn vom Wasser. Er spuckt über die Metallstreben hinweg auf einen umgekippten Einkaufswagen. Ein Bach, der im Zickzack durch den Ort führt. Windet sich neben dem Vereinsheim, dem Schießstand, dem Grundschulgebäude. Nicht mal knietief ist die trübe Masse. Brodelnd und schäumend ergießt sie sich in den Fluss am Ortsrand. Im Sommer, zwischen Geröll und Plastiktüten, schwimmen winzige Fische in Schwärmen, nutzen Wasserläufer Oberflächenspannung.
Ich zertrümmere meinen Tischtennisschläger an der Kellerwand, ich ramme die Spitze des Füllers, den Papa mir gegeben hat ins Notizheft. Bis die Spitze stumpf und verbogen ist, dauert es nicht lang.
„Du bist ganz erschöpft, du gehst heute nicht zum Spielen raus“, sagt Mama später zu mir. „Komm, lege dich ein bisschen hin. Wir schauen einen Film im Bett“.
Er geht entlang der Hinterhoffassaden. Einer dieser Schleichwege, die vom Bach Richtung Hauptstraße führen. Wenn einem hier einer entgegenkommt, muss man sich zwangsläufig an die Betonwand drücken, mit den Schulterblättern am Graffiti schaben. Im Hinterhof der Metzgerei hört er einen Hund bellen. In seinem Kopf kriechen Erinnerungen Richtung Frontallappen wie durch einen Lüftungsschacht. Fast alle Fassaden sind mit Efeu bedeckt. Bloß nicht zu schnell hintereinander atmen. Er überquert die Hauptstraße bei der zweiten Ampel, die ihm entgegenkommt. Der Teer ist noch frisch. Körnig, durchlässig, er glitzert im Bogenlampenlicht. Wie wenig es jetzt zählt, was man in der Zeit gemacht hat, seitdem man von hier fort gegangen ist.
Bei den Partys von Mama und Papa tanze ich zu „Lady Marmelade“ und singe „voulez vous coucher avec moi“, auch als mir jemand erklärt, was dieser Satz bedeutet. Die Erwachsenen schauen zu mir herüber, kichern und lachen. Diese Art von Aufmerksamkeit gefällt mir. Ich tanze um die schönste Freundin meiner Mutter herum.
Einen ganzen Vormittag lang bin ich bei einer Frau, die ein Zimmer voller Spielsachen hat. Ich klettere in einer Burg herum, die eine Rutsche hat und verstecke mich hinter einem Bären, der doppelt so groß ist wie ich. Die Frau stellt mir Fragen, die ich mit Ja oder Nein beantworten muss.
Das lenkt beim Spielen ab. Ich nehme ein Gewehr aus Holz in die Hand. Ich weiß nicht, wann welche Antwort die richtige ist. Wild schieße ich in die Luft. Der Schweiß läuft mir über die Stirn.
Ich frage, ob sie ein Glas Wasser für mich hat. Das mit den Prozenten behalte ich für mich.
Regelmäßig stelle ich mir meine eigene Beerdigung vor. Eine Menschentraube steht um das Grab herum. Mama, Papa, Menschen aus dem Dorf, die ich nur vom Sehen kenne.
Von unten beobachte ich sie, ich kann durch den Sarg hindurchsehen. Alle weinen bitterlich. Sie schluchzen „Warum?“ und fühlen sich schuldig an meinem Tod. Das sehe ich genau.
In der Mitte des Dorfes gibt es einen Platz mit Kopfsteinpflaster, einer Eisdiele, einer Kirche, einer Bank. Im Dunkeln werfen nur die Bogenlampen einen Schatten. Einmal im Jahr Schützenfest, Kirmes. Im Viervierteltakt über den Platz. Die Arme zittern, der Mund trocken. Die Tasche trommelt gegen die Kniekehlen. Er plustert sich auf. Schauen, ob man noch atmen kann in diesem Dorf.
Einmal packt mich Papa in eine Wolldecke, setzt mich in den Bollerwagen, zieht mich durch den Kies beim Parkplatz am Fußballplatz bis zu unserem Haus. Es ist windig und sehr kalt, aber trocken. Ich bin stolz, wir haben gewonnen. Später verbrenne ich mich an der Suppe, die Mama gemacht hatte. Am Abend ist die Zunge immer noch ganz rot und geschwollen, aber das ist wegen des Fiebers und der Lungenentzündung, die ich bekomme.
Sogar Papa bleibt so lange zu Hause, bis ich wieder in die Schule kann.
Hab dir Suppe warm gemacht, falls du noch Hunger hast. Er denkt: Arschloch. Schaut wieder vom Handy auf, atmet. Noch diese Straße und dann die nächste rechts und dann ist da schon das Haus. Er wirft sich die Tasche über die Schulter. Er spürt das Gewicht der Tasche. An den Sehnen und Muskeln, wie sie sich dehnen. Wie sie fast reißen. Ein Schmerz. Den wegatmen, den Schmerz. Langsam. Die Häuser sehen alle gleich aus. Noch eine Zigarette anzünden im Licht der Bogenlampe. Kein Geschmack im Mund, nur ein bisschen Rauch. Da vorne ist schon die Villa, da band sich der Arzt einen Strick um den Hals. Im Vorgarten steht das Gras jetzt bis zu den Hüften. Eine Katze schaut ihn an, gelbe Monde im Gebüsch.
Schatten erst wieder im Licht der Bogenlampen.
Mama liegt den ganzen Tag im Bett. Ich weiß nicht warum, aber ich entschuldige mich. „Sorry, tut mir leid, wirklich“. Aber sie dreht sich bloß weg. Eine Weile bleibe ich im Türrahmen stehen und starre auf das Glas neben dem Bett. Dort schwimmen Fliegen im Rotweinrest, Rücken an Rücken, alle Viere von sich gestreckt.
In wenigen Schritten am Park vorbei. Er kann die Bäume zählen. Sechs Stück. Wie eine Schlägertruppe um die Schaukel, die Wippe und die Parkbank. Er leckt sich über die aufgesprungenen Lippen, läuft ein bisschen durchs Gras, feucht. Er spuckt aus, so viel Wasser im Mund. Er tropft über den Asphalt. Wie schwer ihm das Atmen fällt. Sich Kiemen wachsen lassen.
Papa drückt mein Gesicht in die Kissen. Ich wehre mich mit Händen und Füßen. Dann nimmt er mich in den Schwitzkasten. „Noch ein, zwei Jahre und ich bin stärker als du“, ächze ich unter dem Druck und weiß noch im selben Moment, dass das nicht stimmt.
Scheinwerferlicht, ein Auto fährt an ihm vorbei. Er blinzelt, blind fühlt er sich, biegt trotzdem nach rechts. Die Straße ist schnurgerade, ein langer Korridor. Da durch gehen. Der Himmel auf die Häuser gelegt, wie eine Schieferplatte. An den Mülltonnen vorbei, die vor jedem Haus stehen. Die letzten Meter Kraul. Luft anhalten, da rein schwimmen.
Ich schließe den Koffer mit den silbern glänzenden Schnappverschlüssen und dem Bild eines Hasen mit großen Schlappohren darauf. Er ist vollgepackt mit allerhand Klamotten, Gummibären und einer großen Flasche Wasser. Ich schleppe ihn bis zum Ortsrand, bis ein Traktor neben mir hält. Ein Mann beugt sich aus dem Führerhaus und fragt mich, wohin ich denn wolle, so ganz allein. Obwohl ich es mir anders vorgenommen habe, weine ich. Mit dem Traktor werde ich bis zur Haustür gebracht. An der Türschwelle nimmt Mama mich in Empfang. Sie hält mich so fest, dass ich kaum noch atmen kann und knutscht mich ab. „Lass das“, sage ich. Ihre Küsse bedecken meinen ganzen Kopf. Dann geht sie in die Hocke und schaut mich an. Sie nimmt mein Gesicht in die Hände und wiegt es nach links und nach rechts. „Mein Kind“, sagt sie und sonst sagt sie nichts.
.
.
freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS Spezial | Liza Wandermaler
Eine dunkle Nacht
Sonettenkranz
Die Äste des Schneeballstrauches beugten sich.
Mama, zu wem haben wir gebetet?
Wie viele deiner Kinder wird er noch wegnehmen –
der Krieg, der nicht deiner ist?
(Okean Elzy, „Nicht dein Krieg“, 2016)
.
I
In den Kirchen verglühen die Kerzen
Und die Kornfelder gehen ein.
Nur der Fallende weiß allein,
Wie Soldaten die Glieder schmerzen.
Und die Monate gehn dahin,
Warme Nächte erlösen die kalten.
„Kind, dich holen die Nachtgestalten,
Wenn du rätselst nach Zweck und Sinn.
Lass dich nicht von den Schüssen stören,
Press das Spielzeug an deine Rippen.
Bald ist wieder der Wind zu hören…“
Doch am Ende des endlosen Tags
Flüstern Söhne aus trocknen Lippen
Und die Mütter verweinen das Wachs.
.
II
Und die Mütter verweinen das Wachs
Und verbluten das Herzenseisen.
Morgen sollen die Züge entgleisen
Zu der Feier des Zick- und Zacks.
Dann zerbricht man die runden Brücken,
Alle Ellbogen, jedes Knie
Und dann zieht man so stark wie nie
In den Krieg auf den Zacken-Krücken.
Auch die Augäpfel drückt man platt,
Um nicht nochmal die Tat zu sehen,
Die man gestern begangen hat.
Und die Ältesten beten: „Pax!
Bitte lass sie im Nichts zergehen
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks.“
.
III
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks
Überschreibt man die Weltgeschichte:
Helden-Oden und Fest-Gedichte
In dem Futter des Leichensacks;
Kinder winken mit Stoff-Servietten
Dem Gespenst auf dem roten Thron;
Männer krächzen ins Mikrofon
Und versprechen, die Welt zu retten.
Diesen Film hab ich schon gesehen.
Schalt ihn aus oder spul zum Schluss!
Doch man kann ihn nicht schneller drehen
Und das Band ist nicht auszumerzen.
Schon mit einem erstickten Schuss
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen.
.
IV
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen?
Frag die Mutter am Kindesgrab.
Schau aufs brennende Dorf hinab
Mit den rauchenden Häuserkerzen.
Frag dein eigenes Spiegelbild,
Wenn du Mut hast, dich anzuschauen,
Doch das wirst du dich lang nicht trauen
Und du wünschst dir, du wärest blind.
Niemand schreibt dir und ruft dich an,
So, als seiest auch du gestorben,
Wenn dein Geist das noch immer kann.
Und du suchst nach dem Schein-Indiz
Und du flüsterst: „Wir durften doch morden…“ –
Es bezichtigt ein roter BlitZ.
.
V
Es bezichtigt ein roter BlitZ –
Das zerrissene alte Wappen –
Die Bedeutung der Schulterklappen
Und die Freiheit der Selbstjustiz.
Also ziehst du die jungen Frauen
In die Zimmer mit Dämmerlicht.
Und man findet sie lange nicht,
Bis die Schneehaufen schließlich tauen.
Dann verlässt du die toten Wände,
Gibst den Kindern den letzten Rest
Und erlaubst dieser Nacht ihr Ende.
Doch der Mond ist entstellt und dunkel,
Schaut dein Werk an und beißt sich fest
An der faulenden Himmelskuppel.
.
VI
An der faulenden Himmelskuppel
Waren Sternbilder angebracht.
Jemand hat sie kaputtgemacht
Und die Nächte sind hohl und dunkel.
Und die Nächte sind kalt und leer;
Keine Fenster im Bunkerkeller.
Und die Tage sind nicht viel heller,
Ganz als gäbe es keine mehr.
Schon sind Kinder darin geboren –
Kriegeskinder der dunklen Zeit,
Zarte Irrlichter in den Mooren.
Doch das reicht nicht dem Seelenkrüppel,
Denn sein Hunger ist schwarz und weit,
Wie ein uralter Gummiknüppel.
.
VII
Wie ein uralter Gummiknüppel
Fließt der Fluss seinen schwarzen Lauf.
An den Ufern gehn Feuer auf,
Weiber sammeln das Stepp-Gestrüpp, hell
Übergeht die zersprengte Nacht
In die nächste und übernächste.
In den Trümmern der Blutpaläste
Planen Affen die nächste Schlacht,
Schlagen blindlings die Köpfe ein,
Schreien Flüche und schmeißen Steine
Und bepissen das eigne Bein.
Und vom obersten Lagersitz
Keift ihr Führer durch Brutgebeine
Vom berechtigten Grundbesitz.
.
VIII
Vom berechtigten Grundbesitz
Hast du Märchen als Kind gelesen.
Und du bist fasziniert gewesen
Von der Inschrift des Blutgranits.
Überzeugt davon, Recht zu haben,
Unbesiegbar und frei zu sein,
Tratst du stolz in die Reihen ein,
Die mit Würde und Weihe warben.
Doch nun scheint dir, man log dich an,
Denn es brennen die weißen Tücher
Und man lügt, wer den Brand begann.
„Geht das etwa schon jahrelang?“
Das bezeugen die fremden Bücher
Und es spiegelt der Klagenklang.
.
IX
Und es spiegelt der Klagenklang
Wie ein Echo die alten Lieder.
Man erholt sich und donnert wieder
Wie ein rastloser Bumerang.
Viel zu alt, um Vernunft zu erlernen,
Also geht man den alten Weg
Und bekräftigt das Sakrileg,
Um das letzte Stück Mensch zu entfernen.
Doch wie lange wird das noch gehen?
Bald fegt nur noch der stille Wind
Durch die grauen Betonalleen.
Doch solange wir hier verharren,
Wird zerstört, denn gedenk: wir sind
Jene Endzeit vor achtzig Jahren.
.
X
Jene Endzeit vor achtzig Jahren –
Der zerberstende Höllenzug –
Hat sie scheinbar noch nicht genug
Überzeugt und entsetzt. Sie fahren
Wie berauscht durch die schwarze Nacht
Ohne Bremsen und ohne Schienen,
Stur entschlossen, der Nacht zu dienen
Und dem Ding, das aus ihr erwacht.
Und, erleuchtend die Mordmission,
Zittert oben das dunkle Omen.
Man erwartet die Endstation.
„Wie lang fahren wir?“ „Nicht mehr lang…“
Man muss nur durch die Leichen kommen
An den Ufern der Zeit entlang.
.
XI
An den Ufern der Zeit entlang
Schleichen dürre Gestalten… Feuer!
Schau genauer hin. Siehst du – Feuer!
– den entkräfteten, seichten Gang?
Fest der Zombies, der Totenzug…
Und sie singen schon wieder – Feuer!
Die verschimmelten Hymnen – Feuer!
Über Schwindel und Selbstbetrug.
Und sie tanzen im Blumenmeer,
In der Mitte der Menschenherde,
Schwingen lachend das Sturmgewehr…
Und nicht weit von der Fahnenpracht
Fällt ein Mann auf die harte Erde.
Jemand schreit, es sei ausgedacht.
.
XII
Jemand schreit, es sei ausgedacht…
Und ich möchte die Welt zerfetzen,
Doch es hängt über allen Plätzen
Diese klebrige Lügen-Nacht.
Sie klebt Lider und Ohren zusammen
Und sie bindet dir Hand an Hand.
Und sie flüstert: „Verehr dein Land,
Sonst zerfleischen dich meine Flammen.“
Also sprichst du mit keiner Seele,
Untersagst dir das Telefon
Und befolgst alle Nacht-Befehle.
Und es ändert sich nichts seit Jahren:
Jemand brennt in der Nacht davon,
Jemand will nichts davon erfahren.
.
XIII
Jemand will nichts davon erfahren,
Jemand rechnet die Toten aus.
Mancher packt und verlässt sein Haus,
Um zum Höllentor hinzufahren.
Mancher fängt die Geschichten ein,
Manche schließen sich ein und weinen.
Manche wollen die Tat verneinen.
Mancher wünscht sich, im Kern zu sein.
Jemand ist nur ein kleines Kind.
Jemand denkt an die Lebensscherben.
Jemand schweigt nur und trinkt Absinth.
Jemand wünscht sich ein wenig Macht.
Einer lächelt und lässt sie sterben.
Es beginnt eine dunkle Nacht.
.
XIV
Es beginnt eine dunkle Nacht.
Man verwehrte der Sonne zu scheinen:
„Zu viel Gelb auf den blauen Leinen.“
…Also hat man sie umgebracht.
„Mama, wann sind die Monster weg?
Warum müssen wir uns verstecken?“
„Kind, dich holen die Schatten-Schrecken,
Wenn du rätselst nach Sinn und Zweck.
Lass dich nicht von den Schüssen stören.
Ihre Taschen sind einmal leer
Und der Morgen wird uns gehören…“
Doch es fröstelt in Kinderherzen
Jede Stunde ein Stückchen mehr.
In den Kirchen verglühen die Kerzen.
.
XV
In den Kirchen verglühen die Kerzen
Und die Mütter verweinen das Wachs.
Mit dem Nachklang des Brandgeschmacks
Lässt sich jegliche Unschuld schwärzen.
Es bezichtigt ein roter BlitZ
An der faulenden Himmelskuppel
Wie ein uralter Gummiknüppel
Vom berechtigten Grundbesitz.
Und es spiegelt der Klagenklang
Jene Endzeit vor achtzig Jahren
An den Ufern der Zeit entlang.
Jemand schreit, es sei ausgedacht;
Jemand will nichts davon erfahren.
Es beginnt eine dunkle Nacht.
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiVERS | Kameliya Taneva
bildende kunst
erster versuch: ton-
plastik. weitere schichten auf
-tragen, -kleben, -bauen. doch
jedes anständige tonmonster
muss seinen schöpfer
erwürgen.
wenn du überlebt hast,
versuchst du es erneut:
steinskulptur. du fängst an ab-
zutragen: du kratzt, du pellst alle
messgeräte vom leib des lebens weg, uhren,
metronome, navigationssysteme. du brichst
mit der überflüssigkeit, mit der über-
schwere bis ein nacktes, mageres
glück, eine handvoll groß,
deine fingerspitzen wärmt.
.
.
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
Du hast auch einen freiVERS für uns?
schreib@mosaikzeitschrift.at
<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>
freiTEXT | Malte Grotendorst
Sich selbst als Content begreifen
Eine gekürzte Version dieses Textes erschien – zusammen mit weiteren Texten zum Thema – in der mosaik37.
Manchmal schaue ich mir die Bilder auf meinem Instagram-Profil an und hoffe, dass das, was ich dort sehe, möglichst auch dem entspricht, wie Menschen mich analog wahrnehmen: Der relatable Typ im bunten Wollsweater mit der cuten Katze auf dem Arm, oder mit Seidenhemd bei 35 Grad in der U-Bahn, beim Versuch, die Kamera gleichzeitig zu ignorieren und mit ihr zu interagieren. Meine Identität kommt mir dann vor wie eine Projektion oder eigentlich sogar eine Hoffnung: Das Selbst ist nicht einfach nur irgendwie da, sondern ich will es gestalten. Die verschiedenen Bilder von mir stehen nicht nur für das, was ich sein will, sondern sie sind das, was ich bin. The filter is the face.
Im Essay “Fear of Content” schreibt Rob Horning, dass wir online ständig Gefahr laufen, uns selbst zu Content zu machen: “The self is a content farm.” Wenn ich auf Instagram poste, dann werde ich literally Content; aber ich glaube, auch analog—oder, um diese Trennung einfach mal aufzugeben: generell kann man die eigene Identität als Content betrachten, als etwas, das produziert und gestaltet wird.
Die Mechanismen, die auf Social Media so obvious sind, funktionieren auch anderswo: Mein Selbst wird produziert, von mir und von anderen; also von den Umständen, in denen ich lebe. Es entwickelt sich mit der Zeit und ändert sich je nach Kontext: Auf Instagram bin ich anders als auf Twitter; in der Schlange, um Snacks zu kaufen, anders als in der Schlange vorm Club. Wie aller Content folgt dabei auch der Content, der meine Identität ist, den Konventionen bestimmter Genres. Das bekannteste Genre ist dabei das des wirklichen Selbst, der authentischen Identität: “When I am trying to be true to myself, I turn ‘myself’ into a genre, with readily recognizable and repeatable tropes. I can never be authentic, only authentically generic”, sagt Horning.
Ich glaube allerdings, dass das Selbst kein original content ist, also zumindest nicht im Sinne von etwas noch nie Dagewesenem. Es ist eher eine Mischung aus bekannten Mustern und Eigenschaften, das Ergebnis von Inspirationen: das sind die Genres, denen ich folge und die mich beeinflussen.
Zu einem Genre zu gehören, das klingt nach Enge, nach Dingen, die erlaubt sind und solchen, die man nicht tun sollte: “‘Man muss’, ‘man darf nicht’ - das sagt ‘Genre’, das Wort ‘Genre’, die Figur, die Stimme oder das Gesetz des Genres” (Jacques Derrida). Aber dieses basic Verständnis von Genre, schreibt Derrida, ist eigentlich nur die Hälfte dessen, was Genres sind: Das Gesetz des Genres, das mir Vorschriften macht und Grenzen setzt, kann immer nur zusammen mit einem Gegen-Gesetz existieren, das die gesetzten Vorschriften und Grenzen wieder überschreitet. Das Muster kann es nur dann geben, wenn man es manchmal reproduziert und manchmal nicht, schon alleine deshalb, damit man es von allem anderen unterscheiden kann.
Genres generieren keinen verlässlichen Output, sie operieren nicht durch copy & paste. Der Modus des Genres, zumindest wenn man es wie Derrida versteht, besteht im Wiedererkennen und Verfremden, in Wiederholung und Veränderung. Genres sind keine Maschinen und Fliessbänder, sondern Meme-Templates, die sich mit jedem Zitat verändern, die niemals wirklich greifbar sind. Genres sind nicht authentisch, sondern inkohärent, fluide und random.
Content ist ein schwieriger Begriff. Content, oder das deutsche Äquivalent Inhalte, steht eigentlich für einen völlig entleerten ästhetischen Ausdruck: “Content on the internet is pure form”, schreibt Horning. Content, in diesem Sinne verstanden, dient nur einem äusseren Zweck, nämlich einer quantitativen Maximierung von views, interactions oder conversions. Aber Content kann sich diesem Zweck auch ganz oder zumindest zum Teil entziehen: Dann, wenn er eine Qualität (und die kann natürlich immer nur subjektiv sein) als ästhetischer Ausdruck annimmt, die über die quantitative Maximierung hinausgeht, sie ignoriert oder sogar unterläuft. Diese Art von Content, für den vielleicht das Label Post-Content besser passen würde, findet sich in Memes, hyperironischen Tweets oder eigentlich jeder Art von Beitrag, die die komplett kommerzialisierte Struktur dieser Plattformen der Gegenwart zwar mangels Alternativen nutzt, aber ihre Motivation der quantitativen Maximierung nicht teilt.
Content bedeutet, die Möglichkeiten für ästhetischen Ausdruck zu multiplizieren. Ich kann Identitäten erschaffen und verwerfen, ich kann sie spalten und verschmelzen. Alles ist irgendwie immer veränderbar und fluide. Content ist allerdings nie absolut. Die Möglichkeiten sind nie unbegrenzt, weil Identitäten immer von aussen bedingt sind. Hannah Arendt schreibt: “Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. Darum sind Menschen, was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen.” Bedingtheiten sind ein fact of nature, sie kommen irgendwie über uns, aber nicht nur: “Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur.” Bedingtheiten entstehen auch durch mein Handeln, durch das Handeln anderer und das, was wir zusammen tun.
In Weltentwerfen schreibt Friedrich von Borries über das Verhältnis von Entwerfen und Unterwerfen in der Gestaltung: “Alles, was gestaltet ist, unterwirft uns unter seine Bedingungen. Gleichzeitig befreit uns das Gestaltete aus dem Zustand der Unterwerfung, der Unterworfenheit.” Von Borries spricht über Design und genau deswegen passt es, glaube ich: Content erlaubt uns das Design unseres Selbst, auch ausserhalb spätkapitalistischer Vorstellungen von Maximierung und Optimierung. Wenn ich Identität als Content betrachte, dann wird sie eben zum Gegenstand von Gestaltung, durch mich und durch andere. Content befreit nicht aus allen Bedingtheiten, aber weil er so random ist und weil er so fluide ist, schafft das Entwerfen des Selbst als Content oder in Content Möglichkeiten, die Bedingtheiten, die für mich und andere gelten, zu verändern, und mich (mehr oder weniger) aus ihnen zu lösen. Natürlich schafft auch Content, wie alles Gestaltete, neue Bedingtheiten. Aber auch sie sind flüchtig und random.
Die Möglichkeiten, sich aus einer Bedingtheit zu lösen, sind immer umso grösser, je privilegierter jemand ist. Marginalisierungen sind Bedingtheiten, denen man sich nie ganz entziehen kann. Doch Identitäten als Content zu betrachten, macht es möglich—glaube ich, denn ich kann nur von aussen darauf schauen—Orte zu schaffen, an denen die Marginalisierungen an Schwerkraft verlieren.
Im Manifest Glitch Feminism schreibt Legacy Russell über das emanzipatorische Potenzial, das das Internet für queere Körper und Identitäten—auch AFK (away from keyboard)—hat. Als queere Schwarze femme Person, sagt Russell, erinnert die Welt sie ständig an diese Identitäten. Die Chatroom-Persona LuvPunk12 dagegen kann in ihrer Performance das Konzept weiblich verwandeln, das Konzept Mann erkunden und das Konzept Frau erweitern. Auf diese Weise Content zu produzieren, heisst für Russell, neue Identitäten zu schaffen, indem man verschiedene Körperlichkeiten anlegt und wieder ablegt.
Die Paradigmen des Content sind die Tools der Emanzipation: Die Story (oder der Snap) betonen die randomness, die Content ausmacht. Ich kann etwas posten und spätestens nach vierundzwanzig Stunden ist es weg. Ich kann etwas sein oder darstellen, so lange ich will und auch einfach wieder damit aufhören. Ich muss mich nicht für das Eine oder das Andere entscheiden.
Durch Filter kann ich das, was ich darstelle, fast beliebig ändern. Alles ist veränderlich, nichts ist endgültig. Es gibt keinen Kern, kein eigentliches Ich, das ich darstellen muss: Jede Identität ist ein Filter.
Lip-Syncing zeigt, dass Content immer über den Bezug zum Anderen funktioniert, in dem man sich nicht verliert, sondern das Material für die eigenen Identitäten findet: “We are not empty signifiers, however, we are not dead-end hyperlinks” (Russell).
Es ist allerdings etwas ironisch, dass die tatsächliche Ideologie des Content relativ oft trotzdem eine des “be yourself” ist. Auf Tinder suchen die meisten entweder nach echten [insert cisgender identity] oder, wenn die Postmoderne etwas stärker gehittet hat (also auf OkCupid), nach authentischen Begegnungen. Jede Instagram-Ad verspricht mir eine authentische Erfahrung. Ein Anspruch von Authentizität ist so ein basic Element von Content, dass man darüber eigentlich nichts mehr schreiben muss.
Der schlechte Ruf von Content kommt auch daher, dass er diesem Anspruch extrem offensichtlich nie gerecht werden kann. Dahinter steht die Vorstellung, es gäbe ein echtes Ich, eine Essenz, die der Content ausdrücken und darstellen soll. Daher kommt die Enttäuschung, wenn er obviously an dieser Aufgabe scheitert: “Everything that is turned into content is extruded from the self and ceases to be a part of it; from this view it is all inauthentic, merely useful, so much signaling” (Horning). Aber Content ist eben kein fehlerhafter Ausdruck einer echten Identität. Die Identität ist halt Content.
Content, der versucht etwas auszudrücken, was nicht da ist (weil es im Content selbst sein müsste), ist tatsächlich leer. Deswegen bringt das Genre des authentischen Selbst eben nur eine entleerte Art von Content hervor, etwas, das “authentically generic” (Horning) ist. Ich glaube, es ist gerade diese Leere, die Menschen dazu bringt, Content zu hassen. Sie versuchen noch authentischeren Content zu produzieren und entleeren ihn dabei noch mehr. Es geht immer so weiter.
Authentizität will absolut sein, nur sie selbst, sie bewegt sich deshalb ins Totalitäre. Content ist relativ, er funktioniert nur über das Zitat, also prinzipiell den Bezug zum anderen. Er ist random, was nicht heisst, dass er irrelevant ist, aber er ist eher low-stakes: Das Leben als Content ist etwas anderes, als das Leben als Kunst zu sehen. Identität als Content zu betrachten, heisst, so eine Art entspannten, wavy Ästhetizismus zu embracen, der die Zeichen- und Formhaftigkeit der Welt erst einmal appreciatet und schaut, was man—abseits irgendwelcher spätkapitalistischen Optimierungs- und Maximierungsvorstellungen—damit machen könnte. Im Prinzip bedeutet es, Mallarmé so zu interpretieren, dass alles auf der Welt existiert, um Content zu werden.
Bei Mallarmé steht allerdings: “Alles auf der Welt existiert, um in einem Buch zu enden” (“Tout, au monde, existe pour aboutir à un livre”). Wenn man Identität als Content betrachtet, dann sieht man die Welt genauso ästhetisch, aber nicht so endgültig. Content ist, weil er random und fluide ist, immer veränderlich; gleichzeitig ist er immer auf anderes bezogen und kann niemals komplett losgelöst existieren: er definiert sich über ein dialektisches Verhältnis von Veränderlichkeiten und Bedingtheiten, also die widersprüchlichen Gesetze des Genres, der Regel und ihrer Überschreitung.
Content ist letztendlich ein Spiel, aber eines, das man aufrichtig und ernsthaft spielen kann. Ich habe jetzt lange versucht, nicht das Wort “subversiv” zu gebrauchen. Ich mag das Wort nicht, weil ich das Konzept von Subversität als relativ schlicht empfinde. Aber der Gedanke, dass es ein subversiver Akt ist, Identität als Content zu produzieren, drängt sich schon irgendwie auf. Es bedeutet aber gerade nicht, Leuten mit Wasserpistolen ins Gesicht zu spritzen für die Revolution oder so. Content ist komplexer, er ist manchmal dagegen und manchmal affirmierend und meistens beides. Identität als Content zu sehen, heisst, das Gute oder das Schöne—oder was immer man sehen und darstellen möchte—eher über das ironische Zitat zu erreichen als über die Illusion, einsam vor einem reinen, leeren Blatt sitzen zu können, das darauf wartet, beschrieben zu werden.
Leben als Content: Das heisst das Veränderliche im Bedingten zu erkennen, bis hin zu dessen Überwindung.
Quellen:
Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart, Kohlhammer, 1960.
Jacques Derrida. Gestade. Herausgegeben von Peter Engelmann, Wien, Passagen Verlag, 1994.
Rob Horning. “Fear of Content.” dis magazine. http://dismagazine.com/disillusioned/78747/fear-ofcontent-rob-horning-2/.
Russell Legacy. Glitch Feminism. A Manifesto. Verso, 2020.
Friedrich von Borries. Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie. Berlin, Suhrkamp, 2019.