freiTEXT | Leo Lemke

In den Plakatiefen – Tyoko, 2002

Jedes Mal, wenn ich durch das Fenster meines Hotelzimmers schaue, sehe ich diese riesige Reklametafel. Japanische, weiße Lettern auf karminrotem Hintergrund, darunter eine lächelnde Frau mit einem beschlagenen Glas Bier. Die Plakatbahnen sind ausgebleicht, obwohl die Sonne der Gasse vor dem Hotel nie einen Besuch abstattet. Auch Menschen kommen keine vorbei. Es ist, als hätte jemand dieses Plakat nur für mich dort aufgehängt, vor Jahren schon, und als hätte es hier seitdem auf mich gewartet. Seine untere rechte Ecke hebt sich sachte von der Tafel ab, wie bei einem Abziehbildchen. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Auf meinen Reisen in den letzten Jahren habe ich so etwas wie einen Tick entwickelt. Ich kann Städte, sobald ich sie einmal besucht habe, nicht mehr beim Namen nennen. Die Diskrepanz zwischen dem Namen – seinem Klang, seiner Form, seinem Charakter – und der Stadt selbst ist einfach zu groß und wächst mit jedem weiteren Schritt auf ihren Straßen nur mehr. Ein Germanistensohn hat mir mal erzählt, dass er unter der gleichen Störung gelitten habe und darum alle Schriften Saussures aus der Privatbibliothek seines Vaters während eines rituellen Brandopfers vernichtet habe. Seitdem seien Signifikat und Signifikant bei ihm wieder deckungsgleich. Für mich ist das aber leider keine Lösung. Zu einer Bücherverbrennung kann ich mich einfach nicht durchringen, selbst wenn es nur die Grundlagen der germanistischen Linguistik in der dritten Auflage sind. Die Chance auf Veröffentlichung meiner Reiseberichte schmälert dies ungemein.

Während meiner Streifzüge durch Shin-Okubo sehe ich in den Schaufenstern von Lokalen häufig Nachbildungen von Essen. Kunstfertige Skulpturen aus Wachs, zubereitet in einer komischen Küche. Sie erzählen mir Geschichten von dampfender Ramen, deftiger Gyuudon und knusprigem Tempura und ehe ich mich versehe, sitze ich in einer Seitenstraße in einem Tonkatsu-Restaurant. Die Kellnerin bringt mir erst einen warmen, feuchten Lappen, dann fragt sie etwas auf Japanisch. Ihre Stimme klingt wie die einer Nachrichtensprecherin. Klar und aufgesetzt und furchtbar unpersönlich. Ich nenne ihr die Nummer eines Tonkatsu-Gerichts aus dem Schaufenster und bestelle zusätzlich eine Flasche Ramune, weil in den Flaschen dieser Limonade eine Murmel eingelassen ist Die Kellnerin nickt und lächelt, so als meinte sie es. Wenig später stellt sie die Bestellung vor mir ab und ich kann es kaum fassen. Das Gericht hat nichts, aber wirklich gar nichts mit der Wachsskulptur im Schaufenster zu tun. Reiskörner und Panko sind völlig anders angeordnet, weißes Schweinefleisch lugt durch Löcher in der Panade hervor und die Soße wird durch Reflektionen des Deckenlichts verunreinigt. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Eine Frechheit, mir so etwas vorzusetzen. Belogen und betrogen verlasse ich das Restaurant. Nur die Flasche Ramune lasse ich dabei mitgehen.

In Kabukicho stehe ich vor der Ladenfront eines Adult Video Stores. Ein verführerisches Reich verpixelter Erotik. Ich versuche gerade, das Geschäft mit meiner Polaroid einzufangen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legt. Ich zucke zusammen. Es ist eine große Hand und sie gehört einem ebenso großen Mann.

How do you want to spend your night, man?

Er grinst breit. Seine Zähne sind unwirklich weiß. Mit einer theatralischen Geste klappt er vor meinen Augen einen Katalog auf. Die Doppelseite ist gespickt mit Fotos wunderschöner Frauen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die ersten japanischen Fotografen es schwer hatten, Kundschaft zu finden. Die Japaner glaubten damals nämlich, fotografiert zu werden würde ihnen einen Teil ihrer Seele stehlen. Gefährlich exotistisches Halbwissen? Kann gut sein. Bisher hatte ich das auch immer als Aberglauben abgetan. Doch beim Betrachten der Mädchen in diesem Katalog kann ich die Angst zum ersten Mal nachvollziehen.

Do you want to have a good time tonight?

Er grinst noch breiter als zuvor und ich seufze. Eine perfide Frage, wirklich gewieft. Natürlich möchte ich eine gute Zeit haben, wer denn nicht? Ich bejahe seine Frage, denn sonst müsste ich lügen.
Wir gehen unter einer surrenden Neonreklame hindurch in eine schmale Gasse, passieren eine ratternde Lüftungsanlage, aus der uns der Geruch von altem Fett entgegenkommt, und ein paar längst vergessene Müllsäcke. Es würde mich nicht wundern, wenn er jetzt ein Messer zückte, um mich meiner Habseligkeiten zu berauben. Oder mich zu einem Bankautomaten führte, um dort gleich mein ganzes Konto zu räumen. Soll’s geben hier, hab ich gehört. Doch er tut nichts davon und dafür bin ich ihm recht dankbar. Über eine Treppe aus Edelstahl erreichen wir schließlich einen Laubengang. Nichtssagende Türen führen – vermute ich – in umfunktionierte Apaatos. Hin und wieder meine ich hören zu können, wie jemand dahinter eine good time hat. Fast am Ende des Ganges öffnet der Mann schließlich eine der Türen und deutet mir, ich solle eintreten. Ich folge seiner Anweisung, er bleibt auf dem Gang und schließt hinter mir die Tür.

Der Raum ist nahezu würfelförmig. Da steht ein Bett in westlichem Stil in der einen, ein Mülleimer in der anderen Ecke. Eine Tür führt in eine rudimentäre Nasszelle. Eine Neonreklame wie die von vorhin hängt direkt neben dem Fenster und wirft alles in ein rotes Licht. Auf dem Bett sitzt die Frau aus dem Katalog, ich setze mich zu ihr und sie sich auf mich. Prostitution ist in Japan illegal. Wir bewegen uns hier rhythmisch in einer rechtlichen Grauzone. Schenkelsex nennt sich das, Sumata. Ich schaue zu ihr hoch und sie sieht tatsächlich haargenau so aus wie im Katalog. Wenn ich sie mit einem Chotto kurz unterbrechen, ein Auge zukneifen und das Foto zwischen uns halten würde, dann könnte ich wohl nicht erkennen, wo Abbild aufhört und Wirklichkeit beginnt.

Als ich fertig bin, liegen wir noch etwas nebeneinander, weil ich für zwanzig weitere Minuten bezahlt habe. Wir schweigen. Kurz vor Schluss dreht sie sich noch einmal zu mir, formt mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund und sagt:

Ha!

Verdutzt starre ich sie an. Sie erklärt in gebrochenem Englisch, dass sie schauen wollte, ob ich echt sei.

Und?, frage ich.

No echo, sagt sie und schüttelt den Kopf. Real.

Ich verlasse das Zimmer, als gäbe es mich.

Vor der Kühlschrankwand eines Konbini leuchten mir Flüssigkeiten in allen Farben des Regenbogens entgegen. Ich bin kurz davor, mir ein Strong Zero zu greifen, als ich im Augenwinkel sehe, wie sich eine junge Frau ein Asahi nimmt. Der folgende Moment verläuft wie in Zeitlupe. Ihr wallendes Haar im Wind des Deckenventilators, das perlende Kondenswasser an der Bierdose, das befriedigende Zischen, als sie die Dose öffnet, das Gluckern ihrer Schlucke und dann dieses wahrhaftige, fast schon laszive Stöhnen. Ich merke: Das ist es, was ich brauche. Genau jetzt, genau hier. Ich reiße die Tür des Kühlschranks auf, eine Dose Asahi an mich und stürme erst zur Kasse, dann nach draußen. Mit einer unbändigen Lust steige ich aus der klimatisierten Luft des Konbini in die schwüle Nacht Tyokos hinaus. Die Dose zischt nicht, als ich sie öffne. Enttäuscht trinke ich einen Schluck. Schmeckt genauso beschissen, wie ich es in Erinnerung habe.

Als ich am Morgen endlich in die Gasse vor meinem Hotel einkehre, geht die Sonne gerade auf. Zu dieser Uhrzeit, für ein paar Minuten zumindest, scheinen ihre Strahlen doch auf die Reklametafel zu fallen. Von einem Fenster reflektiert, das ewig gekippt ist. Frau und Bier sind fort, zusammen mit dem Rest des Plakats. Vielleicht hat es jemand abgezogen. Vielleicht hat es sich selbst abgelöst. Jetzt klafft nur noch ein rechteckiges Loch in der Fassade. Ich steige hinein und stelle fest, dass das Gebäude innen vollkommen hohl ist. Mit den Händen forme ich einen Trichter vor meinem Mund und rufe in die Leere hinein:

Ha!

Das Echo klingt, als lachte es mich aus.

 

Leo Lemke

 

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freiVERS | Martin Dragosits

Kinderspiel

das Licht in Streifen schneiden
ohne dass es jemand merkt

mit Sonnenstrahlen Muster malen
auf die Wangen und den Mund

schon vor dem Frühstück fliegen
um die Ecke und zurück

dem Himmel Zeichen schicken
für ein kleines Wunschkonzert

bei Wolkendecke Slalom fahren
bis der nächste Tag gewinnt

 

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Martin Dragosits

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freiTEXT | Kristina Baumgarten

Die Beschaffenheit des Abschieds

Ziehen, nicht drücken. Steht an der schmutzigen Glastür des paprikaroten Apartmenthauses. So rauchig und staubig wie ihre Kehle, beinahe streckt sie gierig die Zunge aus, um den heißen Stein der Mauer anzulecken, etwas anderes zu schmecken als Trockenheit und Traurigkeit. Im letzten Moment besinnt sie sich und schließt Mund und Tür.

Das Gebäude gleicht denen rechts und links von ihm aufs Haar. Hoffentlich findet sie zurück. Was würde passieren, wenn sie es versehentlich passieren und ein anderes betreten würde? Ihre Gedanken verschmelzen in der schwülen Hitze miteinander. Kurz blitzt eine Antwort auf, dann drängt das eigene Wortspiel sich klebrig in den Vordergrund. Die Lösung zerfließt in winzige Partikel, die sich hinter ihrer Stirn in die Tiefen des Kopfes zurückziehen. Als sie den Gedanken loslässt, dehnen sich die Nerven in der Hitze, erscheint die Auflösung wie aus dem Nichts: Drücken, wenn sie von außen kommt, nicht ziehen.

Passt ihr Schlüssel nur in dieses eine Schloss? Sie nähert sich einem weiteren Haus, drückt die Glastür auf und betritt einen dunklen Gang, bleibt vor einer Tür stehen, von der die braune Farbe wie Schokolade von einem Croissant abblättert. Das scheint ein Spiegelbild ihres Apartments zu sein, die Häuser sind offenbar nicht nur außen gleich. Nervös schiebt sie den Schlüssel in das Schloss, er passt, die Tür protestiert zwar kurz mit einem hohen Quietschen in den Angeln, gibt aber nach und schwingt einladend auf.

Ungelüftete Luft vermischt sich mit Zwiebelduft. Ein Teil des Geruchs ist betörend, er erinnert sie an eine Zeit, als sie Essensgerüche noch wahrgenommen und mit Hungergefühlen reagiert hat. Vor einer Ewigkeit. Eine rundliche Frau mit beschlagenen Brillengläsern und pechschwarzem Haar steht am Herd und bereitet Tortilla de patatas zu, der pure, erdige Geschmack nach Kartoffeln und Eiern. Jede spanische Hausfrau hat ihr eigenes Rezept, die Zutaten sind übersichtlich. Faszinierend, wie oft sind Schlüssel und Schlösser kombinierbar, wie oft Kartoffeln und Eier? Der Dunst auf den Gläsern der Señora am Herd weicht langsam zurück wie der auf kalten Fensterscheiben, an die sie früher gehaucht haben, wieder und wieder. Erstaunt, nicht überrascht hebt die Spanierin den Kopf von ihrer Pfanne. Im Raum hält sich außerdem ein Papagei auf, so bunt wie die Bilder in ihrem Kopf, die doch schwarz-weiß sein müssten, sogar völlig schwarz. Er plustert sich vor der Besucherin auf wie auf dem Catwalk im Schauflug, die räudigen Stellen geschickt verborgen flattert er hektisch wie ein alternder Flamenco-Tänzer durch den Raum. Die Frau hebt beruhigend, fast schon anmutig ihren fleischigen, rosafarbenen Arm, ihre Schürze schlägt Falten, der Arm ebenfalls. Unentschlossen verharrt sie in der Bewegung, wie zum Gruß hält sie die altersfleckige Hand erhoben. Der Vogel lässt sich beleidigt auf der Stange seines Käfigs nieder, trotzig schweigend.

Auf dem grün-samtenen, verschlissenen Stoffbild einer traurigen Madonna tanzen gräuliche Stoffmäuse in einem Sonnenstrahl, der durch einen Riss in der Jalousie fällt. Geknicktes Metall schaukelt sacht im Luftzug, reflektiert helle Blitze, etwas unterhalb der Lücke. Sie treffen auf einige verblichene Bilder, das Meer als Motiv, natürlich.

Ihr Blick streift die Fotos, bleibt hängen an einem Segelboot. Mit so einem ist sie gestern auf das Meer hinausgefahren. Mit blassem Arm hat sie die Urne mit der Asche den Weiten des Ozeans übergeben. Dabei hat sie die hohe, vertraute Kinderstimme vernommen, die ein Jahr zuvor an derselben Stelle gefragt hatte: „Warum ist das Meer immer da, Mama?“

Die kleine Hand unerschütterlich vertrauensvoll in ihre große geschmiegt.

„Meinst du Ebbe und Flut? Das gibt es hier auch, aber das Meer atmet hier nicht so tief ein und aus, das macht nur etwa 10 cm Unterschied.“

„Warum ist das so?“

„Weil der Ozean viel größer ist als die Nord- oder die Ostsee.“

„Unendlich?“

Sie schwieg einen Moment, beide waren versunken in den Anblick der Wellen.

„Ich glaub schon“, flüsterte sie leise. „Es fließt. Ein ewiger Kreislauf.“

„Wenn ich zu Hause etwas in den Fluss werfe, kommt es dann hier an?“

„Ja, das tut es. Irgendwann. Und wenn du hier etwas hineinwirfst, dann kommt es irgendwann zu Hause an.“

Mit einem Ruck kehrt sie in die Gegenwart zurück. Die Augen der Spanierin betrachten sie, seltsam wissend, gütig und so weise, als hätten sie die ganze Welt gesehen. „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“, sie sagt es auf Spanisch. Sie versteht trotzdem. Wie die Hitze und das Wasser kommt die Trauer in Wellen. Die Fotos werden weiter verbleichen, wie die Frau selbst. Sie werden unsichtbar, aber das macht nichts, denn niemand schaut sie an, außer dem Papagei. Ein schwarz-weißes, verblasstes Leben altmodisch dokumentiert auf Papier. Was bleibt?

So weit ist sie in Gedanken, als sie erwacht. Erschrocken fährt sie auf, die kalten, klammen Laken schmiegen sich seltsam unwirklich an ihre Haut in dem heißen, engen Raum. In ihre Wange hat sich eine scharfe Kante vom Kissen eingefräst. Die Zeit bleibt nicht stehen, schon gar nicht wandert sie rückwärts. Ob diese Falte je wieder verschwindet? Sie seufzt und greift nach ihrer Tasche, irgendwann muss sie etwas essen, da kann sie genauso gut gleich ein paar Schritte gehen und sich ein Café suchen.

Der Portier lässt freundlich einen Schwall unverständlicher, langgezogener Silben mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs auf sie los, der sie, hilflos nickend und lächelnd, in Sekundenschnelle durchsiebt und dann hinter ihrer Stirn spurlos verpufft. Schmerzhaft begreift sie, dass er sie womöglich warnen wollte, als sie sich die Nase heftig an der schmutzigen Glastür stößt. Ziehen, nicht drücken. Steht dran. Der Concierge sieht sie bestürzt an, beinahe verlegen. Ihre Hand fährt automatisch in ihr Gesicht, aber da ist kein Blut, nur eine leichter Hubbel, den sie vorsichtig betastet. Sie nickt dem Portier höflich zu und zieht dieses Mal ordnungsgemäß am Griff der Glastür.

Aus der Kühle der Vorhalle tritt sie kampfbereit in die Glut des Nachmittags wie in eine Arena. Die Hitze sucht sich ihren Weg bis in ihr kaltes Herz. Sie blinzelt in den gleißend hellen Himmel und spürt den Schweiß unter der schweren Furche ihres Armes, er bildet ein Rinnsal und kitzelt sich bis zum Bund ihrer Hose, der es auffängt, bevor es verdunsten kann.

Müssen Türen nicht schon aus Brandschutzgründen nach außen aufgehen oder ist das in Spanien anders? Wer wird ihre Fotos betrachten, wenn sie stirbt? Es wird Zeit, herauszufinden, was bleibt. Zeit, nach Hause zu gehen.

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Kristina Baumgarten

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freiVERS | Thomas Steiner

ich esse gerne

im möbelhaus.
im möbelhaus
gibt es gutes essen
hunderte menschen
essen im möbelhaus, tausende

frühstück & mittag
ich mag es, wunderbar.
riesige fenster
zum parkplatz & bäume

wie schön
es ist diese art
von glück, von glück, von glück
das es sonst nicht gibt.

manchmal regnet es
dann
sehe ich den parkplatz vom möbelhaus
im regen. niemand
vertreibt mich vom tisch.

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Thomas Steiner

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freiTEXT | Denis Vidinski

Der Schotterplatz oder Von innerer und äußerer Zeit

An einem Sonntagnachmittag im Juni hören wir den durchdringenden Ruf einer Möwe und ich frage mich kurz, ob wir uns später daran erinnern werden.

Mein kleiner Sohn und ich stehen auf einer großen geschotterten Fläche. Rechts ist der Bahndamm und links, hinter jungen Fichten, ein langgestrecktes Gebäude. Der Rest eines alten Hofs, dessen Fenster und Türen vernagelt sind. Es ist schwülwarm, besonders wenn die Sonne hervorkommt. Ich sehe hin zu einem der blinden Fenster oben im langen Dach des Hofgebäudes.

 

Wir haben es als Kinder geliebt, von solch einer Kammer unter dem Dach aus einem vorbeiziehenden Sommergewitter zuzuschauen. Auf den nackten Armen und Beinen spürten wir die Kühle, die es begleitete. Das Licht der Blitze erschreckte uns durch sein kurzes Aufflackern; ein kaltes Licht, und es schien die Kälte in dem kleinen Raum nur noch zu verstärken.

Einmal saßen wir in einer Scheune, draußen vor der Stadt, die bis oben voller Stroh war. Wir verkrochen uns, während das Gewitter vorbeirauschte. Innen hatte die Luft zuerst noch golden geglänzt, man sah darin den helleren Staub umher kreiseln, und heiß und stickig war es gewesen, dass man kaum Luft bekam. Mäuse raschelten weit hinten. Dann wurde es bald dunkler und dunkler, und jeder Donnerschlag ließ die grau gewordenen Balken für Momente erschüttern. Der Regen prasselte im Laub, schlug auf den trockenen Sand der Wege. Niemand sprach und als nach kurzer Zeit, die uns doch wie eine Ewigkeit vorkam, alles vorbei war, da hörten wir laut rinnendes Wasser, das in alle Richtungen zugleich abfloss. Wir konnten es kaum noch aushalten, so eng und staubig war es gewesen, und wir rissen gemeinsam das große Tor der Scheune auf, dessen Holz mit einem Mal ganz leicht war. Über den Brennnesseln schwirrten Insekten. Hier und da fielen um uns einzelne letzte schwere Tropfen, und der Himmel, an dem noch das weitergezogene Gewitter stand, war schwarz und bedrückend. Von vorn blendete es dagegen schon wieder hell und klar, und nach dieser Richtung, die Hände ausstreckend, atmeten wir tief ein. Dort war der Duft der frischen sauberen Luft, der Geruch vom Regen, von nasser Erde und gewaschenem Sommerlaub. Er vermischte sich momenthaft mit jenem warmen Geruch des Strohs, der aus der dunklen, staubigen Höhlung der Scheune kam, in die wir nun auf keinen Fall mehr zurück wollten.

 

Ich hörte einmal einen Schriftsteller sagen, dass die ersten fünfzehn Jahre im Leben eines Menschen die prägendsten seien. Abends, wenn ich am Fenster sitze, denke ich darüber nach. Es kommt mir so vor, dass man damals tatsächlich alles ganz anders besah, mit seinen Blicken umkreiste, auf andere Art und Weise berührte, betastete, viel ruhiger und klarer den Duft der unterschiedlichsten Dinge wahrnahm, ihren Geräuschen nachsann. Zumindest kommt es mir heute so vor und ich versuche in der Folge zuweilen auch all dem nachzuspüren, das ich nicht behielt. In welchem Moment entscheidet sich eigentlich, was man vergessen wird und was nicht? Vielleicht spielt mir mein Gedächtnis einen Streich, aber ich entsinne mich kaum noch kleinerer Begebenheiten der letzten Monate oder Jahre. Die Zeit zerrinnt mir wie Sand zwischen den Fingern, je älter ich werde. Ich spüre jedoch überdeutlich gewisse Räume, Licht, Duft und Klänge aus den Tagen meiner Kindheit in mir, obschon es mittlerweile Jahrzehnte zurückliegen mag.

Manchmal versuche ich mich dem Sog der fliehenden Zeit entgegen zu stemmen, nicht nur gedanklich. Familie und Freunde schütteln die Köpfe, man verlacht mich, doch ich streife trotzig zu den realen Orten der Kindheit, zu den Häusern und Gebüschen, zu den Bäumen und Garagenhöfen, und ich versuche zu begreifen, was sich seitdem verändert hat und was noch da ist. Ich versuche zu verstehen, wie manches Erinnerung werden konnte und manches nicht. Viele dieser Orte sind verschwunden oder haben sich fast vollständig verändert. Oder schaue ich das alles heute nur anders an, fühle ich die Orte anders? Wenn ich wieder zuhause bin, zurückgekehrt von meinen Erkundungen und darüber schreiben möchte, spüre ich zwar noch den Nachklang jener Gedanken, aber all dies verblasst sehr schnell. Jeder von mir geschriebene Satz ist nur Andeutung, vage Annäherung. Mir kommt es zuweilen vor, als wenn sich die Welt, der Alltag um mich viel schneller bewegt, als die Welt in mir selbst, ich schaue auf und alles herum hat sich verändert, ich aber, ich hinke hinterher – Gedanken, Orten, Stimmungen nach-hängend, nach-denkend.

Der Schluss daraus ist, dass ich weiter in Bäume klettern, die Böschungen zu den schmalen Fleeten hinabschlittern muss, um einen Blick unter die Brücken dort zu werfen, wo wir früher zwischen Spinnenweben schlafende Fledermäuse in den Betonnischen entdeckten, auch wenn es in den Augen anderer zwecklos ist, keinen Sinn macht, die Fledermäuse längst verschwunden sind.

 

Ich senke den Blick. Der Boden des Platzes ist stellenweise fest gestampft und fleckig, zu den Rändern hin schrundig. Flechten wachsen dort und kurzes trockenes Gras. Auf einem Haufen liegen Teile einer Holzverkleidung, ein verbogener Stahlträger, die Hälfte eines Tores, zerbrochene Gehwegplatten, Mülltüten, leere Flaschen, zwei Matratzen. Wenn der Wind einen Atemzug lang aussetzt, hört man das Knistern des feinen Schotters unter unseren Schritten. Der Bahndamm im Augenwinkel ist dunkel, grün und schattig. Eichen stehen da. Unter ihnen wachsen Efeu, Brombeeren, Weißdorn. Den Schotterplatz säumen in einem weiten Kreis Schösslinge von Birken und Weiden. Die Hauptstraße ganz hinten hört man nicht, nur die Rückseiten ihrer Häuser sieht man manchmal rot zwischen den Blättern.

Ich stehe nun also hier und bin in meiner eigenen Zeit. Mein Sohn steht einen Steinwurf entfernt und ist in seiner Zeit. Nur die gemeinsame äußere Zeit verbindet uns. Jeder von uns beiden ist in diesem Moment vollkommen von seiner eigenen Wahrnehmung umwölbt, sieht, hört und riecht möglicherweise Dinge, die dem anderen verborgen bleiben. Wird es ihm oder mir, wird es uns beiden, irgendwann möglich sein dafür Worte zu finden? Wird es einen Tag geben, da wir uns ansehen und einander davon erzählen? Werden wir Mittel und Wege haben unsere Erlebnisse, unsere Empfindungen abzugleichen?

Von Westen kommen immer dunklere Wolken heran und da sie sich vor die Sonne schieben, wird es augenblicklich kühler, sodass wir beschließen zu gehen. Man spürt, dass der Wind die Intensität eines sich nahenden Gewitters heranträgt. Scheinbar ist niemand sonst unterwegs, es ist, als wären wir allein.

Auf dem Rückweg wandert mir noch einmal im Kopf herum, was mein kleiner Sohn von diesem Sonntagnachmittag wohl mitnehmen mag. Ob er sich erinnern wird, und wie seine Erinnerungen aussehen könnten: vom Schotterplatz, dem Bahndamm und dem vernagelten Haus hinter Fichten, dem Ruf einer Möwe, oder ob all das einfach durch ihn hindurchgeht ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

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Denis Vidinski

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freiVERS | Wolfgang Doerjer

Am Bodensee

Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Fünf Blesshühner herausgeschwommen.
Drei kleine lernen von den alten,
Wie Blesshühner sich so verhalten.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.

Der Tag erwacht, und wieder kommen
Die Blesshühner herbeigeschwommen.
Zwei kleine werden von den Alten
Sich zu benehmen angehalten.
Dann sind sie in dem Schilf verschwunden.
Doch siehe da, nach ein paar Stunden:

Familie Blesshuhn schwimmt vorbei.
Diesmal sind es nur noch drei.
"Möwe von oben!", könnt' ich schreien,
zu spät - denn keines von den Dreien
Hat dieses Unglück kommen sehen.
So ist es dann ganz schnell geschehen:
Ein scharfer Schnabel stört die Ruh'.
Die Eltern schauen nur noch zu.

Vom Schilf ins off'ne Wasser kommen
Zwei Blesshühner herausgeschwommen.
Sie putzen sich, sie tauchen toll
Und füttern sich ganz liebevoll.
Die Abendsonne scheint sehr mild,
Idyllisch wirkt dies schöne Bild.

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Wolfgang Doerjer

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freiTEXT | Susanne Schmalwieser

Wir beide haben immer schöne Anziehsachen

Zu diesem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt lebt Claudia in Australien und mit ihr niemand, den sie liebt. Probleme eines unglücklosen Lebens; doch von den Palmen sieht sie meistens nur die langen Schatten; bedrohlich ihr entgegenwachsend. Gedruckt aus der Zeitung entwischt und mit dem Boot über die See gefahren. Süßlich säuselnd in der Brandung, auf dass sie sich ihnen hingibt und dort ertrinkt.

Claudia sitzt auf der anderen Seite der Welt und winkt. Durch einen Bildschirm hindurch, in Georgs Küche hinein. der sitzt da mit seiner Teetasse und ist gespannt, von Claudias Tag zu hören, so wie sie seit Wochen immer von seinem hört. Täglich um neun, ihre Zeit, halb zwei, seine Zeit. Tastendrücken routiniert wie Zähneputzen.

Die Milchflaschen sind um sechzig Cent teurer geworden, sagt Claudia, und das Pfand nicht mehr. Bei uns auch; das erinnert mich an die Jugend, antwortet Georg, als wir donnerstags Pfandflaschen gesammelt haben, fürs Ausgehen am Freitag. ans Münzen-Aufklauben am Bahnhof Mödling und Münzen-Klauen aus der Tasche der Mutter und ans schlechte Gewissen deswegen, den ganzen Abend lang tanzend unter den Lichtern des einen Lokals oder des es anderen. Witzig, antwortet Claudia, dass wir diese Lokalnamen noch kennen, nach all den Jahren, und ich mir heute kaum die Busstation merken kann, über der ich lebe.

„Frühe Demenz?“, fragt Georg. „Ich glaube, Depression“, sagt Claudia.

„Oh“, meint Georg am anderen Ende der sie beheimatenden Kugel. Stille zwischen ihnen. Stille in jedem ihrer Räume; der eine sonnendurchflutet, der andere von Nacht umfangen.

Dann fragt Georg: „Gefällt es dir denn nicht in Australien?“

Gefallen, denkt Claudia. Gefallen hat ihr mit siebzehn mit der Mutter zehn Tage lang in Paris zu sein. Die erste Großstadt, der Bus durch Montmartre hinauf, endlich einmal zu sagen: „ich hab mir den Eiffelturm kleiner und das Moulin Rouge grösser vorgestellt“. Die verbindende Suche nach billigem Wein und gratis Aktivitäten, die Fußschmerzen nach Fußmärschen, um die Metropreise zu vermeiden. Gefallen hat ihr Wien, die ersten Wochen mit den neuen Freundinnen, das tägliche Nudeln-Kochen und -Essen und die Happy Hours in Clubs mit Musik, deren Text keine von ihnen verstanden hat. Der Stand vor der Uni mit den Ein-Euro-Reclamheften, die Stunden im Lesesaal „Altes Buch“, die Regentage im Seminarraum und die geschnorrten Zigaretten. Und gefallen hat ihr Georg. Die Sommer in Kärnten mit ihm und seiner Familie, die Zugfahrten in kurzer Hose und heruntergezogener Sonnenblende vor Beginn der Zeitrechnung ihres selbstbestimmten Lebens.

„Es ist so komisch, daran zu denken“, sagt Claudia, „dass es mir doch so gut gehen soll. Dass es uns gut gehen soll. Wir beide haben gut zu essen. Wir beide haben immer schöne Anziehsachen. Wenn ich nachhause komme, habe ich um niemanden Sorge, als um mich. Also klar, es gefällt mir, ich mach das Beste draus“, sagt Claudia, „aber einmal ein vertrautes Gesicht zu sehen, das wäre schön“, sagt Claudia.

„Das glaub ich dir“, sagt Georg.

„Und eine Person, die mich wirklich liebt.“

„Klar, sicher“, sagt Georg.

„Die mich versteht.“

„Ja, verstehe ich“, sagt Georg.

Auf irgendwessen Seite tropft ein Wasserhahn.

„Bitte besuch mich“, sagt Claudia.

Auf irgendwessen Weltseite: ein Martinshorn.

„Ich hab das Geld nicht, Claudia.“

„Ich borg‘s dir.“

Georg wackelt seine Handflächen dem Bildschirm entgegen.

„Nein, nein, nie. Das könnt ich nicht annehmen, ich hasse es in jemandes Schuld zu stehen.“

„Ich lad dich ein.“

Georg lacht nur.

Durch Claudias Nase wandert eine Träne nach oben, kitzelnd ins Augenlid.

„Da borg ich mir noch lieber von meiner Familie was.“

Dass ich dir nach all den Jahren nicht zumindest etwas ähnliches bin, denkt Claudia, aber sie fragt: „Wirst du‘s machen?“

Georg sagt: „Nein.“

Claudias Blick wandert vom Bildschirm in eine unbestimmte Ferne.

„Es wird alles so viel teurer, Claudia, wir müssen an unsere Zukunft denken.“

„Wir sind doch immer ohne Geld ausgekommen, und miteinander ausgekommen.“

Claudia denkt an die Ferien in Kärnten bei Georgs Familie. Kein See unter ihren runzeligen Fingerspitzen je wieder so blau wie dieser eine erste. Jenseits aller Moden durch die Stadt fahren auf Rädern ohne Gangschaltung. Fremde Wörter in der eigenen Sprache lernen und Zucchininudeln essen. Niemand hat von Claudia Geld gefordert, fürs Wohnen oder Essen, nur den Müll zur Tonne tragen hat sie sollen, zwei oder dreimal in der Woche. Georg hat sie dabei immer begleitet und sich für den Vater entschuldigt, als hätte der Claudia nicht ein erstes Stück Zukunft geschenkt mit einer Extramatratze und einem Extrabesteck. Aber das war vor Beginn der Zeitrechnung ihrer selbstbestimmten Leben, vor jeglicher Zeitrechnung der Schuld.

„Schau dir die Welt an, Georg, andere Leute haben so viel weniger als wir. Wir selber hatten einmal so viel weniger, als wir heute.“

„Eben“, sagt Georg.

„Eben“, sagt Claudia.

Georg zählt: Er hat drei horizontale Linien auf den Händen und zwei vertikale. Gesamt sind das zehn Linien unter zehn Fingern.

Claudia zählt: Der Wasserhahn tropft dreimal, dann pausiert er einen Schlag, dann wieder dreimal. Der erste Tropfen klingt höher, als die weiteren zwei.

Georgs Eltern haben nicht über Geld geredet. Manchmal, wie heute, zuckt Georg, wenn Claudia so tut, als wäre Geld wie alles andere, das Menschen besitzen: Konkret; austauschbar. Als hätte das alles keine Bedeutung mehr: Dass Claudia mehr verdient als er, dass die Eltern nicht über Geld reden wollen, dass er und die Frau im Bildschirm tagelang um den Bahnhof gestreunt sind zum Münzen-Klauben, dass die Milchflaschen jetzt sechzig Cent teurer sind, aber das Pfand nicht mehr. Wäre Georg wie Claudia, glaubt er, wäre er Teil dieser Menschheit, die über die andere nur in Formeln spricht. Angst davor keine Angst mehr haben zu müssen. Luxusprobleme, denkt Georg und schämt sich; wir beide haben doch alles was wir brauchen und dazu auch noch immer schöne Anziehsachen.

Claudia kennt diese Stirn. Die beiden Falten, parallel gelegt zu den dunklen Augenbrauen. Sie weiß, dass ihre Bitten vergebens sind.

„Ich vermisse dich, Georg, wirklich.“

Georg sagt: „Ich dich auch.“

Die Schatten der Palmen sind im Dunkeln verschwunden. Morgen werden sie zurück sein, und Claudia unter ihnen der kleinste Mensch der Welt. Manchmal wird sie Zeitung lesen und manchmal aufs Meer schauen, in der Hoffnung, dass es, wenn schon nicht Georg, dann ein Kopfhaar oder eine Hautschuppe von ihm heranträgt. Dass es zumindest in einer anderen Zustandsform ihn schon einmal berührt hat.

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Susanne Schmalwieser

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freiVERS | Sigune Schnabel

Trägt jeder Körper eine Spur Verwegenheit

I Wurzeln

Es kann Jahre dauern, bis ich den Boden
erforscht habe, den Regen und die Nacht.
Wir reiben uns aneinander,
und es gibt Zonen, die noch nicht
ausgelotet sind nach all der Zeit.

Im Winter trägt meine Rinde
das Weiß des Anfangs,
eine Stille, die schneit,
schreit.

 

II Stamm

Ich gehe nicht auf dich zu.
Du legst die Hände
auf meinen Körper, weil Sätze
auf der Haut zerfallen.

Als Mutter noch Sprache war,
bin ich aus Gedichten geboren,
habe mich geschüttelt, bis die Worte brachen.
Du hast mich gesehen
im Wasserspiegel eines Sees.

Wir gehören der gleichen Familie an.
Die Fremde hat längst ihre Rinde gelassen.

 

III Astwerk

Ich will viele sein,
streife dich aus verschiedenen Richtungen.
Meine Haut spricht am schönsten
mit der Erde.
Wie du heißt, vergesse ich am nächsten Morgen,
und doch nehme ich drei Worte
mit zu mir.

Gemeinsam loten wir Berührungen aus.
Deine Augen sind aus Moos,
und die Landschaft ruft aus mir heraus.

Sieh mich vom Ursprung her.
Meine Geburt war leise.

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Sigune Schnabel

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freiTEXT | Anna Fišerová

T

Es ist früher Abend und ich sitze im Bus, teile mir abgestandene Luft mit schwitzenden Menschen, schaue aus dem Fenster, nervös, weil ich keinesfalls meine Haltestelle verpassen möchte. Die rechte Seite des Busses neigt sich gefährlich nah dem Straßenrand zu, während wir uns auf engen Serpentinen einem Ziel nähern. Ich steige aus, atme Abgase und Wärme ein, vergrabe meine Hände in den Hosentaschen und bewege mich nach vorn, bis mir T in der Dunkelheit entgegenkommt.

Er begrüßt mich, bietet mir dampfenden Tee aus der Thermoskanne an, ich nehme den Becher lächelnd entgegen, probiere einen Schluck und verbrenne mir die Zunge. Mein Gesicht verziehend hole ich Luft und möchte etwas sagen, doch T schüttelt den Kopf und hält mir den Mund zu, seine Finger verströmen dabei einen seltsamen Eigengeruch.

„Psst“, macht er.

Ich nicke.

T nickt auch.

Zusammen durchkreuzen wir die Obstbaumplantage, ziehen unsere Schuhe aus, lassen sie im Gras liegen. Ich muss aufpassen, dass mir T nicht entwischt. Schaue ich einmal weg, ist er bereits auf einen der Bäume gesprungen, bewirft mich mit Birnen und Pflaumen, springt auf meinen Rücken und ich muss ihn von mir runterschütteln wie einen lästigen Käfer. Wir liegen im Gras und meine Unterlippe zuckt, während er mir Apfelstücke in den Mund stopft. Als ich das Kerngehäuse wegwerfen will, setzt T einen strengen Blick auf und schüttelt den Kopf. Hartes Fruchtfleisch knackt zwischen meinen Zähnen, Kerne bleiben in meinen Hals stecken und Worte auch.

Unsere Mägen blubbern und in unseren Mundwinkeln hängen noch Reste vom Obst. Wir halten uns gegenseitig unsere Füße ins Gesicht, sie riechen nach Dreck und Gras und irgendwie nach altem Teppich. Dann stecken wir sie zurück in ausgelatschte Turnschuhe, zwischen meinen Zehen haben sich Erdkrumen verfangen und sich unter meine viel zu langen Zehennägel gegraben.

Wir laufen runter in die Stadt, T tänzelt leichtfüßig auf jedem Geländer, schlägt Räder auf jeder Kante, gefährlich nah über dem Abgrund. Ich beneide ihn um seine Furchtlosigkeit, ich habe immer Angst und T nie, aber er ist umsichtig mit mir. Er verzieht sein Gesicht zu einem hämischen Grinsen, steckt seine Zunge raus, um im selben Moment seine Augen zu verdrehen. Ich hole ihn ein, ziehe an seinem Haar, das sich weich und fettig vom Schweiß anfühlt.

Unsere Schritte hallen durch enge Gassen, kindliches Lachen durchdringt die nächtliche Stille, in der Luft liegt der Geruch von warmen Gebäck.

T kauft mir einen Lebkuchenmann und ich reiße ihm den Kopf ab.

Wir schleichen uns ins Wohnheim, mit großen Augen am Pförtner vorbei, rennen die Treppenstufen hoch, schließen die Tür hinter uns ab und schnappen erschöpft nach Luft.

Ich besuche T zum ersten Mal, sein Zimmer ist klein und mit gelbem Anstrich versehen, es riecht fremd, aber auch nach Marmelade, er bietet mir an diesem Abend zum zweiten Mal Tee an und ich verbrenne mir wieder die Zunge. Auf der sonnengebleichten Tapete stehen Schimpfwörter auf Russisch und von draußen dringt Lärm durch die dünne Wand aus Pappmaschee, dröhnender Bass und grölende Stimmen, vorbeifahrende Autos, das Rauschen einer Autobahn. Ich lehne mich weit aus dem Fenster, stecke den Kopf in den verschmutzten Himmel.

T macht das Fenster zu und zeigt mir seinen Wintermantel, all seine Mützen und die Löcher in seinen Socken. Wir werden unterbrochen, als etwas in seiner Jackentasche vibriert. „Da muss ich rangehen“, sagt er und es ist der erste Satz, den er an diesem Abend sagt.

Er setzt sich auf den Boden und verschränkt seine Beine, umschließt mit langen Fingern seine Handyhülle. T spricht mit ernstem Blick und seine Stimme ist genauso gekräuselt wie seine Stirn. Aus seinem Mund kommen Worte, die ich nicht verstehe, vereinzelte Fetzen tragen einen vertrauten Klang.

Als er auflegt, setze ich mich neben ihn und er zeigt mir seine Großeltern, swipet Bilder von rechts nach links: бабуся і дідусь im Theater, auf dem Markt, auf dem Sofa und am Strand. „Das ist das Schwarze Meer“, sagt T. „Meine Großeltern haben Angst. Aber sie sagen, dass man sich daran gewöhnen kann. Man gewöhnt sich an die Angst.“

Das ist alles, was ich über sie erfahre, er beginnt, über das Schwarze Meer zu sprechen und hört nicht mehr auf. „Weißt du, es ist wirklich so schwarz, so schwarz, dass es deine Beine und Arme verschlingt.“ Und ich zweifle nicht daran. „Meine Katze ist im Krieg gestorben. Dann habe ich angefangen zu lesen“, endet er kurz angebunden, reicht mir ein T-Shirt und frische Socken. Wir schleichen uns durch den Flur, zu den Bädern, dort putzen wir uns die Zähne, dabei schmiert mir T Zahnpasta ins Gesicht.

Als er die Tür abschließt und das Licht ausmacht, fallen mir die Augen zu, kurz bevor mich meine Träume einholen, erscheint T, so muss er als Kind ausgesehen haben, mit faltigem Gesicht und eigenartig müdem Ausdruck, in schwarze Wellen springend und nach Luft schnappend. Dann taucht er auf und an seinen Schläfen klebt nasses Haar.

Am nächsten Morgen entdecke ich T am anderen Ende des Zimmers und kann nicht widerstehen, ihn eine Weile zu beobachten. Er hat sich mit buckeligem Rücken über sein E-Piano gebeugt und Kopfhörer aufgesetzt, um mich nicht zu wecken. Doch manchmal lacht er laut los, singt mit, gibt schrille Töne von sich, rauft sich entrüstet das Haar, wenn der Ton nicht stimmt. Der Morgen ist kalt und ich liege mit ausgestreckten Gliedmaßen auf seinem Bett, warte darauf, dass er mich bemerkt, warte auf sein erstes Wort, doch er würdigt mich keines Blickes, eingenommen von der lautlosen Musik. Erst als ich aufstehe und mir Hemd und Hose überziehe, hebt er den Blick und sieht mich kurz an. Er wirft mir einen Apfel zu und zieht seine Jacke über, wir sprinten zusammen am Pförtner vorbei, dann bringe ich ihn schweigend zur Schule.

 

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Anna Fišerová

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freiVERS | Simon Scharinger

Was es gibt. Versuch einer Liste

 

(A)

Die Aprikosenbäume gibt es.
Die Aprikosenbäume bei Inger Christensen gibt es.
Die Asche in meiner Hand gibt es.
Die Antwort auf meine Frage gibt es, zumindest hoffe ich das.
Den Adamsapfel gibt es.
Die Altgebliebenen gibt es.
Das Allein-Sein in jeder Stunde gibt es.
Das Auschwitz in den Büchern gibt es.
Das Auschwitz außerhalb von Büchern gibt es.
Den Anus als primäres Geschlecht gibt es.
Die Akropolis gibt es.
Den Anfang im Wort gibt es.
Die Architektur von deinem Zuhause gibt es.
Die Abtreibung als Recht gibt es.
Die Ausländer im Inland gibt es.
Die Ausländer im Ausland gibt es.
Das Andere gibt es.
Die Angst gibt es.
Das Auseinander-Setzen in der Schule gibt es.
Die Anschläge in Wien, in Paris etc. gibt es.
Die Anschläge außerhalb Europas gibt es, sie interessieren aber nicht.
Die Anschläge, fast ausnahmslos ausgeführt von Männern, gibt es.
Die an.schläge gibt es.
Die Aktionen gibt es, bei Hofer, Billa, Spar, Marina Abramovic´ und unübertroffen bei Pjotr Andrejewitsch Pawlenski.
Das ABC gibt es.
Das ACAB gibt es.
Das Agitative gibt es, bei Brecht, bei Gruber, bei Schlingensief, bei Hubsi Kramar.
Das Abschieben gibt es, von Verantwortung, von Schuld, von Pflicht, zusammengefasst im Abschieben von Menschen.
Den Anfang, dem ein Zauber innewohnt, gibt es.
Die Artikel in diesem Text gibt es.
Das Aus gibt es.

 

(B)

Die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blätter von Ahorn, Kastanie, Buche und Eiche gibt es.
Die Balkone in Innenhöfen gibt es.
Den Balkan gibt es.
Das Babylon im 1. Wiener Gemeindebezirk gibt es, sprachverwirrt.
Das Bescheidene in Wünschen gibt es.
Das Baiser auf Torten gibt es.
Die Besen in Abstellräumen gibt es.
Die Brombeeren bei Inger Christensen gibt es.
Das Brot als Waffe gibt es.
Die Beerdigung des Kommunismus gibt es und seine Auferstehung.
Die Beliebigkeit in der Kunst gibt es.
Die Blunzn als Schimpfwort gibt es.
Die Bombe in Hiroshima gibt es und die in Nagasaki.
Das Beben von Valdivia gibt es, nebst dem grundsätzlichen Beben.
Das Balancieren in der Liebe gibt es.
Die Bücher von Friederike Mayröcker gibt es.
Die Bums‘n in Schärding gibt es.
Die Behörden hörig den Behörden gibt es.
Die Beamten gibt es.
Die Beleidigung von Beamten gibt es.
Die Brust von dir in meinen Händen gibt es.
Den Balsam für die Seele gibt es.
Die Backen gibt es, zusammengezwickt, gekniffen, errötet, immer eine Art Anus ummantelnd.
Die Bakchen gibt es. Und größenwahnsinnige weiße Regisseure, die sich an ihnen versuchen; im Chor, mittels Fließbandarbeit, auf faschistoide Weise Faschismus beleuchtend.
Die Besamung von Kühen gibt es.
Das Banale gibt es.
Die Banane gibt es.
Den Brand nach einem Rausch gibt es.
Den Brand der Wälder in Australien gibt es.
Das Beten von Auswendiggelerntem gibt es.
Die Bigotterie gibt es.
Das Bienensterben gibt es.
Die Blumen und die Blätter von Aprikosenbäumen gibt es.
Die Blicke, die ganz wie Flammen tanzen, gibt es; bei Marina Zwetajewa.
Das Biegsame gibt es, bei Birken, Rückrädern, etc. pp.
Das Bikini-Atoll gibt es – le bikini, la premiére bombe an-atomique – und seine Fischer und kontaminierten Thunfisch und Verstand.
Die Bierdeckel von Martin Peichl gibt es, und die im Café Bendl, einem um die Ohren fliegend.
Die Besinnlichkeit, die immer bloß Besinnlosigkeit meint, gibt es. Und sie ist zu verwerfen.
Die Bettgeher gibt es, bei diesen Mietpreisen vielleicht bald wieder.
Die Bretter, die eine Welt bedeuten, aber niemals die Welt, gibt es.
Den Blumenanbau, der Leben nimmt und Freude schenkt, gibt es.

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Simon Scharinger

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