freiVERS | Chloé Derain
kein ort nirgends
may have broken every window, but the house, the house is dark
— "happens to the heart", leonard cohen
FREMD,
von außen,
von dem außenland,
von der außenwelt,
von einem exoplaneten,
den niemand kennt (schwarzes loch),
aus einem loch gekrochen,
i danced myself right out of the womb,
aus dem schlüsselloch einer tür geklettert,
heraus in der welt,
heraus in einem anderen land (meine geburt),
is it so strange to dance so soon,
anders aussehend,
anders ausredend,
noch immer ausbleibend (entzweigerissen),
bleibend verloren,
bleibend vergessen,
verblieben in der morgenwelt (jetzt abreisen),
i liken it to a balloon¹,
nach morgen suchend,
nach sterbenden süchtig,
eines sichfremdfühlens schuldig,
KEIN ORT NIRGENDS².
¹ zitate aus "cosmic dancer" (t. rex).
² titel des romans "kein ort. nirgends" (christa wolf)
.
.
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freiTEXT | Anika Hoffmanns
Wachgang
Ich bemerkte es nicht sofort. Ich vermisste ohnehin nur eine Person in diesen Tagen. Die Anwesenheit oder das Fehlen anderer nahm ich kaum wahr.
In dieser Zeit sprach ich manchmal über Tage mit niemandem und ging wenig vor die Tür.
Ich bildete mir ein, ich würde die Situation besser verstehen, hätte ich es schneller bemerkt. Aber das stimmte vielleicht nicht.
Das Internet war ausgefallen, und ich konnte weder meine Eltern noch meine Schwester telefonisch erreichen. Schließlich begann ich doch, mir Sorgen zu machen.
Zu meinen Eltern war es ein kurzer Fußweg, fünf Minuten, wenn man sich beeilte, zehn, wenn man langsam ging.
Es war April, und der Stadtpark und die Felder waren frisch und grün und die Wolken weiß wie Schaum. Die Windräder standen still. Etwas stimmte nicht.
Eine ganze Menge Autos standen auf der Straße, doch die Motoren waren aus. Die Ampel schaltete auf grün. Niemand fuhr. Niemand hupte.
Ich blieb stehen. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse. Ein Vogelschwarm stob aus einer Baumkrone in den Himmel. Das Flügelschlagen kam mir laut vor. Auf einer Bank am Rand des Stadtparks lag eine Frau und schlief. Die Vögel weckten sie nicht. Sie war zu ordentlich gekleidet, um auf einer Bank im Stadtpark zu schlafen. Kurz fragte ich mich, ob sie tot war, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen.
Auf der Straße war sonst niemand. Nur die insgesamt zehn Autos standen an der Ampel hintereinander. Von meiner Position aus konnte ich die Menschen, die darin saßen, nicht sehen. Ich ging näher heran. Dabei wählte ich erneut die Nummer meiner Schwester. Sie hob nicht ab. Bei meinen Eltern sprang nach wenigen Sekunden der Anrufbeantworter an.
Der Fahrer des ersten Autos in der Schlange war ein Mann um die sechzig in einem weißen Hemd und grauer Hose. Sein Kopf lehnte an der Fensterscheibe. Er schlief. Da, wo sein Mund der Scheibe am nächsten war, beschlug das Glas. Ich traute mich nicht zu klopfen.
Das junge Pärchen im nächsten Auto kannte ich vom Sehen. Auf dem Rücksitz stand eine Babyschale, in dem ein Neugeborenes lag. Die Eltern hielten sich an den Händen. Sie atmeten gleichmäßig, die Augen geschlossen. Ich sah, dass die Pupillen der Mutter sich unter den Lidern bewegten. Kondenswasser rann die Scheiben hinunter.
Ich ging jedes Auto ab. Alle schliefen. Wieder und wieder sprang die Ampel im Wechsel auf Grün und Rot.
Ich wandte mich um und folgte der Straße, die am Stadtpark entlangführte. Ich erreichte die Wohnsiedlung, in der meine Eltern wohnten. Ich drückte auf die Klingel. Ohne zu warten schloss ich die Tür auf. Ich rief in den Flur und die Treppe hoch. Nichts rührte sich.
Meine Mutter lag auf der Couch im Wohnzimmer. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt. Ihre Hände lagen auf ihrem Bauch. Ich stupste sie an. Sie machte ein murmelndes Geräusch und drehte sich von mir weg.
Ich rief nach ihr, erst leise, dann ungehaltener. Ich rüttelte an ihrer Schulter. Sie wurde nicht nicht wach.
Mein Vater lag vollständig angezogen auf dem Teppich im Schlafzimmer. Er lag kerzengerade, als hätte er sich absichtlich auf den Teppich gelegt. Neben ihm stand der Staubsauger. Ich schaltete ihn an. In einer jähen Anwandlung hielt ich die Düse an seinen Pullover, dann an sein Ohr. Er wachte nicht auf.
Der Mülleimer in der Küche roch schlecht. Fliegen umschwirrten ihn.
Ich schrieb meiner Schwester eine kurze Nachricht. Seit Tagen hatte mir niemand mehr geantwortet. Es war mir nicht aufgefallen. Ich wartete seit Monaten nur auf Nachrichten von Johannes. Es kamen keine.
Ich wählte verschiedene Nummern. Nach langem Zögern wählte ich auch Johannes’ Nummer. Eine Computerstimme erklang, die sagte, die Nummer sei nicht erreichbar. Mir wurde schlecht.
Die Stille im Haus war bedrückend. Ich schaltete das Radio ein, doch es ertönte nur Rauschen. Ich schaltete auf CD um. Die ins Leere drängende Musik erschreckte mich. Ich machte sie wieder aus.
Aus dem Kühlschrank nahm ich mir einen Erdbeerjoghurt und aß ihn. Dann lief ich zurück zur Straße. Neun Autos standen an der Ampel. Ich war mir sicher, dass es eben zehn gewesen waren. Ich sah über die Schulter, dann ging ich schnell zurück nach Hause. Die letzten Meter rannte ich.
Ich stand am Fenster in der zweiten Etage und sah hinaus. Überall waren dunkle Fenster. Der Abendhimmel war blau und weit. Die Wolken hatten sich verzogen. Lange sah ich in den Himmel und hielt Ausschau nach Flugzeugen. Es kamen keine.
Ich fragte mich, ob es Autounfälle gegeben hatte.
Flugzeugabstürze, Brände.
Ich fragte mich, ob die Schlafenden verhungern oder verdursten würden.
Meine Augen brannten. Ich legte mich ins Bett und deckte mich zu. Dass ich nicht mehr aufwachen könnte, bereitete mir keine Sorgen. Ich hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen.
Allmählich begehrte ich den Schlaf so verzweifelt, als wäre er eine Person.
Ich schaffte es, leicht wegzudämmern, indem ich mir vorstellte, Johannes läge neben mir. Ich stellte mir vor, wie sein Körper sich anfühlte. Später lag ich mit Herzrasen im Dunkeln. Es war besser als sonst. Normalerweise hielt mich die Vorstellung wach, dass er in diesem Moment mit seiner neuen Freundin schlief.
Am folgenden Morgen nahm ich mir das Auto mit dem Pärchen und dem Baby vor. Ich nahm das Baby aus dem Sitz und drückte es an mich. Es roch sauber, nach Mensch und Muttermilch. Nachdem ich eine Weile zugehört hatte, wie es leise atmete, legte ich es zurück.
Ich kniff den Vater in den Arm. Er schnarchte auf. Ich hielt der Mutter die Nase zu. Ihr Mund öffnete sich, ansonsten geschah nichts. Ich schrie ihr ins Ohr. Es kam mir falsch vor. Es kam mir vor, als würde der Schrei weit fort getragen. In den Autos blieb alles still. In den Sträuchern am Straßenrand raschelte es. Ich floh nach Hause und setzte mich in mein Auto. Ich verriegelte die Türen von innen.
Für den Weg ins Stadtzentrum brauchte ich lange. Nahezu jede Straße wurde von Autos blockiert. Ich traute mich nicht auszusteigen. Ich sah es auch so. Ich fuhr auf Gehwegen und Mittelstreifen. Manche Menschen lagen im Gras neben den Geh- und Radwegen, aber nie darauf. Einmal musste ich umkehren, weil ordentlich abgestellte Fahrräder mir den Weg versperrten.
Die Straße, in der Johannes wohnte, lag in gleißendem Mittagslicht. Gegenüber bellte ein Hund, ansonsten war alles ruhig.
Ich schlüpfte durch die Terrassentür, von der ich wusste, dass sie immer offen war. Ich schloss die Augen, um mir vorzustellen, dass ich erwartet wurde.
Er lag in seinem Bett. Ihm zugewandt schlief eine zierliche blonde Frau. Ihre Köpfe waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts. Sie war nackt. Ich trat gegen das Bett.
Auf dem Boden lag ihre Kleidung. Ich fand ihre Handtasche im Wohnzimmer und darin die Geldbörse mit ihrem Pass. Sie lebte im Nebenort. Ich kannte die Straße nicht.
Es kostete mich Mühe, sie anzuziehen. Noch schwieriger war es, sie hochzuheben. Ich ließ sie auf den Boden sinken und griff unter ihre Achseln. Sie stöhnte leise. Ich zog sie in den Flur. Als ich sie endlich die Treppe hinunter und in den Sessel im Flur gehievt hatte, brauchte ich eine Pause.
Die Küche war unaufgeräumt und stank. Ich wusch die Töpfe und Pfannen in der Küche ab und stellte die Spülmaschine an. Im Kühlschrank lagen zwei Nackensteaks.
Mit dem Fleisch ging ich zum Haus gegenüber. Der Hund stand hinter der Gartentür. Als er mich sah, begann er gegen die Tür zu springen. Das Fenster daneben war gekippt. Ich ließ das Fleisch durch die Lücke ins Innere fallen. Im Laufschritt ging ich zurück.
Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis sie schließlich in meinem Auto auf dem Rücksitz lag. Ich schwitzte. In der Küche trank ich ein Glas Wasser, dann machte ich mich auf den Weg. Ich fuhr über die Landstraße. Einmal hielt ich an, um einen schlafenden Polizisten zur Seite zu ziehen, der quer über dem Mittelstreifen lag. Nach kurzem Zögern öffnete ich das Holster und nahm die Pistole heraus. Sie wog schwer in meiner Hand.
Links und rechts von der Landstraße war Birkenwald. Lichtpunkte tanzten auf dem Asphalt. Mit dem Auto im Rücken stand ich lange da und starrte in den Wald. Ich zielte, schoss aber nicht.
Systematisch fuhr ich die Straßen im Nebenort ab. Am Abend hatte ich die richtige gefunden. Es war ein Haus mit sechs Parteien und einer Bank im Vorgarten. Ich probierte verschiedene Schlüssel aus, bis ich den richtigen fand.
Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Ich zog sie an den Achseln die Treppe herauf. Am liebsten hätte ich sie im Treppenhaus liegengelassen. Ich tat es nicht. Ich schleifte sie durch ihre Wohnung ins Schlafzimmer, ohne mich umzusehen.
Auf dem Rückweg regnete es. Ich dachte an die Frau auf der Bank im Park. Ich widerstand dem Drang zu weinen. Zuhause duschte ich, dann stieg ich erneut ins Auto und fuhr zu Johannes.
Die Spülmaschine brummte. Durch die Küche war frische Luft gezogen. Es dämmerte.
Ich ging die Treppe hoch. Ich legte mich neben ihn. Ich besah und befühlte jeden Zentimeter seines Gesichts. Angst, dass er aufwachen könnte, hatte ich jetzt nicht mehr. Es wurde Nacht.
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freiVERS | Angie Volk
Hákarl
Tag drängt in den Raum, grau.
Ich schaue raus, mein Nachbar steht auf dem Balkon,
er ist auf Hüfthöhe abgeschnitten.
Er raucht und kratzt sich den Bauch, bohrt mit einem Finger im Nabel.
Ich ziehe den Vorhang zu, bleibe noch einen Moment so stehen,
dann setze ich mich zurück auf das Bett,
wische ein paar Krümel beiseite,
Pistazienschalen,
greife nach meinem Laptop.
Das Computerlicht scheint mir ins Gesicht, blau.
Ich fahre mit dem Mauszeiger über die Seiten von eben,
nutze dafür den spröden Gummiknopf auf der Tastatur.
Er fühlt sich an wie etwas, das einem Tier unter den Pfoten wächst.
Ich scrolle zu dem Abschnitt, bei dem ich eben noch war, lese:
Die Fischerin sagt, einen Grönlandhai als Beifang haben,
das sei wie in einen Hundehaufen zu treten.
Es gibt Bilder von Grönlandhaien,
auf denen liegen sie mit offenen Mäulern auf dem Rücken,
haben die Farbe von Beton, der lange Witterung ausgesetzt war.
Ich stelle mir vor, dass sie sich anfühlen wie Steine, die man in einem Flusslauf findet,
kalt,
dumpf,
gebrochen
und überzogen mit einer feinen Schleimschicht.
Neben ihnen stehen und hocken meistens strahlende Männer mit Spießen in der Hand,
halten schlaffe Flossen in die Kamera
und jedes Mal sieht es aus, als würden sie mit ihrem Penis posieren –
Schaut her,
er ist sehr groß.
Der Grönlandhai schwimmt so langsam, dass unklar ist, wie er es eigentlich schafft zu jagen.
In seinem Magen fanden Forscher:innen
Robbenreste,
große Fische,
ab und zu auch Teile von Eisbären.
Es wird vermutet, dass er sich an seine Beute anschleicht,
wenn sie schläft,
dass er auf verendete Tiere wartet,
die vom Rand des Polareises ins Meer
hinabsinken.
Oft leben Parasiten auf den Augäpfeln des Grönlandhais, die aussehen wie eine Mischung aus Mücke und Wurm.
Sie bringen die Iris des Hais zum Leuchten.
Es gibt Mythen und Sagen, die beschreiben das grüne Leuchten des Grönlandhaiblicks.
Manche behaupten, er hypnotisiere damit seine Opfer,
mache sie gefügig
und führe sie ganz gemächlich in seinen Schlund.
Grönlandhaie leben im arktischen Meer,
sie sind noch nicht besonders gut erforscht.
Besonders rätselhaft war lange Zeit ihr Alter.
Auffällig ist, dass sie nur sehr langsam wachsen,
aber trotzdem sehr groß werden.
Ich öffne einen weiteren Tab und google:
18 feet in meter
In einem Kasten erscheint die Antwort:
5,4864
Ich kann mir nicht vorstellen, wie groß das ist,
18 Füße hingegen schon.
Forscher:innen kamen zu dem Ergebnis,
dass die Haie vermutlich sehr alt werden.
Nur beweisen konnten sie es lange nicht.
Irgendwann entwickelte ein Physiker ein Verfahren,
durch das es möglich wurde, das Alter von Lebewesen anhand ihrer Augen zu bestimmen.
Die Linse wächst nach dem ersten Lebensjahr kaum noch,
vakuumiert stattdessen einen Teil der Atmosphäre vom Tag der Geburt.
Sie wird so zur Zeitkapsel.
Misst man den Kohlenstoff-Gehalt im Linsenkern und
vergleicht ihn mit der Kurve des Kohlenstoff-Gehalts,
lässt sich das Geburtsjahr bis auf drei Jahre genau ermitteln.
Einem Studenten der Meeresbiologie fiel ein,
dass der Grönlandhai manchmal unfreiwillig Beifang wird,
erinnerte sich vermutlich an das Gleichnis des Hundehaufens
und beschloss, die Häfen am Polarmeer abzufahren.
Sein Ziel war es, möglichst viele Linsen zu ernten, um mit ihnen das Alter der Haie zu ermitteln.
Ich stelle mir den Studenten vor,
wie er über toten Grönlandhaien kniet,
ihnen mit einem Eisportionierer die Augäpfel aus den Köpfen gräbt,
sie in einen Gefrierbeutel gleiten lässt und
dann mit federnden Schritten verschwindet.
Ich stelle mir die Fischer:innen vor,
die das Ganze beobachten,
stelle mir vor, wie sie mit den Schultern zucken und murmeln:
Wissenschaft.
Nach fünf Jahren hatte der Student genug Linsen gesammelt,
insgesamt achtundzwanzig Paare,
und die Meeresbiolog:innen verkündeten die Sensation:
Der Grönlandhai könne bis zu 500 Jahre alt werden.
Er sei damit das älteste bekannte Wirbeltier der Welt.
Das wachsende Interesse an der Erforschung des Grönlandhais
hat viel zu tun mit dem Interesse an entlegenen Meeresregionen generell,
mit dem Wunsch, den Klimawandel besser zu verstehen,
vor allem aber auch mit einem Kampf,
hinter dem Rohstoffe stehen.
Faszinierend ist für manche auch das Potential des Grönlandhais,
Sinnbild zu werden für die Relativität der Zeit:
Stell dir vor, du schwimmst im Eismeer und wirst 500 Jahre alt und niemand weiß es.
Bist du dann alt?
Eine Fliege landet auf meinem Unterarm, ich versuche sie zu fangen,
als ich vorsichtig die Hand öffne, ist sie schon längst weg.
Ich frage mich:
Wie entsorgt man einen unfreiwillig gefangenen jahrhundertealten Hai ohne Augen?
Die Frage klingt wie ein Witz,
bei dem die Pointe politisch unkorrekt ist.
Die Antwort lautet:
Man isst ihn.
Amazon schlägt mir vor:
Hákarl – fermentierter Grönlandhai (Gammelhai),
original isländische Spezialität,
100g
(!!!! Ab Mitte Mai erfolgt der Versand nur noch in einer Kühlbox !!!!)
Das Fleisch des Grönlandhais ist eigentlich giftig.
Sein Blut besteht zu großen Teilen aus Harnstoff.
Um das Fleisch essbar zu machen wird es fermentiert.
Dazu wird es in groben Kies vergraben,
mit Felsstücken beschwert und so bis zu drei Monate gelagert.
Dann wird das Fleisch getrocknet,
bis es fest ist und mit Hverabrauð gegessen,
einem Brot,
dass man nahe heißer Quellen vergräbt und dort einige Stunden dünstet.
Dazu trinkt man Brennivín,
isländischen Brandwein,
der auch Schwarzer Tod genannt wird.
Ich gehe nochmal zum Fenster,
mein Nachbar sitzt inzwischen auf einem alten Gartenstuhl,
hat sich tief in die Lehne zurücksinken lassen
und seinen Kopf in Richtung Himmel gedreht.
Die Wolken sehen aus,
als hätte jemand über ihnen Tinte verschmiert.
Zwei Norweger sind ein Jahr im Schlauchboot unterwegs gewesen,
haben den Kadaver eines schottischen Hochlandrindes
über das Eismeer gezogen
und versucht einen Grönlandhai zu fangen.
Einer von ihnen hat ein Buch über die Expedition geschrieben.
Auf die Interviewfrage,
ob er das Meer nun besser verstünde,
ihn die Suche nach dem Grönlandhai Weisheit gebracht habe,
antwortete er:
Nicht im Geringsten.
Das Meer zu verstehen hieße,
den Ursprung der Welt zu verstehen.
Und das Meer sei unendlich.
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freiVERS | Carl Manzey
straßenkind
zwischen brandschutzmauer und garage,
umgeben von fassaden, die hundert lichter werfen
im winter, in meinem hof,
umgeben von fenstern, deine krone
ist efeuumwunden, deine zweige
grüngeflochten, dein laub wirfst du
später ab, als alle anderen: der thujabusch
an deinem fuß bleibt immer grün,
der flieder, die platane neben dir
sind längst nackt, ehe du dein kleid verlierst,
deine wurzeln streiten mit beton seit
vielen jahren, deine kindheit ist für mich
ein menschenleben, doch sehe ich dich an,
frage ich mich, ob du je erwachsen wirst.
im winter sitzen tauben
in deinem geäst, versunken
in sich selbst sinnieren sie vom sommer:
den großen schwärmen, würmern, korn,
sie harren der kälte, doch sind sie
zumindest zu zweit.
mit wem sprichst du, wenn dir der winter lang wird?
wer teilt mit dir den rhythmus der jahreszeiten?
vielleicht der thujabusch, vielleicht die platane.
ich beobachte dein treiben
im frühling, bin zeuge deiner knospen,
doch was weiß ich vom leben eines ahorns?
ich sitze vorm fenster am klavier,
was ich spiele geht nur dich und mich
und die tauben etwas an.
.
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freiTEXT | Sven Beck
Frau Fröhlich
Von außen betrachtet waren Fröhlichs ein nettes, unauffälliges Ehepaar und wer nicht über anständigen Geruchs- und Hörsinn verfügte, konnte das glauben. Glücklicherweise lebten sie in der ausgestorbensten Straße des Dorfes – nur in der anderen Reihenhaushälfte wohnte eine Familie. Meine Familie. Bis ich sechs war, teilte ich ein Zimmer mit meiner Schwester. Mit acht hatte ich ein eigenes. Da musste es angefangen haben mit den Geräuschen. Sie schwappten durch die Wand aus dem Nachbarhaus. Ich hörte sie, wenn ich im Bett lag.
Gekocht habe ich, für alle, rief Herr Fröhlich, für die ganze Gesellschaft.
Einmal, kreischt die Frau: Und immer noch willst du Dank.
Ich kann mich nicht erinnern, dass der kam.
Weil ich die restlichen dreihundertwasweißichwieviele Tage dein verdammtes Essen mache, Rudi!
Ich zwing dich nicht, bei mir zu sein, Magdalena. Ich zwinge dich nicht, bei Gott!
Seine Stimme dröhnte. Ich dachte nicht viel. Nur: Wie kann man so leben. So laut.
Geh! Wenn du gehen willst, geh!
Vielleicht sollte ich das.
Dann mach, verdammte Scheiße!
Klatschen. Drei, vier Mal. Dann war Ruhe. So ging das öfter, auch meine Schwester hörte es. Wir erzählten es Mutter. Es hielt vom Schlafen ab.
Mutter legte sich die Hand auf den Mund und tuschelte Vater zu. Sie riefen im Ordnungsamt an, Vaters Arbeitsstelle. Sie erklärten die Situation und erbaten sich einen spontanen Urlaubstag. Mutter zitierte drei Freundinnen zur Hilfe. Dieses Vorhaben ging nur gemeinsam. Am nächsten Morgen klingelte die Haustür und Vater verteilte Handschuhe und Maler-Anzüge. Zuerst schraubten sie die Betten auseinander. Dann schoben sie die Möbel um. Sie hievten und zogen, drückten und pressten, bis die Zimmer leer waren: meins und auch Klaras. Zum Schluss tauschten sie alle Möbel mit ihren eigenen aus und strichen unsere neuen vier Wände weiß. Es war lange dunkel, als Mutter ein Tablett heißen Tee brachte und sich bei allen bedankte.
Den Rest, sagte sie, schaffen wir allein.
Und als sie die Tür hinter den Helferinnen schloss: Was bin ich froh, dass die Kleinen jetzt woanders schlafen.
Umso schwerer für sie: Mit ihrem leichten Schlaf schreckte sie auf bei jeder Kleinigkeit. Dann lag sie da und machte sich einen Kopf: Übers Schreien. Übers Klatschen. Über den morgigen Tag – wie viele Stunden ihr blieben. Sie war überwacht, dachte an den Notruf, Frau Fröhlich, Gerechtigkeit. Sie zögerte, haderte und gewöhnte sich doch letztlich an alles.
Eines Nachts aber wurde es so laut, dass wir Kinder sie wieder hörten. Sogar bei der Hundertjährigen gegenüber ging das Wohnzimmerlicht an. Eine halbe Stunde später blinkte blaues Licht in hellen Streifen an meine Decke. Daraufhin hörten wir lange nichts.
Ein paar Monate später war Herr Fröhlich gestorben.
Damit hatte niemand gerechnet. Weder ich noch Klara noch Mutter noch Vater, nicht einmal Frau Fröhlich. Zumindest beteuert sie das, sagte Mutter.
Sie wäre selbst schockiert gewesen, sagte Frau Fröhlich. Wie sie vom Friseursalon nach Hause gekommen wäre und ihren Rudi auf dem Sessel liegen sehen hätte. Wie er dann nichts gesagt hätte. Einfach tot gewesen wäre. Wohl was am Herzen.
Das glaube ich nicht, sagte Mutter.
Warum, fragte ich.
Mutter seufzte, überlegte und sagte: Sven, ich denke, er hat sich totgetrunken.
Warum, sagte ich wieder, aber darauf wusste sie keine Antwort. Auch Frau Fröhlich wusste sie nicht.
Klara saß auf der Bettkante und starrte an die Tapete. Ich setzte mich zu ihr. Wir saßen eine Weile. Dann umarmte ich sie. Wir weinten nicht.
Früher, als Klara und ich im Gartenstreifen einen Ball kickten, stand er am Zaun. Er rauchte.
Wisst ihr, begann er, ich war auch mal Spieler, ein ganz großer war ich, das war… lass mich überlegen… 98 muss das gewesen sein! 1998, Mensch, bin ich alt. Im Waldstadion war das, 40.000 Menschen, kannst du dir das vorstellen?
Klara staunte und flüsterte mir etwas zu.
Wäre da nicht diese Knieverletzung gewesen, sagte er und trank einen Schluck Bier. Dann ging er die Verandatreppe hoch ins Wohnzimmer und widmete sich dem Fernseher: Richterin Barbara Salesch, Hör mal, wer da hämmert und wie sie alle hießen.
Gerade zeigten sie Auf Streife. Er dachte: Es muss wohl schon Nachmittag sein.
Wie viele Stunden hatte er? Zwei? Vier? Eine Weile würde sie außer Haus sein, das gab ihm Zeit. Zeit, Geheimbierkästen zu sortieren, Geheimschnäpse zu leeren, Geheimschubladen nachzufüllen. Alles musste man geheim halten bei dieser Frau. Und er müsste etwas essen, das auch. Nicht viel, ein Stück Kalbsfleisch, Zwiebeln, aber er müsste es selbst machen und etwas übrig lassen, das würde sie erwarten. Oder aber, er beseitigte nach dem Kochen alle Spuren, putzte blitzeblank, aber wie würde er sich dabei vorkommen, dachte er und verschob die gesamte Frage, indem er sich eine Zigarette aus der Schachtel nahm und sie sich im Türrahmen anzündete. Die Position war ausgeklügelt, hier konnte er einerseits verfolgen, was der Bildschirm ihm anbot, andererseits den Rauch an die freie Luft blasen, sodass sie es später nicht riechen würde. Waren die eigentlich echt, diese Fälle? Wahrscheinlich nicht. Aber sie spiegelten die Wahrheit wider, darum ging es, dachte Herr Fröhlich, echt kam auch er sich schon lange nicht vor.
Frau Fröhlich sah man selten. Um acht Uhr stieg sie ins Auto und um acht Uhr parkte sie ein. Obwohl sie im Salon Sechs-Stunden-Schichten hatte, blieb sie länger weg und machte Überstunden. Unbezahlt. Zu sich selbst sagte sie:
Das glaubt mir kein Mensch, kein Mensch glaubt mir das. Und: Die würden mich für verrückt halten. Oh, Gott, oh, Gott.
Wenn sie die Treppenstufen zur Haustür nahm, war ihr Blick angespannt und bevor sie den Schlüssel drehte, atmete sie tief durch. Einmal beobachtete Mutter sie durchs Badezimmerfenster, sah, wie sie volle Einkaufstüten aus dem Kofferraum lud und rief:
Guten Abend, Frau Fröhlich! Kann ich helfen?
Das ist lieb. Sie sind ja selbst beschäftigt mit den Kleinen.
Sind Sie sicher? Ich kann wirklich schnell raus!
Ach das bisschen hier, das kriege ich schon –
Hin, wollte Frau Fröhlich sagen, aber eine Gurke fiel vornüber. Und was machte Frau Fröhlich? Sie beugte sich zur Gurke hin, vergaß kurzerhand das Dutzend andere Lebensmittel in ihren Armen, und munter kullerte und purzelte es heraus: Lauchzwiebeln, Kochkartoffeln, Blattspinat und so weiter. Die Sauerei war angerichtet.
Ich komme!, eilte Mutter, ohne eine Antwort abzuwarten. Frau Fröhlich weinte. Einige Minuten lang schluchzte sie in allen möglichen Tonlagen und die überforderte Mutter stand da. Holte Toilettenpapier. Umarmte. Wartete:
Ist ja gut, sagte sie: Ist ja gut.
Und sie erfuhr es: Nämlich, dass Herr Fröhlich ein Trinker war der ganz üblen Sorte, und ja, dass er sie wohl auch, so deutete Frau Fröhlich es an, geschlagen hatte. Und sie – weiß Gott warum, war eine nette, talentierte, und, das sah Mutter in den Tränensäcken, dem feuchten Lächeln darunter, den zaghaften Versuchen, zurückzustreichen, liebenswürdige Frau, die sich das eben einfach antat.
Wenn Frau Fröhlich Haare schnitt, gab sie sich alle Mühe, nicht daran zu denken, was ihr Gatte tat. Sie wollte unbedingt, sie klammerte sich an den Wunsch, dass es ihr von Herzen egal wäre, wenigstens einige Stunden lang, wenigstens jetzt. Denn im Grunde war es das. Sie käme zurück, wenn sie zurückkäme und dann würde sie sehen: Wenn nichts passiert war, wozu all der Stress. Und wenn doch? Wenn doch? Dann würde sie sich früh genug damit beschäftigen, dachte Frau Fröhlich. Obwohl, so richtig dachte sie es nicht, denn diese Gedanken kamen und gingen seit Jahren, sie kannte sie auswendig und hatte schon lange keine Kontrolle mehr darüber. Sie lächelte einem jungen Mädel durch den Spiegel zu und tastete nach der gezackten Schere.
Und die Schule? Gehst du noch zur Schule? Meine Güte, ich kann das gar nicht mehr einschätzen…
Noch ein Jahr. Das Mädchen lächelte: Dann bin ich fertig.
Frau Fröhlich rückte ihren Kopf mit den Zeigefingern um einige Zentimeter aufwärts. Das war ein gutes Alter. Das Buffet, aus dem sie Konversationshäppchen wählen konnte, war unermesslich. Man musste nur ein paar Fetzen wie „Erfahrungen machen“ reinwerfen und freudig plätscherten die Träume.
Du hast ja alle Zeit der Welt, sagte sie und dachte, dass sie das auch gedacht hatte, damals. Jetzt war sie weg, die Zeit. Vor fünf oder zehn Jahren, war sich Frau Fröhlich sicher, hatte der liebe Gott sie verlassen. Seitdem ist er nicht zurückgekehrt. ‚Die ganze Sache‘, wie sie ihre Ehe vor Freundinnen (den wenigen, die sie noch hatte) betitelte, ließ es nicht anders zu. Wenn man mit einem Alkoholiker zusammenlebt, passiert etwas Seltsames: Alles andere beginnt zu verschwinden. Die Trinkerei wird von seinem Problem zum gemeinsamen Problem zum einzigen Problem, ohne dessen Lösung nichts geht. Gehen darf.
Es war schon oft so, dass er gelobt hatte, trocken zu werden. Er würde sich schließlich auch wünschen, dass es anders wäre. Er verfluchte sich und hasste sich. Er hatte Angst, dass sie ihn verlassen würde. Sie habe auch ein Recht auf Leben, sagte sie und er wusste, dass es stimmte.
Magdalena.
Er liebte Magdalena.
In der schweißgemoderten Stickluft einer örtlichen Turnhalle waren sie sich begegnet. Zusammen hatten sie Stangen für Volleyballnetze abgesteckt, beim offenen Training der Ü25. Er hatte eine hellbraune Lederjacke und kurzes, schwarzes Haar. Sportstudent im sechsten Semester. Im ersten Blickaustausch hatte keiner der beiden etwas Besonderes gesehen.
Nach der Stunde, mit der Gruppe im Gasthaus, waren beide bis zum Ende geblieben. Die Woche darauf und darauf auch wieder. Etwas an ihm sagte: Ich bin auf deiner Seite. Das gefiel ihr. Als die Lokaltüren schlossen, begleitete er sie den ganzen Weg. Irgendwann lud sie ihn hinauf. Ein Jahr darauf hatten sie geheiratet.
Magdalena.
Manchmal war er noch da, der Funken. Natürlich war er alt geworden, körperlich alt: Unter der Brust zählte sie dreizehn senkrechtgezogene Dehnungsstreifen. Am linken Oberschenkel drei, am rechten vier. Aus den Fusseln, die sie in ihrem Bauchnabel fand, hätte sie pro Monat zwei Socken stricken können. Trotzdem: Wenn er sein Shirt auszog, Jeans und Unterhose abstreifte, sich zu ihr legte, sie bedeckte, umarmte, ihren Hinterkopf küsste und sagte: Es tut mir leid; wenn er dann weinte, war alles vergessen. Frau Fröhlich liebte ihn. Sie müsste es einfach schaffen irgendwie… koste es auch ein ganzes Leben. So war die Liebe, dachte Frau Fröhlich und sagte:
Schon okay. Pscht, pscht… Schon, okay.
Er hatte es versucht.
Er ging von sich aus hinaus zum Einkaufscenter, spazierte, genoss die frische Luft. Der Wind. Sogar die Menschen, die ganzen Menschen. Kinder waren auf die Welt gekommen, Familien hergezogen. Alte Freunde saßen vor der Schänke, lachten über ihn oder zogen Fratzen. Herrn Fröhlich war das egal, es gab nur eins, das zählte: Veränderung.
Ich kann das, dachte Herr Fröhlich, ich kann das und ich werde es beweisen. Der Spargelverkäufer auf dem Center-Parkplatz sagte:
Du hast Glück, der Chef ist gerade gekommen. Warte ein bisschen, ich hole ihn her.
Und Herr Fröhlich wusste, dass es Schicksal war, aber er sagte:
Ein glücklicher Zufall.
In aller Knappheit schilderte er seine Notlage: nur vorübergehend und Erfahrung im Einzelhandel und voll motiviert und Verstärkung für ein tatkräftiges Team und so weiter. Der Vertrag war unterschrieben, an Ort und Stelle. Zuhause genehmigte er sich ein Glas. Eins. Nicht zwei, nicht drei, ein einziges. Augustiner-Hell. Ich habe es mir verdient, dachte er, ich habe den ersten Schritt gemacht, das war richtig. Bald werde ich zu den Anonymen Alkoholikern gehen, alles zu seiner Zeit, ich werde Hilfe suchen bei Gott, ich werde mich entschuldigen. Ich schulde es dem Leben. Ich habe mir so oft den Tod gewünscht, nicht nur aus Spaß, nicht nur einmal, ich habe es ernsthaft versucht, ich ging wie ein lebender Toter, das alles hat jetzt ein Ende, dachte Herr Fröhlich und nahm einen kalten Schluck und spürte, wie die kleinen Bläschen seinen Gaumen kitzelten und die herbe Note auf der Zunge und stieß leicht auf und musste fast darüber lachen, wie wenig Aufmerksamkeit er in all der Zeit dem Geschmack dieses Zeugs geschenkt hatte. Helles war viel zu wässrig! Hatte er anderes im Haus? Nein. Überhaupt, Bier war ja was! Der Gourmet in ihm war verloren. Er ging in den Keller, kam mit einer Flasche Rotwein wieder hoch und Frau Fröhlich stand fassungslos im Türrahmen. Was er sich denke. Ob er den Job habe. Immerhin. Gekocht? Ob er überhaupt verstehe, was er ihr damit antue, mit dieser Flasche. Ob er auch nur die geringste Ahnung davon habe. Ob sie ihm vollkommen egal sei.
Was diese Frau wieder für einen Aufstand machte.
Das war das erste Abend, an dem er sie schlug.
Es war noch hell draußen, als Frau Fröhlich, drei Tage nach dem Tod ihres Mannes, in der Einfahrt im Hof parkte. Sie schloss die Tür des stillen Hauses auf, zog Schuhe und Mantel aus, kochte Bohnen, briet Speck, aß auf, spülte ab und dann saß sie da. Immer noch hell. Fünf Uhr am Nachmittag. Vom Wohnzimmer her roch es nach Bier.
Zwei Tage war sie nicht zur Arbeit erschienen, zwei Nächte hatte sie geweint. Heute hatte sie wieder Haare geschnitten. Als sie sich, nach ihren vollbrachten sechs Stunden, die Tasche über die Schulter geschwungen hatte und sich verabschieden wollte, war ihre Chefin verdutzt: Willst du schon gehen?
Ist ja vorbei.
Keine Überstunden?
Kriege ich die bezahlt?
Bezahlt?
Bezahlt.
Aber das haben wir doch immer so gemacht. Na, dass die… freiwillig waren.
Frau Fröhlich nickte langsam: Gut, sagte sie: Dann ist immer jetzt vorbei.
Wenn Klara und ich abends im Garten waren, sahen wir Frau Fröhlich nun allein auf der Terrasse. Wir kickten uns den Ball seltener zu. Wenn wir es taten, schüttelte sie den Kopf über uns, als würde sie von einem Elf- und einer Neunjährigen erwarten, erwachsen zu werden. Wir sprachen nie mit ihr, einmal beschwerte sie sich bei Mutter über die Lautstärke. Die wiederum war überrascht, wie ausgewechselt sie wirkte; ein bisschen Trauer hing ihr aus den Augen, aber die Haut war röter und ihre Gangart befreiter. Plötzlich waren Gartenzaungespräche möglich. Zuerst über das Wetter, Kommunalpolitik, Sportvereine. Irgendwann erzählte Frau Fröhlich, dass auch sie sich mal eine Familie gewünscht hatte. Zwei Kinder wollte sie haben, einen Jungen und ein Mädchen. Sie lächelte verlegen und wischte sich die blondierten Strähnen aus der Stirn: Aber das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint.
Mutter lud sie zum Mittagessen ein, während wir in der Schule waren. Da sprudelte es aus Frau Fröhlich heraus.
Die erste Einladung in ein neues Wohnzimmer seit acht Jahren. Die Gewalt, die sie erlitten hatte, die Liebe, die sie verschenkte, die Angst, die sie hatte, ihren Mann zu verlassen. Die tiefe Erschütterung, als dieses Ereignis, Tod durch Alkohol, wirklich eingetreten war. Die Verwunderung, dass die Welt weiterging.
Auf seiner Bestattung, sagte sie, während sie in ihrer Kaffeetasse rührte, waren fünf Menschen. Ich. Meine Freundin. Drei Saufkollegen.
Und die Trauerarbeit?
Fangen wir nicht davon an.
Als Mutter in der Küche eine neue Kanne aufgoss, stach sie plötzlich ungeduldiges Mitleid. Sie sah in dieser fünfzigjährigen Frau, auf dessen Oberarm ein Herz-Tattoo sich in Schreibschrift faltete, auf einmal ein hilfloses Kind. Wie konzentriert sie aussah, wenn sie zuhörte, wie sorgfältig sie ihre Sätze sagte. Wie nervös sie war.
Sagen Sie mal, wie geht es denn jetzt weiter?
Weiter?
Na, da fällt doch was weg, nach so einem… Ereignis. Sie müssen es nicht wissen, aber… Irgendwie will diese Lücke schließlich gefüllt werden.
Frau Fröhlich sah aus dem Fenster: Nein. Nein, das weiß ich wirklich nicht.
Wir sahen sie Rasen mähen. Pflanzen gießen. Möbel putzen. In ihrer Einfahrt stapelten sich Wanduhren, Fotokalender und Deutschland-Flaggen, Mini-Kühlschränke, Zeitschriftenhalter und Zigarettenstopfmaschinen. Wir durften alles nach „Brauchbarem“ durchstöbern, bevor die Müllabfuhr es verlud. Wir hatten nichts gefunden.
Der Hausputz beschäftigte sie lange. Zähe Flecken tauchten auf, braune und gelbe. Trockene, klebrige weiße. Als sie die kleine Kachel abnahm, die zum Abflussrohr der Dusche führte, entdeckte sie einen halbvollen Flachmann. Es wurde warm. Der Sommer kam und sie war fertig.
Sie ging ins Café unseres Dorfes. Saß unter den Schirmen, nach Feierabend und bestellte Kaffee. Die Gespräche der anderen kreisten um Politik. Da waren die Einwanderer, da war die Globalisierung, da war die Hauptstraße oben, wo sie jetzt Fahrradwege hinpflanzen wollten. Die halbe Spur beschlagnahmten sie dafür. Dabei fuhr doch eh kaum jemand Fahrrad. Je später der Abend, desto lustiger wurden sie. Erzählten Geschichten aus ihrer Vergangenheit, lästerten über Arbeitskollegen, verfluchten die Städter. Tranken Apfelwein.
Sie setzte sich zu ihnen. Nicht von sich aus. Ein Mann in ihrem Alter, mit Sportjacke und Jeans, hatte sie gefragt.
Auch ein Glas?
Ach, ne.
Ach, komm.
Danke, wirklich.
Ich lad dich ein.
Ist gut.
Also, Prost.
Prost.
Im nächsten Monat erlebte Mutter Frau Fröhlich glücklich und seltener. Wieder kam sie erst nachts nach Hause: Gut für sie, dachte Mutter und widmete ihr keine weiteren Gedanken. Sie fühlte sich erleichtert. Sollte sie leben lernen.
Es war Herbst, als sie ihr mitteilte, dass sie ausziehen würde.
Wohin?
Zu Björn.
Björn Ralfschmitz.
Sie kennen sich?
Mutter zögerte. Sie dachte daran, wie Vater von Ralfschmitz‘ Eskapaden erzählte, der Unruhe, die er in seinen Stammtisch brachte, dem Rausschmiss, der irgendwann folgte: Lose, sagte sie.
Also dann, sagte Frau Fröhlich lächelnd.
Viel Glück.
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freiVERS | Maren Streich
monologfetzen für J.
wann kommen sie denn wieder?
naja, klar hierher
hm?
ach, freitag
freitag
nagut.
also das ist ja noch lange hin, wenn heute
heute ist dienstag
na dann habe ich ja einige tage
zu schaffen
so tage hintereinander immer
oder können sie nicht öfter kommen?
wäre einfacher
man wacht morgens auf und irgendein gesicht
irgendeins
immer ein anderes
sagt einem guten morgen
da wird man ja verrückt
das kann man sich ja nicht merken
also natürlich
sie schon, sie merke ich
merke ich mir
auf sie freue ich mich doch
//
und auf den jungen
ach, der junge
dieser junge
na wie heißt der schon
max ist das glaub ich
der ist noch so jung
ein ganz toller bursche
so hilfsbereit
hat immer zeit für mich
macht ja wirklich alles
sogar nägel lackieren wollte er machen
ist das nicht toll?
sowas nettes als bursche
aber das kann der nicht
(lacht)
ne das kann der doch nicht so nägel lackieren
ich mein
(wartet auf eine reaktion)
//
wieso kommen sie denn so selten?
naja meine liebe
also ich find sie machen das ja ganz lieb hier
geben sich schön mühe
sind ne ganz liebe
aber öfter könnten sie kommen
und sich mehr zeit nehmen für mich
die anderen die jammern doch nur so rum,
das ist doch nichts
das verstehe ich auch einfach nicht
tun sich die ganze zeit leid
die wollen doch gar nicht mehr
dabei geben sie sich hier so eine mühe
die ganze zeit
sind nur am rumrennen überall
wie sollen sie denn noch mehr zeit haben
was die sich vorstellen
versteh ich nicht
.
.
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freiTEXT | Mario Schemmerl
Wo ich hin muss, damit du nicht verschwindest
Im Bett, vor dem Einschlafen meine Hand in ihre zu legen ist beruhigend. M. fühlt sich warm an und meine Einsamkeit verschwindet ein wenig. Vor ihr gab es keine Person, mit der ich das konnte. Jede Nacht verbrachte ich alleine in meinem Bett. Bücher waren meine Gesellschaft. Am Nachtkästchen lagen ein paar und manchmal auch neben mir im Bett. Ich habe Romane über Liebe und Krieg gelesen. Wenn ich nicht imstande war das Brennen in meiner Brust mit Literatur zu besänftigten, oder die Glut zwischen den Seiten beheimaten konnte, hielt ich es nicht mehr in meiner Wohnung aus und stieg zu späten Uhrzeiten in das Auto. Fuhr ohne ein Ziel über Landstraßen in die Dunkelheit der Nacht. Es war mir egal wohin, ich fuhr Schleifen über die Dörfer, bis ich einen Knoten zog und wieder zuhause ankam. In derlei Stimmung verfallen mied ich die Stadt. Dort zogen mich die Lichter zu sehr an. Damals hatte ich schon genug Nächte an Bars oder in Diskotheken hinter mich gebracht, um zu wissen, wie es am nächsten Morgen mit mir aussah und vor allem, wozu ich im Stande war. Am Land gab es nur ab und an einen Baum, einen schönen großen alten Stamm, von dem ich mir ausmalte, wie es wäre in ihn zu krachen. Diese Ausfahrten liegen eine Zeit zurück und M. jede Nacht neben mir.
Zwillinge kennen keine Grenzen, der Tod ist nur ein weiterer Verbindungsstrang. Und alles hängt an deinem Verlust, und die Angst, immer weniger damit zu tun zu haben, gefühlt nicht mehr an dich gekettet zu sein. Versuche ich gerade dir ein Denkmal zu erschreiben? Ein normales Leben wäre schön, aber das existiert nur mit dir, und jetzt, Jahre nach deinem Ableben, ohne dich, fühlt sich nach wie vor wenig normal an. Wir waren 15. Der Aufbruch des Lebens startete und plötzlich stirbst du einfach. In diesem Augenblick ließ ich von der Jugend ab und rutschte wie ein fetter Erwachsener, die Badehose in die Arschritze geklemmt, an der Kindheit vorbei.
Ich habe wieder neue Kollegen. Ein paar von ihnen habe ich von dir erzählt. Du liegst mir eben auf der Zunge und dein Name auf meinem linken Unterarm ist auch noch da. Meistens geht es um die Zeit ohne dich und nicht um das, was du erlebt hast. Meist schauen mich die Menschen, denen ich von meinem toten Zwillingsbruder erzähle, betroffen an, werden still oder sagen sowas wie: jeder hat sein Packerl zu tragen. Ja das stimmt, jeder hat seine Geschichte, sag ich dann. Ich werde schweigsamer, was dich betrifft. Gebe weniger von dir preis, dadurch weniger von mir. In der alten Firma war ich irgendwann sehr offen zu einigen Menschen. Hatte aber bald das Gefühl, dass sie nichts verstanden von dem, was ich sagte. Ich setze mich lieber hin und schreibe ein verdammtes Buch, auf das jeder Zugriff hat. Über alles zu schreiben ist mir während des Schreibens nicht peinlich. Aber danach, wenn ich es lese, frage ich mich, ob ich dir gerecht geworden bin. Meine Gedanken sind schwer, bis jemand wie H., mein Sitznachbar in der Literatur-Akademie sagt: „Wie geil ist es jung zu sein.“ Er gehört zu den ältesten in der Runde, ist introvertiert und überraschte mich mit einem Instagram-Video, in dem Jugendliche wie aufgedreht zu Techno-Musik tanzen. H. wiederholt den Satz und ich sage, ja, du hast recht. Ich denke an all die jungen Menschen, die so missverstanden werden von Leuten wie mir, die vergessen haben, wie es ist, einfach nur jung zu sein, geil zu sein auf Spaß und das Leben.
Fortgehen ist für mich ein Graus geworden. Nach der ersten Weihnachtsfeier mit meinen neuen Kollegen war wieder so ein Abend. Anscheinend bin ich einer von den Typen, die man nach dem Essen fix mit einrechnet. Ab dem zweiten Bier geht’s, obwohl ich kaum noch Bier trinke, weil es mich aufbläht und mir am nächsten Tag davon übel wird. Die Zeiten, in denen ich stolz mit den besten Trinkern mitgehalten habe, sind vorüber. Ich muss mich zwingen nicht um 20 Uhr einen lautlosen Abgang anzutreten und rutsche mit den Leuten mit. Zugegeben, es war ganz lustig, bis dann wieder dieses Lied einsetzt. Mit dieser Melodie endet etwas von dem, was ich gerade bin. Sofort bin ich in der Jugend. In der Zeit, die ich großteils ohne dich verbracht habe. Mit 15 wuchs in uns eine Hoffnung, die uns verhieß, dass es nun endlich losgehen wird, dass sich endlich etwas anbahnt. Und dann bist du weg, einfach so. Verdammt nochmal, wo befindet sich meine Seele, während mein Körper übertrieben und tollpatschig auf der Tanzfläche dazu tanzt. Bei deinem Begräbnis hat G. den CD-Player bedient, die Techno-Musik abgespielt, und genau dieses Lied war eines davon. Bei Gigi D’Agostino hat er so viel geweint, und alle meinten später, dass er das großartig gemacht hat. Ich habe keine Träne vergossen bis wir, die Familie, dein Begräbnis als erster verlassen haben. Dieses Lied wird heute noch todsicher immer gespielt, wenn ich in einer Disko wie dieser lande.
Unsere Erwartungshaltung an die bescheuerten Tage waren niedrig, aber mit dem Einbruch der Nacht und den Techno-Sounds, die wir in unserem Zimmer abspielten, wummerte die Fassade der Ödnis von uns ab. Obwohl du wegen deiner Erkrankung keinen Alkohol trinken sollst, hast du das Fortgehen geliebt. Unsere Eltern meinten, ich muss auf dich aufpassen, das hat unsere Mutter auch zu G. gesagt, weil ihr beiden bald nur noch zu zweit unterwegs wart. Ich bin mir sicher, dass er das gut gemacht hat, weil er dasselbe wollte wie du, jung sein. Tanzen und trinken ohne Rücksicht auf Verluste. Unsere ersten Erfahrungen haben wir im Wohnzimmer gemacht. Gerade einmal 14 Jahre waren wir, als wir gemeinsam mit Leuten von unserer Klasse herausfinden wollten, ob das auch stimmt, was man sich erzählt. Der Kellner hat wirklich nicht nach unseren Ausweisen gefragt und uns unsere ersten Getränke in einem Lokal serviert. Wir tranken Flügerl, die einfach nur süß waren und dachten, das ist es also. Immer öfter schafften wir es an Alkopops wie Eristoff Ice zu kommen. Bald auch zu den stärkeren Eristoff Black oder Red. Wir haben uns gestylt um gemeinsam im Hof oder im Park mit unseren Schulkollegen zu trinken. Gel in die Haare geschmiert, die Spitzen aufgestellt. Du hast sogar deine Vordersträhnen blondiert und G. hat einen draufgesetzt, indem er sich einen Kranz machte und spitz aufstellte. Wenn er sie nicht hochgelte, sah er wie ein Streifenhörnchen aus. Bald erfuhren wir vom Eastside in der Stadt. Du hast zu mir gesagt, sag einfach, dass du 1985 geboren bist, dann geht das schon. Ich hatte irrsinnige Angst, dass ich der einzige bin, der nicht reinkommt, weil ich so jung aussah und keine Strähnen hatte. Aber alles war, wie du prophezeit hast. Eigentlich waren wir ziemliche Proleten, eben Jugendliche unserer Gegend, wir trugen, was angesagt war. Smog- und Fishbone-Kleidung, eine Eastpak-Gürteltasche. Ziemlich heftig aus heutiger Sicht, aber wir hatten Spaß. Man wird dem, was man gut findet, ähnlich, es ist eine aufregende Zeit, man strebt nach vorne, aber nicht zu sehr, weil man im Augenblick leben möchte. Ich habe mich unwohl gefühlt, und du hast dein Element gefunden. Ein paar Mal hattest du noch die Gelegenheit, Party zu machen, meist mit G., weniger mit mir. Ich war dir irgendwie hinterher, obwohl ich vier Minuten älter bin als du. Im Bett, in unserem Zimmer, hast du mir erzählt, wie es ist ein Mädchen zu küssen, es zwischen den Beinen zu berühren und ich konnte nicht fassen, dass du das alles weißt. Ich war so weit weg davon und du schon so mittendrin.
Jetzt kann ich von meinem ersten Zungenkuss erzählen. Er war mit Alice. Sie zog mich aus einer Dorfdiskothek raus. Ich glaube, G. und J. waren dabei und sie hatte noch eine Freundin bei sich. Alice war die Schüchterne und die andere, ich habe ihren Namen vergessen, die Wilde, auf die es J. abgesehen hatte und nichts daraus wurde. Alice hatte ein Piercing zwischen Unterlippe und Kinn, obwohl sie erst 16 war, genauso alt wie ich. Ich weiß noch, wie süß ich sie fand. Sie hatte blonde Haare und lebte in Neuseeland. Sie verbrachte ihre Ferien in Österreich bei ihrer Oma, die sie an diesem Abend auch bald abholen würde, was wohl auch der Grund war, warum sie reagierte und mich aus der Disko zog. Sie reagierte, weil sie spürte, dass ich die Chance nicht erkannte, absolut nicht mit der Gunst des Augenblicks umgehen konnte. Wiedermal spielten sie diesen Gigi D’Agostino und da bin ich einfach nur traurig und böse auf die Welt. Im Freien, in einem dunklen Winkel, waren meine Hände in ihrer Hose, auf ihren Pobacken gelandet und dort vereist. Ihre Haut zu spüren, ihre Zunge in meinem Mund und meine in ihrem, zu fühlen, wie sehr sie es wollte, hat Gigi gekillt. Wir verabredeten uns ein paar Mal zum Kinogehen. Wir waren immer schüchtern, und immer war ich nervös, ob sie auch so schön aussehe, wie ich sie in Erinnerung habe, und ich fragte mich immer, ob wir uns wieder küssen und ob ich sie wieder halten darf. Wenn uns keine Zeit mehr blieb, ihre Oma sie bald abholte, dann fanden wir einen Platz, an dem wir uns küssen und streicheln konnten. Einmal hatte sie eine Freundin mit und ich G. Sie hat überhaupt nicht zu ihm gepasst, wenigstens konnte ich ihm Alice noch einmal zeigen – dass es jemanden gibt, den ich küssen kann. Bald musste sie nach Hause fliegen. Ich habe mich nicht mal ordentlich von ihr verabschiedet. Wir haben uns E-Mails geschrieben, sie hat mir Fotos gesendet. Einmal hat mich sogar ihre große Schwester angerufen, mit der ich mich auf Englisch unterhalten musste. Ich malte mir aus, wie es mit Alice sein kann, dort in Neuseeland, das ist ein gutes Land, das sagen alle. Ein paar Mails später erschien immer öfter ein Junge neben ihr. Er war sportlicher und reifer als ich. Bald ein schwarzweißes Bild mit einem Böhnchen, schlafend in einer Wolke. Ich sagte, ich freue mich für sie, und unser Kontakt endete damit. Wohin hätte es mich im Leben getragen, wäre ich nicht so kaputt gewesen und du da um mir Ratschläge zu geben.
Es gab keine Mädchen mehr, die mich rauszogen, mich auswählten. Die Leichtigkeit wich wie die Aufbruchstimmung. Mein erstes Mal war eine Peinlichkeit, nicht weil ich versagte, sondern weil es sich wie Selbstmissbrauch anfühlte und ich ein paar Scheine auf ein Nachtkästchen legte. Ich sehe sie vor mir, und möchte kein weiteres Wort darüber verlieren. Ich habe an dieser Tür geläutet. Und alles war anders, als ich mir es vorstellte. Ich war 17, und zu jung dafür, hatte aber das Geld parat. Ich wusste nicht, was geschieht, ich zog mit und war schlussendlich froh erfahren zu haben, wie das läuft. Ich hatte keinerlei Anziehung verspürt, es war völlig automatisiert und ich konnte jahrelang nicht den Weg zu einem gesunden körperlichen Austausch finden. Meine Einsamkeit war ab einem gewissen Zeitpunkt von mir gewählt. Ich wollte nichts Schönes erleben, nichts was du nicht auch konntest. Niemand kann verstehen, was Gigi D’Agostino mit mir anrichtet. Wenn man das Lied hört, alle tanzen, alle sind jung, und ich denke an dein Begräbnis und G. Vater hat uns eine schwarze CD gebrannt. Am Cover ist dein Gesicht in blauen Farben. Ich weiß nicht, was er dabei empfand, aber ich habe von Joan Didion Blaue Stunden gelesen, und erkenne die Symbole der Traurigkeit darin. Vielleicht hat er auf ein Gefühl gehört, das du ihm gegeben hast. Ließ sich davon leiten und damit etwas von Bedeutung entstehen. Ich spüre dich auch, und ich glaube, dass es ok ist von dir zu schreiben und auf diese Weise über unser Leben zu berichten. Es ist gut zu wissen, was einen kaputtmacht, welcher Schicksalsschlag einem das Leben erschwert, denke ich.
An einem Tiefpunkt angekommen, habe ich mir fest vorgenommen kein Tastenwichser zu bleiben. Nicht so eine Person, die nur ein fiktives Sexualleben hat, keine echte leidenschaftliche Beziehung kennt. Als ich so einsam war, mich nicht berühren lassen konnte, chattete ich viel und fand unter anderem eine Frau in meinem Alter, die ähnlich veranlagt war wie ich. Wir unterhielten uns nicht über unsere Seelenzustände, wir hatten Cybersex und Telefonsex. Sie hat damit angefangen und wir hatten an freien Tagen mehrmals am Tag etwas gemacht. Wir schickten uns auch obszöne Bilder und Videos. Sie meinte, sie stehe auf Körperflüssigkeiten und vor allem auf Sperma in ihrem Mund, sie wäre ein Succubus, ein weiblicher lüsterner Dämon, der sich einen Mann sucht um alles aus ihm rauszusaugen, ich werde schon sehen. Auf ihren Fotos war ihre Neigung zum Dunklen gut erkennbar, sie gefiel mir sehr gut. Ihre Worte waren bald meine Gedanken. Sie schockierte mich damit, und ich dachte nur, hurra, jetzt gehöre ich endgültig zu den Perversen. Irgendwann werde ich sie besuchen, habe ich gesagt, sie richtig rannehmen. Wir hatten schon einen Tag ausgemacht, sie meinte nur, endlich, sie rasiere sich gleich überall und hat auch schon ihrem homosexuellen Bruder von mir erzählt, der sich für sie freut endlich einen gescheiten Typen kennengelernt zu haben. Ich fühlte mich geschmeichelt, hatte aber bis zur Abfahrt eindeutig zu viel gewichst, so dass ich absolut keine Lust mehr dazu hatte und die Verbindung abbrach. Außerdem wären es mindestens zwei Stunden Fahrt gewesen. Ich wollte kein Tastenwichser sein, aber am schlimmsten war für mich die Realität der Berührung, der ich mich auf keinen Fall aussetzen wollte. Ich habe ihre Nummer blockiert und gelöscht, damit ich nicht auf blöde Gedanke komme. Ich denke heute an sie und finde es schade, dass wir uns nie im echten Leben begegnet sind.
Gestern habe ich am Abend M. einiges erzählt, was sie nicht von mir wusste, weil ich es ihr nicht zumuten wollte, weil ich es mir nicht zumuten wollte. Sie meinte, wir sollten über unser Sexualleben sprechen, da es zurzeit sehr stockt. Schweigsam hörte sie zu, wie ich ihr erzählte, dass ich oft dafür bezahlt habe mit einer Frau zu schlafen, und wenn nicht, ich es nur im Rausch konnte und dann sehr exzessiv. Dass mir alles, was mit Berührung zu tun hat sehr schwer fällt, ich keinen normalen Werdegang, wenn man es so nennen will, durchlaufen bin. Manchmal hatte ich monatelang keine Berührung, frönte einzig der Selbstbefriedigung, bis der Penis zu sehr schmerzte und ich die Abgründe des Internets satt hatte. Jetzt zögere ich weiter zu denken, den alten Tagen und was darin liegt zu folgen. So schlimm es erscheinen mag – oder vielleicht ist es für manche gar nicht so schlimm – ich muss dorthin, sonst verschwindet etwas von mir, was auch dich beheimatet, denn es wäre nie geschehen. Vielleicht verforme ich sogar mein Leben, würde ich alles dem Vergessen hingeben. Auf eine Weise, die dich ungeboren macht. Wenn ich es nicht tue, nicht darüber schreibe, dann bin ich nichts mehr und selbst nicht auf die Welt gekommen. An manchen Tagen ist das eine verlockende Vorstellung, aber was wäre die Konsequenz einer solchen Auslöschung? Dein Tod und deine Erlebnisse wären sinnlos, wie auch meine Scham und ihre urheberische Kraft der Schande. Ich muss weiter vordringen in die Erinnerungen, sonst gäbe es Alice und M. nicht. Das ist meine Identitätsfrage. Wer bin ich? Ein Zwilling? Noch immer? Darf ich leben? Oder bin ich sogar verpflichtet dazu, es so intensiv wie möglich zu gestalten? Aber, ich fühle mich doch am wohlsten, wenn nichts oder wenig geschieht. Dabei kann ich mich auch am besten hinwenden und schreiben. Habe ich ein Loch gestopft, reißt auch schon das nächste auf. Das ist wie mit den Unterhosen und Socken, die werden alle kaputt, ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber die haben früher länger gehalten.
M. und ich finden es beide schön auf der Couch einzuschlafen, während die Sonne durch die halbaufgedrehten Jalousien in die Wohnung strahlt. Meist brauchen wir einen zweiten Versuch um richtig zu liegen. Ihr schmerzt entweder eine Schulter oder das Genick, und ich bin ungelenk und mag es nicht, wenn mir was auf der Hüfte liegt, besonders auf dem rechten Hüftknochen. Wir fühlen uns manchmal alt, obwohl wir erst über 30 sind. Ein Singer-Songwriter-Lied baut eine gefühlvolle Stimmung auf, in der wir halb einschlafen, halb wachen, uns mit den Klängen in einen Frieden fallen lassen können. Meine Hand ist auf ihrem Gesäß oder auf ihrem Bauch, oder unter ihrem Leibchen auf einer Brust. Ich kann sie von der Seite ansehen, wenn ich die Augen aufmache, sehen, wie schön sie ist, oder an ihrem Hals riechen, wie ich es am liebsten tue. Oder einfach in ihre dichten schwarzen Haare sehen, die einem die Luft rauben können, wenn sie über einen baumeln. Ich habe eine halbe Erektion, spüre die Begierde, die mich durchdringt. Denke an unsere Zeit, in der wir jeden Tag nackt aneinander geschmiegt waren, es wie wild trieben, andauernd die schweißgetränkte Bettdecke wechseln mussten. Denke an die Waschmaschine, die Dusche, die Küchenzeile, den Esstisch, den Boden, ihren Ellbogen, ihre Achseln, ihr Geschlecht vor meinem Gesicht und ihren Gesichtsausdruck, wenn ich in ihr war. In diesen Augenblicken habe ich kein Verlangen nach Sex, noch bin ich bedürftig, ich fühle mich ihr ganz hingegeben und ich fühle sie mir hingegeben, aus freien Stücken, auf liebevolle und zärtliche Weise.
Das wollte ich dir erzählen.
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freiVERS | Annouk Hombach
im westen, jeden morgen
jeden morgen
gucke ich auf twitter
t.c. boyle zu
wie er aufwacht
jeden morgen macht t.c. boyle
ein bild von seiner straßenecke
immer leicht nach links schwenkt sie
ein bild von seinem dauergewellten hund
der vorne wie hinten gleich aussieht
einem ei, geschlossen, als rührei und als spiegelei
der los angeles times
und manchmal einer ratte, hinter gittern
immer eine neue, er zählt sie
t.c. boyle
ist aufgewacht
die ratten sitzen im käfig
schreibt die los angeles times
der hund spielt mit dem ei
ein kurzer blick noch zur straßenecke
dabei will ich twitter
längst verlassen haben
.
.
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freiTEXT | Adrian Brauneis
Der Gott der Ameisen
“I come here to discuss a piece of business with you, and whadda you gonna do? You gonna tell me fairy tales?”
Thief (1981)
Es war einmal vor langer Zeit, und vor langer Zeit war eine vorwitzige Ameise, eine Ameise, die hat nicht glauben wollen, dass es Gott im Himmel gibt.
„Immer soll ich nur arbeiten!“, hat diese vorwitzige Ameise gesagt und hat dann gesagt: „Nie darf ich faul auf meinem Rücken liegen!“ Da hat die vorwitzige Ameise gesagt: „Erklärt mir das!“
„Wir Ameisen, wir arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag, weil Gott im Himmel es so gefällt“, haben alle gläubigen Ameisen der vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen.
„Erklärt mir das!“, sagte da diese vorwitzige Ameise. „Nie kriege ich meinen Willen.“ hat die vorwitzige Ameise dann gesagt. „Immer soll ich nur machen, was Gott im Himmel gefällt!“
„Wir Ameisen, wir arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag, weil Gott im Himmel es gefällt, dass es die Natur der Ameise ist, zu arbeiten, tagein, tagaus, den lieben langen Tag“, haben alle gläubigen Ameisen der vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen.
„Erklärt mir das!“, sagte da diese vorwitzige Ameise. „Wie soll es denn meine Natur sein?“, hat die vorwitzige Ameise jetzt gesagt, „wenn ich es ja nicht will!“ Und hat dann gesagt: „Ich will nicht mehr arbeiten!“
„Hüte dich!“, haben alle gläubigen Ameisen zu dieser vorwitzigen Ameise da gesagt, die nicht hat glauben wollen. „Hüte dich… vor Gottes Zorn!“
Doch da erwiderte die vorwitzige Ameise: „An euren Gott glaube ich nicht!“ Und sie arbeitete nicht mehr, dass alle sehen sollten, dass sie wirklich einen ganz eigenen Willen hatte.
Als die vorwitzige Ameise nicht mehr arbeitete, da war wohl ein großes Ach und Weh unter allen gläubigen Ameisen in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt. „Gott wird die vorwitzige Ameise bestrafen!“, sagten sich alle gläubigen Ameisen. Aber Gott bestrafte sie nicht. Nichts tuend lag die vorwitzige Ameise bloß auf ihrem Rücken in der immer gleichen Luft und unter der immer gleichen Sonne unserer kleinen Ameisenwelt.
Was geschah? Alle Ameisen sagten sich nun: „Auch ich habe einen ganz eigenen Willen und will nicht mehr arbeiten!“ Da lagen bald alle Ameisen faul auf ihrem Rücken in der immer gleichen Luft und unter der immer gleichen Sonne unserer kleinen Ameisenwelt.
Jede Ameise ging jetzt nur noch ganz allein für sich zu dem Platz, wo wir in unserer kleinen Ameisenwelt von jeher immer etwas Süßes finden. Da holte sich jede Ameise jetzt nur noch ganz allein für sich eine süße Leckerei. Und dann lag jede Ameise wieder ganz allein für sich auf ihrem Rücken und jede Ameise freute sich, nun einen ganz eigenen Willen zu haben.
So ging es zu, dass alle Ameisen allmählich alt wurden, solange geschah da nichts mehr in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt.
Das wäre wohl das Ende gewesen, was glaubt ihr? Da donnerte es plötzlich, und donnerte ein zweites Mal und donnerte ein drittes Mal. Und dann bebte die Erde und in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt geriet alles durcheinander, so wild flog da die Erde durch die immer gleiche Luft unserer kleinen Ameisenwelt. Und unsere immer gleiche Sonne hob sich hinfort, hoch in den Himmel hinweg, und alle Ameisen zitterten, so dunkel und so kalt war es nie gewesen in den vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt.
Da hatten alle Ameisen Angst und sagten: „Das ist Gottes Zorn! Ameisen sollten arbeiten, wie es ihre Natur ist und Gott im Himmel gefällt!“ Und sie zeigten auf die vorwitzige Ameise, die nicht hatte glauben wollen, und sagten: „Die vorwitzige Ameise! Mit einem freien Willen hat sie uns verführt!“
Die Ameisen hatten also ihren Glauben wieder. Und so schnappten sie sich die vorwitzige Ameise, die nicht hatte glauben wollen, und alle zusammen rissen sie sie in viele kleine Stücke.
Da kam die Sonne wieder herab und da bebte die Erde nicht mehr und da donnerte es auch nicht mehr. Und seither herrscht wieder lieber Friede in allen vier Ecken unserer kleinen Ameisenwelt. Denn seither arbeiteten ja alle Ameisen wieder. Fleißig arbeiteten sie alle wieder, so, wie es die Natur der Ameise ist, dass ihr Anblick Gott im Himmel ein Wohlgefallen war.
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freiVERS | Philipp Létranger
brache
mit den jahren
wächst das gewicht der worte
die du versäumt hast
auszusprechen kein gras grünt
dort wo sie liegen
streckt sich der raum ins dürre
die lippen
kennen die wege nicht mehr
die einmal verbanden
und du findest nicht halt
an den schroffen brüchen
der erinnerung
nur selten erinnerst du dich
an die tage
als das netz der worte
dicht geknüpft die träume fing
.
.
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