freiTEXT | Björn Potulski
Als ich diese Worte an dich las
Ihre Versuche, mich ins Wasser zu stoßen, scheiterten zumeist. Nicht jedoch immer. Mit Mühe haben sie es vor kurzem erst geschafft, mir zumindest meine neuen Schuhe zu verderben. Doch meistens schafften sie es nicht. Zu sorgfältig halte ich mich von allem fern, was Uferkanten hat, über die man stürzen könnte. Sie ärgern sich sehr über meine Vorsicht. Denn die Stadt hat Wasser! Beinahe überall. Sie hat drei Bäche, einen großen Teich im Park, zwei Flüsse und einen mittelgroßen Strom, mit dem alles dies in oberirdisch-offensichtlicher, oder wenigstens in untergründiger Verbindung steht. Also fehlte es ihnen nicht an Gelegenheiten, mich zum Wasser hinzustoßen. Und das versuchten sie, Tag für Tag. Immer, wenn ich rausging. Jetzt aber habe ich genug davon. Ich bleibe drinnen. Doch sie werden nicht von mir lassen. Immer wieder einmal schlage ich die Gardine ein Stück beiseite, gerade weit genug, damit mein Blick durch den Spalt nach draußen gehen kann: Unten stehen sie und warten. Ihre Beharrlichkeit im Warten ist dem Fluss des Wassers ebenbürtig.
Wo liegt nun meine Schuld? Liest man sie an meinen neuen Schuhen ab? – Aus braunem Leder sind sie, rundherum, die Sohlen auch, aus braunem Leder. Auch die Schnürsenkel sind braun, nicht aber aus Leder. Also gehört das nicht zur Schuld, denn die braunen Schnürsenkel sind aus Baumwolle. Baumwolle wird nass und trocknet. Auch das braune Leder trocknet. Doch es bleiben Wasserflecken.
Nach langer Zeit erst –. Nach langer Zeit erst hebt Vater seinen Blick von den Wasserflecken hoch. Und sticht mir damit in die Augen. – Nicht in die Augen, nein. Mehr in den Hals. Ja, in meinen Hals senkt Vater seinen Vorwurf ein, und das recht tief. Mir bleibt die Luft zum Atmen weg. Ist doch diese Luft seine Luft. Keine Luft, das ist wo die Schuld ist. Das ist, wo ich bin. Ich bin unter Wasser –. Flecken. Dabei – doch wollte ich es wagen, mich auch noch zu verteidigen?
Unaufhörlich dringt der Lärm der Stadt zu mir herein. Gefrorene Wasserbälle, die auf Blechdach krachen. So dringt der Lärm der Stadt zu mir herein und die Gedanken ihrer Bewohner. Ihre Selbstgespräche. Vorgehalten sind die Hände, zugezogen ist mein Fenstervorhang (und das Fenster dicht geschlossen!). – Mit der einen Hand halte ich die Gardine ein Stück offen, mit der anderen versuche ich festzuhalten, was ich draußen sehe, was ich höre. So kratzt die Feder über das Papier, das ich auf die Fensterbank lege, gehalten nur von einem rohen Stein.
Nun lässt sich nicht fortwährend hinter der Gardine stehen und zum Spalt hinaussehen. Niemand könnte das. Einige Verzagte mögen es versuchen, doch es sinkt der Arm, irgendwann, unweigerlich, es erschlafft die Hand, die den Spalt eröffnete. Zufallend werden sie gesondert, hinter dem zugehängten Fenster: sie drinnen, wo sie mit ihrer Schuld verharren, abgesondert von dem Draußen, wo man wartet, mit der Ausdauer, die das Wasser hat in seinem Fließen. Auch lässt sich nicht fortwährend schreiben, immer weiterschreiben, so sehr ich es versuche (immer, sogar dann, wenn ich nicht an der Gardine stehe). Sie, sie versuchen es nicht. Ich, ich versuche es. Und erlahme. Hebe die Feder von dem Blatt. Es stockt der Fluss der schwarzen Tinte. Und versiegt. Dann gibt es nur noch draußen sie und drinnen mich. Drinnen? –
Ich liege. Liege auf dem Grund; liege auf dem Rücken und es strömt über mich hinweg. Ein wenig nimmt es mich wohl auch in seine Richtung mit, das teilen mir die Brocken mit, die das Bett des Flusses kleiden. Mein Hinterkopf stößt an rohen Stein. Der Stein empfängt den Kopf mit dem äußersten an Sanftheit, zu dem der Stein die Möglichkeit besitzt. Das hintere meines Kopfes gleitet nicht darüber weg, solche Sanftheit liegt nicht darin – ich stoße immer wieder an, der Stoß hebt ihn ein wenig in die Höhe, bis das Hindernis überwunden ist und er wieder sinken kann, mein Kopf. Eben wollte ich mir – das Entsetzen war schon im Begriff, mich loszulassen – eben hatte ich beschlossen, mich in meiner Lage einzurichten, als ich schon wieder daraus hervor gerissen werde: Papiere treiben. In langer Kolonne treiben Sie über mich hinweg. Die Papiere überholen mich, treiben sie doch ungehindert von den Steinen und der Schwere an der Oberfläche hin, unter der ich liege. Auf dem Weißen erahne ich noch meine Hand in schwarzer Tinte. Auf den Wellen tanzt sie – für mich unerreichbar, so sehr ich mich auch danach Strecke. Und es würde auch nichts bleiben, um danach zu greifen – die Schrift beginnt schon, sich von dem Papier zu lösen. Sie geht ins Wasser über und was konnte ich da tun? Ich sog sie ein, durch meinen Mund, den ich jetzt weit aufriss. Die Schrift schmeckte scharf und bitter. Und ich sog sie durch die Nase ein – sie lässt mich husten, wie der Rauch in meinem Zimmer, den der Brand der Blätter macht, die ich beschrieben habe. Eines aber, eines sehe ich noch im Fließen, im Zerfließen, etwas kann ich wohl entziffern: „Nein“. – Und ich denke ganz bei mir, hier unten: so sehr du dich dagegen sträubst – sie greifen doch nach dir, sie kriegen dich zu fassen und sie packen dich mit ihrem festen Griff. Und sie zerren dich empor zu sich. Hinauf, an ihre Luft.
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freiTEXT | Eugen Fuchs
Das deutsche Butterbrot
Einem deutschen Butterbrot begegnete ich zuerst in der Grundschule beim gemeinsamen Frühstück. Die Eltern meiner Mitschüler waren da und belegten fleißig Brote. Egal ob mit Käse oder Wurst – zuerst kam immer die Schicht Butter. Bei uns zuhause war das anders – da kam die Wurst direkt aufs Brot.
Das nächste entscheidende Ereignis, das mich davon überzeugen ließ, dass auf einem deutschen Brot Butter zu sein hat, folgte in der Orientierungsstufe. Da machte meine Mutter mir noch das Pausenfrühstück: Geröstetes Toastbrot und immer zwei Scheiben Aufschnitt, meist Mortadella, sonst nichts. So wie wir da in der ersten großen Pause auf dem Hof standen und unsere Schnitten verzehrten, hatte einer meiner Mitschüler oft was an meinen Broten zu bemängeln. Es war ein sehr großer, dicker Junge, bereits mit zwölf hatte er am Kinn einen blonden Flaum von Bart. Seine Mutter war alleinerziehend und man wusste, dass sie wenig Geld hatte. Er schüttelte oft seinen Kopf über meine Brote.
„Zwei Scheiben Aufschnitt“, sagte er, „Wenn man Butter nehmen würde, würde auch eine reichen und besser schmecken würde es auch!“
Ich wollte aber keine Butter auf meinem Brot, ich wollte eine zweite Scheibe Wurst.
Eines Morgens, meine Eltern und ich waren zu Besuch bei Freunden, beobachtete ich am Frühstückstisch, wie unsere Gastgeber, ebenfalls Spätaussiedler wie wir, sich Butter auf ihre Brote schmierten, bevor – und da staunte ich wirklich gar nicht schlecht – sie dann auf die Butter Nutella schmierten. Meine Schlussfolgerung war, dass diese Leute unglaublich integriert sein mussten, ja, kurz vor der Assimilation standen!
Auch auf dem Gymnasium sah ich meine Mitschüler solche deutschen Brote aus ihren Tupperdosen hervorholen. Wenn man sich in der Cafeteria ein belegtes Brötchen kaufte, kam das mit Butter.
So ging ich in meine erste Beziehung mit einer sehr genauen Vorstellung vom deutschen Essverhalten.
Zuerst sah ich meine Freundin nur am Wochenende, doch bald besuchte ich sie auch unter der Woche und irgendwann verbrachte ich jeden Nachmittag und Abend bei ihr. Da man ja auch etwas essen musste, setzten wir uns schließlich zum Abendbrot mit an den Esstisch. Zuhause aßen wir zu Abend meist Reste vom Mittagessen, mal ein Tiefkühlgericht oder machten uns auch schon mal ein Brot, doch wir nannten es Abendessen. Bei meiner Freundin gab es abends in der Woche immer Brot und Tee. Schon allein der Ausdruck „Abendbrot“ sagte mir, hier wird Brot ernst genommen.
So saßen wir also das erste Mal gemeinsam am Tisch. Es war eine lange Tafel, die wir gerade mal so zur Hälfte besetzten. Am Kopfende immer der Vater, neben mir meine Freundin, ihr gegenüber die Mutter, mir gegenüber der Bruder. Die Platte reichlich gedeckt mit weißen Brötchen und Vollkornbrot, Hähnchenbrustaufschnit, Schinkenwurst, Salami, Leberwurst, einem Stück Käse, daneben ein Käsehobel, Marmelade, Nutella, Frischkäse, einer Kanne schwarzen Tee, Milch, Zucker, doch Moment mal – wo war die Butter? Auf dem Tisch stand weder Butter noch Margarine. Das erste gemeinsame Essen mit der Familie meiner Freundin löste schon genug Nervosität in mir aus, nun drohte aber mein Weltbild ins Wanken zu kommen. Alle anderen waren schon längst beim Essen und ich saß da und glotzte den Tisch an. Um so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, griff ich zum Frischkäse und bestrich eine Brötchenhälfte damit, legte eine Scheibe Schinkenwurst darüber und biss hinein. Es schmeckte scheußlich. Ich würgte es herunter und schmierte mir noch eins. So machte ich es dann jeden Abend, Woche für Woche saß ich nervös am Tisch, sagte gar nichts, fühlte mich beobachtet und aß diese furchtbaren Brote.
Eines Abends, wir hatten gerade wieder gemeinsam gegessen, kuschelten meine Freundin und ich im Bett. Da fragte sie mich, ob ich bei ihnen auch satt werden würde und ob es auf dem Tisch an irgendetwas mangelte, das ich gern hätte.
„Weißt du“, sagte sie, „viele vermissen die Butter bei uns.“
Ich tat unbeeindruckt.
„Wir tun die Sachen so drauf“, sagte sie, „aber wenn du gerne Butter haben möchtest, Mama kann beim nächsten Einkauf gerne welche mitbringen.“
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich nie, wirklich nie darauf geachtet hatte, was die anderen gegessen hatten. Ich war so mit mir selbst beschäftigt gewesen, hatte solche Angst gehabt, anders zu sein, dass ich völlig blind geworden war.
„Aber du tust dir ja immer Frischkäse drauf“, sagte sie, „schmeckt das denn?“
„Oh ja, ich mag das gerne!“
Viele Jahre sind seitdem vergangen. Nie wieder habe ich ein Frischkäse-Schinkenwurst-Brot gegessen.
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freiTEXT | Jakob Klein
Die Wunde
Ich löste die Spalten einzeln vom Fruchtkörper der Orange, sodass der Saft durch die Zwischenräume der Finger bis über das Handgelenk rann. Ein Tropfen floss über die Kuppe meines rechten Zeigefingers in die Wunde, die ich mir vor kurzem zugezogen hatte. Es war nur ein schmaler Streifen Hornhaut am Nagelrand gewesen, an dem ich gedankenlos gezogen hatte. Jetzt, da der Orangensaft in die Öffnung trat, spürte ich sie deutlich. So deutlich, dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte.
Als ich die Wunde am nächsten Morgen immer noch spürte, begann ich mir Sorgen zu machen. Ich begutachtete die Stelle. Die Wunde war noch offen, die Haut rundherum war leicht gerötet und sie spannte ein bisschen. Ich verteilte etwas Zinkpaste darauf und umwickelte die Fingerkuppe mit einem Pflaster. Darunter spürte ich es pochen. Auf der Straße meinte ich, jeder müsste dieses Pochen hören.
Außer dass ich auf Zitrusfrüchte verzichtete, änderte sich zunächst an meinen äußeren Lebensumständen wenig. Ich turnte nach dem Aufstehen am Balkon, trank koffeinfreien Instantkaffee, nahm den Bus wie jeder andere auch. Bei der Arbeit baumelte ich im Bürostuhl und abends datete ich Tinder-Bekanntschaften. Weil ich aus Bequemlichkeit den Suchradius auf zwei Kilometer um meine Wohnung gesetzt hatte, kam es oft zu der unangenehmen Situation, dass wir im Gespräch gemeinsame Bekannte entdeckten. Meistens endeten diese Abende über einer Schüssel Wasabi-Nüsse beim Beobachten der Karaoke-Sänger. Ich musste dabei ungemein aufpassen, nicht meinen rechten Zeigefinger zu benutzen.
Trotz alledem gelang es mir, das kleine Ungemach, das mir die Wunde bereitete, zu vergessen. Eines Tages holte ich am Heimweg aus der Packstation eine Osmoseanlage ab. Ich wusste nicht, dass es so etwas überhaupt gab, geschweige denn, dass ich es bestellt hatte. Ich beschloss ab da nur noch gefiltertes Wasser zu trinken. Wieder einmal fragte ich mich, wie ich bisher überhaupt gelebt hatte. Sogar ins Restaurant nahm ich – in einem Flachmann in der Innentasche meines Parkas versteckt – eine geringe Menge davon mit. Zu dieser Zeit traf ich Marlies. Marlies war die erste Person mit Zöpfen, die ich kannte, die es schaffte, erwachsen auszusehen. Auch sie besaß eine Osmoseanlage. Als ich das herausfand, dachte ich wirklich, es könnte etwas werden. Was ich noch über sie herausfand: dass sie jeden Morgen eine Krill-Öl-Kapsel nahm. Dass sie aus Laibach kam. Dass sie in einer Bio-Schöpferei arbeitete.
„Büttenpapier bekommst du halt beim Tedi nicht.“ Marlies ließ ein Sashimistück zwischen ihren violetten Lippen verschwinden. Ich saß zu weit weg, aber ich stellte mir vor, dass sie nach Kleister roch.
„Was hast du da?“ Marlies deutete mit den Stäbchen auf meinen rechten Zeigefinger. Zunächst wusste ich nicht, was sie meinte. Da war es auch schon zu spät. Sie hielt den Finger in ihren Schöpfer-innenhänden. Ruckartig zog ich ihn zurück. Marlies sah mich an. Ich hatte plötzlich Durst und griff nach dem Flachmann. Ein Japaner mit glänzender Stirn keifte mich an. Die Wunde pochte.
„Alles ok?“ Ich nickte, konnte mich aber kaum rühren. Ich entschuldigte mich und verschwand im WC. Ich nahm das Pflaster ab und entdeckte, dass sich unterhalb der Wunde ein neuer Hautstreifen gebildet hatte. Ich zupfte daran. Mit einiger Mühe ließ er sich abziehen, wodurch sich die Wunde jedoch vergrößerte. Sie brannte; ich hatte Sojasauce an den Händen gehabt. Vor Schmerz zitternd hielt ich sie unter kaltes Wasser. Jemand kam. Hastig packte ich den Finger in Einwegtücher und ging nach Hause.
Zuhause kauerte ich mich dann mit einer Tube Zinkpaste auf mein Bett. Ich dachte daran, wie wir jetzt in Marlies‘ Küche sitzen und Wasser filtern könnten. Ich holte mein Handy heraus, setzte eine Nachricht auf, verwarf sie wieder. Auf der Website der Schöpferei bestellte ich einen Stoß Büttenpapier. In die Spalte „Spezielle Wünsche“ schrieb ich: Bitte verzeih mir. Dann wechselte ich das Pflaster. Beim Abspülen der Zinkpaste machte ich eine Entdeckung: Schorf. Ich versuchte ihn wegzukratzen. Es tat weh. Ich ließ es.
Dass ich morgen wieder arbeiten sollte, erschien mir absurd. Trotzdem kam es so.
Beim Tippen vermied ich die Tasten J, U und N. Leider war es nicht mehr Mai. Marlies schrieb nicht. Die Fingerkuppe war geschwollen. So ging es die nächsten drei Tage. Dann kam das Büttenpapier. Der Finger wurde größer. Ich ging zu meinem Hausarzt. Er nahm das Pflaster ab, spülte die Wunde und verband sie wieder. Danach schickte er mich nach Hause.
Unterdessen bereitete ich mich auf meinen Termin beim Dermatologen vor. Schon am Telefon hatte ich der Ordinationsassistentin klargemacht, dass es um Existentielles ging. In der Arbeit druckte ich – anstatt zu arbeiten – die Fotos der Wunde mit dem frischen Schorf aus. Ich vergrößerte sie und erhöhte den Kontrast, damit es unnatürlicher aussah. Ich heftete die Druckbögen zusammen, ordnete sie in eine Mappe ein und beschriftete sie mit Datum und Uhrzeit der Aufnahmen. Ich legte eine ganze Kartei solcher Mappen an. Noch nie hatte mir die Arbeit dermaßen Spaß gemacht.
Das Pflaster wechselte ich von nun an fünf Mal am Tag. Ich erinnerte die Ordinationsassistentin
mir sofort Bescheid zu geben, falls jemand ausfiel. Marlies reagierte nicht auf meine Nachrichten. Stattdessen wurden nun die Träume häufiger. In einem erklärte mir mein Hausarzt die Funktionsweise eines Beils, als wäre es eine neuartige medizinische Methode. In einem anderen rannte ich mit einem verletzten Vogel in der Innentasche meines Parkas durch eine Straße voller Schnellrestaurants. Immer wieder trat ein Japaner aus der Ladentüre hervor und keifte etwas, was den Vogel in Aufruhr versetzte. Es waren wirklich harte Nächte.
Am Morgen des Termins stand ich auf wie immer. Ich turnte, trank Instantkaffee und filterte das Wasser für den Tag. Beim ersten Wechseln des Pflasters hielt ich inne. Etwas war anders. Ich konnte zuerst nicht sagen was, also verteilte ich gewohnheitsmäßig ein wenig Zinkpaste und schnitt ein neues Pflaster zurecht. Doch etwas daran irritierte mich. Ich traf auf keine Unebenheiten auf der Oberfläche der Haut. Nach dem Abwaschen der Zinkpaste dann die Gewissheit: Die Wunde hatte sich über Nacht geschlossen…
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freiTEXT | Henni-Lisette Busch
Untersuchung des Drogenvokabulars auf sein poetisches Potenzial:
Nur das kann ich, denn ich saß am See, als sie hinter mir tanzten, oder am Feuer saßen auf der befleckten Matratze, oder im Auto auf den zurückgelehnten Vordersitzen mit Ketamin im Gehirn und tauben Synapsen. Du existierst dann nicht mehr, sagte mir einer von ihnen, nicht du, als wir auf der Matratze am Lagerfeuer saßen und du, nicht er, dich im Rausch auf meinen Schoß legtest. Du bist einfach nicht mehr da oder nur noch ein ganz kleines bisschen und das ist manchmal sehr erleichternd, sagte er. Ich legte meine Flasche Billigwein in den Rasen und kraulte deinen nicht vorhandenen Kopf. Du löst dich auf und bist an einem Ort, wo sich deine Nicht-Existenz anfühlt wie Apfelmus mit Vanillesoße und du lachtest in meinen Schoß.
Meine Hand eckte nach unten, stieß den Finger zwischen kleine, kalte Halme und kratzte in den Boden; das Stroboskop zuckte blau und weiß und grün und warf mit kantigen Schatten. Ich hielt ihm stand mit weiten Pupillen, die pulsierten wie die Bässe in der Luft aus Regen und die Musik jagte das Licht und ich saß am Feuer auf der Matratze, kopfloser Schoß.
Warum ich da war?
Kein ich, kein wir, nur atmen in Baumkronen und selbst gefühlte Unwichtigkeit. Letztendlich ist es egal, ob ich unter Schwarzlichtlampen oder in Hörsälen sitze, es ist auch egal, wie Apfelmus mit Vanillesoße schmeckt und das ist gar nicht pessimistisch gemeint, sagte ich dir in meinem Schoß, ob du existieren willst oder nicht, ist egal. Irgendwas passiert zwischen Kreißsaal und Krematorium, da hätten wir sie wieder, die Wörter mit K. Kaum kein Kind mehr, arbeitest du an deiner Karriere, bildest Kompetenzen aus, stichst Konkurrenten aus, wirst letztendlich von jeder KI übertrumpft, im Kapitalismus ist die Freizeit für Konsum und Kurzurlaube, dass Krieg herrscht und dass es sowas gibt wie Klimaerwärmung, musst du noch irgendwie deinen Kindern erklären und du musst weiterarbeiten an deiner Karriere, denn wenn du aufhörst, dich abzukämpfen, verlierst du den Anschluss, fällst erst durch Klausuren und dann auf deine Knie und zu viel Kaffee ist auch schlecht, Saufen bis zum Kotzen, Selbstzerstörung, dein Körper braucht zwar Kalorien, aber auch nicht zu viele, jemand in deiner Familie stirbt an Krebs und mit der Zeit werden deine Knochen porös und deine Kraft schwindet…
Das ist gar nicht pessimistisch gemeint und im Prinzip ist das auch nichts Neues, aber trotzdem kochst du abends, und trotzdem kannst du tanzen, und trotzdem kämpfst du weiter, weil du ein Lebenskünstler bist.
Ich wäre gerne ein Gedicht – hermetisch abgeriegelt, gegen Ks zum Beispiel, doch ich saß da unter der Schwarzlichtlampe und nahm keine Drogen, in ein paar Stunden werde ich wieder im Hörsaal sitzen und keine Notizen machen.
Den Schotterweg zu uns entlang stach das Scheinwerferlicht und dienstmüde Augen schweiften über Gesichter, bitte nur noch mit 30 bis 40 Dezibel und neben dem Deck lag was Buntes und ein bisschen Gras. Nicht-Existenzen sind lauter, als das Lärmschutzgesetz erlaubt, aber man konsumiert leise. Die Scheinwerfer stocherten durch die Dunkelheit zurück und still saß ich wieder am Feuer und dort in der Baumkrone hing das Licht.
Willst du auch?
Weiße Linie auf schwarzem Display. Später ging einer kotzen – nur wer fliegt, kann abstürzen. Ich schwenkte meine Flasche Billigwein gegen Lichtgezucke, fast leer. Auch Alkohol betäubt Synapsen. Alkohol trinke ich kaum, sagtest du, nicht mehr in meinem Schoß, sondern halb liegend neben mir. Der letzte, nachtkalte Schluck rann meine Kehle hinab und ich wendete meinen Kopf halb zu dir: wann legst du eigentlich auf, dann suchte ich mit dem Handytaschenlampenlicht einen Ort zum Pinkeln.
Solche Musik imprägniert die Seele, ich weiß nicht, ob ich tanzte, ich bewegte meinen Körper, aber vielleicht bewegte mich die Musik, Arme eckten um meinen Rumpf und meine Beine stießen in den Boden und da schoss eine Ratte zwischen zehn bis zwölf Fußpaare hindurch, oder war das nur so ein gejagter Schatten?
Weißt du, und du lehntest dich zu mir rüber, ich wäre mit meiner Musik gern wie ein Pilz, der sein Netz im Untergrund entfaltet und mit seinen Sporen ein Umdenken bewirkt, wartetest kurz nur auf meine Reaktion und gingst dann rüber zum Deck und auf dem kurzen Weg dorthin verschlangen das Bild psilocybinbedingte Muster. Ich weiß nicht, was du sahst, aber genau das sah ich.
Den Stoff, aus dem Träume gemacht sind,
stellte ich mir selber her. Beim Tanzen zu deiner Musik meditierte ich, Visuals hatte ich nicht, aber ich visualisierte und stell dir vor, traumeigene Bilder mit DMT zu kombinieren… Weder romantisiere ich, noch verpflichte ich mich zur Moral und ich muss mich nicht erst zum Dessert bekennen, um die Möglichkeiten einer Nicht-Existenz in Klammern poetisch auszuschöpfen und nicht mal lyrisch muss ich sein, wenn Prosa bunt genug ist und irgendwo im Damals und Dort tanzte ich auf Träumen…
Und dann – sah ich – am Horizont – die Sonne.
Stell den Sturm auf stumm und unmute die Musik.
Es war nach sechs, das Lärmschutzgesetz schob die Regler hoch und mit der steigenden Sonne verblasste das Schwarzlampenlicht und Gold befleckte meine Wangen. Deine Hand lag kühl auf meiner Hüfte und ich war erleichtert, kein Gedicht zu sein. Meine selbstgemachten Visuals waberten hinter verschlossenen Augen noch auf den Wellen meines Unterbewusstseins, dann und wann ein Schaumkamm, Steilküste, Blick in die Ferne, ein Schritt und du fällst in die Sehnsucht. Warst du mit deiner Musik wie ein Pilz, fragte ich dich und entnahm deinem Schweigen eine Erinnerungslücke. Nur wer schreiben will, muss sich erinnern, also: hier sind deine Gedanken, ich schenke sie dir zurück.
Der Stoff, aus dem Träume gemacht sind,
glitzerte noch im Sonnenlicht. Meine imprägnierte Seele
atmete wieder und du lehntest dich zu mir rüber, einfach so, ohne was zu sagen, wartetest auf keine Reaktion und ich weiß nicht, was du sahst, aber ich sah dort hinten auf dem Feld im Nebel einen Kranich stehen.
Willst du auch
einen heißen Tee? Du holtest die Thermoskanne aus dem Auto, während ich sitzen blieb am See, hinter mir saßen sie an der Glut auf der befleckten Matratze und als du wiederkamst, waren wir hier und meine Existenz fühlte sich an, wie Apfelmus mit Vanillesoße. Meine Hand glitt durch kleine, kalte Halme und ich blickte der Sonne entgegen mit kleinen Pupillen.
Warum ich da war?
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freiTEXT | Felix Wünsche
Kind eines Vaters
Der Wind fuhr um die Hausecke, ein wenig kühl, spielte mit unseren Haaren. „Wir waren neulich bei Bekannten zum Geburtstag eingeladen. Da waren auch zwei Paare mit Kleinkindern und der eine Vater ist die ganze Zeit mit seinem Sprössling am Boden rumgekrochen. Hat sich echt zum Affen gemacht. Bubi hier, Bubi da. Rumgekeckert mit Babystimme. Immer schön auf den Knien rumgerutscht, weißte. So richtig peinlich. Und Applaus hat er auch noch dafür gekriegt von den Mamas. Schau mal, wie der sich kümmert, lächel, lächel. So ein Mist echt mal.“ Er zog an seiner Zigarette, die in der Herbstluft rot aufglomm, aschte ab. Sachte legten sich die feinen, verglühten Tabakteilchen auf meine Arbeitshose, auf die staubigen Schuhe. Roh und unverhohlen sauten mich seine Worte ein.
Was bleibt von mir, wenn ich mit sanfter Stimme gurre? Liebkose, mein Herz verliere? Bin ich verloren? Mir die ganze Kraft, die Welt zu stemmen, entrissen, Titanentod?
„Nicht meine Art, weißte. Man muss doch 'n bisschen Selbstrespekt haben. Das Leben ist auch einfach 'n Scheißdreck.“ Daran würgte er. Spuckte aus.
Zwei Jahre her. Der Dachstuhl war gerade fertig, Richtfest gefeiert. Vorm Winter würden die Dachpfannen drauf sein. Meine Arbeit war beendet. Mit ihm hatte ich öfter mal gequatscht in den Pausen, mal ein Bierchen getrunken. Wir lehnten an der rohen Betonwand. Seine Hand zerquetschte die aufgerauchte Zigarette, Ruß, schwarze Wut auf dem makellosen, gleichgültigen Grau.
In seinen Händen zeigt sich der Mensch, sie sind es, die liebkosen, erbauen, zerstören. Seine Hände waren muskelbepackt, nicht fähig, sich Konturen weich anzupassen, gewohnt, zuzupacken, zu schleppen, zu heben, Dinge zu bezwingen, zärtlich vielleicht zu aufsteigendem Mauerwerk.
Sein Junge war ein paar Mal auf der Baustelle gewesen. Wenn seine Mutter Dienst hatte samstags und die Oma zu Freunden oder Familie verreist war. Durfte eigentlich nicht auf die Baustelle, aber der Bauleiter drückte ein Auge zu, wenn er bei den Bauwagen blieb.
Strubbliges Haar, mattblond, Augen, die auszulaufen schienen. Aufgerissen, rote Augenlider, ein bleiches Gesicht, rotfleckig, die Mimik kämpfte gegen eine stille Erstarrung.
„Willst du 'ne Cola?“ Leises Nicken. „Komm.“ Ich musste ein Telefonat machen, eine Dienstplanänderung. Er stand an der Tür, den Kopf gesenkt, in der schmutzigen rechten Hand sein Handy. Ganz fest. Er hatte Muster mit den Fingern in den staubigen Sand vor den Wagen gezogen.
„Komm rein, setz dich.“ Ich holte eine Cola aus dem Kühlschrank, goss ihm einen Plastikbecher ein, den er zögerlich, ungeschickt mit der Linken griff. Trank mit niedergeschlagenen Augen, kleckerte sich Cola auf die Jacke, scheinbar ohne es zu merken. Klein war er. Sieben, hatte sein Vater mir erzählt. Robert. Seine Füße in den Gummistiefeln baumelten sachte in einem geheimen Rhythmus in der Luft.
Die Colaflasche noch in einer Hand, streckte ich spontan die andere aus, um ihm über die Haare zu fahren. Abrupt, heftig zuckte er zurück, ließ den Becher fallen, die Cola zeichnete dunkel einen Fleck auf den Boden, der sich langsam weiter in den Staub fraß. Steinern saß er da, unter den Wimpern quollen lautlos Tränen hervor, die Kiefer mahlten sie wegzubeißen.
„Alles okay. Alles gut, Robert. Ist nicht schlimm, hörst du? Tut mir ganz doll leid, dass ich dich erschreckt habe. Wir bringen das in Ordnung. Keine Angst. Ich wische das auf und du trinkst noch eine Cola auf den Schreck. Schau, ich stelle dir den Becher auf den Tisch hier. Du kannst ihn dir nehmen. Und ich mache den Fleck weg.“ Mir klumpte der Bauch. Weich redete ich auf ihn ein, wischte die Cola auf, sprach, ohne eine Antwort zu bekommen, über den Bagger, den ich ihn hatte bestaunen sehen und den gelben Baukran.
„Erzählst du nichts meinem Papa?“ Die Stimme war schmal. Das erste Mal blickte er mich an. Schüchtern, bereit, die Flucht zu ergreifen.
„Ich erzähle nichts. Versprochen. Großes Ehrenwort.“
„Meinst du, ich kann Baggerfahrer werden? Mein Papa sagt, nur gute Jungen können Baggerfahrer werden.“
„Ich bin ganz sicher, dass du Baggerfahrer werden kannst. Absolut. Du bist ein guter Junge. Das mit der Cola kann jedem passieren, wenn man sich erschreckt.“
Stumpfe Helligkeit warf Lichtstreifen in das Wageninnere. Durch das kleine, verschmutzte Fenster und den Spalt der halb offenen Tür stach sie herein, ließ seine grüne Jacke düster erscheinen. Die Cola hatte eine schmale Spur hinterlassen, vom Kragen hinab zur rechten Tasche.
„Wirklich?“
„Ja. Komm, ich wische dir die Cola ab. Dann muss ich mal telefonieren. Du kannst aber gerne hierbleiben.“ Ich wählte, drehte mich zum Dienstplan an der Rückwand und als ich aufgelegt hatte, mich umwand, war er weg.
Danach sah ich ihn nur noch einmal, als er mit seiner Mutter den Vater abholte. In der gleichen grünen Jacke stand er neben dem Wagen. Auf mein Winken reagierte er nicht. Hob nur kurz den Kopf, schaute mich an, als er einstieg, ein Blick, der mir blieb. Sein Vater hupte im Wegfahren. Eine lange Welle Verlassenheit schwappte mit vertrauter Wucht über mich hinweg.
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freiTEXT | Sean Keibel
Meister des Heldentums
Wir bilden unsere Helden aus wie jede andere Zunft. Sie bekommen keine Sonderbehandlung, denn in Anbetracht der Bescheidenheit als höchste Tugend würde das nur ihren Charakter verderben. Ihre Berufsbekleidung, die sie auf ihrem Weg in den Betrieb meist schon am Leibe tragen, soll nicht nach Aufmerksamkeit lechzen. Hält man sie in den Straßen an, so ist ihr lächelndes Schweigen auf Anfrage – Sind Sie Held? – keine Koketterie. Ein jeder Bürger ist ausdrücklich angehalten, normal mit diesen Menschen umzugehen, auch wenn es schwerfällt, im Bruder, in der Schwester, im Onkel, in der Tante, im Schwiegervater, in der Schwiegermutter eben nicht mehr zu sehen als das; als Mitreisender im Zug muss man sich ihnen ja nicht zuwenden, aber wenn der Kontakt sich aufzwingt, darf man sich nicht blenden lassen vom strahlenden Heldentum, das einem ins Gesicht schlägt. Man darf nicht vergessen, dass sie ihre Heldenausbildung selbst gewählt haben; sich zu bewähren in der Not, sich gar aufzugeben, wenn es sein muss, und dabei ganz bescheiden zu bleiben und von sich aus niemandem von den eigenen Heldentaten zu erzählen, das bekommen sie ja im Berufsschulunterricht beigebracht, daraufhin werden sie trainiert, wie der Tischler in seinem Handwerk, wie der Maurer auch.
Wenn sie sich dann freigesprochen und frohen Mutes auf ihre Wanderschaft begeben, den Stock schwingend wie jeder andere Geselle und gehüllt in Tarnkleider, damit sie nicht auffallen, so sind sie nicht in Versuchung zu führen, keiner darf sie um Hilfe bitten, wenn Not am Mann ist, vielmehr müssen sie ihr Meisterstück von selbst erspähen und sich aus freien Stücken ohne Anleitung eines Anderen in die Aufgabe stürzen. Dies ist, offen gestanden, eine alte Sitte; später wird man ihnen genau sagen, wohin sie sich zu begeben haben und was sie dort tun sollen, was es ihnen, den Jüngeren, leichter macht Held zu sein; um die Älteren aber nicht zu brüskieren, deren Arbeitsalltag noch ganz anders war und ganz andere Qualitäten abverlangte – sie sitzen ja überdies in den Gremien, diese Älteren, und bestimmen mit über die Ausbildungsinhalte –, um sie also nicht zu brüskieren, belässt man einige der alten Sitten, damit die jungen Helden wissen, wie schwer es ihre Vorgänger einmal hatten und wie viel Respekt ihnen damit gebührt. Die Jungen nehmen es hin, sie nehmen es sogar auf und werden eines Tages vor den noch Jüngeren selbst darauf bestehen. Vorerst aber sind sie schließlich, nach sorgsam choreographierten Lehrjahren, Meister des Heldentums, die hoch gehandelt werden. Einige treten der Handelskammer bei und beteiligen sich an der Nachwuchsförderung.
Viele unserer Nachbarvölker neiden uns unsere Helden. Es sei ja alles viel zu durchorganisiert, blöken sie, eine Heldenreise könne nicht verordnet werden. In Wirklichkeit aber, da sind wir uns sicher, sind sie schon längst dabei, in aller Heimlichkeit ihre eigenen Helden zu produzieren. Freilich besorgt uns das nicht, denn wir haben den Vorsprung; was uns besorgt, betrifft unsere Bevölkerung, den einfachen Bürger, den es von allzu großer Verehrung, ja am besten jeglicher Verehrung unbedingt abzuhalten gilt, bevor er beginnt sich zu fragen: Wenn die Helden höher gehandelt werden als er selbst, weil sie sich für ihn, den Bürger, der also weniger wert ist, aufgeben würden – worin liegt ihr Wert dann eigentlich?
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freiTEXT | Tabea Baumann
Fünfzehn mal drei
Ich liebe dich
sage ich, und die Abwesenheit einer Antwort sagt mir alles. Ich nehme einen Schluck Tee, und verbrenne mir die Zunge, obwohl er schon seit Stunden in der Tasse ist.
Ich liebe dich
sagt sie, und küsst mich und für einen Moment bin ich König der unendlichen Weiten innerhalb einer Nussschale. Dann geht sie und die Nussschale schließt sich, wird wieder klein, bis ich mich nicht mehr bewegen kann und mir wünsche, eine Krähe würfe mich auf die Straße unter die Reifen eines silbernen Mercedes.
Ich liebe dich
brüllt er, und schlägt noch einmal zu, jede Silbe eingehämmert in die rötlichbräunlichgraue Masse, die einmal ein Gesicht war. Er weint dabei.
Ich liebe dich
tippt sie, und wartet darauf, dass die Ampel wieder grün wird. Sie schickt ein Herz-Emoji und fragt sich dabei, ob es ihrer Freundin auch aufgefallen ist, dass der Whatsapp-Feed nur aus Emojis und der Frage nach dem Abendessen besteht.
Ich liebe dich
flüstere ich, und denke dabei an eine andere.
Ich liebe dich
schneidet sie dem Baum in die Rinde, und verbringt dann den Rest des Tages damit, das Harz vom Messer zu kratzen. In zwei Jahren wird der Baum gefällt sein und ihre Freundin wird den Schlagzeuger geheiratet haben, über den sie sich gemeinsam lustig gemacht haben.
Ich liebe dich
denkst du, sagst es aber nicht, weil in jedem Paralleluniversum eine Version von dir existiert, die mutig ist, aber hier und jetzt gibt es nur dich.
Ich liebe dich
lacht er, und streichelt den Bauch seines Freundes, genau unter dem Nabel, wo seit einigen Wochen die ersten grauen Haare wachsen. Der Bauch ist weich und die Sonne lässt das Silber glitzern, als wäre es kostbar.
Ich liebe dich
keuchst du, und ich schaue an die Decke, die der Vormieter schlecht gestrichen hat und frage mich, warum es heute im Supermarkt keinen Fenchel gab.
Ich liebe dich
sagt der Mann am Nachbartisch zu seiner Tochter, vielleicht ist es aber auch seine Freundin. Sie lächelt ihn abwesend an und schraubt den Salzstreuer auf und zu, auf und zu, auf und zu.
Ich liebe dich
murmelt er, schon fast eingeschlafen, und wirft seinen Arm über dich, und du fühlst dich wie eine Eiche, die langsam vom Efeu erstickt wird. Dem Efeu vor dem Fenster ist das egal, der wächst weiter.
Ich liebe dich
sagt das Mädchen zu ihrer Freundin, die lacht und ihr ein Gänseblümchen in den Mund steckt, den bitteren grünen Stängel voran.
Ich liebe dich
gesteht der junge Mann der Barista, die ihn mitleidig ansieht und ihm seinen Kaffee in die Hand drückt. Er geht, und wirft den Becher vor der Tür in den Müll.
Ich liebe dich
sagt der Engel, und die alte Frau lächelt. Der Engel sieht aus wie ihr Mann, mit Flügeln aus Neonlicht.
Ich liebe dich
sage ich. „Ich dich auch“, sagst du.
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freiTEXT | Simon Probst
Der Mensch verabschiedet sich aus dem Holozän
Ich forsche an einem Institut für Abschiede von einem alten Planeten. Um einen Eindruck von meiner Arbeit zu geben, erzähle ich am besten eine der Geschichten, die ich sammle: Am Dienstag, dem fünften September 2023, wird ein Sarg aus Eis von Trägern in schwarzer Kleidung, mit Bergschuhen und verspiegelten Brillen gegen die Höhensonne im schönen Sommerhimmel, am österreichischen Großglockner beigesetzt. Symbol für die Pasterze, Österreichs größten Gletscher, der hier zu Grabe getragen wird. Ein katholischer Bischofsvikar und eine evangelische Pfarrerin halten gemeinsam die Zeremonie auf der Franz-Josefs-Höhe ab. Begleitet werden sie von vier Blasmusikern. Die traurige Melodie legt sich wie traumhafte Blumengebilde um das Eis. Im Hintergrund steht schweigend eine Bergkette, schmutziges weißes Haar auf den alten Häuptern. Fast könnte man meinen, sie halten Hüte in den gefalteten Händen.
Da es sich hier um einen Bericht und kein Märchen handelt, liegt in dem fast gläsernen Sarg nicht Schneewittchen. Niemand schlummert darin und wird durch ein Stolpern wieder zum Leben erweckt. Dabei ist hier gutes Stolpergelände. Die Auferstehungschancen, im Märchen stünden sie gut. Doch der Sarg ist leer. Und leer heißt, dass dort im Eis, anders als im Gletscher, überhaupt kein Raum ist, in dem jemand liegen und die Zeit überdauern könnte. Folgerichtig gibt es auch kein Scharnier, keinen Deckel, nur die maschinell geformte Eismasse.
Tatsächlich ist noch niemand gestorben, zumindest nicht hier. Diese Beerdigung besiegelt den Todesfall nicht, eher kündigt sie ihn an. Die stolze Pasterze – man sieht sie hier von der Franz-Josefs-Höhe aus – ist geschrumpft, viele Meter jedes Jahr. Und Gletscher sind nicht für immer Gletscher. Wenn sie eine bestimmte Größe unterschreiten, wenn sie sich nicht mehr bewegen, wenn ihr Eis nicht mehr mit dem Rhythmus der Jahre pulsiert, sich ausdehnt und zusammenzieht, dann sind sie keine Gletscher mehr. So die wissenschaftliche Definition. Sie bestimmt, ob Eis lebt. Die Pasterze ist noch ein Gletscher. Die Beerdigung ist eine vorgezogene. Das Ritual soll aufrütteln, warnen, prophezeien.
Die Vorwegnahme des Abschieds begegnet mir überall. Oft auch unter anderen Vorzeichen. Für meine Mutter ist es das erste Jahr, in dem sie nicht mehr um die alte Erde trauert. Nach einer nicht enden wollenden Periode des Unglaubens, des Aufbegehrens, der Wut und Verzweiflung über die Wandlungen und Verluste in der Natur ist sie jetzt ruhiger. Sie sagt, sie hat getrauert und ihren Abschied genommen. Sie gesteht ein, dass ihr die Idee des Abschieds in diesem regenreichen Jahr leichter fällt. Seine Vorwegnahme ist keine Mahnung, sondern ein Abschließen. Möglicherweise eine Vorbereitung auf die kommende Erde.
Bis vor kurzem lagen die Folgen des menschengemachten Klimawandels scheinbar noch in einer fernen, fantastischen Zukunft. Jetzt liegen manche ihrer Verhängnisse schon in der Vergangenheit. Denken wir, es wäre möglich, mit den fortwährenden Verlusten fertigzuwerden, wenn wir sie in aller Form betrauern? Aber sind wir nicht in einen andauernden Abschied verwickelt und schwanken entsprechend zwischen überwältigenden Gefühlen, unangenehmer Berührung, Überdruss und dem Wunsch, mit dieser Peinlichkeit endlich abzuschließen?
Meine Forschung besteht in der konstanten Beobachtung des Abschiedszustands. Dafür muss ich ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken und gleichzeitig die ihn begleitenden Gefühle auf Abstand halten. Ich bin ein Archivar der Trauer, angestellt, um die Verluste zu dokumentieren und Berichte über den menschlichen Umgang mit diesen Verlusten zu verfassen. Diese Aufgabe verlangt Ausdauer und verbietet die Verausgabung in einem ekstatischen Moment. Katharsis wäre kontraproduktiv.
Betrachtet man über einen längeren Zeitraum die neuartigen Formeln und Rituale kollektiven Trauerns, stellt man fest: In unserer Kultur gibt es einen überaus ansehnlichen Abschiedskarneval. Kein Zweifel, dass wir uns von den Gletschern und dem polaren Eis verabschieden. Wir halten ihre letzten Reste auf Fotos fest, in Erzählungen, in Archiven. Seit mehr als zehn Jahren wird am 30. November ein internationaler Gedenktag für ausgestorbene Arten und Lebensräume begangen. Im Überfluss Denkmäler, Rituale, Trauergedichte, Verlustverzeichnisse, eine Erinnerungskultur mit dem dazugehörigen Ernst, Pathos und Theater. Während wir mit fast schon obszöner Gefühlsseligkeit der alten Erdordnung Lebewohl winken, wartet die alte und neue Gesellschaftsordnung, ewiger als das Eis, in der guten Stube, wo sie uns zum Leichenschmaus empfängt. Es ist das Wechselspiel, die spezifische Komposition und Mixtur von vollzogenen und nicht vollzogenen Abschieden, das bestimmt, wer wir sind.
Das symbolische Ritual am Großglockner war nicht das erste für einen Gletscher abgehaltene Trauerzeremoniell. Bereits 2019 trauerte Island um den Verlust des mächtigen Okjokull-Gletscher. Hier war es ein tatsächlicher Abschied und kein vorweggenommener. Der Ok-Gletscher hatte seinen Status als Gletscher verloren, hatte im Sterben große Flächen lange bedeckten Steins freigelegt und war zu einer unzusammenhängenden, fleckigen Eisschicht geworden, die manche als den Leichnam des Ok betrachteten – geschrumpfte, leblose Überreste, vom Zerfall entstellt. Aber sie erinnern noch an den Lebenden.
Als Mahnung wurde auf einem ehemals von ewigem Eis bedeckten Felsen eine Bronze-Tafel angebracht, die auf Isländisch und Englisch die folgenden warnenden Worte trägt:
Ein Brief an die Zukunft
Ok ist der erste Gletscher Islands, der seinen Status als Gletscher verliert. In den nächsten 200 Jahren werden ihm all unsere Gletscher folgen. Dieses Mahnmal bezeugt, dass wir wissen, was passiert und was getan werden muss. Nur Du, zukünftiger Leser, weißt, ob wir es auch getan haben.
August 2019
415 ppm
Dem Trauerzug und der Enthüllung der Tafel wohnten über hundert Menschen bei, darunter die damalige isländische Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson. Das ganze hatte den Anschein eines Staatsbegräbnisses. Trotzdem entstanden in der Berichterstattung immer wieder Unsicherheiten, um was für ein Zusammenkommen es sich hier handelte. War das eine künstlerische Performance? Eine symbolpolitische Handlung? Eine neue Form von zugleich wissenschaftlichem und animistischem Totenkult? Eine Erinnerung an zukünftige Tote?
In einem Buch mit dem Titel In den Gletschern der Erinnerung aus dem Jahr 2020 sammeln zwei Autoren literarische Zeugnisse von Gletschern aus den letzten drei Jahrhunderten, darunter Aufzeichnungen von so illustren Persönlichkeiten wie Lord Byron, Mary Shelley, Hans Christian Andersen, Mark Twain, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Max Frisch und Paul Celan. Sie alle waren Gletschern begegnet und hatten über sie geschrieben. Das Buch ist ein poetisches Gletscheralbum und eine merkwürdige Schwelle: Außerhalb des Buchs existiert die eisige Welt noch. Aber nur gerade so. Zukünftige Leser*innen werden In den Gletschern der Erinnerung den Moment markiert finden, da im Verschwinden begriffen war, was sie nicht mehr kennen.
Ich mache meine Arbeit, wie ich jede andere Tätigkeit ausüben würde: akribisch, gewissenhaft und mit Freude an der Entdeckung von kuriosen Begebenheiten. Die Verluste und meine Aufzeichnungen von ihnen sind gefragt. Aber in einem regelmäßigen Rhythmus, alle anderthalb Wochen etwa, werde ich traurig. Dann kann ich mich nur noch langsam bewegen und nicht mehr denken. Ich gehe spazieren und in diesem Jahr lasse ich mich vom Regen trösten. Obwohl das Wetter verrücktspielt. Manchmal schlägt es drei Mal am Tag um. Von Wetterumschwüngen kann nicht die Rede sein, eher von einem Luftdruck-Karussell, einer unberechenbaren atmosphärischen Launenhaftigkeit. Trotzdem: Es beruhigt mich, im Wetter zu sein, seine Bewegungen genau zu verfolgen. Ich kann es kaum aus den Augen lassen.
Wenn ich mich schließlich erschöpft in meine Wohnung zurückziehe, verkrieche ich mich ins Bett und höre Holocene von Bon Iver. Der Song ist nach einer Bar in Portland benannt. Und nach der geologischen Epoche, die wir beenden. Das Lied entstand in einer Winternacht, an Heiligabend, um genau zu sein, auf einem späten Spaziergang. Menschenleere Straßen, meilenweit keine Autos, das Kommen eines Schneesturms in der Luft, Inseln aus Eis auf den Straßen. Plötzlich passt alles zusammen, der Ort, die Zeit des Jahres, existentielle Erleichterung, Demut, das Gefühl, dass die Landschaft, die Stadt, die Luft den Song geschrieben hat. In meinem müden Kopf wiederholt sich immer die eine Stelle: You fucked it friend, it’s on its head, it struck the street. Das bringt es auf den Punkt, fühle ich, obwohl ich gar nicht weiß, was ‚it‘ ist. Bleibt noch etwas zu sagen? Lebewohl Holozän. Es waren gute 11.700 Jahre. Verzeih.
Mit zwei Freunden tausche ich mich in einer Chat-Gruppe über den Tod aus. Sie heißt Don’t bury the Dead. Darin Bücher zum Tod, Ausstellungen zum Tod, Podcasts zum Tod. Einer der Freunde ist überzeugt, dass es falsch ist, seinen Frieden mit dem Tod zu machen. Ich schicke ihm zwei Verse von Dylan Thomas: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light. Der Freund reagiert mit einem brennenden Herz. Auf Wanderungen schreiben wir die Verse in Gipfelbücher.
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Kontakte
Charlotte rauft sich die Haare. Ihr Kinn juckt, wo sich heiße Tränen treffen. Unter ihrer Straßenlaterne beginnt sie, die Schlaglöcher vorm Restaurant zu zählen. American Bar & Grill, est. 1990. Hat drinnen überhaupt jemand gemerkt, dass sie abwesend ist? Schon verzählt. Nochmal von vorne. Der Shot Whiskey gegen die Nervosität und die Zurückweisung brennen gemeinsam. Jeder Augenschlag verdoppelt das Dröhnen in ihrem Schädel. Warum kommt Viktoria nicht nochmal heraus? Mehr wehtun kann sie Charlotte nicht. Wieder verzählt. Es hört nicht auf, Dezember zu sein. In der Hocke zittern ihre Beine. Heute Morgen frisch rasiert für ein schreckliches Kleid. Die Verkäuferin hat es ihr für zu viel Geld aufgedrängt, weil sie ihre unsicherste Kundin hasst und –
Charlotte stößt einen Schrei aus. Etwas schlängelt sich ihre Wirbelsäule hoch, bohrt sich mit einem Stich in ihrem Hinterkopf. Schlagartig steht ihr Körper und läuft mit wackeligen Schritten nach Hause.
Komplette Überforderung. In den ersten Minuten des Menschseins spüre ich jedes Gramm Körpergewicht. Massen an Bewegungen erschlagen mich fast. Allein die Augen umgeben das Prickeln tausender Muskelfasern. Blinzeln nicht vergessen. Wie kann die Nacht hier so grell sein? Man sieht nicht mal die Sterne! Grade prasseln all die körperlichen Instinkte auf mich ein, die ein Mensch zu ignorieren lernt. Das Bedürfnis, fremde Dinge in den Mund stecken. Zu kreischen, bis einem die Luft ausgeht. Zu starren. Zu sabbern. Ich hätte mir die Nase aus dem Gesicht gerieben, wenn ich sie eben nicht ausgeblendet hätte. Ganz tief im Gehirn habe ich mich eingenistet. Dieser wabblige Klumpen triumphiert über die körperliche Hülle.
Am Tag danach wird mir die Schwere meiner so spaßigen Spontanentscheidung bewusst. Unter der Schwerkraft ist alles anstrengender. Die Müdigkeit verschwindet nicht. Der erste Muskelkater schmerzt unaufhörlich. Alles lässt mich daran zweifeln, das für einen Menschen Freude drin ist. Zumindest ein Glück: Es ist Samstag. Dieser träge Körper muss nirgendwo hin. Auf dem Wohnzimmerteppich liegt es sich kratzig. Seit gestern ist das hier meine winzige Wohnung. Eine Ruine aus Staubfäden und dunklen Fusseln finde ich unter der Kommode. Darin lebt eine tote Fliege, die mich bemitleidet. Ohne mein Zutun schlägt das Muskelgedächtnis zu. Handy in meiner Hand. Instagram öffnen. Scrollen bis zum ersten Foto dieser einen blonden Frau. Double tap. Viktoria da. Rotes Herzchen. Viktoria dort. Familienfoto mit Geschwistern, Weihnachten mit hässlichen Pullovern. Grübchen. Warte, was mache ich hier? Die Finger wehren sich, aber mit etwas Nachdruck ist die App gelöscht. Kurz ringe ich mit den Überresten eines Verlangens, dann erkläre ich mich zum Gewinner.
Letzten Juni führte der Chef eine blonde Frau in den Pausenraum, ein höfliches Lächeln in ihrem glühenden Gesicht. Grübchen.
„Ich bin die neue Kollegin, Viktoria. Schön euch alle kennenzulernen. Ich freue mich schon auf gute Zusammenarbeit.“
Charlottes Gedanken rannten ihr davon: Wenn diese Frau hetero ist, werde ich zum schönsten Mann der Welt. Wenn sie nicht an Liebe glaubt, will ich ihre engste Freundin werden. Du bist perfekt. Ich liebe dich.
Fast ließ Charlottes Zunge diesen Eifer in die Welt hinaus. Schnell versteckte sie ihren Mund hinter ihrer Kaffeetasse. Ihr Blick blieb so lange auf Viktoria, wie ihr Schamgefühl es zuließ. Jede Millisekunde genoss sie, kam aus dem Schmunzeln nicht heraus.
Ein Montagmorgen, 7 Uhr. Bequemes Bett. Kein Herzinfarkt oder epileptischer Anfall im Schlaf. Vielleicht sogar ein guter Traum, den ich längst vergessen habe. Jeder Tag überlebt ist ein Erfolg. Ich sollte diesem Körper applaudieren, stattdessen strecke ich meine Hand in Richtung des offenen Fensters. Eine kalte Brise umspielt meine Fingerspitzen. Der frische Geruch der Atmosphäre umarmt mich. Dieser Fetzen Himmel ist blauer als alles, was ich je wahrnehmen durfte. Krähen hallt durch die Straße. Frage und Antwort, hin und her. Letztes Wort in drei tiefen Tönen. Argument beendet. Nur noch ein sporadisches Rauschen von Autos. So fühlt sich wohl der Frühling an. Genau dafür bin ich ein Mensch geworden.
Sonnenstrahlen brauchen acht Minuten, bis sie auf die Erde treffen. Nur eine Kleinigkeit müsste dabei schiefgehen und ich könnte nicht das tiefrote Gewand der Frau wertschätzen, die neben mir sitzt. So viele Gesichter. So viele Orientierungspunkte, an denen wir vorbeifahren. Wie schön Busfahren zur Arbeit sein kann. Die Strecke hat die perfekte Länge, um entspannend zu sein. Der Bus schnurrt unter meinen Füßen. Ich schließe kurz die Augen, sauge das Geräusch ein, bis es verstummt. Nächster Halt. Eine blonde Frau steigt ein. Seit wann fährt Viktoria diese Strecke? Sie hat die Fähigkeit meinem Körper Gedanken zu entwenden und um sich herum kreisen zu lassen. So unangenehm. Den Platz in diesem Kopf brauche ich für mich allein. Ihre Augen blicken in meine. Jede Alarmglocke klingelt. Schnell wende ich mich ab.
Stille im Pausenraum. Nachdem ich die nachlässigen Krümel der Kollegen weggewischt habe, lehne ich an der Theke. Langsam gewöhne ich mich an den Kaffee. Die Tasse wärmt angenehm meine Hand. Der Koffeinkick ist nur ein Bonus. Etwas bringt meine Nase zum Rümpfen.
„Du rauchst wohl immer noch in der Mittagspause.“
Viktoria zieht das Pflaster ab: „Charlotte, gehst du mir mit Absicht aus dem Weg?“
Meine Gegenfrage: „Ist das ein Problem?“
„In letzter Zeit bist du irgendwie… anders.“
Viktoria steht am anderen Ende des Raums, Rücken zum Kühlschrank, in dem immer jemand was vergisst. Ein Schritt Abstand zwischen uns und ihr Blick bohrt dennoch.
„Ich bin eine neue Charlotte. War noch nie glücklicher.“
„Es tut mir leid… wegen dem Korb bei der Weihnachtsfeier“, sprechen Viktorias Schuldgefühle.
So gut es geht verhandle ich für eine Charlotte, die ich nur aus Impulsen kenne:
„Nicht deine Schuld. Um ehrlich zu sein: Als ich dich zum ersten Mal draußen rauchen gesehen habe, war ich schon etwas weniger verliebt.“
Ein Schatten fällt über Viktoria.
„Irgendwie tut es weh, das zu hören. Also war es keine richtige…“
„War nur in die Idee von dir verliebt.“
Eine Idee, die längst zum Wohle der Menschheit begraben wurde. Eine Lücke, in die ich schlüpfen konnte. Viktoria gebührt all mein Dank.
Ihre knappe Antwort: „Dann ist es wohl so.“
Warum klingt sie nicht erleichtert?
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freiTEXT | Lina Leonore Morawetz
Ein angelsächsisches Konzept
Einsamkeit ist ein angelsächsisches Konzept. Wenn du in Mexiko City die einzige
im Bus bist und jemand einsteigt, dann wird er sich nicht nur neben dich setzen,
er wird sich an dich anlehnen.
— Lucia Berlin, Albern, wer da weint
Der Fahrer blickt aus der Dunkelheit heraus — es gibt keine Haltestellen. Es gibt nur Handzeichen, die Türen stehen immer offen. Seine Sinne täuschen ihn manchmal, er beugt sich zum Lenkrad, sein schwerer Körper vor dem Fenster. Seine Augen glänzen. Sein Bus steht an der roten Ampel. Diese kleinen Busse sind winzig und riesig, im Rasen wanken sie. Behäbige Dampfer. Und die Fahrer sind immer in Eile, sie müssen fünf Millionen durch die Stadt bringen. Unten Asphalt. Oben die Bäume. Gummibäume, und Stromkabel wie langwieriges Haar. Ein Lenkrad wie ein Lastwagen. Richtung Osten. Richtung Westen. Fünf Millionen Handzeichen. Aber heute ist sein Bus noch leer. Mit glänzenden Augen sucht er den Straßenrand ab.
*
Der Bus steht vor ihm an der roten Ampel. Die Luft war noch frisch. Es wurde eben hell. Vier Pesos, ertastet in der Jackentasche. Er sieht sich um. Direkt vor ihm. Die Luft frisch. Er sieht sich nochmal um. Nur einen Schritt. Warum nicht. Hineinspringen in diese Tür, die sich, immer offen niemals schließen wird, die niemals hält. Es gibt keine Haltestellen, nur Handzeichen. Vier Pesos in der Tasche, ertastet.
In der Jackentasche hält seine Faust an den Münzen fest. Die Luft ist frisch, er atmet tief, füllt seine Lungen mit Vergewisserungen. Es ist nicht mehr Nacht, sagt er sich, die Nacht ist vorbei. Helle Musik von der Tanke. Er klimpert die vier Pesos. Er sieht sich um. Die Tanke ist leer. Das Victoria schon voll. Es duften die Donas nach süßer Erlösung. Schnell. Nur einen Schritt, denkt er. Auf und davon. Für vier Pesos den Boden unter den Füßen verlieren. Für vier Pesos alles hinter mir lassen. Der Motor jault auf. Seine Hand bewegt sich auf den bittersüßen Espresso zu, der vor ihm auf der wackeligen Holzbox hin und her kippt, als würden seine Finger blinzeln und neugierig die Welt erkunden, die Luft noch frisch, es ist bald hell, er richtet sich auf, eine reckende Bewegung als wäre er in einem kleinen Rausch und Wirbel, als wären Leben und Tod eins. Jetzt nicht so lange nachdenken, sagt er sich, die Nacht ist vorbei, ein Schritt aufs Trittbrett, den schmutzigen Wind im Haar, dem Fahrer gewunken, der wusste, vier Pesos in der Jacke. Für vier Pesos auf und davon, ein guter Deal, der Fahrer nickt. Er wird Gas geben, einen Gang hochschalten und die Musik aufdrehen, Cantina und los, nach Osten, nach Westen, den Fahrtwind um die Ohren. Die Türen stehen immer offen und weil die Türen immer offenstehen und fünf Millionen einsteigen und fünf Millionen aussteigen klappert immer irgendwo etwas. Eine Tür, ein Fenster oder sonstwas. Der Fahrer dreht sich in der Kurve zurück in den schlingernden Bus und schaut, weil etwas klappert oder sonstwas und sieht ganz hinten zusammengekauert eine Gestalt sitzen, nach Osten, nach Westen, im Dunkel seiner Gedanken sieht er eine Gestalt verschluckt von Osten, von Westen, der Fahrer nickt nach rechts, nach links, er tritt aufs Gaspedal nach Westen, nach Osten. Es donnern Taxis, Trucks und Pickups nach Westen, nach Osten.
*
Im ersten Sonnenstrahl rasen die Taxis, Trucks und Pickups von Osten nach Westen, Westen nach Osten. Sie dreht den Kopf nach links, nach rechts und in alle Richtungen. In der Ferne stehen am Straßencafé Victoria Frühaufsteher an der Theke. Mühelos bewegen sie sich nacheinander, nebeneinander, aneinander. Sie hat bald ihren Platz zwischen ihnen gefunden. Sie lassen sich auf hölzernen Bänken nieder. Sie stellen mit geübter Handbewegung riesige Becher mit Cappuccino und heißer Schokolade auf wackelige Holzboxen. Bittersüßer Espresso. Unter einem Flachbildfernseher, unter Nachrichtenbildern sitzen sie nacheinander, nebeneinander, aneinander. Straßenstaub. Zucker. Stimmen. Rufe. Schaum. Sonne. Zimt bestreute Donas, Fleisch gefüllte Tortas. Müsste ich nicht—
Hätte ich nicht längst —? denkt sie. Aber links. Die Art, wie er den Becher hielt. Ihr sind die Hände des Mannes links von ihr ins Auge gefallen. Sie findet nicht seine Hände schön, sein Haar. Es war die Art, wie er sein Leben hielt. Sechs Spuren Sonne trugen sich zu Wänden aus Licht, Verblendung, Erleuchtung zusammen. Es war ein Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Als hätte sie den Anfang versäumt und trotzdem gewusst, worum es ging.
Es waren nicht seine Hände, nicht der Wind in seinem Haar. Es war die Art wie er sein Leben hielt. Wie sie ihr Leben sah. Es war die Art, wie er sein Leben hielt, als sie ihr Leben sah. Jetzt den Kopf zur Seite neigen, denkt sie. Meine Schulter, eine Schulter. Zwei Augen auf sechs Fahrspuren. Meine Schulter, seine Schulter. Ein einziges Gleichgewicht. Balance. Etwas Weiches. Von Osten, die Sonne. Ein Herzschlag wie die rasenden Autos. Drei Spuren nach Westen. Still! Als wäre es das letzte Bild. Drei nach Osten. Windhauch. Herzschlag. Stromkabel wie silbriges Haar. Der erste Sonnenstrahl. Gesenkte Lieder. Ihre plötzliche Balance bringt sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. Aber es gab gar kein Gewicht. Alles schien ohne Hindernis und ohne Zeit.
Zum ersten Mal im Leben wollte sie nichts riskieren. Sie hatte sich niedergesetzt und die Tür weit offen gelassen. Die Tür, durch die sie diese Szene betreten hat. Er blickt auf. Sechs Spuren Sonne, seine Hand hebt sich gegen das Blenden, vielleicht auch seine Stimmung. Etwas hat sich vage verdeutlicht, eine Veränderung in der Bewegung, in der Luft.
Die Regenzeit hat früher als gewöhnlich ausgesetzt. Wo sich normalerweise abends Regenmassen in braunen Bächen über die Straße ausschütten, wirbeln heute morgen Automassen trockenen Staub auf.
Zwischen dem Dämmern ihrer gesenkten Augenlieder und dem Sonnengleißen hat sie für einen Moment das Gleichgewicht verloren, aber beinahe gleichzeitig auch wieder vergessen, dass sie aus der Balance geraten war. Sie hat etwas anderes gesehen.
Einen Windhauch, der haften blieb. Als wäre er ein einfacher Passant gewesen und als wäre ein Teil von ihr aufgestanden, um aus irgendeinem Grund mit versteinertem Lächeln auf den Lippen die Tür zu schließen.
Er hatte den Kopf etwas zur Seite gewandt, als wäre sie zu spät gekommen. Und als auch sie sich zu ihm umschaute, als hätten sie beide den Anfang versäumt, war er verschwunden, gerade als wäre er – wie ein einfacher Passant –
Er muss in die offene Türe eines vorbeifahrenden Busses gesprungen sein. Der Bus wird wie das Leben ganz plötzlich auf ihn zugekommen sein. En passant.
Überreste eines Fiebers, eine innere Regung die bis aufs Äußerste prickelnd erfüllt. Ein verwaister Espressobecher, ein letztes Bild, das niemals hält. Es war früh am Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Die Stromkabel glänzen wie silbriges Haar.
*
Stromkabel wie langwieriges Haar. Mit glänzenden Augen tastet er den Straßenrand ab. Seine Augen gleiten über die Fahrbahn, den Rückspiegel. Fast dreihundertsechzig Grad behält er im Blick, nach links, nach rechts. Alle Richtungen bewegen sich rund um ihn wie ein wogender Ozean, ein ganzes Leben, das vor ihm liegt und das er rasend hinter sich lässt. Seine Augen tasten flink und geübt die bewegten Konturen in seinem Sichtfeld ab, wie sie hasten, zu zweit schlendern, laufende Kinder mit Schulrucksäcken und weil sein Überleben davon abhängt, sie zwischen den Autos und Häusern und Bäumen herauszufiltern, vergisst er alle einzelnen Formen sofort wieder. Er sieht Millionen und wenn keiner die Hand hebt, keiner aufspringt, keiner mit den unverkennbar zielgerichteten Schritten auf ihn zuläuft, allein oder in Zweier- oder Dreiergruppen auf ihn zuläuft mit Gepäck und Gesicht, dann vergisst er sie sofort wieder. Ein laufender Schritt, ein Anlauf eher, der sich mit deutlich abzeichnender Erleichterung im Gesicht verlangsamt, sobald die Laufenden eine der winzigen Gesten von ihm wahrgenommen haben: sein minimalistisches Repertoire, das er sich über die Jahre aufgebaut, und dann auf ein Mindestmaß abgeschliffen hat, das Nicken hat er auf einen Bruchteil reduziert, das Winken heruntergefahren auf ein deutliches Luftholen mit seinem ganzen runden Körper, ein Nachvornelehnen, wenn er den Gang schaltet und mit einem mittlerem Donnern herunterbremst. Und jetzt steht er mit laufendem Motor an der roten Ampel und lehnt sich zurück. Manchmal täuschen ihn seine Sinne, das weiß er. Deshalb beugt er sich also doch wieder zum Lenkrad vor, eine kleine Bewegung. Sein Blick streift kurz den Rückspiegel und zieht dann langsam nach rechts hinüber zum Straßenrand und fällt dabei auch auf das Café Victoria.
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