freiVERS | Jutta Schüttelhöfer
Chamäleon
im Dickicht zerreißt das Band an den Dornen
die blauen Schatten tanzen auf der Lichtung
durchbrechen den Blick
ich habe lange nicht mehr in die Ferne gesehen
ein Schwarm Vögel fliegt vorbei
nimmt die Gedanken mit im weichen Gefieder
können sich meine Lieblingsworte an sie schmiegen
zurück bleiben nur die roten Worte
die ins Schwarz tendieren wenn ich sie laut denke
ich hoffe auf die Rückkehr meiner Sprache
stumm stehe ich mit roten und schwarzen Gedanken
die Sonne kehrt mir den Rücken zu versenkt sich
hinterm Horizont in der Finsternis
blinzeln mich grell-gelbe Augen an überall im Wald
versteckt lauern sie auf ihren Moment
ich ducke mich hinter tiefschwarze Schatten
schwärzer noch als die Nacht
ich bin ein Chamäleon
kleide meine Seele in ihr dunkelstes Gewand
und verschwimme mit dem Hintergrund
niemand hat mich je gesehen
.
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freiVERS | Manon Bauer
fehlst du dem meer?
hat es dich nicht längst
vergessen weil du häuser
gebaut hast an land
und land gebaut hast
über dem wasser habt ihr
euch belogen als ihr sagtet
das seien eure brücken du
hast nicht damit gerechnet
dass jemand wasser baut
in die luft nur um dich
zu erreichen
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freiVERS | Florian Dietmaier
Zugluft
I
ein Zug von Schotterwägen
passiert eine schräge Wiese
nahe den Gefängnismauern
die nachkommenden Böen
lösen dichte weiße Wolken
von Löwenzahnsamen aus
in der schwülen Luft erstarrt
glühen sie einen Augenblick
in Erwartung des Erblühens
II
unter der Eisenbahnbrücke
wird eine Zeitung geblättert
jemand hat sie angezündet
Trauer- sowie Jobanzeigen
und daneben die Chroniken
auf den angesengten Seiten
eine Bedeutung hineinlesen
wäre kein Problem doch ist
dies Feuer bereits erloschen
III
auf glimmenden Schienen
donnert eine einsame Lok
am neuen Bahnhof vorbei
die Bänke sind aufgestellt
Uhren und Tafeln montiert
doch fehlen die Passagiere
eine Krähe am Blechdach
richtet ihr Gefieder wieder
das der Wind zerzaust hat
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freiVERS | Johanna Schmidt
Berührungen.
körper
Ich wälze mich in Gefieder fremder Körper,
halte mich warm in Räumen,
die nie meine gewesen sind.
Ich reibe mich an der Bettkante,
ziehe mir einen Splitter ein,
blute ins weiße Leinen
und frage mich,
ob der Fleck jemals wieder verschwindet,
ob wir nun Verwandtschaft sind.
Die Handflächen, die Finger
in Krater schieben;
zersplitterte Gebiete
überziehen nackte Körper
werden zu Unebenen,
ein zerkratztes Relief und du:
legst dich auf mich
und suchst und spürst und gräbst
beinahe alle Narben aus.
Deine Bewegungen radieren alle Schatten weg,
nicht einmal das Gegenlicht weiß
dich einzufangen
Ich würde dich gerne sehen,
wie du deine Initialen
in die Maserung
meines Rückens schnitzt.
Wie du die Härchen brichst,
gefrorenes Gras durchstreifst,
es auftaust
im ersten Frost.
Wie deine Muskeln versteifen,
verästeln, brennen,
bevor sie sich
in andere Richtungen strecken.
An bettwarmen Gesichtern
kaltgewordene Hände reiben,
Münder und Lippen nicht nur
für Unaussprechliches
brauchen
wir
uns noch
oder sind wir längst vergangene Ideen,
verheizt in schneeschwarzen
Winternächten?
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freiVERS | Miriam Tag
prien, fuchs
erst schleiche ich mit großem abstand an dir vorbei,
mager und wachsam, mein struppiger pelz aufgerissen
von verwegenen streifzügen.
die erde duckt sich unter mir.
in meinem fell hängen die noch warmen reste des tages.
nun ist es nacht, und mein begehren, diese sanfte rote waffe,
dehnt sich über den gesamten körper aus.
ich bin bereit für ein erneutes kühnes spiel, ich bin bereit
für den riskanten moment, wenn ich im strahl deiner augen
erstarre, bloß, deinem blick ausgesetzt,
selbst beute bin
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freiVERS | Anna Arning
dämmerung
da sitzt einer
bei seinem zelt am deich
der wartet
auf den untergang
der sonne
die wohlbehausten düssel
städter schlendern oben
radeln, rennen im letzten licht
allein, zu zweit, in gruppen fit
for fun, für’s business oder
einen nicht schlank genug
geratenen hund der kläfft
ins zelt und hebt sein bein
auf pappkarton steht danke
falls jemand doch mal dosen
oder pet-pfand oder ein paar
ausrangierte sneakers hinterlässt
da unten am rhein
bogen sitzt einer
der blinzelt zur sonne
und wartet
weiter
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freiVERS | Alexander Rall
Rheinlandschaft im September
Vor der Staffelei
Der leicht fallende Wind an einem kalten Septembertag
zeigt die Straßengesichter in seinem bläßlichen Blau
wie Papier auch die versprühten Farben
Eine Porzellankatze sieht mich lange an und ihr Besitzer
fürchtet ich würde sie mitnehmen ohne zu bezahlen
Die Tümpel und Kohleschlepper sind
in das gleiche bläuliche Licht getaucht
wie die Berge aus sortiertem Schrott
die Lastkähne und der Uferstein
Es scheint als sei auf diese Landschaft
eine Mündung gerichtet
Zwei Männer sitzen in einem geschlossenen Wagen
und trauen sich nicht nach draußen zu gehen
jemand anders bleibt im Dunkel seines Bürofensters
und ich zeichne die wirkliche Mündung seiner Waffe
Er fuchtelt mit ihr, als wisse er noch nicht
worauf er zielen solle, - vielleicht, denke ich
will er die Landschaft als ganzes zum Verschwinden
bringen
bevor sie ihn zum Verschwinden bringt
Der leicht fallende Wind läßt trockenes Laub blühen
und kleine Stückchen Dunkelheit
finden sich an den Flusssteinen, den Grabsteinen
die jemand zu ihnen ans Ufer geworfen hat
aus Achtlosigkeit oder aus Wut
Ich höre auf das Schlagen des Wassers
Segler schweben nah vor dem schwarzen Dom
fahren unter gezeichneten Brücken
in Farbpunkten, Strichen und dem zittrigen Licht
unterschiedlich bedeutender Zeichen
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freiVERS | Chris Lauer
Paternoster
Glück im Unglück,
Wenn nur der Vater
Und nicht die Mutter,
Sagt sie
Und zieht
Das Ginstergelb fest,
Das vorhin im Briefkasten lag.
Doppelt kann man sie binden
Um den Mädchenarm,
Fast dreifach
Am Ende von allem,
Die Horizontebene,
Die sie teilt
In Himmel und Erde
In Himmel und Erde.
Dein Reich komme.
Sie kocht und wäscht
Für ihre Geschwister;
Das Kleinste schieben sie und ihr Bruder
Wie Jungelterngewordene
In einem Holzwägelchen
Vor sich her.
Es schreit nie.
Manchmal denkt sie Unerhörtes,
An Opulenz, im Einschlagpapier eingewickelt:
Eine Vollkornstulle mit Butter,
Und ihr Mund wundet
Von den ausgespuckten Aprikosenenkernen,
Die sie aufsammelt, wenn niemand hinsieht:
Wie Taler blinken sie zu ihr herauf,
Wie braune Paukanten,
Die mit ihrem eingeritztem Spalt
Zeigen wollen,
Dass sie, ganz anders als Frauen,
Keine Schönheit brauchen; dass man sie
Ja nicht mit Frauen verwechseln sollte,
Dass sie sich vielleicht auch wünschen,
Frauen zu sein, weil sie denken,
Als Frau müsse man, ja ja, gespalten sein.
Sie überkaut die Ahnung von Sommer,
Während sie unweit
Das Blechern von Medaillen hört:
Ein Windspielstapeln,
Das schon an der nächsten Straßenecke
Einknickt.
Für Nelly Kerngut
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freiVERS | Samuel Kramer
Ein Vakuum ist unveränderlich ein Vakuum,
es sei denn, es würden Zugänge geschaffen.
Das Gedicht (d. i. das Vakuum) kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, es vor Publikum wiederzugeben,
würde daraus die Zerstörung des Publikums resultieren.
Das Gedicht kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, wäre das Gedicht nicht entstanden.
Wenn es möglich wird, wird das Gedicht unmöglich.
Ich wünsche mir die Zerstörung des Publikums.
Zerteilt, ionisiert, verstreut, auf der Suche nach Notausgängen
bildeten sich heilsame Verweise und Klumpen kohäsiver Expertise.
Das Gedicht kann, nachher, nicht vom Publikum wiedergegeben werden.
Wäre das Publikum möglich, würde daraus ein Gedicht resultieren.
Bitte greifen Sie bei Druckabfall nach der Luft. Halten Sie mich nicht
auf. Und bleiben Sie unter keinen Umständen ruhig.
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freiVERS | Enno Ahrens
Erdig
vom Angsthasenpfad
durchs Tal der Erlkönige
ins lichte Leben erscheint mir
alles im Blick meine
Füße so käseschmelzig wie
der Leib eines Neugeborenen
die Nase noch verpfropft rieche
ich mich selbst an kalter Quelle
eine Gehirnwäsche
wandle nun auf
ausgelatschten Wegen
Das Brenneisen der Zeit
prägt mir seinen Stempel
durch die Haut
Mein Erkundungsflugzeug
steht im Hangar eingemottet
Die Atmosphäre ist so verletzbar
geworden wie meine Haut
ein allergisches Schlachtfeld
Ich schreite zu Fuß die Fronten ab
versteckt hinter einer Schuldzuschiebemaske
und mit Moralabwehrgranate gewappnet
Mein Körper ist Lebewesen
zwischen Leben gewesen
wiederholt geraten
zwischen Panzerhaubitzen
und Atomwaffenbedrohung
will er ein Gemütskaninchen sein
nur noch Geist
Unverletzlichkeit der
Körperlosen
bis in alle Ewigkeit
tugendhaft in Tugendhaft
fraglos
in ungezählten Himmeln
steht die Zeit Kopf
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