freiTEXT | Tamàs Török
Hitze
Sobald die Tür zum kühlen Treppenhaus hinter mir ins Schloss fällt, wird mir jedes Mal aufs Neue klar, wieso die Sonne eine Gottheit war.
Der Winkel, in dem ihr Licht auf die Speckbacherstraße in Innsbruck fällt, ändert sich und meine Winterdepression wird zur Atemnot zwischen glühendem Asphalt. Ich senke den Blick vor ihrem Glanz und suche Zuflucht in den Schatten.
Egal hinter wie vielen Fachbegriffen und Zahlen man sie auch zu verstecken versucht, das subjektive Empfinden ihrer mich beinahe in die Knie zwingenden Macht bleibt dieselbe.
So, wie ich sie bei meinen Winterspaziergängen suche, wie eine in die kalte Dunkelheit jenseits des wärmenden Lagerfeuers verbannte Motte, beginnt der Sommer für mich an jenem Tag, an dem ich die Straßenseite wechsle, um vor ihr zu fliehen. Es ist zur selben Zeit, in der das üppige Jeansblau des Frühlingshimmels dem ausgewaschenen Look des Sommers weicht, in dem unser weißes Inferno so lautlos wütet.
Die mich umgebenden Hausfronten sind ausdruckslos wie die Dünen von Arrakis, hinter deren gesenkten Rolllädenlidern die Bewohner sich wie fiebrige Gedanken wälzen.
Eine Biene klammert sich an eine gefallene Blüte auf dem sengenden Fußgängerweg, nuckelt noch im Todeskampf am Blütenstaub.
Ein Moped surrt an mir vorbei und ich denke an eine Mücke aus Metall.
Soll ich über den Zebrastreifen sandwalken wie Timothée?
Sirenen heulen in der Ferne, die nie verstummt sind, die drückende Stille war also bloß Einbildung, meine Entrückung ein Placebo. Alles ist wie immer. Die Krankenwagen kommen immer näher mit ihrer sterbenden Fracht, zerbröseln meinen Kopf im Vorbeifahren in einer Explosion aus Schall. Sobald sie um die Ecke biegen, werde ich ganz von allein wieder ganz.
Zivilisten hupen, weil es an den Ampeln staut und auf jedes Hupen antworten zwei, drei weitere kniggegerechte Revolverschüsse im gezähmten Westen.
Die Minuten rinnen an den Kirchtürmen herab, wie Harz an Baumstämmen und ihr Klingeln vermischt sich mit dem Krächzen von auf Regenrinnen harrenden Raben.
Worauf sie harren? Auf frisches Aas.
Und sie warten nicht umsonst, denn in den Menschenbrüsten pocht es vor Wut und Einsamkeit, die Herzen im Rippenkäfig gefangene Berserker, denen jeder Grund recht und einer zu viel ist. Denn die Gefühle herrschen wieder im zivilisierten Durcheinander, das Denken wurde vom Lagerfeuer verbannt.
Was sonst so leicht fällt, ist plötzlich schwer. Nicht pöbeln, zuschlagen, nachtreten und draufspucken, nachdem die zittrige, auf ihren Rollator gestützte Pensionistin mit den Muschelpralinen und der Kochrumflasche im Korb sich an der Kassa vordrängelt, eine größere Herausforderung, als sich Leser von Proust und Woolf eingestehen möchten.
Andererseits verschlingen das Weltgeschehen und die wirtschaftliche Lage schon seit Jahren die schimmligen Madeleines im Panikraum der Selbstbeherrschung.
Was mal wirklich schön wäre, wäre eine Pause. Von allem.
Einfach mal Siesta machen und die Welt Welt sein lassen.
Wie viel einfacher doch alles wäre, wenn wir weniger erwarten könnten. Zuerst von uns selbst und dann allmählich von all den anderen, anstatt durch das Vakuum der Hitze zu rasen, nur um auszubrennen und zu verglühen, wie durch die Einsamkeit des Weltraums stürzende Sterne.
Wir schwitzen schließlich alle und der Herbst kommt früh genug.
An zu Tuendem wird es uns niemals mangeln. Das Leben ist unerschöpflich, aber ich bin es nicht.
Cut. Stop.
Aus die Maus.
So wie damals im Kindergarten, als ich mit vom Mittagessen prallem Bauch mürrisch wurde, ist es höchste Zeit für ein Nickerchen auf meinem Rorschachtest aus Schweiß und Leinen.
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freiTEXT | Patricia Malcher
Rundungsfehler
„Es muss weitergehen.“
Martin nickt, versteht, was ich meine, während ihm Tränen über die Wangen laufen.
Dabei bin ich es doch, die weinen sollte. Der man erklären müsste, was da in den letzten Tagen passiert ist. Mit ihr, mit mir, mit unserer Familie.
„Ich bin nicht die Erste, der das passiert ist“, sage ich.
Wieder nickt Martin, aber diesmal kommt er auf mich zu, umrundet meinen Schreibtisch, auf dem Stapel von Schülerheften liegen, die seit zwei Wochen darauf warten, von mir korrigiert zu werden.
Ermittle den Umfang des Kreises.
Berechne den Durchmesser.
Bestimme den Flächeninhalt.
Ich spüre Martins Atem im Nacken und zwei Arme, die mich umfangen. Ich schüttle sie ab, mache mich frei von der Wärme meines Mannes.
„Ich muss arbeiten“, sage ich, drehe mich von ihm weg. „Siehst du nicht, was hier alles liegengeblieben ist?“
Hinter meinem Rücken höre ich, wie er in seine Hosentasche greift. Kurze Zeit später ertönt bereits sein Schnäuzen.
Ich balle die Fäuste und lege sie auf der Tischplatte ab. Mein Blick wandert zur Uhr.
„Du musst los“, sage ich, obwohl er noch Zeit hat und vor der verschlossenen Kindergartentür wird warten müssen, wenn er jetzt schon aufbricht.
Ich klappe ein Heft zu, nachdem ich einen Fehler mit rotem Stift angestrichen und die entsprechende Stelle in der Rechnung markiert habe.
Martin geht in den Flur, zieht Jacke und Schuhe an und greift zum Schlüssel.
Als die Tür ins Schloss fällt, lege ich den Stift zur Seite und atme aus. Mein Körper sackt zusammen, meine Gesichtsmuskeln erschlaffen.
Ich habe zwanzig Minuten, bis Florian hereingerauscht kommt, mir vom Buddeln in der Sandkiste erzählt, von Playmobil-Welten und vom Streit mit Benni, eigentlich sein Freund, aber hin und wieder eben doch gemein und doof.
Ich schaue an mir hinunter. Mit der Hand befühle ich die leere Rundung meines Bauches. Eine Gewohnheit, die schwer abzulegen ist. Auch nach zwei Wochen kommt es noch zu Übersprunghandlungen. Unangemessen und wenig hilfreich. Und trotzdem hoffe ich auf eine Reaktion.
Mir wird übel und wie in den letzten Tagen auch beginnt mein Kopf zu schmerzen. Es sticht und hämmert hinter meiner Stirn. Ich verstehe nicht. Eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten.
Wir waren allein, sie und ich. Alles war in Ordnung. Gut. Vital. Bis die Ordnung mir von einem Moment zum anderen zwischen den Beinen hinaustropfte.
Ich merke, wie mein Unterleib bei der Erinnerung krampft, als wolle er halten, was nicht zu halten gewesen war.
Der Kopf, der Bauch, die Muskeln.
Ich greife nach dem nächsten Heft, schlage es auf.
Das Verhältnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser beträgt gerundet Drei, lese ich in krakeliger Schrift und spüre die Wut wie feuriges Sodbrennen im Hals.
„Pi“, sage ich laut und schlage mit der flachen Hand auf den Tisch. „Pi“, zische ich und sehe, wie meine Spucke die Seite trifft und die blaue Tinte des Schülers zu verwässern beginnt.
Mit Schwung gebe ich dem Stapel neben mir einen Stoß. Er kommt ins Wanken und Heft um Heft rutscht über die Tischkante zu Boden.
Ich schließe die Augen, zittere.
„Wir sind drei“, hat Martin Florian versichert, als ich im Krankenhaus lag, „auch wenn Mama für ein paar Tage nicht bei uns ist.“
Eine Lüge, die beruhigen sollte. Auf ihre Kosten.
Ich lege meinen Kopf ab und merke, dass ich weine. Träne um Träne entweicht meinem Körper, wie eine Nachkommastelle nach der anderen. Der Schmerz in meinem Kopf schwindet und blockiert stattdessen meine Brust. Das Atmen fällt mir schwer und doch habe ich Gewissheit.
Auch wenn sie es nicht über das Komma hinaus geschafft hat, wird sie da sein. Tag für Tag, bis tief in die Unendlichkeit hinein.
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freiTEXT | Tom Scheinpflug
Ram on
Es wird ein Samstag gewesen sein, denn jeden Samstag saßen Al und ich im Keller vom Ship&Mitre, um uns unter anderen Gescheiterten zu betrinken, bis das Zittern der zum Schaffen geschafften Hände endlich nachließ. Nicht dass Al und ich uns dafür verabredet hätten. Wir kannten uns vor jenem Abend nicht und für mich war er bisher eher Teil des schnapsfleckigen, nach vergälltem Leben stinkenden Interieurs der Kellerkneipe als deren Kundschaft. Zu jener Zeit verbrachte ich meine nüchternen Stunden damit, tagsüber in einem Lebensmittelgeschäft in der Warwick Street auszuhelfen, um abends das verdiente Geld an abgewetzten Roulettetischen mit bösartiger Gleichgültigkeit an die Bank zu verschenken. Diese Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber war mir seit jeher ein treuer Begleiter, ein Schatten neben mir. Ich ließ mich lieber treiben und nahm hin, was kam. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb so leicht, mich seit ungezählten Jahren in einem anhaltenden Rauschzustand zu ertränken, ohne je Schuld darüber zu empfinden. Diese Abende waren nun mal alles, was blieb.
An einem dieser Abende trieb es mich zu Al, hier scherzhaft als „Uncle Albert“ bekannt, dessen zweifelhafter und doch liebevoll-nachsichtiger Ruf in jener Kneipe mir bereits vor unserem ersten und einzigen Wortwechsel sein tägliches Kommen und Bleiben versicherte. Er war ein wirrer und unsteter Mensch, der früher als Mittelklasseboxer seine Alkoholexzesse in Löchern wie diesem finanzierte, den die erfolglosen Jahre aber zahm und stumpf haben werden lassen, sodass ihm von seinem ohnehin schon bescheidenen Lokalruhm nur eine mickrige monatliche Versehrten-Abfindung des Kensington Boxing Clubs und eine scharf nach rechts zerschlagene, weinrote Rosazea geblieben waren.
Ich erinnere mich noch an das staubige Licht im Keller, das seine grobschlächtige Rechte matt schimmern ließ, während sich die massige Faust um ein schäumendes Pint schloss. Ich hatte soeben eine schon nicht mehr verschmerzbare Menge Pfund verloren, war allerdings bereits zu betrunken, um mir über mein Unglück ernsthafte Sorgen zu machen. Mein selig schwimmender Blick verlor sich im goldenen Brausen eines heimischen Ozeans und ich hätte nicht sagen können, wie lange ich so dasaß: den müden, verbrauchten Körper mühsam auf einem Hocker haltend, von den weniger besorgten als sichtlich angewiderten Mienen der Mitspielenden unberührt und den eigenen Blick rettungslos ertrunken im gewürgten Bierglas von „Uncle Albert“.
An diesem Abend stürmte es heftig. Ein grausamer Windzug jagte über die kahle Rundung meines Hinterkopfes und ließ mich aus dem Bann aufschrecken, nachdem er ein Kellerfenster samt Rahmung aus der Fassung gesprengt hatte und den düsteren Raum durchflutete. Als ich meinen Blick löste und aufschaute, bemerkte ich, dass Al diesen erwiderte. Er blickte mit seinen zusammengerückten Säuferaugen streng in mein Gesicht, als prüfe er mich. Worauf wusste ich nicht. Die geblähten, mit den rötlichen Pusteln vergangener Leben befleckten Wangen rahmten seinen Blick und gaben ihm, trotz des unübersehbaren Verfalls seiner Züge, das würdige Aussehen einer antiken Anemoi-Darstellung. Gerade als ich spürte, wie mich die Kraft verließ, seinem Richterblick standzuhalten, hob er schwerfällig seine Linke und winkte mich mit einer abfälligen Bewegung zu sich. Ohne zu wissen warum, erhob ich mich und trottete langsam, aber entschieden auf den Tisch in der dunklen Ecke des Raumes zu.
„Du bist hier öfter, als dir guttut“, sprach der alte Al, als ich stumm Platz genommen hatte. Seine Stimme hatte eine raue Klangfarbe, aber seine Worte klangen nicht wertend oder gar beschämend: es waren von zwischenmenschlichen Banden vollkommen losgelöste Worte, ohne Anklage oder Mitgefühl, gefühllose Tatsachen, steinern und unbeweglich wie prähistorische Monolithen. Ich hatte das Gefühl der Wind, dem der Kneipenbesitzer trotz wütend gebellten Befehlen nicht Herr zu werden schien, spielte nun eine fürchterliche Kantate. „Wo sollte ich sonst sein?“, gab ich mit verwaschener Stimme zurück, die Augen wagte ich nicht vom vernarbten Tisch zu heben. „Da draußen natürlich“, sprachs aus der Ecke und ich hatte das Gefühl die denkbar schlechteste Antwort gegeben zu haben. Die schlichte Bestimmtheit seiner Rede irritierte und erregte mich. „Heutzutage weht ein anderer Wind. Nie zuvor war es so leicht abzusaufen“, setzte er nach. Ich nickte stumm, doch verstand nicht, was er meinte. Mir fiel auf, dass er mich beim Sprechen nicht anschaute. Auch sein Blick kämpfte nun einen hoffnungslosen Kampf am Grund seines Glases. Eine Weile verharrte er in dieser Stellung, ohne meine Verwirrung zu lösen. Dann hob er erneut an:
„Dort draußen gibt es stählerne Inseln, in denen Männer wie du und ich noch einen Wert haben. Den Wert eines Zahnrädchens in einem Getriebe, zugegeben, aber ein Wert doch!“ beschwor er, plötzlich stürmisch aufbrausend, wobei er mir feine Tropfen wie Nieselregen entgegenspuckte. „Familienbande eingeschworener Schatzjäger im Kampf gegen die Gezeiten und auf der Suche nach dem schwarzen Gold. Ein lohnendes Geschäft für manche Tagelöhner. Aber für Männer wie uns …“, er pausierte, versuchte den versprengten Atem in tiefen Zügen wieder einzusaugen, „für Männer wie uns, können diese Inseln weitaus mehr sein.“ In atemloser Spannung wartete ich. Worauf, wusste ich nicht. „Hände über dem Wasser, Köpfe über dem Horizont.“, hauchte er endlich und mir war, als hätte er uns beide damit erlöst. Ich erhob mich und wankte schwerfällig, aber bestimmt zur Kellertreppe.
Sturzbetrunken stolperte ich aus der schweren Vordertüre hinaus auf die menschenleere Gasse. Noch bevor sie wieder zufiel, hatte der Wind, der außerhalb des Kellers kreischend durch die schiefen Häuserschluchten fegte, bereits alle Geräusche aus dem Innern verschluckt. In meinen Ohren pfiff es unangenehm und ich spürte den Drang, wieder hineingehen zu wollen – nur raus aus diesem Wind. Nur wusste ich, dass das nun nicht mehr möglich war. Nie wieder würde ich das Ship&Mitre betreten. Ich zog den Kragen meines zerschlissenen Regenmantels bis an die Schläfen hoch und ließ mich einem unbestimmten Ziel entgegentreiben.
Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wie lange ich durch die winddurchflutete Nacht irrte. Es müssen wohl mehrere Stunden gewesen sein, denn als ich, noch taumelnd und von schieferschwarzen Möwen mit geteertem Gefieder träumend, zu mir kam, stand ich an den Docks, auf dem St. Nicholas Place. Schwer atmend starrte ich in das graue Treiben des Hafenbeckens hinein und dachte an „Uncle Albert“. Seine letzten Worte waren unauslöschlich in meine trunkene Seele eingebrannt.
Da spürte ich es: Der Wind, der, seit ich mich meines Bewusstseins wieder ermächtigt hatte, unbarmherzig vom Nordatlantik her blies, musste sich gedreht haben, denn ich spürte, wie er sich nun an meinem gekrümmten Rücken brach und über meine durchnässten und heftig zitternden Schultern hinweg aufs offene Meer flüchtete. Unwillkürlich hob ich den Blick und erkannte weit über mir auf dem Dach des Royal Liver Buildings, dem stürmischen Tosen in heroischer Haltung trotzend, die bronzenen Schwingen von sich streckend den Stadtpatron, dessen gebieterischer Blick dem Wind aufs Meer hinaus folgte. „Hände über dem Wasser, Köpfe über dem Horizont“, hörte ich es aus einer dunklen Ecke meines Bewusstseins sprechen und wusste doch – diese Stimme gehörte mir.
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freiTEXT | Miriam Bußkamp
Filterzelle
Mittwoch
Ich fahre auf das vielleicht schönste Licht zu, das der Himmel hervorbringen kann. Alles ist wie durch einen Pastellfilter getaucht, nichts Grelles liegt mehr in der Luft. Stattdessen ist der Horizont in der Entfernung schüchtern gerötet, streicht auf eine makabere Weise zärtlich über die Wipfel der riesigen Nadelbäume, die die Interstate zu beiden Seiten säumen. Es ist ein tückischer Nebeneffekt von Luftverschmutzung, dass die erhöhte Partikeldichte uns nicht abschreckt, sondern das Licht in so schönen Tönen streut, dass wir uns daran nicht satt sehen können. Nur ein paar Meilen östlich von hier machen sich ganze Vororte darauf gefasst, jederzeit eine Evakuierungsmeldung zu erhalten. Es ist seltsam, in diese Richtung zu fahren, in die Richtung der Waldbrände. Ich habe jedoch keine Wahl. Hier im Süden der Stadt liegt der einzige Baumarkt, bei dem ich noch eine Filterzelle zur Abholung vorbestellen konnte. Eine Filterzelle, wie sie in Klimaanlagen verbaut werden: ein Viereck aus grauer Pappe mit weißen Paneelen aus Vlies. Schöner wäre einer der kleinen, dekorativen oder unscheinbaren Luftfilter gewesen, wie man sie sich normalerweise in die Wohnung stellen würde. Die sind aber nirgends mehr zu bekommen. Die hässlichen Filterzellen sind ebenfalls knapp geworden, seit die Lokalzeitung gestern eine Bastelanleitung veröffentlicht hat, wie man aus ihnen einen provisorischen Luftfilter bauen kann. Aber ich hatte Glück. Eine der letzten vorrätigen Filterzellen hat es online in meinen Warenkorb geschafft. Ich hole die Filterzelle ab, weil der Versand zu lange dauern würde.
Wieder zuhause lässt sich die Filterzelle mit Gaffer-Tape problemlos an unseren eckigen Ventilator anbringen. Wir klemmen den Ventilator sonst morgens und abends in unsere Schiebefenster, um kühle Luft in unsere Wohnung zu leiten. Jetzt bekommt er die Aufgabe, die Luft im Raum durch die Filterzelle zu ziehen und gereinigt wieder in Umlauf zu bringen. Wir beobachten die Nachrichten zu den Bränden und der Rauchentwicklung und schalten unseren selbstgebauten Luftfilter ein, als die Werte der Luftqualität am Abend im violetten Bereich gemeldet werden, very unhealthy.
Dann schauen wir uns an, wie am Morgen Caleb Ewan die elfte Etappe der Tour de France gewonnen hat. Neun Stunden Zeitverschiebung, der Atlantik und die gesamte Breite des nordamerikanischen Kontinents trennen uns von Châtelaillon-Plage. Wir bekommen den malerischen Küstenort erstmal aus der Vogelperspektive zu sehen und ich frage mich, ob die Strecken von einer französischen Tourismusbehörde ausgewählt werden. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, dort ein paar Tage meine Zehen in den Sand zu graben, ganz ohne das Bedürfnis, hundertsiebzig Kilometer auf dem Rad zurückzulegen. Ganz ohne die Anstrengung, die den Fahrern schon bald im Gesicht steht und sie durch die Etappe begleitet.
Es ist heute keine kleine Ausreißer-Gruppe, die ins Ziel einfährt. Es ist ein Pulk von gut dreißig, der sich geschlossen der Zielgerade von Poitiers nähert und in dem jeder Fahrer auf den perfekten Moment für einen Vorstoß wartet. Ich habe mich noch immer nicht an den Anblick der Menschenmenge gewöhnt, von der sie am Etappenende angefeuert werden. Dicht an dicht stehen die Zuschauer entlang der Banden. Es ist lange her, dass ich zuletzt eng bei anderen Menschen gestanden bin.
Donnerstag
Es wird nicht richtig hell heute. Wo sonst blauer Himmel zu sehen ist, erstreckt sich ein orange getöntes Grau. Die Sonne schafft es nicht, die Rauchdecke zu durchdringen, während der Rauch selbst keine Schwierigkeiten hat, überall hin einen Weg zu finden. Wir riechen ihn im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, überall. Es reicht nicht, die Fenster und Türen geschlossen zu halten. Wir leben in einem alten Haus und wenn wir die Fenster schließen, trifft verzogenes Holz auf verzogenes Holz. Wir tragen zusammen, was wir an Tüchern und Lappen haben und dichten die Rahmen ab so gut wir können. Dann lassen wir den Luftfilter eine Weile in allen Räumen laufen.
Der Tag zieht sich. Nach einem halben Jahr im Lockdown bin ich übersättigt an Geschichten. Ich kann keine Romane mehr lesen, keine Serien mehr schauen, keine Podcasts mehr hören. Sie machen mir keinen Spaß mehr, weil sich mein Leben nicht mehr an ihnen reiben kann. Mein Leben steht auf Pause.
Stattdessen verfolge ich die Nachrichten rund um die Ausbreitung der Brände, die Prognosen und die Evakuierungen. In den letzten Monaten ist es zur Routine geworden, täglich die R-Werte für Oregon, die USA und Deutschland zu beobachten. Jetzt ist es der LQI, der Luftqualitätsindex, den ich zuerst checke und der heute noch schlechter ist als gestern.
Die Brände fressen sich immer weiter in die Wälder.
Der Rauch wird bleiben, bis der Wind sich dreht.
Nach mehr als 100 Tagen durchgehender Proteste für Black Lives Matter, geht heute niemand in Portland auf die Straßen.
Präsident Trump verkündet, dass die Waldbrände nicht im Klimawandel, sondern allein in schlechtem Forstmanagement begründet sind. Dieser bullshit hat die gleiche Farbe wie unser neuer LQI: braun, hazardous.
In Etappe zwölf fährt Marc Hirschi dem Peloton schon früh davon. Nach dem letzten Aufstieg der Etappe lässt er alle hinter sich und fährt die letzten dreißig Kilometer im Alleingang. Mir fällt vor allem der Kontrast zwischen den trockenen, abgeernteten Feldern in der Ebene und den üppigen Wäldern in der Höhe auf. Ich frage mich, wie schnell sich dort ein Feuer ausbreiten würde. Die Bäume auf dem Bildschirm sehen saftig aus, aber ich weiß, dass der Schein trügen kann. Schließlich kommen mir auch beim Wandern hier in Oregon die immergrünen Wälder vor wie ein ewiges Paradies. Die Nadeln reihen sich dicht an dicht um die feinen Zweige, die wiederum von starken Ästen gehalten werden. Moose schlängeln sich auf der Schattenseite die Rinde entlang. Hohe Farne aus sattem Grün bedecken den Boden. Ich liebe es, dass die Sommer hier heiß und trocken sind. Ich habe mich daran schneller gewöhnt als die Bäume, denen ich den Wassermangel nicht ansehen kann und die den Bränden trotzdem nichts entgegenzusetzen haben. Der kleinste Funkenflug sorgt für neue Brandherde.
Freitag
Portland ist heute offiziell die Stadt mit der schlechtesten jemals gemessenen Luftqualität. Weltweit. Die bisher verwendete LQI-Skala kann den aktuellen Wert nicht abbilden. Sie endet bei 500, aber wir liegen heute bei 504.
Ich fühle mich eingesperrt. Spaziergänge waren in den letzten Monaten fast der einzige Anlass, das Haus zu verlassen. Nun sitzen wir im Wohnzimmer wie zwei Heuschrecken unter einem umgestülpten Marmeladenglas. Wie lange dauert es eigentlich, bis die Luft in einer Wohnung so verbraucht ist, dass sie zu wenig Sauerstoff enthält? Ich widerstehe dem Drang, Google zu fragen. Stattdessen checke ich das Wetter, schaue, ob die Meteorologen zuversichtlich sind, dass wir bald wieder auflandigen Wind bekommen. Fehlanzeige. Enttäuscht lege ich das Handy zur Seite. Ich muss raus. Wenn Spaziergänge draußen nicht möglich sind, dann muss ich eben in einem Gebäude spazieren gehen.
In der Mall ist nicht viel los. Warum sollte es auch? Ich habe gehofft, dass sie mir Schutz vor dem Rauch bieten würde, aber durch meine Stoffmaske schmecke ich noch immer eine Note in der Luft. Lange sollte ich nicht bleiben.
Ich komme mir komisch vor, an den schlecht besuchten Geschäften vorbei zu schlendern, mir Dinge anzusehen, für die ich selbst dann keine Verwendung hätte, wenn keine Pandemie und keine Waldbrandkrise wäre. Trotzdem spüre ich die Verheißung, dass ich mit neuen Dingen auch neue, gute Gefühle nach Hause nehmen könnte. Ich gehe in ein Kosmetikgeschäft und schaue mir Lippenstifte an, wie ich sie gerne trage, aber es nur noch selten tue. Am Ende verschmiert die Farbe doch nur in der Maske.
Der Smalltalk mit der Verkäuferin wird schnell persönlich. Ihr Onkel lebe unweit von hier in der Kleinstadt Molalla und ignoriere die Aufforderung zur Evakuierung seitens der Sicherheitsbehörden, erzählt sie. „Er bleibt, weil auf Facebook geteilt wurde, dass die Antifa die Feuer gelegt hat, um danach die evakuierten Häuser zu plündern. Ich weiß nicht, wie ich ihn davon überzeugen kann, dass das eine Lüge ist.“
Ich stelle mir vor, wie es wäre, den ganzen Tag in diesem fensterlosen, verrauchten Laden zu stehen und mir Sorgen zu machen, weil sich jemand in meiner Familie bei einer akuten Gefahrenlage lieber an Verschwörungstheorien hält als an die Warnungen der Behörden.
Die Verkäuferin hält meinen Blick, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. „That‘s so fucked up“, ringe ich mir schließlich ab, „ich hoffe, dein Onkel bringt sich bald in Sicherheit.“
Sie seufzt mit hängenden Schultern, die mir die gesamte Rückfahrt vor Augen bleiben.
Bei der Tour de France trennen heute sieben Bergabschnitte die Fahrer von Puy Mary und deshalb zeigt die Zusammenfassung vor allem Bilder, in denen die definierten Wadenmuskeln der Fahrer langsam, aber kraftvoll gegen die Steigung um die Pedalachse kreisen. Zum Angriff erheben die Fahrer sich dann aus dem Sattel und die Fahrräder unter ihnen schwanken. Unser Luftfilter surrt im Takt dazu. Die körperliche Verausgabung hat ihren Reiz. Das Gefühl der Erschöpfung und Zufriedenheit, nachdem man alles gegeben hat, die Ruhe, wenn Atem und Puls sich verlangsamen. Der Stolz, eine Herausforderung gemeistert zu haben. Ich beneide sie. Unsere Herausforderung ist passiv, ein Aussitzen. Wir können unsere Kräfte nicht einteilen, weil wir nicht wissen, wie lange wir sie brauchen werden. Dreißig Kilometer und fünfzehn Prozent Steigung klingen leichter zu bewältigen als bis ein Impfstoff da ist oder bis sich das Wetter ändert.
Samstag
Die Nachrichten in Deutschland berichten abermals über die schlechten Luftqualitätswerte. Wir wachen auf zu verschiedenen Textnachrichten von Freunden und Familie. Wir telefonieren viel und erzählen das Wenige, das es aus dem Marmeladenglas zu berichten gibt.
Als ich den Müll rausbringe, friere ich. In der Rauchdecke ist es nicht nur dunkler, sondern auch kälter. Ohne sie würde die Sonne uns noch immer sommerliche Temperaturen bescheren. Der Geruch von Lagerfeuer dringt mir in die Nase, stärker als zuvor. Ich denke an die zerstörten Wandergebiete, die dieser Rauch bedeutet; Häuser, die bis auf den Grund herunterbrennen, ausgelöschte Leben. Acht Menschen sind den Bränden in Oregon schon zum Opfer gefallen und wer weiß, wieviele Tiere ihnen in der Wildnis und auf den Farmen nicht entkommen konnten. Dieser Geruch ist nicht nur Douglasfichten und Farne, er ist auch Fotoalben, Fernseher, Plastikstühle. Haut, Fell und Knochen. Und er überlagert alles. Den faulenden Müll rieche ich nicht, als ich den Deckel der Bio-Tonne hebe.
Zurück im Wohnzimmer kommt mir die gefilterte Luft dagegen frisch vor, obwohl es dieselbe ist, die schon seit über drei Tagen in diesem Raum zirkuliert. Die Zeltburgen der Obdachlosen, deren Kuppeln seit Beginn der Pandemie zahlreicher geworden sind, kommen mir in den Sinn. Die hastig eingerichtete Notunterkunft auf dem Messegelände wird vor allem von Menschen aus dem südlichen Oregon genutzt, die vor den Feuern hierher geflüchtet sind.
Fast stündlich suchen wir nach Updates, wie schnell sich die Feuer ausweiten und wie sich die höchste Evakuierungsstufe an diesen immer neuen Grenzen des Gefahrenraums entlang hangelt. Satellitenbilder zeigen im Zeitraffer, wie Glutfelder, größer als Ortschaften, mit dem Wind größer werden; wie sie erst kleine Rauchwirbel über die angrenzenden Gebiete schicken, bis diese immer weiter werden und schließlich zu einer Decke. Einer Decke aus Rauch, die sich über die gesamte Westküste legt, bis man gar nicht mehr weiß, wo der Rauch des einen Feuers aufhört und der eines anderen anfängt.
Drei Kilometer vor dem Etappenziel in Lyon startet Søren Kragh Andersen den Angriff, der den Sieg entscheiden wird. Er fährt, fährt sich frei und hat genug Kraftreserven, um das Tempo bis zum Schluß alleine durchzuhalten; hat sogar noch genug Kraft, hinter der Ziellinie die Arme in die Luft zu strecken und seine Leistung zu feiern. Meine Beine kribbeln, wollen rennen, schnell, bis sie nicht mehr können. Ich kann nicht mehr sitzen und gehe stattdessen im Raum auf und ab. Der Jubel. Selbst von der reduzierten Zahl des Pandemiepublikums klingt er enorm. Mein Blick fällt aus dem Fenster, hinter dem der Rauch die Aussicht auf die leere Straße trübt.
Sonntag
Wir sind früh wach. Wir tragen den Luftfilter ins Wohnzimmer und schalten ihn ein, dann starten wir den Live-Stream für die fünfzehnte Etappe der Tour de France. Während wir frühstücken, bestreiten die Fahrer die zweite Bergwertung, eine schattige Strecke. Fokussiert rasen sie danach waghalsig die Landstraße herunter. Fast spüre ich den Wind im schweißnassen Nacken, wie die müden Beine sich erholen, während am Rand Zuschauer, Bäume, Höfe vorbeiziehen. Die Abfahrt ist schneller vorbei, als den Fahrern vermutlich lieb ist, denn ab jetzt geht es nur noch aufwärts. Am Bildschirmrand wird eine Grafik mit dem Anstieg zum Grand Colombier angezeigt. 17,4 Kilometer, mit Steigungen von bis zu zwölf Prozent. Es gibt keinen Schatten mehr, die Serpentinen liegen offen in der erbarmungslosen Sonne. Am Ende kämpft sich Tadej Pogačar knapp vor Primož Roglič ins Ziel.
Wieder prüfen wir, wie sich die Brände entwickelt haben. Sie sind ein kleines Stückchen weiter in Richtung der Vororte Portlands gewandert. Ich stelle mir die Einsatzkräfte vor, die der Hitze und dem Rauch in schwerer Schutzkleidung und mit wenig Pausen ausgesetzt sind, die an ihre Grenzen gehen, um diese Übermacht in allerkleinsten Schritten einzudämmen. Das Feuer müsste die halbe Stadt verschlingen, um uns zu erreichen. Für unseren Stadtteil gibt es keine Warnungen. Ich weiß das. Trotzdem bestehe ich darauf, eine go bag zu packen. Unsere Ausweise, wichtige Dokumente, ein Handyladegerät, Taschenlampe, der Schmuck meiner Großmutter, alles wandert in einen Rucksack, der nun neben der Tür steht. Auch wenn ich weiß, dass es sinnlos ist, tut es gut, irgendwas zu machen, einem Impuls zu folgen, nicht nur zu warten. Es fühlt sich an wie ein Vorsprung vor einer Situation, die nicht wahrscheinlich ist und trotzdem bedrohlich aus den Nachrichten zu uns kommt: dass Menschen im Ernstfall zu spät losfahren, dass sie im Stau stehen und nicht vorankommen, während die Brände sie einholen.
Das Packen ist schnell erledigt. Dann liegt der Tag wieder weit vor uns, konzentriert auf den Luftfilter in unserem Wohnzimmer. Ich setze meine Kopfhörer auf, weil ich eine Pause von seinem Brummen brauche und checke wieder, ob sich der Wind bald drehen soll. Noch sehen die Meteorologen keine Anzeichen dafür. Nun befrage ich doch das Internet, wie lange es bei minimaler Zufuhr dauert, bis der Sauerstoffgehalt in einer Wohnung zu niedrig ist.
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freiTEXT | Anne Büttner
Faule Kunst
Während Erwin H. in seinem Atelier sitzt und malt, sitze ich in meiner Wohnung gegenüber und bereichere mich an ihm. Viel verdienen lässt sich damit vermutlich nicht. Am Honorar beteiligen sollte ich ihn trotzdem. Schließlich ist er es, der die eigentliche Arbeit hat. Er ist der Disziplinierte, der Kreative. Der, der schafft, während ich ihn lediglich abtippe. Mehr als das ist es ja nicht.
Erwin H. zu erdenken wäre wesentlich aufwendiger. Dinge müssten gründlich überlegt werden, ein Setting installiert und Surroundings geschaffen. Das finge mit dem Atelier schon an. Vermutlich wäre das dann eher Galerie als Werkstatt, wahrscheinlich verortet in einem durchgentrifizierten Bezirk einer großen Stadt, warum nicht gleich der größten: Hauptstadt also. Hier wäre natürlich noch zu konkretisieren, die Galerieumgebung wenigstens zu verschlagworten. Vielleicht so: Gute Lage, vorwiegend Wohnen, verkehrsberuhigt, ein paar Spätis, einige Cafés, bisschen Einkaufen, bisschen Kinderbetreuung, Gesundheitszentrum, warum nicht, Yoga-Studio definitiv, wahrscheinlich sogar Plural, in Wegbierentfernung Pizza, Döner, Sushi, Tapas, familiengeführter Imbiß mit „ß“ und Traditionscurrywurst sowie eine beachtliche Auswahl an was-der-Bauer-nicht-kennt im Liefergebiet. Dazu kleine Gewerbebetriebe: Fahrradladen, Handyreparaturen, sowas. Irgendwo da in solch einer Gegend befände sich die Galerie also.
Wie weiter? Der zur Straße hin gelegene Teil würde vermutlich als Ausstellungsraum genutzt und wäre ziemlich sicher sehr klar gehalten, minimalistisch. Das Wenige, das herumläge, sähe nicht nach Herumliegendem aus, sondern nach Konzeptkunst. Arbeiten würde der Erdachte in einem den Ausstellungsraum angrenzenden, von außen nicht einsehbaren Bereich. Der Einfachheit halber würde dieser „Raum II“ genannt und dessen Gestaltung der Vorstellungskraft Lesender überlassen. Auch der Schaffensprozess selbst würde vernachlässigt. Da wird man ja nicht fertig, all die Techniken und Stile zu recherchieren und abzubilden, die sich einer wie Erwin H. im Laufe seines, sagen wir, 67-jährigen Lebens angeeignet hätte. Hilfreich wäre ein Forum oder sowas in der Art, aus dem sich zügig fundierte Informationen über das Entstehen von Kunst copy-&-pasten ließen, die eines Erwin H.s würdig wäre. Dann gälte es lediglich, elaborierte Adjektive und aufmerksamkeitsheischende Substantivierungen einzustreuen, um den Eindruck eigener Expertise zu stärken und den des Plagiats zu vermeiden.
Noch effektiver wäre, lediglich zu erwähnen, dass sich die komplette Wirkmacht seiner Kunst auf der Leinwand entfaltet. Eine notwendige Verknappung der Ereignisse. Es wollten neue Texte geschrieben werden, andere. Texte, die mehr Geld und Anerkennung versprachen, als einer über einen wie Erwin H.
Es gäbe also nur vernissagebereite Arbeiten in der Galerie. Diese wären so positioniert, dass sie dem erwünschten Eindruck genügten, hier entstünde Kunst nur der Kunst wegen. Wie genau diese Positionierung auszusehen hätte, wäre noch zu überlegen oder der Satz gegebenenfalls zu streichen.
Was noch? Die Exklusivität seines Schaffens betonend, fänden sich nur wenige Werke vor Ort. Den übrigen Raum füllte er, der Erdachte, mit kunstvollem Sein. Säße bedeutsam herum, schritte energisch umher oder lehnte exponiert an exponatloser Wandfläche, von dort auf seine Werke blickend. Natürlich ginge es ihm dabei um Perspektivwechsel und nicht um die Aufmerksamkeit Passierender, die er aber wohlwollend in Kauf nähme. Ebenfalls in Kauf nähme er, gegen zu erfragenden Festpreis, den Verkauf seiner Arbeiten. „VB“ wäre nicht Sache des Erdachten. Ebenso wenig wie seine Kunst wäre Geschmack für ihn verhandelbar. Der fiktive Erwin H. gäbe viel auf sein Äußeres. Dazu gehörte ein handgefertigter Panamahut im Stile Liebermanns und Rockefellers, den er als gleichwertigen Gruß an die Künste und das Unternehmertum trüge. Zudem trüge er ein Hemd aus gebürsteter Baumwolle, unter dem sich ergrautes Brusthaar um ein mehrlagiges Goldkettchen rankte. Über Kettchen, Brusthaar und Hemd sei dem Erdachten ein Seidentuch gegönnt und Leinenhosen. Diese würde er leger aufgekrempelt haben, sodass man die Schmucklederbändchen würde sehen können, die seine von Sonne und Betacarotin gefärbten Fesseln zierten. An den Füßen trüge er Espadrilles. Wie Sonny Crockett in Miami Vice, den er aber nur heimlich bewunderte.
Vor allem aber trüge Erwin H. in meiner Version von ihm eines: einen weniger handwerklichen Namen. Vielleicht wäre er ein Friedrich W. oder ein Albrecht M. Vielleicht auch ein Korbinian von B. Der noch zu beschließende Name würde in silbernen Lettern am Galeriefenster verkündet. Der intendierten Wirkung wegen (edel, geheimnisvoll), wären sie auf einem Sichtschutzstreifen aus wertiger Glasfolie aufgebracht. Eventuell mit dezentem Grafikelement noch. Aber das sind Feinheiten, die bei einem Getränk überlegt oder nach weiteren vergessen werden könnten.
Abschließend überlegt wurde hingegen folgendes: Zum Rotwein, den er natürlich tränke, gönnte er sich gern Käsespezialitäten, Trüffelsalami, Datteln, Kapern und Grissini, die mit etwas Feigensenf auf einer Schiefertafel angerichtet wären. Das alles würde er regelmäßig beim Feinkostladen seines Vertrauens erstehen, den er selbstverständlich hätte. Und einen hochkarätigen Siegelring hätte er auch. Den trüge er am selben Zeigefinger, mit dem er seine Edelholzbrille zurechtschöbe, wann immer er meinte, dass diese beim kunstvollen Umherblicken ihre Position verlassen habe. Was nicht passieren würde, da er natürlich eine Maßanfertigung besäße und kein positionswillkürliches Kassenmodell wie der echte Erwin H.
Gerade habe ich ihn gesehen, den echten Erwin H. Immer, wenn ich das Haus verlasse oder betrete, komme ich an seinem Atelier vorbei. Und auch hier, von meinem Schreibtisch aus, kann ich ihn sehen.
Erwin H. stört diese Sichtbarkeit nicht. Im Gegenteil: Erst, wenn das Licht der Leuchtstofflampen den Raum stärker hellt, als der Tag das Außen, erst dann tritt er in Erscheinung. Genau genommen ist er dann einfach da.
Noch nie sah ich ihn sein Atelier betreten oder verlassen. Eigentlich kenne ich ihn nur dort seiend. Entweder an einer Leinwand arbeitend oder krummrückig an einem Tapeziertisch in der Raumesmitte. Auf dem Tisch finden sich Farben, diverse Spachtel und Spatel, Paketband, Löschpapier, Teppichmesser, Specksteine, Lackdosen, Scheren, Stifte, Bindfäden, Pinsel zum Zeichnen und Leimen, Wassergläser verschiedener Füllstände und Auswaschspuren, weiteres Aufzählungslängendes sowie eine Isolierkanne mit Tee, tippe auf Sanddorn oder Hagebutte.
Die echte Fensterbank des echten Erwin H. ist in ihrer Absichtslosigkeit perfektes Stillleben: Neben einem kunstvoll angeschlagenen Teller, den sich frischgeschimmelte Pfirsiche mit bald schimmelnden Tomaten teilen, findet sich allerlei Adjektivloses: eine Dose Studentenfutter, ein Radiorekorder, Sitzkissen, Zwirn, Reißverschlüsse, Muschelschalen, Kerzenwachs, Geschenkband … sowas. Einige Staubstellen weiter türmen sich Tonträger. Vorstellbar sind Chansons: Gainsbourg, Piaf, Conte. Oder Houellebecq, egal, ob der jemals auch nur ein Chanson gesungen hat. Einfach, weil Chansons zu Houellebecq passen und Erwin H. mit seinem Tumbleweed-Haar, der fahlen Haut, der egalen Kleidung und dem Pinsel, der zigarettengleich zwischen seinen Lippen klemmt, an ihn erinnert.
Außer Chansons wären auch Weltmusik oder Mitschnitte großer Rockfestivals denkbar. Vielleicht weiß er selbst nicht mehr, was auf den Silberlingen zu hören ist, die manch verkrustetem Insekt Totenbett und manch verkrustetem Gefäß Untersetzer sind.
„Erwin H. macht was er will“, verkündet ein Scherenschnitt im Fenster. Vor allem macht Erwin H. eines: kein Geheimnis aus sich. Weder aus sich noch aus seiner künstlerischen Vorliebe für huttragende Modelle, an denen ordentlich was zu malen dran ist. Wenn das Licht brennt, steht ihnen und allen anderen sein Atelier offen. Manchmal bringen sie Dinge mit, von denen sie annehmen, es sei Atelierskost. Rotwein. Käsespezialitäten. Trüffelsalami. Datteln. Kapern. Grissini. Feigensenf. Sowas. Ob Erwin H. je davon probiert hat, weiß ich nicht. Rotwein trinken sah ich ihn jedenfalls nie. Und auch sonst nichts Kompliziertes naschen. Nichts, das um seine Aufmerksamkeit buhlt. Denn die gilt einzig seiner Kunst, die sich dicht an dicht drängt oder stapelt, wo kein Drängen mehr möglich ist.
Aktuell arbeitet er an etwas Realistischem in Öl: Teilsanierter Altbau. Fünf Stockwerke. Putzfassade mit Sauklauengraffiti im Sockelbereich. Zweiflügelige, teilverglaste Eingangstür. Vor dem Haus Ereignislosigkeit. Neben dem Eingang eine „ZU VERSCHENKEN“-Kiste mit „ZU ENTSORGEN“-Inhalt. Im Erdgeschoss ein beleuchtetes Eckzimmer: Doppelkastenfenster, Oberlicht auf Kipp. Auf der Fensterbank Lautsprecherbox, einige Bücher, keine Sukkulenten. Am Fenster ein Tisch, darauf ein Weinglas und ein aufgeklapptes Notebook. Daneben etwas, das ein Manuskript sein könnte. Immerhin ein Stapel. Immerhin beschrieben. Darauf ein Aschenbecher und eine Karaffe mit Rotwein. Denkbar wäre natürlich auch Traubensaft, aber wozu.
Am Notebook eine rauchende Person: Gesicht displaybeleuchtet, zusammengekniffene Augen hinter eckigen Brillengläsern, der Blick hinter der Scheibe zum Erliegen kommend. Schräg hinter der Person eine an Leuchtkraft sparende Lampe sowie eine an Pracht sparende Pflanze vor einer bilderlosen Wand in Beton-Optik. Mehr ist nicht zu sehen.
Erkennen kann ich mich dennoch. Dabei trinke ich gar keinen Rotwein. Und eine Karaffe habe ich auch nicht. Aber hätte ich eine, wäre sie aus kunstvoll geschliffenem Bleikristall und nicht aus leicht zu zeichnendem, schmucklosem Glas. Dass die mir von Erwin H. verpasste Brillenform von meiner abweicht – geschenkt. Und auch, dass auf dem Fensterbrett sehr wohl Sukkulenten stehen. Sehr schöne sogar. Das Manuskript lasse ich mir hingegen sehr gern gefallen. Das schmückt meinen Tisch mehr als die zu erledigende Bürokratie, die dort eigentlich liegt.
Ich frage mich, ob Erwin H. mit seinem Bild über mein Schreiben mehr verdienen wird als ich mit meinem Schreiben über sein Malen. Schwer vorstellbar. Dafür müsste erstmal jemand das Bild kaufen. Und ehrlich gesagt …
Nur so tippe ich seinen Namen in die Suchmaschine. Schon beim dritten der elf Buchstaben des Nachnamens schlägt die Autovervollständigung an. Eins ist sicher: So, wie Erwin H. vor der Welt kein Geheimnis aus sich macht, macht die Welt auch keines aus ihm. Schon lang nicht mehr! Zumindest am Verkaufserlös beteiligen sollte er mich! Das ist ja wohl das Mindeste! Schließlich bin ich es, die die eigentliche Arbeit hat! Ich bin die Disziplinierte, die Kreative! Die, die schafft, während er mich lediglich abmalt! Mehr als das ist es ja nicht!
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freiTEXT | Fynn Bastein
Frierende Epiphyten
Eine Störung unbekannter Größe
Die letzten Tage war es kalt geworden im Gebäude B8253 und Moos war sich unsicher, ob es nicht vielleicht schon immer so kalt war. Ob sich nicht einfach eine neue Sensibilität bei ihm gebildet hatte. Es war nichts Ungewöhnliches für Moos. In Abständen, die sich keinem Muster zu unterwerfen schienen, wurde sein Leben von neuen Sinnen verkompliziert – neue Verbindungen fanden sich in seinem Gehirn oder ihm wuchsen neue Geruchsorgane, die ihm auf eine absonderliche Art und Weise gut standen. Doch das Thermometer im Flur verriet ihm: nicht er, sondern die Umgebung war dieses Mal der Auslöser. Das Problem war nur, dass Moos keine Ahnung hatte, woher die Kälte kam. Bis jetzt war seine Erdgeschoßwohnung, die sich wie ein verschrecktes Tier halb unter dem Erdboden verbarg, immer kuschelig warm gewesen – und das obwohl er sich weigerte, die Heizung anzuschalten.
Das Gebäude war eines unter vielen gleichen, die sich nur in Gebäudenummer und Farbton unterschieden. Moos war schon vor einer Weile eingezogen, man konnte aber kaum von ‚wohnen‘ sprechen. Normalerweise kam er nur zum Schlafen nach Hause und genau dabei störte ihn die Kälte nun. Es war weniger eine klirrende als eher eine zugige Kälte, als wäre sein Bett strategisch auf einer Klippe platziert worden. Sie schien von allen Seiten zu kommen, was die Suche nach einem Auslöser als schwer bis unmöglich gestaltete. Geplagt, mehr von der Ausweglosigkeit der Situation als von der Kälte selbst, entschied sich Moos, noch ein bisschen zu arbeiten – eine Tätigkeit, die ihn meistens zur Ruhe brachte. Moos arbeitete bei der Verwaltung des Ortes in der Abteilung der kleinen Dinge. Moos war alleinig für die Kategorisierung der kleinen Störungen verantwortlich. Störungen können alles sein – physische, ästhetische, olfaktorische. Gerade erst hatte Moos eine neue Kategorie ins Leben gerufen – die der schlecht gesetzten Pflastersteine. So gab es welche, die schräg waren, welche die ein bisschen erhobener als die Steine um sie herum waren und welche die gar eine andere Farbe hatten. Seine Arbeit gliederte sich in einen suchenden Teil, bei dem er entweder selbst durch die Stadt streunte oder andere Bewohnende zu ihren Störungen befragte, und in einen kategorisierenden Teil, bei dem er in einem großen Hochhaus, seinem Wohnhaus nicht unähnlich, saß und die Störungen in verschiedene Kategorien einteilte. Vom Hochhaus aus konnte Moos fast die gesamte Stadt überblicken. So konnte er, wenn er über eine der Störungen las, in die Richtung blicken, in der sie sich befand und sich vorstellen, wie sie dort, auf eine Art widerlich und schön zugleich, das Stadtbild veränderte. In seiner Erdgeschoßwohnung war das schwer möglich und so hatte die Arbeit mit den Pflastersteinen von seinem Bett aus eine sehr viel weniger lebhafte Qualität. Als er dann so müde wurde, dass er bereit war zu schlafen, duckte er sich unter seine Decke. Nun ähnelte Moss einem verschreckten Tier, das vor dem kalten Wind flüchtete.
Entdeckung der Kälte
In der nächsten Nacht konnte Moos wieder nicht schlafen, seine Decke war kein ausreichender Schutz gegen die Kälte. Seine Ohren froren und er bildete sich ein, in seinen Haaren Eisklumpen spüren zu können. Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, beschloss Moos, sich auf die Suche nach dem Ursprung der Kälte zu machen. Er befeuchtete äußerst fachmännisch seinen Finger, um besser einschätzen zu können, woher die windige Kälte kam. Er stellte direkt fest, dass der Auslöser wohl keine undichten Fenster waren. Es kam durch die Tür aus dem Flur. Also trat er im Schlafanzug und mit erhobenem Zeigefinger hinaus. Moos hatte sich noch nie mit dem Rest des Hauses beschäftigt. Nicht mit seinen direkten Nachbarn und erst recht nicht mit den restlichen Stockwerken. Er wusste nicht mal, wie viele Stockwerke das Haus hatte. Die Kälte rührte aber von den oberen Stockwerken her, also musste er sich wohl oder übel nun damit auseinandersetzen. So folgte er der Kälte wie eine willenlose Marionette, ein Stockwerk hinauf und ein zweites und ein drittes. Nach dem 6. Stockwerk war die Frage nach der Anzahl der Stockwerke auf einmal dringlich. Nach dem 10. Stockwerk wurde sie durch die Frage abgelöst, ob das Gebäude überhaupt ein Ende hatte. Nach dem 13. Stockwerk bereute Moos, sich keine Flasche Wasser mitgenommen zu haben. Ab dem 15. Stockwerk fiel Moos auf, dass es merklich immer kälter und kälter wurde. Im 17. Stockwerk wurde die Kälte fast unerträglich. Nach dem 20. Stockwerk hörte das Gebäude endlich auf und dort befand sich nichts mehr. Die Treppe des 20. Stockwerks führte wortwörtlich ins Nichts und über Moos war nur noch der Sternenhimmel. Das erklärt die Kälte, murmelte Moos. Erschöpft von den Treppenstufen setzte sich Moos auf die vorletzte und betrachtete die Sterne. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass direkt gegenüber auch ein Hochhaus war und dass dort ein Mann am Fenster saß. Er winkte ihm zu und Moos winkte zurück.
Er war ihm unheimlich unangenehm gesehen zu werden. Nicht weil er mitten in der Nacht im Schlafanzug die Sterne beobachtete, sondern einfach, weil ihn jemand wahrnahm, in einem Moment, in dem er selbst fast vergessen hatte, dass er existierte. Peinlich berührt machte er sich auf den Weg die Treppe hinunter, bemüht nicht noch einmal die Blicke des Mannes zu streifen. Der Weg nach unten kam ihm noch länger vor als der Weg hinauf. Als er in seinem Bett wieder ankam, kam es ihm im Vergleich zum Ende des Hochhauses unglaublich warm vor. Im Halbschlaf fragte er sich, ob es wohl eine Medizin für Situationen gäbe, in denen man aus dem Nicht-Existieren herausgerissen wurde.
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freiTEXT | Philipp Nowotny
Muse gesucht (m/w/d)
Ich lege meine ausgedruckten Texte um den Topf der Sukkulente. Dann setz ich mich aufs Sofa und schau zu. Die Sukkulente sagt, ich solle weggehen, das mache sie ganz nervös. Ich sage, ich würde gerne sehen, an welchen Stellen sie lache, aber die Sukkulente weigert sich zu lesen, solange ich da bin, also gehe ich auf den Balkon eine rauchen. Durchs Fenster beobachte ich die Sukkulente, aber von draußen ist es schwer, die Emotionen abzulesen, außerdem besitzt die Sukkulente sowieso kein Gesicht.
Ich frage meine Sukkulente, was sie nun zu meinen Texten sage. Sie sagt, sie freue sich, dass ich mich künstlerisch entfalten wolle. Ich sage meiner Sukkulente, sie könne ruhig sagen, wenn ihr meine Texte nicht gefielen. Sie sagt, es sei nicht so, dass ihr meine Texte nicht gefielen. Und es liege nicht an meiner Technik. Sie könne es nicht konkret benennen. Dann sagt sie, ich brauche vielleicht eine Muse. Wo ich denn jetzt eine Muse finden solle, frag ich. Meine Sukkulente schweigt vielsagend.
Geniale Texte bräuchten Musen, sagt meine Sukkulente. Ich frage mich, ob das notwendig ist. Es klingt nach zusätzlichem Aufwand. Ich möchte nur ein wenig Feedback bekommen, möglichst konkret, dann an den Texten feilen, damit ein Publikum finden, das ab und zu lacht, in den richtigen Momenten traurig wird, immer wieder den Kopf schüttelt, weil es jetzt doch wieder ganz schön seltsam wird, das nicht aufhören kann zu lesen und nach mehr verlangt. Meine Sukkulente sagt, dazu sei Team-Arbeit nötig.
Schreiben ist für mich das Gegenteil von Team-Arbeit. Du setzt dich hin. Du schreibst einen Satz. Du schreibst den nächsten Satz. Andererseits wiederum ist Schreiben nicht einmal Einzel-Arbeit. Du schreibst ja nicht selbst, nicht bewusst, deine Finger schreiben, du fütterst sie mit Impulsen, sie machen daraus Buchstaben und Wörter. Meine Sukkulente sagt, für genau solche Impulse brauche es eine Muse. Sie müsse mein Inneres besser kennen als ich selbst. Ob mir denn niemand solches einfalle?
Suche Muse, schreibe ich also, die mir helfen solle, ein paar seltsame Sachen aufzuschreiben, die passiert sind, von denen ich nicht ganz genau weiß, was Wirklichkeit und was Einbildung ist. Viel bin ich gewandert (ich nutze aber gerne auch fliegende Teppiche), viel habe ich zu erzählen. Sage mir, Muse, wie ich auf unterhaltsame Weise Ordnung schaffe in all den Abenteuern, die mich ereilten. Bisschen pathetisch, meint die Sukkulente. Ich füge hinzu: Budget gering, Mitarbeit ehrenamtlich.
Ich frage meine Sukkulente, wo ich den Musen-Aufruf veröffentlichen solle. Sie sagt, das wisse sie nicht, sie habe noch nie die Stelle einer Muse öffentlich ausgeschrieben, auch noch nie gehört, dass dies jemand getan hätte oder üblich sei. Ich weiß nicht, was sie hat, das mit der Muse war ja ihre Idee. Meine Sukkulente sagt, Musen seien oft dort, wo man sie nicht erwarte, manchmal direkt vor der eigenen Nase. Ich mache einen Social-Media-Post. Sofort ein paar Likes. Dann warten wir.
In den nächsten Tagen schau ich auch immer wieder in den Spam-Ordner, aber es meldet sich keine Muse. Meine Sukkulente sagt, alle Musen seien wohl beschäftigt. Vielleicht gebe es eine ganz naheliegende Lösung für die vakante Stelle, an die ich noch nicht gedacht habe. Ich suche im Internet nach Schulen für Musen, vielleicht könnten die Absolventen empfehlen, aber ich finde nichts, Schulen für Musen sind wohl sehr diskret, wahrscheinlich werden sie sonst mit Anfragen überschwemmt.
Ich lese mir die Ausschreibung für meine neue Muse noch einmal durch. Sie ist höflich formuliert, und die fehlende Bezahlung ist im Kultursektor die Regel. Ein paar Kriterien passe ich aber an. Teamfähigkeit und Manieren setze ich auf optional, ich komme ja auch mit meiner Sukkulente zurecht, und Office-Kenntnisse sind als Muse nicht nötig, die kommen ganz raus. Ich überlege, ob ich doch Demokratiefeindlichkeit ausschließen solle, will aber den Kreis der Bewerber nicht zu stark eingrenzen.
Dann habe ich eine Idee, warum sich bislang keine Muse auf meine Ausschreibung gemeldet hat. Ich habe keine Deadline gesetzt. Das kenne ich von mir selbst: Ohne Deadline geht gar nichts, und gerade eine Muse braucht sicher ordentlich Druck, woher sollte sonst die Inspiration kommen. Ich überlege, eine siebentägige Frist zu setzen, entscheide mich aber für eine harte Linie, es ist einen Versuch wert. Bewerbung nur noch möglich bis heute Nacht, 23:59 Uhr, schreibe ich, es gelte der Posteingang.
Ich aktualisiere die Ausschreibung. Dann warte ich. Alle paar Minuten synchronisiere ich meine Mails. Nichts, auch nicht über meine Social-Media-Kanäle. Ich warte. Und zum Glück fällt mir dann doch ein, was der Fehler ist: Ich habe komplett an der Zielgruppe vorbeigedacht – und um schriftliche Bewerbung gebeten. Eine Muse aber schreibt selbstverständlich gar nichts. Sie lässt schreiben. Also Anschrift und Telefonnummer rein, Email-Adresse raus. Um persönliche Bewerbung werde gebeten, fertig.
Ich bin nun überzeugt, die perfekte Ausschreibung für Musen aufgesetzt zu haben. Jetzt könne ich nur noch warten, sage ich mir. Ich beruhige mich damit, dass die meisten Bewerber sich immer erst kurz vor Fristende melden. Wobei ich zu dieser These keine statistischen Daten vorweisen kann, es ist lediglich anekdotisches Wissen, das auch nur auf meinem eigenen Deadline-Verhalten beruht. Ich spüre, dass die Sukkulente mich beobachtet. Sie findet meinen Perfektionismus albern, glaube ich.
Nichts tut sich. Ich sage meiner Sukkulente, ich habe ein Problem. Niemand wolle meine Muse sein. Wenn ich weiterhin schreibe, müsse ich dies wohl auch künftig uninspiriert tun. Die Sukkulente sagt, es sei zum Haareraufen (sie hat gar keine Haare!), ich denke ganz falsch und unterliege einem Irrtum, was eine Muse sei. Dabei sei es doch offensichtlich. Sie habe gehofft, ich komme selbst drauf. Sie schweigt. Ich sage, sie solle unbedingt fortfahren. Sie räuspert sich. Da klopft es an der Tür.
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freiTEXT | Katharina Flor
Erdbeerschokolade und „Löwenzahn“ – mein Medikamentenentzug
Ich trinke koffeinfreien Kaffee und esse seit Tagen Erdbeerschokolade, um mich bei Laune zu halten, außerdem habe ich drei Kilo abgenommen. Ich wäre gerne wieder normal. Ich berichte hier von meinem Medikamentenentzug. Heute ist Tag 19. Ich führe Strichliste. „Jede Stunde und jeder Tag, den Sie schaffen, bringt Sie weiter weg von dem Mittel.“ Dieser Satz hängt an meiner Wand. Und noch ein paar andere wichtige Sätze. „Es wird besser.“ Ich habe gerade einen guten Moment. Der ganze Tag ist schon ganz okay. Allerdings hochemotional. Ist es endlich bald soweit, dass ich wieder einen normalen Alltag führen kann? Eigentlich schmeckt mir die Schokolade gar nicht mehr. Mir schmeckt das nicht mehr. Brauche eine Ablenkung, weil ich sonst mein Projekt „Frei sein von Medikation“ nicht schaffe. Gestern war es hart. Ich knickte ein. Ich dachte, es sei vorbei. Heute ist ein neuer Tag. Jeder Tag ist anders.
Schon ein paar Tage vor Weihnachten 2024 dachte ich, dass ich nun auch den letzten Rest meines Neuroleptikums absetze. Ein Medikament, das einst Segen brachte und für viele Menschen immer noch Segen ist. Für mich ist es jetzt Fluch. Ich merke, meine Spannung steigt. Aber ich mache weiter, was soll ich sonst tun? Mit meinem Therapeuten habe ich besprochen, alles da sein zu lassen, kein Kampf gegen die Absetzsymptome. Annahme. An Weihnachten hatte ich den Versuch abgebrochen. Ich dachte ein wenig, es läge an Weihnachten. Nein, weit gefehlt.
Dann ein weiterer Versuch am Sonntag, den 2. Februar 2025. Ich merkte zunächst nichts. Habe scheinbar weit verdrängt, dass es schlimm werden könnte. Am Donnerstag, den 6. Februar ein totaler Absturz nach der Therapie. Ich habe da immer noch nicht an Absetzsymptome gedacht und das Medikament dann doch wieder genommen. Am nächsten Tag führte ich das Absetzen fort. An diesem Wochenende fiel dann noch die Heizung aus und ich saß da mit 17 Grad in der Wohnung. Ein paar Tage war alles noch machbar. Dann am Mittwoch extreme Durchlässigkeit. Wie erkläre ich, was das ist? Du kannst nichts mehr ertragen. Deine Themen schon mal gar nicht. Überhaupt keine Schutzschicht mehr. Der Körper steht ohne da. Es ist schlimm. Schlaflosigkeit setzte ein. Den folgenden Donnerstag wieder Therapie. Abends musste ich eine Veranstaltung verlassen. Ich ertrug nichts mehr. Noch nicht einmal Klavierklänge. So gut wie es ging, fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Da ein totaler Absturz. Es setzten Hochspannungszustände ein. Panik. Ich wusste nicht, was mit mir geschieht. Im Sommer hatte ich auch Absetzsymptome. Da habe ich mit dem Absetzen begonnen. Im Sommer war es auch schwer, aber nicht so heftig. Telefonseelsorge nicht erreichbar. Überlastung. In der Psychiatrie angerufen. Laut der Stimme am anderen Ende der Leitung: „ein Notfall“. So wollte ich das nicht! Brauchte sofort Hilfe. Wusste nicht, wohin mit der Spannung. Am Telefon erhielt ich ein paar Ratschläge. Ich habe sofort ein paar Kraftübungen probiert, um die Spannung zu reduzieren. Im Kopf Tiernamen aufgezählt. Es war katastrophal. Es half auch nur bedingt. Die Spannung zu hoch. Ich ging draußen spazieren. Runde für Runde und überlegte. Ich wusste, ich halte es nicht mehr aus. Aber ich wollte das unbedingt schaffen! Ich drehe durch, insbesondere in der Wohnung. Telefonate. Meine Schwester holte mich ab. Ich war zwei Nächte bei ihr, dann eine Nacht bei meiner Mutter. Das alles ging nicht gut. Ich ertrug nichts. Die Mutter telefonisch nicht zu erreichen oder die Sirene in der Ortschaft brachte heftige Spannungsanstiege und Angst. Ich lief ständig umher, um gegen die Spannung vorzugehen. Einkaufen ging nicht. Ich hüpfte durch den Supermarkt, konnte vor Angst nicht warten. Keine Menschen ertragen. Keine Trigger. Das waren die härtesten Tage. Hochspannung Tag und Nacht. Ich konnte gar nicht mehr schlafen, vielleicht eine Stunde. Stattdessen musste ich meine Spannung in Griff bekommen. Nachts in Stützposition. Mitunter kalte Dusche. Trotz Husten. Später noch die Menstruation. Ich konnte es mit mir selbst nicht ertragen. Permanent in Angst, es könnten schwierige Gedanken in den Kopf kommen. Angst vor Gefühlen. Eine Angsthypnose, die ich in der Zeit hörte, kann ich jetzt
nicht mehr hören. Zu schlimm ist die Erinnerung an diese Tage. Ich nehme noch ein anderes Medikament bei Bedarf, in diesen Tagen so hoch dosiert, wie nur möglich. Es half kaum. Schnell weiter im Text!
Ich fuhr wieder nach Kiel. Und seitdem bin ich wieder in meiner Wohnung. Nur langsam verbessert sich der Zustand. Ich schlafe mittlerweile wieder vier bis fünf Stunden. Aber mein Kopf ist voller Angstgedanken. Mal mehr, mal weniger. Es kommen mehr Phasen der Ruhe. Die Hochspannung schlug sogar in extreme Entspannungszustände um, so sehr, dass mich das beunruhigte. Das Atmen fiel schwer. Gespräche kann ich immer noch nicht gut aushalten. Ich kann nur übers Wetter, Essen oder Ähnliches sprechen. Ich kann keine Filme zur Ablenkung schauen, außer Wissenssendungen für Kinder. Ich habe immer wieder Spannungszustände und auch Angstzustände. Gestern dachte ich, dass ich abbrechen muss. Aber nein, ich will es schaffen! Das kann ich nicht noch einmal durchmachen. Alle sagen, dass das vorbei geht. Es kann aber Wochen dauern. Am schlimmsten ist für mich das abendliche Alleinsein. Die Dunkelheit. Ich habe ein LED-Licht gekauft, damit ich mich im Bett sicherer fühle. Höre den ganzen Tag Radio. Ich weiß, dass ich stark bin. Ich ziehe das jetzt durch. Meine Spannung ist jetzt hoch, aber nicht extrem hoch. Und ich habe Angst. Muss mich diesen Gedanken aussetzen, weil sie sonst immer mehr Angst machen. Das Schlimmste ist vorbei, hoffe ich! Es ist immer noch schwer und ich arbeite an der Angstbewältigung. Mein Therapeut sagt: „Sie surfen die Angstwelle.“ Ja, genau das mache ich, auch jetzt gerade. Ich war gerade ganz weit oben, versuche jetzt sanft abzusteigen. Sanft wird das nicht, werde wohl ein wenig stolpern, fallen und wieder aufstehen. So bin ich.
Fortsetzung. Damit sollte es enden. Nach 1000 Worten. Es ist inzwischen vorbei. So gut wie. Ich hatte Tag X erreicht. Morgens ein Gespräch, dann spontan in einen ehrenamtlich betriebenen Laden gegangen, um mich bezüglich einer Mitarbeit zu erkundigen. Danach bin ich nach Hause. Dort ging es wieder los! Ich lief dann im Stadtteil umher, um Müll zu sammeln. Ablenkung. Graue Wohnblocks. Unvertrautheit. Meine Hände froren in den Einmalhandschuhen. Stiefelte durch den Dreck. Wann hört das endlich auf? Mein Ziel für diesen Tag: Abends zur Tanzimprovisation. Das wollte ich noch schaffen. Schon das Krankenhaus im Kopf. Ich ging zum Tanzen. Mit Bedarfsmedikation im Bauch. Es ist nicht zu übersehen, dass es mir schlecht geht. Ich halte durch, gebe mein Bestes. Der Tanz – der Pfeiler meines Lebens! Ach, könnte ich doch immer tanzen! Wieder zu Hause. Ich legte mich hin. Um Mitternacht wachte ich wieder auf. Ich brauchte noch eine Weile, dann entschied ich ins Krankenhaus zu fahren. Konnte nicht mehr. Der Punkt war erreicht. Ich rief ein Taxi. Auf dem Klinikgelände verirrte ich mich zunächst, fand dann doch die Notaufnahme. Es war verfahren. Ich wollte da bleiben, immer noch mit der Hoffnung, dass es sich bald bessert. Eine Aufnahme war nicht möglich. Das Gespräch mit dem Arzt aber gut. Ich ließ los. Endlich ließ ich los. Noch vor Ort nahm ich das gefürchtete Medikament wieder ein. Niedrig dosiert. Machte mich dann früh morgens auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Der Weg war angenehm. Ruhig und menschenleer. Das Straßenlicht warm. Ab da lag ich nur noch von morgens bis abends. Völlig erschöpft. Am Samstag noch einmal Panik. Noch einmal die Notfallnummer der Psychiatrie gewählt. Eine freundliche Frau half mir. Sie riet, in den Schlaf zu finden. Ich nahm sie beim Wort und legte mich gegen 17 Uhr hin. Medikamente und Schlaf. Ich schlief, aber nicht viele Stunden am Stück. Zwei Tage ging es so. Immer noch den ganzen Tag Radio. Immer wieder die gleichen Songs. Nicht zu emotional. Damals in den Kliniken lief auch immer Radio von morgens bis abends. Sie untermalt meinen Zustand. Man sitzt, wartet und guckt raus, hört. Und macht Therapie. Ich warte jetzt auch, dass sich mein Zustand bessert. Ich bin dankbar, das Medikament wirkt. Der Schlaf- und Nerventee musste weichen, konnte ihn nicht mehr sehen. Ich brauche jetzt ein wenig mehr von dem Wirkstoff. Was ist jetzt? Ich habe Angst vor Gefühlen. Vor schlimmen Zuständen. Abstürzen. Im Moment möchte ich nichts fühlen. Viel zu viel gefühlt. Dann aber macht mir der Gedanke doch etwas Angst. Nein, ich möchte fühlen. Nur heute nicht. Ich kann diesen Text lesen, ohne in starke Angst zu verfallen. Ein bisschen Unwohlsein. Was war das nun? Ist es meine Grunderkrankung, die durchschlug? Oder waren es Absetzsymptome? Vielleicht beides. Es gab zuvor Warnsignale. Ich habe sie ignoriert. Ich wollte unbedingt von den Medikamenten weg. Wollte mich von der psychiatrischen Versorgung lösen. Unabhängig und frei fühlen. Gesund sein. Es ist jetzt okay. Ich akzeptiere. Ich akzeptiere, dass ich das gerade nehmen muss. Nur so kann ich zur Zeit leben. 1,25 mg. Das Weglassen dieser kleinen Menge, laut des Arztes „ein Hauch“, brachte mich in diese Lage! Unfassbar! Vermutlich gab mir diese Menge Sicherheit. Die Sicherheit ist brüchig. Muss sie in mir finden. Mich wieder ans Leben heranwagen. Die Dinge wieder an mich heranlassen. Die Angst bewältigen.
Ich erkenne: Ich bin ein neuer Mensch. Etwas ist anders. Ich akzeptiere meine Erkrankung. Nun weiß ich, dass ich trotzdem alles probieren kann, was ich mir wünsche, eben mit der Erkrankung und mit dem Medikament. Und mit Offenheit. Ich sehe den gefürchteten Spätwirkungen ins Auge. Wenn ich Spätdyskinesien bekomme, muss ich damit leben. Dann lebe ich damit. Es findet sich ein Weg. Ich lebe jetzt. Ich habe nicht aufgegeben, ich habe „Ja“ zu mir gesagt und das Beste daraus gemacht. Mir selbst geholfen. Mir Hilfe geholt. Ich mache jetzt anders weiter!
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freiTEXT | Anton August Dudda
Krokodile
Plötzlich Krokodile. Im Park Krokodile, in der Bahn Krokodile, Krokodile überall dort, wo man dachte, hier sei man sicher, hier, wenigstens hier kann einen eigentlich nichts mehr überraschen, Krokodile all over the place wo man dachte, man hätte die Regeln begriffen und sie hätten alles zu einer gewissen Ordnung gebracht, auf der Straße, im Café, im Einkaufszentrum, Krokodile. Krokodile auch an komplizierteren Stellen, Krokodile in Krankenhausbetten, an der Garderobe im Theater, auf der Tanzfläche im Club, Krokodile im Darkroom, Krokodile im Lightroom, Krokodile im Escape Room, Krokodile auf den Lehrstühlen der Fakultäten und Krokodile im Schiffsrumpf, Krokodile in den Zimmern dritter Klasse, den Zimmern zweiter Klasse, den Zimmern erster Klasse, auf Deck und in den Rettungsboten, Salzwasserkrokodile in den Rettungsboten von Flussdampfern und Süßwasserkrokodile in den
Rettungsboten von Ozeankreuzern, sonst könnten sie im Ernstfall ja auch einfach wegschwimmen. Krokodile auch an Orten, die es eigentlich nicht gibt, Krokodile, die nachts unter Kinderbetten lauern, Krokodile im Badspiegel, wenn man vom Zahnpastaausspucken wieder hochschaut, Krokodile in dunklen Kellern mit flackernden Glühlampen, Krokodile in Bäuchen von Verliebten, Krokodile im Hirn von Verrückten, Krokodile im Arsch von Nervösen.
Krokodile auf deiner Nasenspitze als du sagst , du hättest nochmal über alles nachgedacht, Krokodile, die einem vom Herz in die Hose rutschen, Krokodile, die alles immer schon früher gewusst haben, Krokodile, die dich geritten haben müssen, als wir uns küssten, Krokodile von denen man träumt, wenn man mit deinem Geruch in der Nase einschläft, Krokodile im Grundwasser, Krokodile im Abwasser, Krokodile im Mundwasser, Krokodile, die bei Überdosierung giftig sein können, Krokodile, die die Männer weltweit unfruchtbar machen, die Spermienkonzentration verringern, Krokodile im Essen, E110, E112, Krokodile bei Polizei und Feuerwehr, Krokodile, die Drogen verticken und Burger Kings in Brand setzen, Krokodile in der Schlange vor uns, du nimmst die Chicken Nuggets und ich den veganen Whopper, ledig, ledrig, Jacke wie Hose. Krokodile im Nil, Krokodile im Amazonas, Krokodile in der Spree, Krokodile am Strand in der Sonne mit Bikinis und Badehosen, Krokodile am Abend mit Pizza und Wein vor dem Sonnenuntergang, Krokodile, die in den Sternenhimmel schauen und sich klein fühlen, klein und unbedeutend, Krokodile, die in den Arm genommen werden müssten, doch niemand kommt, niemand nimmt die Krokodile in den Arm und wer würde das schon freiwillig übernehmen wollen, die Krokodile zu umarmen, man muss sich ja nur mal diese Zähne anschauen, diese kräftige Kiefermuskulatur und dann diesen zu einem zynischen Grinsen verzogenen Mund.
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freiTEXT | Julius Katins
Die Begegnung im Zug
Ein Aufprall.
Das Jauchzen verstummte, ein Schrei durchschnitt das Abteil. Stille, bis auf das Rattern des Zuges. Zwei junge Männer weiter vorn blickten sich um. Eine Dame beugte sich schwer in den Gang und schaute mehr interessiert als besorgt, woher das Geräusch kam. Der Greis mir gegenüber verdrehte die Augen, ehe er sich weiter am Sudoku versuchte, und hinten fragte jemand, was denn passiert sei. Sogar ich sah von meinem Buch auf.
Eine Kurve hatte das Fangenspiel der beiden Geschwister beendet. Jetzt schluchzte die Kleine am Boden und der kaum ältere Bruder versteckte sich in einer leeren Sitzreihe. Nur die Augen lugten über die Lehne.
„Bis einer weint“, kam doch immer rechtzeitig der Hinweis. Dieses Mal nicht.
Der Vater erhob sich aus der Vierergruppe neben mir und nahm die Tochter auf den Schoß. Sie verstummte und vergrub das Gesicht in seiner Jacke, als die anscheinend kinderlose Dame fragte: „Was hat denn das Prinzesschen?“
Eine Antwort blieb aus. Die dick-roten Mundwinkel der Dame sanken hinab, sie zog sich zurück. Allmählich nahmen die Leute wieder die Gespräche auf.
Der Junge schlich auf den Fensterplatz neben der Mutter, die am Gang dem Vater gegenüber saß. Die Nase wenige Millimeter vor der Scheibe, starrte der Junge nach draußen und flüsterte über die vorbeisausenden Häuser. Als der Zug durch einen Tunnel fuhr, murmelte er die Sekunden: „Drei... vier... fünf...“
Die Mutter blätterte mit den langen Fingern ihre Zeitschrift um. Leicht sah das aus, als streichle ein Windzug die Seite. Dabei tauschte sie über die Brillengläser hinweg einen Blick mit dem Ehemann. An ihn gelehnt schloss die Tochter die Augen.
Mein Blick wanderte zurück auf die Buchzeile. Schwer lag die Lektüre in meinem Schoß und erinnerte mich daran, wie ich meine Zeit zu nutzen hatte. Ich versuchte zu lesen, doch wieder und wieder verschwammen die Wörter.
Ein Ruck. Der Zug blieb stehen. Das war mein Halt.
Ich fing das Stofflesezeichen aus der Luft, platzierte es in der Buchfalte und schloss die Seiten zusammen. Mit den Fingerkuppen fühlte ich den Ledereinband.
Durch die schon offenen Türen drang eine Bahnsteigdurchsage. Ich zog meine schwarz-lederne Reisetasche unter dem Sitz hervor, legte das Buch hinein und stand auf. Der Junge schaute noch immer aus dem Fenster, das Kinn in den Handrücken gestützt, den Ellenbogen auf der Fensterkante.
Wenn er von seinem Glück doch nur wüsste, dachte ich.
Dann verließ ich den Zug.
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