freiVERS | Elia Aubry
Wolken ist ein anderes Gefühl
Wann wirst du wiederkommen frage ich
wirst du wiederkommen?
Der Besuch er kommt zwischen die Zustände
ich meine Wirklichkeit
und meine Wirklichkeit
wo dich der Moment hin und her
wendet zuweilen auch Omeletten
wir fanden unter dem Laub eine Schar
Totentrompeten in Knoblauch geschwenkt
Dass ich denke (immer) wie
ich das gemacht habe mit den Vorstellungen
ich meine Luft unter den Flügeln
und der Wirklichkeit ich meine
Boden unter den Füssen
und der Lust ich meine
das Vergessen der Fallhöhe
wenn dir die Flügel bestellt
nämlich wie brachliegende Felder
im Hand-um-drehen
Der Besuch er linst aus dem Fenster so
als fahnde er dort nach dem Sinn des Lebens
den die Luft (wer weiss) als winzige Materie enthält
Ich meine die Geste des Hypnotiseurs die
dir die Augen in ihren Sockeln wegdreht
Ich flösse dem Besuch beruhigenden Tee ein
streiche ihm behutsam übers Haar und so
weiter halte ich seinen Kopf (Kugel) und richte ihn aus
auf die Einbildung die durch die Wirklichkeit pflügt
Der Horizont er kommt langsam ins Bild
und stellt Gegenwart her ein schmaler
Streifen Himmel erhellt sich
heller rot röter und so
weiter denke ich an einer Stelle so hell
dass es weh tut beim Hineinschauen es
ist 8 Uhr 34 und die Sonne wirft eine Zeichnung
an die Wand über dem Küchentisch
wir meinen die gleiche wie letztes Jahr
Wir führen Protokoll ein Inventar
vor einem Jahr
:in die Sanduhr
hinein
eine Oase denken
Der Besuch er sagt unsere Wörter sind wild
und scheu
nachts schleichen sie einsam durch die Gassen
und benehmen sich unangemessen
Es ist, letzten Endes, das gute
Recht der Wörter, die Dinge durcheinander
zu bringen und […] (G.B.)
Der Besuch er ist gegangen er kommt
und geht wie es ihm passt
er hinterlässt Sätze mit Augen
und Ohren gestohlen
ausgeschüttet am Küchentisch
:der Schreibende wobei
er sich darüber nicht (mehr) im Klaren ist
Ich schreibe: ich schreibe…
Ich schreibe: «ich schreibe…»
Ich schreibe, dass ich schreibe…(G.P.)
Ich schreibe:
wer sich aufs Schreiben einlässt
der tut es nicht um sein Leben zu retten
er tut es um sein Leben zu leben und
merke die Wörter sie hecheln nach Luft
die Möglichkeit ein Wort zu tauschen
die Möglichkeit ein Wort zu leihen
die Möglichkeit ein Wort weiterzuverleihen
ich habe das lange nicht verstanden
die Anatomie von
ich meine die Evolution eines Satzes
Gib mir eine Erinnerung sagt der Besuch
Einfach so eine zufällige?
Ja die erste die sich um 8.45 am Küchentisch einstellt
Die Unmöglichkeit ein Wort zu tauschen
Die Unmöglichkeit ein Wort zu leihen
Die Unmöglichkeit ein Wort weiterzuverleihen
fast hätte ich gesagt Sprachlosigkeit
oder wir legten Wörter in unsere Köpfe
wie etwas Zerbrechliches in etwas Zerbrechliches
Wie lange noch fragt der Besuch
wann werden wir
und eine Handvoll Wunder am Wegrand
Bilder machen um zu sehen
ob sie uns entsprechen
Der Besuch er sagt
ich werde ein Gefühl für dich
an dem du entlangleben kannst
Morgens liegen wir träumend in der Schwerelosigkeit
das Erwachen wie ein Wiedereintritt
wie Verrat an den Träumen
die Schwerkraft als Strafe
Und Träume solche die hinüber
wollen und kleben bleiben
fast hätte ich gesagt wie Scheisse
schlagen wir in den Wind
Bäume im Wind nie sind sie schöner
ich meine Gedanken in den Wind
nie schöner vielleicht
in den Wolken
Wolken ist ein anderes Gefühl
Literaturnachweis:
Georges Bataille, 2005, Kritisches Wörterbuch, Merve Verlag Leipzig
Georges Perec, 2013, Träume von Räumen, Diaphanes Verlag Zürich
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freiVERS | Torsten Siche
andächtig
Vermoosung unter der Zunge
mehr als ein aufgestoßenes Gebet
zwischen den Seiten zittern
die Finger ein Lied herbei
ein Krächzen gespuckt statt Lobpreis
die Erinnerung splittert unter den Nägeln
schnell überwachsen die Spuren im Gras
noch knistert das Laub des letzten Jahres
unter den Schuhen erhebt sich der Gesang
wie fallen gelassen kurz nach der Geburt
Bruchstein unter Efeu vergessen
beim Näherknien bricht das Dickicht
unter der Stirn keine Melodie
kein Klageton
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freiVERS | Lukas Leinweber
Der Wald und lauter Bäume
Die Überzeugung liegt falsch
und holt sich ein steifes Genick
Die Meinung macht sich breit
und bleibt im Türrahmen stecken
Das Gefühl schlägt Alarm
und trifft wen im Gesicht
Der Menschenverstand steht goldrichtig
und weicht den Argumenten aus
Der Glaube fliegt hoch hinaus
und drunter vergammeln Tatsachen
Die Erkenntnis geht fehl
und wird in der Sackgasse heimisch
Die Wahrheit tanzt im Kreis
und ihr wird schwindelig dabei
Die Kritik kommt zu spät
und dafür bestraft sie das Leben
Das Denken fährt fort
und erholt sich von sich selbst
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freiVERS | I. J. Melodia
Es fehlt uns der Hunger
Wir schlafwandeln
durch die Langeweile
auf einem Weg aus Worten
die es nicht mehr gibt
Mir gingen die Synonyme aus
meine Metaphern verfehlten
blieben in der Kehle stecken
Unsere Tage streunen
durch den Regen
Wir pflücken Strandgut
aus der Stille
warum redest du von morgen
Verzeih mir
dass ich dich schon zuvor
geliebt habe
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freiVERS | Crispin Scholz
du hast auf der Parkbank gesessen
und gesagt, dass du mich interessant findest
und ich habe mich verliebt
zumindest schreibe ich das
wenn jemand fragt
meistens frage ich
kann ich vorbeikommen?
seitdem schreibe ich kongruente Gedichte
wo lyrisches Ich und Autor
beinahe
gleichzusetzen sind
ich zum Beispiel
finde Menschen die auf Lehnen von Parkbänken sitzen attraktiv
weil sie ein bisschen freier sind als ich
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freiVERS | Georg Großmann
Aubezki
(AUssenBEZirksKInd)
ich bin ein gemälztes Kind
ich bin ein in
Pappelschnee gewälztes Kind
ich bin ein Kind der Weiher
und Regenfälle
des regengewürzten
Betons
des sommerblüten-
verschmierten Betons
des straßenmalkreide-
geschminkten Betons
des straßenleuchthonig-
getönten Betons
ein Kind der bunten Betonburg
nahe Neu-
Florida
—
ich bin ein Faltenbalgkind
ein Algenkind
ein Fußball-unterm-Arm-Kind
ein Räuber-und-Gendarm-Kind
ein Kind der Flächen
und Schnittstellen
der Aufzugkabinen und
Stiegenhäuser
Kind der frisch gemähten Wiesenstücke
Kind des sonnenwarmen Rindenmulchs
ich bin ein Ekazentkind
ein Wohnhausanlagen-
ein Sportplatzanlagen-
ein Sprenkleranlagen-
ein Gegensprechanlagen-
Ge Ge Nsch ppprrrrrrrrrrrr *ech*-
Anlagen-
Kind
ein "Ich komm runter", "Na, ich darf nicht", "Ist Mustafa zuhause?"-
Kind
ein Neun Monate, Oaschfetzn, Ausrede-
Kind
ein "Stange rettet", "Schweineleben"-
"Zweimal berührt"-
Kind
ein "Mach ma Match?", "Ich spiel Verein" "unser Ball is besser"-
Kind
ein "Ich muss heim, sagt meine Mama"-Schlüssel-
um-den-Hals-
Kind
ein Kind der Pyramiden
Pappeln
—
ich bin ein Wasserwaldkind
ein Feuchtwiesenkind
ein Kind der Auen
Kind des Dschungels
der hohen rauschenden
Blätterfassaden
Kind der duftenden
Wolkenbrüche
ich bin ein Donaumastenkind
ein Windschutzstreifenkind
(ein Kind der Flächen)
Kind der Felder und geraden
Straßen
Kind der sich auflösenden Stadt
ich bin ein Tretbootkind
ein Freibadkind
Freifahrtkind
Zweiradkind
Kind der stridulierenden
Fahrradspeichen
Kind des Immer-Geradeaus
Kind des In-Alle-Richtungen-Laufens
Kind der empfundenen Freiheit
ich bin ein Kind des Komprimierten;
der Minigolfplätze und
Kleingartenvereine
bin ein Kind der Ausdehnung;
ein Kind der Satellitenstädte
ein Kind der Industriegeschwüre
der brennenden Backsteinburgen
der von Rohren umschlungenen Schlösser
der speihenden Schlote und
stählernen Stelzenhäuser
ich bin ein Kind der begehbaren Nacht
bin ein Außen-
Kind, ein
Zirkuskind
Bezirkskind
Außenbezirks-
kind
Au-
Bez-
Ki
Kind
der Peripherie
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freiVERS | Melissa Tara Nielsen
Portugal
Hast du gelächelt
als ich mein Shirt ausgezogen habe
Sonne auf meinen Brüsten
Musik aus der Küche
Wein auf deiner Zunge
Qualm aus deinem Mund
Hattest du das
Universum im Blick
Sind meine Sommersprossen
auf dich heruntergefallen und
in deinen Bauchnabel getropft
Hattest du Haare
auf deiner Brust
meine oder deine
Hattest du deinen Gürtel noch an
deine Jeans
Wie lange
Wellen von der Küste
Hattest du
Schweiß auf deinen Lippen
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freiVERS | Lise Reingruber
ein gestrandeter wal
meeresblau das wasser
in der badewanne
ein gleitender sockenfussel
gleich einem schwarzen vogel
um meinen körper
planlos schwebend
irgendwann dann
das badewasser ablassen
und liegen bleiben
mein körper schwer
immer schwerer — am ende
ein gestrandeter wal
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freiVERS | Sebastian Sokołowski
der kern
ich habe mit meiner vermutung
recht behalten
die rückseite des mondes
birgt keine geheimnisse
keine zu erforschende prähistorie
die der mantel des vergessens deckt
die nackte kraterlandschaft
in unmittelbarer nähe
der endlosen leere
sagt niemandem was
wie die olympischen weltenlenker
die längst kein teufel mehr
fragt wer original
wer abbild ist
ich schreibe den ersten satz
niemals so dass
der leser unbedingt
den zweiten lesen will
es findet sich immer
jemand der das körnchen
wahrheit verzerrt
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freiVERS | Mark Monetha
Streifzug durch Athína
Das Ferne sieht er mit inniger Vertrautheit an
je ferner das Schiff am Hafen der Horizont
und auf steinerner Mauer
Jahrtausende Marmor
gestreifte Katze im Schatten bald
Füße im Staub, bald Nase
Hinten im Hof der Bleiwurz
gewachsen durch Fensterläden
Parterre ein alter Hellas
zugewachsen die Stirn
die Lippen am Krug
sitzt er da
Grün ist es, grau und pastell
entlang der Straßen
Orangenbäume in Frucht
dass sie fallen und platzen:
brechen in süßem Saft
Das Pflaster poliert
von Sohlen Dekaden
Gedanken Jahrhunderte
achtsamen Fußes
drei Stockwerke hoch
die Wandmalerei:
ein Mädchen mit Vorschlaghammer
Die Wäsche frisch
auf dem Balkon
vor grauen Läden: hier wird gelebt!
mit allen Gliedern
Fremde Füße im Park
darin Olivenbäume
in silbergrünem Glanz
und Rascheln im Strauch
Von den Hügeln das Meer
weißer Teppich, Mosaik,
die Häuser gelegt auf das Land
und das Meer voller Blau
voller Meer
so nah das Fremde das Ferne
dass es wandert schon
in den Glanz zweier Augen
dahinter
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