freiTEXT | Helene Ziegler
Zeitlupe
Die Uhr macht tick und tack und tick und tack und tick und tack den ganzen Tag. Doch worauf warten wir? Warum leben wir? Warum sind wir hier, auf dieser Welt, die jeder von uns Heimat nennt - wir sind doch alle nur Menschen, denen die Zeit davon rennt.
Der Wecker erklingt und der Tag beginnt. Die Kleidung ist grau, die Augen sind leer, es ist lange her gelacht zu haben. Spaß und Freude gibt’s nicht mehr, denn wir laufen alle mit, in einem Strom von dem wir denken, dass er uns Halt gibt, uns liebt – uns aber eigentlich nicht verdient.
Jeder trägt auf den Schultern seine eigene Last, keiner hat mehr Rast, weil du einfach zu viele Verpflichtungen hast. Denn die Zeit bleibt nicht stehen und du musst weiter gehen.
Ich kann es nicht verstehen, warum wir Menschen uns das antun, wir werden gegen Gefühle immun. Kalt und verloren – einsam und erfroren.
Der Mensch verliert, ist irritiert, da sein Kopf nicht kapiert, was draußen passiert. Sind wir überhaupt noch Menschen? Nein, denn was ich tagtäglich sehe und tagtäglich tue, ist nicht mal menschenähnlich.
Wir sind alle wie ein Computer programmiert, praktisch auf´s Leben trainiert. Gerne würd ich in einer Welt wie dieser noch sagen können „Ich bin immer noch ich“, aber das stimmt nicht. Angepasst, zugeschnitten - gebe ich jeden Tag die gleiche Vorführung, zur selben Zeit am selben Ort und ich kann nicht fort. Keiner kann sich befreien aus dem Bann, aus dem Bann der Zeit, niemand hält sie an. Und wenn man einfach nicht mehr kann, hält unser Herz dann an. Die Zeitlupe beginnt und während die Zeit so schnell verrinnt, verweht das Leben im Wind.
Wir alle sind gleich-berechtigt zum Leben, doch du lebst und hast für´s Leben keine Zeit. Bist frei um zu leben, frei um zu sein - doch in der Menge allein.
Wir sehen Probleme, wo keine sind. Versuchen zu erklären, wofür es keine Gründe gibt. Versuchen zu verhindern, was man nicht verhindern kann, es gibt nun mal Dinge, die man nicht ändern kann. Aber der Mensch denkt, mit Denken kann er alles erreichen, der Zeit, dem Tod, dem Leben ausweichen.
Jeder ist nach außen isoliert, das ist eine Schutzmaßnahme aus Angst, Verzweiflung, Selbsthass. Also warum sind wir nun hier? Letztendlich werden wir doch sowieso verlieren, das Leben verlieren, weil unsere Herzen erfrieren.
Die Uhr tickt munter vor sich hin, wir sind alle in diesem verdammten Kreislauf drin. Jeder schiebt alles vor sich her, aber das will ich nicht mehr. Wir tun nichts, reden davon wie´s sein soll aber nicht ist – bis unsere Zeit dann abgelaufen ist. Klammern uns an etwas, was unsere Seele zerfrisst – bis unsere Zeit dann abgelaufen ist.
Versuch es wenigstens, immer weiter zu gehen, ohne zurück zu sehen. Achte nicht nur auf die Zeit, denn die bleibt sowieso nicht stehen. Lass dir nur nicht von der Zeit das Leben nehmen.
Helene Ziegler
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freiTEXT | Katrin Theiner - Teil 2
Landschaft zum Verschwundensein (Auszug 2)
Dies ist Teil 2 - für Teil 1 aus der Vorwoche hier entlang.
Ich hatte es dunkel gelassen. Laute Schritte im Flur. Die schrille Stimme der Tante, die Hinweise abfeuerte: Seit elf Stunden, Sportschau, Herztabletten, Waffe weg, Vorstandstreffen. Männerstimmen um sie herum. Hundegebell. Arminius winselte. Sie gingen ums Haus, durch den Garten, über die Beete. Sie gingen weiter über die Felder zum Waldrand. Ihre Taschenlampen warfen weiße Lichtschleifen zwischen die Bäume. Ich zog die Gardinen zu, machte die Nachttischlampe an, operierte meinen Finger mit Nadeln. Ein Holzsplitter tief unter meinem Nagel. Später Polizei. Die Tante weinte, suchte Fotos von dem Herrn Onkel, den eh jeder kannte. Es klopfte. „Jan-Carl? Die Herren wollen dich sprechen.“ Hatte nix gesehen. Keine Ahnung. War nicht da. In der Schule. Hatte Musik an. In der Nacht sah ich meine Eltern im Traum. Wir saßen auf einer Decke im Freibad. Meine Mutter im Bikini, in einem anderen Bikini als die anderen Mütter. Mein Vater mit Lederjacke und Sonnenbrille, ein Bier in der Hand. Ich war nackt, ein hellblauer Schwimmring um die Hüften. Weißes Eis floss über meinen Bauch. Ich hatte schon früh verstanden, dass wir anders waren. Nicht schlechter, anders. Meine Eltern sahen anders aus, ich sah anders aus, hieß anders. Ich mochte das, mochte nicht die dicken Mütter deranderen Kinder, mochte die Rippen meiner Mutter, die langen Finger, die bunten Nägel, die mir Pommes in den Mund steckten, nachdem sie sie kalt gepustet hatte. Mein Vater setzte mich auf seinen Schoss. Mein Po klebte an seinem Bein. Überall Eis. Ich hab’s getan, Papa. Ich hab’s getan. Er strich mir über den Kopf. Is’ gut Junge. Ich muss nach Weiterstadt. Iss dein Eis.
„Komm runter. Ich kann das nicht sehen“, sagte ich zu Olga, streckte meine Hand zu ihr und griff mit der anderen ihren weißen Stiefel. „Hast Schiss, dass ich falle?“, lachte sie, lehnte sich weiter über die Brüstung des Hochstuhls und schaute mich auffordernd an. „Mann, krieg dich ein“, sagte sie. Sie kletterte runter zu mir, biss mir ins Ohr und inhalierte meinen Rauch. „Und? Wo liegt er?“ „Irgendwo dahinten“, sagte ich und schnippste Glut ins schwarze Dickicht. „Kann man jetzt nicht sehen. Zu dunkel.“ „Wie war das, den Alten zu killen? Geil, oder?“ „Will ich nicht drüber reden.“ “Komm. War geil, oder?“ „Ja, geil. War geil. Du bist geil. Lass uns zu dir gehen.“ „Geht nicht. Mein Alter...“
Der Herr Onkel hatte mir zum sechsten Geburtstag ein Sprengnetz geschenkt. „Ich nehm dich mit zum Frettieren“, sagte er, hielt mir die Maschen, in die ich mir einen Fußball gewünscht hätte, vor die Nase und lachte hustend. „Da wird uns das Ungeziefer nicht entkommen, Carl.“ Ich hatte mich im Dickicht verschanzt, traute mich nicht, die Ohren zuzuhalten. Wie hätte das ausgesehen? Ein Jägerkind, dem das Krepieren der Hasen zu viel war. Ich versuchte, mein Trommelfell zu ewegen, Druck zu verlagern, die Ohren innerlich zu verschließen, schaute knapp an meinem Onkel vorbei, wie er vor dem Bau lungerte und durch die Netzmaschen die zappelnden Tiere an den Ohren hielt. Zuhause war der Geburtstagstisch gedeckt. Folie lag über der Spanplatte in der Garage. Handschuhe und Messer, Skalpelle in Bechern, Flaschen mit Säuren. Der fleischige Hasenkörper umgekrempelt, wie eine alte Socke. Die Pfoten steckten noch im Fell. Die seien noch nichts für mich. Unter dem Tisch der Eimer. Der Eimer für die Innereien, an denen ich mich würde bedienen dürfen. Ich wollte verschwinden, aufgelöst sein. Ich wollte, dass er meinen richtigen Namen sagte. Ich wollte weinen, weg sein, wollte kotzen, die Unterhose gegen eine trockene tauschen, schreien. Versager. Wenigstens töten müsstest du doch können.
Sie kam mit zwei Freundinnen, küsste mich nicht, blieb außerhalb meiner Jacke, die Arme verschränkt mit forderndem Blick.
„Sag’s ihnen, J.C.! Sag ihnen, dass du den alten Wedekind umgelegt hast.“
„Hab ich.“
„Hast du nicht. Mein Alter und die anderen Bullen haben heute Morgen seine Leiche aus dem Wald gezogen. Kopfschuss.“
„Ja, war ich.“
„RAF oder was? Man Olga, der hat dich voll verarscht.“
Die Ellenbogen verschränkt gingen sie lachend weg, schauten sich nicht mehr um.
Halali, der Herr Onkel ist tot. Männer im Haus. Stiefelschritte. Stimmen. Suizid. Gewehrträger stehen Spalier. Dazwischen der helle Sarg aus Fichte. Das Jagdhorn wird geblasen. Es wird salutiert. Die Tante dahinter, wirft Sand, eine Rose. Und ich, ein Freigänger, weil der Wächter tot war. Er und ich, nicht länger verschwunden.
Katrin Theiner
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freiTEXT | Philipp Böhm
Ruhende Kräfte
Bald, ja bald werde ich ein Flieger sein. Ein Junge braucht seine Ziele und Wünsche. An den Rändern unseres Gartens, wo die Verkrautung der Grundstücksgrenzen bereits weit fortgeschritten ist, proben wir für den Ernstfall und freuen uns bereits auf den nächsten Krieg. Mein Großvater sagte immer, die Zeichen seien damals klar gewesen. So sind sie auch jetzt, wir sind uns da sicher. Also liegen wir im Gras, wenn wir nicht gerade den Absprung üben, und blicken in den ungetrübten Himmel in der Hoffnung auf baldigen Bombenabwurf. Stets versichern wir uns aufs Neue, es könne sich nur noch um Tage, schlimmstenfalls Wochen handeln, ehe sie fallen. Doch der Sommer vergeht mit Hoffen und mit ihm unsere Euphorie. Für den Herbst wünschen wir uns keinen Krieg herbei. Nein, es muss der Sommer sein. So begrüßen wir die ersten fallenden Blätter mit Schweigen im Wissen um ein verlorenes Jahr.
Philipp Böhm
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freiTEXT | Jonis Hartmann
Zangenabdruck am Ticket, Zahnabdruck am Hals
W. aus B. prüft die Fahrkarten im Zug. Heute Nacht hat ihn jemand geprüft. Man kann es sehen, wenn er sich über sein elektronisches Multitool mit Schulterriemen beugt. Bald wird er Nachtschichten fliegen, der W. aus B.
Jonis Hartmann
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freiTEXT | Lina Mairinger
Ich bin die Sprache los
Ich habe meine Sprache verloren. All meine Worte, welche ich für normal pausenlos aus meiner Lunge quetsche, sind abgehauen, ohne Abschiedsworte, ohne große Reden. Es war ein sprachliches Ende, das ich eigentlich hätte vorhersehen können, denn nach wochenlangen algebraischen Rätseln, war annehmbar, dass meine sprachlich fähigere linke Gehirnhälfte, die nicht in Worte fassen konnte was ich an Zahlen zu verstehen versuchte und was ich bei den Zahlen überhaupt suchte, kapitulieren und sich aus dem Staub machen würde. Aber es ist gut, somit habe ich nämlich mehr Zeit dafür, ohne vorher lange Reden zu halten, auszurechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass meine linke Gehirnhälfte nach Argentinien geflüchtet war und nun ein als, verschwiegen bekanntes Opossum, erfreut. Dieses Opossum begeistert womöglich nun mit meiner sprachlichen Gehirnhälfte, zahlreiche vor Erstaunen sprachlose Opossums, mit verwirrten Reden und konjugiert die Möglichkeitsformen von possum.
Vielleicht gründet das Opossum eine neue sprachliche Gattung. Nicht umsonst berichteten schon früh in der Antike Op-mer, Op-vid und Op-laton von dem kommenden Staatssystem der Op-olitiker, angeführt von Op-ama. Die Opossums wären auch bald viel beliebter als alle Menschen, denn während diese sich mit mathematischen Formeln definieren, gewinnen die Opossums mit wörtlichem argumentieren. Sie würden die Sprache revolutionieren, denn die tote Sprache Latein, würde neu fungieren. Mit O-possum als moderne Möglichleiten etwas zu können.
Menschliche Forscher ziehen sich wortlos in die Statistiken über Sterberaten von „an Worten erstickten Opossums „ zurück und hätten somit ein Hobby für ihre restliche Existenz. Inzwischen habe ich mich vermutlich einhirnig und verkrüppelt zurückgezogen. Denn der bessere, schwerere Teil meines Gehirns fehlte ja nun und ich gehe ich ja stets schief. Mit meinen neu erworbenen mathematischen Kenntnissen, kalkuliere ich vermutlich meinen beruflichen Erfolg als Bestattungsunternehmer für Opossums, denn das spannende, waren die vielen Scheintoten Opposums, die sich die Möglichkeiten des O-possum seins zunutze machen und ihren Tod vortäuschen um an ihr O-Pension ranzukommen.
Eines Tages wenn ich dann gerade kritisch ein scheintotes Opposum untersuchen würde, sehe ich vielleicht ein Opa-ossum, das die Straße entlang an mir vorbeispaziert, mich erkennt, mir und den vielen Mathematiknachprüfungen dankt, die ihnen das Wort in den Mund legten und sich dann unsicher wegen meiner bedeutungsschweren Existenz tot oder ‚nichttot‘ umfallen würde. Schweigend würde ich mich dann für mein restliches Leben wie Prometheus fühlen können, wenn nicht sogar besser, denn was ist schon das Leben verglichen mit der Sprache.
Ja, so wäre es wohl, wenn meine linke Gehirnhälfte nicht, nach langen mathematischen Foltermethoden, abgehauen und Ich nun für immer sprachlos wäre.
Lina Mairinger
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freiTEXT | Marie Gamillscheg
Julian (Auszug)
Als der Bus nicht kam, ging Julian das kurze Wegstück den Berg hinauf zu Fuß. Der Boden war eisig und Julian rutschte in seinen glatten Lederschuhen immer wieder ein wenig ab. Wenn es in den nächsten Tagen weiterschneite, würde er festere Stiefel für den Weg nehmen und seine schönen Lederschuhe erst in der Schule anziehen, beschloss er. Als er die Tür aufschloss, rief er ein „Hallo“ in das leere Haus. Es roch nach Nivea-Creme und Staub. Erst als er durch das Wohnzimmer ging und die Tür zur Küche öffnete, hörte er, wie Pfannen und Töpfe geräumt wurden und Metall und Glas aufeinander klangen.
„Hallo.“ Julian holte sich ein Glas aus der Kommode, das seine Mitbewohnerin wohl gerade eingeräumt hatte. Die gelblichen Kästen und Ablagen der Küche waren schmierig. Julian hatte einmal versucht sie zu putzen, doch es hatte nicht geholfen. Als ob die ölige Schicht nicht mehr zu durchbrechen war.
„Ah, Julian.“ Seine Großmutter stand in der Speisekammer. Julian glaubte, dass sie oft aus Langweile einfach Lebensmittel und Küchengeräte von einem Ort an den anderen räumte. So lange sie nicht seine Kaffeemaschine anfasste, war ihm das egal. Sie trug heute einen dunkelblauen, langen Rock und eine grüne Wollweste über der weißen Bluse, die sie oft anhatte, wenn sie nicht außer Haus ging. Ihre dicken Füße steckten in schwarzen, festen Hauspantoffel, die klackerten, wenn sie über den Laminatboden in der Küche ging. Sie beobachtete Julian, wie er den Kochtopf mit Wasser auf die Herdplatte stellte, die Hitze auf die höchste Stufe drehte und Zwiebel und Knoblauch schnitt. Julian hasste das. Er war zu seiner Großmutter gezogen, weil er seine Wohnung nicht mit fremden Menschen teilen wollte und um allein zu sein, wenn er es wollte.
„Gehst du heute noch außer Haus?“ Er hatte auf diese Frage gewartet. Sie konnte nicht schlafen, wenn sie allein im Haus war. Er antwortete nicht und holte Tomaten aus dem Kühlschrank, die er langsam in kleine Stücke schnitt, den Saft ließ er vom Schneidbrett auf den Boden tropfen. Er wusste, dass es sie quälte, wenn er nichts sagte, aber vielleicht würde sie es sich dann abgewöhnen. Als Julian sich die dampfenden Nudeln aus dem Sieb auf einen Teller kippte und sich ins Esszimmer setzte, blieb sie in der Küche. Er hörte bald, wie Gläser aneinander stießen und er wusste, dass sie wieder Gläserstapel auseinander nahm um sie neu anzuordnen oder vielleicht um die kleineren auf die größeren zu setzen oder um einige davon erneut abzuwaschen.
Nachdem Julian sich geduscht und umgezogen hatte, zog er sich seine Stiefel an und nahm leise seinen Mantel von der Garderobe. Erst als er laut die Tür zuwarf, würde seine Großmutter merken, dass er gegangen war. Er lächelte noch immer, als er in den Bus stieg und sich die verzweifelten kleinen Schritte seiner Großmutter von der Küche in ihr Schlafzimmer vorstellte. Vielleicht würde sie seine Mutter anrufen und sich beschweren. Die Fensterscheiben im Bus waren beschlagen, trotzdem sah Julian nach draußen. Es schneite schon wieder. Wenn er nicht wiederkommen würde, würde sie einfach zwischen ihren Pfannen und Töpfen verrecken, dachte er. Er stellte sich vor, wie sie am Boden lag, um sie herum Gläser, Tassen und Teller, teilweise zerbrochen. Er würde sich hinknien und ihr die Augen schließen, wie er es aus den Filmen kannte, und ihre Haut wäre von einem Ölfilm belegt, wie ihre Pfannen.
Der Gedanke mit den Kindern kam ihm erst, als er die Schule betrat. Die Lehrerin, die eine prall gefüllte, abgegriffene Ledermappe unter dem Arm trug, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Schön, dass auch heute noch junge, engagierte Männer in den Lehrberuf streben.“ Julian nickte und folgte ihr in die Klasse, zwanzig Kinder starrten ihn an. Er stellte sich kurz vor und sagte, dass er in der letzten Reihe sitzen würde, um den Unterricht zu beobachten. „Hospitanz, Pflichtseminar von der Uni“, fügte er hinzu. Er faltete seine Hände vor seinem Körper, er hätte auch gern eine Ledermappe in der Hand. Den Schülern war keine Reaktion anzusehen, sie hingen in ihren Stühlen und auf den Tischen, als ob die Pubertät ihnen zu viel Kraft rauben würde. Die Mädchen wussten, wie sie ihre jungen Körper, die sich gerade zu formen beginnen, am besten in enge T-Shirts zwängten und deren Ausschnitt so ausdehnten, dass der erste BH darunter zu sehen war. Die Jungs wirkten daneben jung, in ihren zu großen Pullovern, in die sie noch hineinwachsen mussten. Julian war erschöpft, als er sich hinten in die letzte Reihe setzte. Er war froh, dass er nicht selbst unterrichten musste. Von hinten waren es weniger Augen und weniger Aufmerksamkeit, Julian entspannte sich wieder. Die Lehrerin referierte über den Präpositionsgebrauch im Englischen, doch Julian konnte sich nicht konzentrieren. Er beobachtete, wie vor dem Fenster die kargen Bäume im Schneewind zitterten und drinnen, obwohl es vorgab eine andere Welt zu sein, in den Tischreihen die Mädchen sich scheinbar im selben Takt bewegten, wie sie ihre schmalen Rücken in die Höhe streckten oder sich gen die Tische beugten.
Der Rauch verflüchtigte sich schnell im hohen Raum, als ob er sich vor der Großmutter einen Stock darunter verstecken müsste. Julian machte seine Lippen schmal und versuchte Ringe auszustoßen, aber auch diese behielten nur kurz ihre Form. Der Raum war hell und trocken vom Morgenlicht. Julian fühlte sich ein bisschen wie die blonde, schöne Frau in weißer Unterwäsche in diesem Schwarz-Weiß-Film, die sich im Bett räkelte und rauchte. Vielleicht war es Brigitte Bardot, Julian wusste es nicht. Selten hatte er etwas ähnlich Ästhetisches gesehen wie diese Frau. Als er den Film vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er mehrmals wieder zurückgespult, um sie wieder zu sehen; wie sie sich im Bett zur Seite drehte, sich aufrichtete und wieder zurück fallen ließ, wie sie sprach, dunkel, rauchig säuselte sie ihre Worte, das Bett groß, weiß, um sich darin zu verlieren – mit ihr. Vielleicht hatte er wegen ihr zu rauchen begonnen, überlegte er sich, und nicht nur, um sein Spießertum zu verstecken. Er griff unter der Decke neben sich und fasste auf einen nackten, behaarten Oberschenkel. Sebastian schlief immer so lang. Seine Großmutter würde bemerken, wenn er das Haus verließ und Julian müsste wieder sagen, dass er auf der Couch übernachtet hatte, weil er zu viel getrunken hätte, um noch Auto zu fahren. Julian drückte die Zigarette im Aschenbecher am Nachtisch aus und stieg vorsichtig aus dem Bett. Er öffnete die großen Flügeltüren, auch hier weiße Vorhänge, und trat nach draußen auf den Balkon. Er blickte über die Terrasse bis zur Innenstadt, wo sich die roten Dächer aneinanderdrängten, obwohl es rundherum noch genug Platz gäbe. Julian wollte schon immer auf einer Anhöhe wohnen; er hatte die Ebene der Vorstadt satt.
Es hatte geschneit über Nacht. Die zwei hohen Fichten trugen so schwer, dass sich die Äste zu Boden neigten, die Naturgeräusche klangen gedämpft, wie eingehüllt vom Schnee. Seine Großmutter würde ihm sofort sagen, dass er den Schnee aus der Einfahrt räumen müsste, wenn sie ihn sah. Julian trat wieder nach drinnen. Unter der Decke war es warm, Julian drängte seine kalten Beine gegen Sebastians. Langsam öffnete er seine Augen und gähnte, er rieb sich die von der Nacht zugequollenen Augen, um sie wieder in ihre natürliche Form zurückzudrängen. Er schmeckte nach ungeputzten Zähnen, als er Julian küsste. „Guten Morgen“, sagte Julian. „gut geschlafen?“
Sebastian nickte und drückte sich noch tiefer in den weißen Polster.
„Wann hast du Uni heute?“
Marie Gamillscheg
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freiTEXT | Christine Gnahn
Der Schwan und der Geier
Ihr Lachen ist so sanft wie das Plätschern eines Gebirgsbaches. Und ich fühle mich wie die Fliege, die langsam im zarten Plätschern ertrinkt, qualvoll erstickt. Ich kann nämlich fliegen, wenn sie nicht da ist. Es gibt dann nichts, das leichter ist als ich. Das schönste Lachen, das glücklichste Strahlen und das hübscheste Mädchen weit und breit, das bin dann ich. Obgleich das arrogant klingen mag, ist es als solches nicht zu verstehen. Denn ich bin ein Mädchen wie jedes andere, verstehen Sie das nicht falsch. Aber in seiner Nähe bin ich eine Elfe. Dann habe ich Flügel, die in der Sonne glitzern und Zähne wie weiße Perlen aus dem indischen Ozean (obgleich ich tatsächlich nicht weiß, wie Perlen aus diesem Gewässer aussehen) und dann bin ich so schwebend frei und leicht wie eine Feder. Ich dufte nach süßen Früchten und ich schmecke wie ein exotisch-köstliches Gewürz. Er verzaubert mich immer wieder zu dem schönsten Kind unter der Sonne.
Doch jetzt ist sie da und jetzt hat sie das Perlenlachen. Selbstverständlich trägt sie in sich das sanfte Plätschern ihrer Stimme und die sanfte Anmut ihres weiblichen Körpers. Sie hat ein bisschen zugenommen, doch das stört hier wirklich niemanden. Vielmehr scheint es ihre unaufdringlich reizende Art, in die Welt ihre liebevolle Botschaft noch ein bisschen mehr hinauszutragen. Zu beweisen, welch Schönheit Frau und Mädchen in weicher Silhouette in sich tragen. Soviel greifbarer und lieblicher, als ich es je zu sein vermag. Freilich nicht arrogant, da sich das mit ihrer Alabaster-Unschuld und ihrem porentief reinen Gewissen ja so sehr beißen würde, dass am Ende Engels Harfe ein Mordwerkzeug wäre.
Mein Gewissen ist nicht rein und ich muss schuldhaft und mit stiller Wut bekennen, ich besitze nicht einmal eine Harfe. Ein Beil trage ich, man sieht es mir an, man linst zu mir herüber mit skeptischem Blicke, misstraut mir aus tiefstem Herzen. So geht es einem, wenn man ein Beil in den Augen trägt und jederzeit drauf und dran scheint, es in grausamer Gewalt zu benützen. Zu hacken in Blut und Fleisch und zu brüllen, zu schreien, in der Anmut eines brunftigen Stiers.
Doch ich tue nichts und ich spreche auch nicht. Kein Wort kommt aus meiner heiseren Kehle. Die Stimme würde gewiss nicht plätschern, denke ich in finsterer Ironie. Sie würde würgen, kratzen, raunen, klänge wie ein schräger und gieriger Geier. Ja, ein Geier, der bin ich, wie ich sie mit Blicken umkreise und wie eine Elster will ich es ihr stehlen, das Gold auf ihrer Seele.
Oh ja, sie würde es mir schenken, wenn ich sie darum bäte. Und dann müsste ich sie leider blutrünstig ermorden.
Sie ist der Schwan, ich der Geier.
Ich umkreise sie, bis ich schreiend davon laufe.
Weine.
Wertloses Stück Dreck, in einem letzten Verzweiflungsakt. Auf heischender Suche nach Aufmerksamkeit der Menge. Die wiederum leider ganz verliebt in sie ist, diesem göttlich Geschöpf.
Wenn ich auf dem Berg bin, kann ich wieder atmen.
Dann beginne ich zu verstehen.
Dass keiner von uns fliegen kann.
Christine Gnahn
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freiTEXT Spezial | Texte der Arbeit
Zusammenarbeit
Hiaz?
Na!
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Hiaz?
Na, no ned!
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Hiaz?
Z’spot!
Gerhard Steinlechner
freiTEXTe der Arbeit zum Tag der Arbeit. Eine offene Zusammenstellung von Autorinnen und Autoren des mosaik. Read more
freiTEXT | Eva Wimmer
Wir oder ihr oder doch sie
Ich lebe, ihr lebt. Wir leben. Wer ist eigentlich wir? Und wieso sagen wir wir? Mich hat keiner gefragt, ob ich da überhaupt mitwirken will. Ach, hier liegt der Hund begraben … Nicht, ob ich mitwirken will. Wer kann schon heutzutage noch was wollen? Wir müssen wollen. Hört ihr den Widerspruch? Aber nein, dazu müsstet ihr ja genauer hinhören. Das wollen wir aber gar nicht. Oder besser gesagt, sie wollen das gar nicht. Und ihr doch eigentlich auch nicht. Und ich. Ich will eigentlich auch nicht hinsehen, hab aber irgendwie vergessen, wie man wegsieht. Ich weiß, dass ich nicht zu dem wir gehören will, dass Lebewesen nicht auf die Welt, sondern eigentlich schon auf deren eigenen Friedhof gebären lässt. Aber keine Sorge, es ist ja für uns. Dass diese Lebewesen eventuell auch ein ich oder ein wir haben, wen zum Henker interessiert denn das wieder? Wir dürfen ja nicht auf uns vergessen. Aber man sollte – nein, man darf – am besten auf sich selber vergessen. Nur zugunsten dem wir, keine Sorge, sie missbrauchen das nicht. Und sagt es auch nicht weiter, sonst könnte ja jemand hinter die Kulissen schauen.
Warum schießen wir eigentlich auf ein Reh? Oder auf einen Hasen? Und wieso brauchen wir dafür nicht eine Kugel, sondern gleich eine Schrotkugel, mit vielen ganz kleinen Kugeln? Na, ist doch ganz einfach. Das wir braucht kein Individuum, sondern ein Ganzes. Ohne die vielen kleinen Teile, wär das große Ganze doch ziemlich umsonst. Und wie kriegt man die kleinen Elemente jetzt zusammen? Ja genau, man gießt sie zusammen und bei Bedarf entlädt man sie geballt. Einzeln richten sie ja nichts aus, aber zusammen sind sie tödlich. Sie finden das klasse, ich finde das ziemlich feige. Aber ich hab ja auch nichts zu sagen, da wären wir ja wieder beim wir. Habt ihr schon mal ein wir gesehen, dass mit nur einer Kugel trifft, das wär ja aber ein Spaß, findet ihr nicht? Zuzusehen wie sie sich konzentrieren und anstrengen und dann rennt doch der Hase einfach so an ihnen vorbei. Aber bitte verhaltet euch das Lachen, sie finden das sicher nicht so komisch. Vom wir zum sie, geht doch, wenn man will.
Und wenn man fragt, wieso man nicht einen Menschen durch einen Wald jagt und dann ganz mutig mit einer Schrotflinte auf ihn schießt? Oh mein Gott, die sehen mich an, als ob ich komplett daneben wäre. Und was hört man dann: Man schießt doch nicht auf einen Menschen. Und ich frage mich dann, da ist doch schon wieder ein Widerspruch. Wieso schießt denn die halbe Welt auf einen anderen Menschen und wieso ist so ein Mensch dann auf einmal ein Tier, obwohl das wir doch eigentlich für alle gelten sollte – oder besser gesagt, müsste? Und wieso ist ein Tier denn immer untergeordnet? Unsere Sprache kann es zwar nicht, aber wir hingegen haben dafür verlernt, uns in Gefühlen auszudrücken und unserer inneren Natur zu folgen. Kannst dir ja dann überlegen, was dir lieber ist. Ich hab hier aber wohl eines nicht bedacht. Nämlich dass das wir, nur jene aufnimmt, die von Vorteil für es sind. Also Klappe halten und mitmachen und nicht fragen, wieso hier auf einmal es statt uns steht. Ich kann mich natürlich fragen, was es von mir will und wenn es etwas von mir will, dann ist die Frage, was die von mir wollen, wenn es doch für das wir steht. Seid ihr verwirrt? Ach, willkommen in meiner Welt. Ich hab euch ja nicht gebeten, mitzudenken. Ihr könnt auch den Text einfach lesen und weiterblättern. Oder ich könnt auch jetzt zu lesen aufhören und einfach weiterblättern.
Ihr könnt aber auch mal innehalten und darüber nachdenken, ob ihr das wir so gut findet, wie sie sich selber finden. Ob ihr etwas daran ändern könntet und wie jeder etwas mehr du sein kann.
Wie wir sehen grade sehen können, mein Text hängt. Was darf ich schreiben, was will ich schreiben und die wohl bessere Frage, was soll ich schreiben? Wenn ich dem wir alles von mir mitteile, das wäre nicht gut. Wir haben uns ja zu benehmen und du sowieso. Also nicht aus der Reihe tanzen, zurück in den Kreis, immer schön lächeln und weitermachen. Du kannst dir aber gern hinter dem Lächeln „Arschloch“ denken, das fällt auch gar nicht auf, versprochen.
Wo wir beim Kopfkino angelangt wären. Herrliche Filme, oder? Viel schöner, als die ewig andauernden Mord und Totschlag oder „Oh mein Gott, ich folge dir überall hin“ Kreationen im Hier. Ja, die Frage ist dann nämlich, wo willst du mir denn hin folgen? Und hast du mich eigentlich gefragt, ob ich das will? Wir können ja gern drüber reden, aber eigentlich hab ich lieber meine Ruhe. Ich habs auch gerne klirrend kalt und nebelig verhangen. Und bitte keine Plusgrade. In mir brennt alles, das reicht schon. Innen heiß und außen kalt. Möglicherweise denkst du, ich bin arrogant, möglicherweise will ich aber einfach noch immer meine Ruhe. Und ganz bestimmt, lass ich mich von dir nicht einschätzen. Wenn du wissen willst, wie ich so ticke, du kannst mich ja einfach fragen. Aber nein, wir lassen uns lieber von den anderen sagen, wie derjenige so drauf ist. Also man ganz ehrlich: Leute, die mich kennen, wissen, wie ich drauf bin. Leute, die mich nicht kennen und es wissen wollen, können ja wie oben schon gesagt, einfach fragen. Leute, die mich nicht kennen und mich nicht fragen, geht doch bitte einfach weiter und spart euch eure Meinung über mich.
Aber wenn wir sagen, dass du schlecht bist, dann muss das auch so sein. Ich hab ja ganz vergessen, dass heutzutage wild durch die Gegend beurteilt wird und wehe, man glaubt das nicht. Man könnte sich ja eine eigene Meinung bilden und feststellen, dass das wir ziemlich egoistisch ist. Die anderen werden nämlich ganz schlecht beurteilt und ja, wir dürfen – nein, wir müssen – das glauben. Aja und danke, dass ihr mir sagt, was ich denken kann. Sehr aufmerksam, dann muss ich selber nicht mehr nachdenken. Ist ja auch überbewertet und ich kann dann einfach meine kleinen Einzelteile in die Hand nehmen und mitballern, weil ihr habt ja gesagt, dass die schlecht sind. Nur frag ich mich halt, warum das so ist. Ich mach mir ja auch eine Meinung darüber, was ich esse und lass dann die Finger von dem, was mir nicht zusagt. Ganz einfaches Prinzip, funktioniert überall auf der Welt ganz gut. Aber wenn es mit dem Essen funktioniert, wieso dann nicht auch mit den Menschen? Hm, vielleicht macht Menschen abknallen ja auch Spaß, denn essen tun sie dann die wenigsten.
Aber was ist eigentlich Spaß? Etwas, das uns zum Lachen bringt? Etwas, das uns glücklich macht und daraufhin lächeln lässt? Etwas, das uns das Herz aufgehen lässt? Etwas, woran wir Spaß haben? Wie würdest du Spaß definieren? Ich glaube, dass dies etwas ist, woran man Freude hat und das einen fühlen lässt, dass man auf dem richtigen Weg ist. Nur wo befindet sich denn nun dieser Weg wieder? Und eigentlich wollte ich einen Text schreiben, langsam artet das aber in eine Fragestunde aus. Und doch rennen wir viel zu oft wahllos durch die Gegend, ohne uns zu fragen, wo wir eigentlich sind. Seht ihr, immer wenn das wir kommt, dann ist das ich sofort im Hintergrund und es folgt Verwirrung und man weiß nicht, wo man steht. Ohne, dass uns das aktiv auffallen würde! Wir können ja mal probieren, vom wir zu reden und ans ich zu denken. Na, wie viele Widersprüche findest du?
Das wir hats schon gut drauf, ohne kommen wir nicht aus, auch wenn wir wollen. Und immer nehmen wir auch das wir in den Mund, als ob wir das Wort gepachtet hätten. Vielleicht sollten wir das Wort einfach ein wenig bedachter gebrauchen? Und da war es doch schon wieder. Vielleicht sollte ich das Wort einfach ein wenig bedachter hernehmen? Und wenn wir das alle machen, dann gibt es wesentlich mehr ich.
Und ich sag euch was, aus der Reihe tanzen tut gar nicht so arg weh. Man kann ja ausblenden, was man nicht sehen will. Man kann ja weghören, wo es einem sonst das Herz zerreißt. Man kann ja das ich weiterreichen und im Kleinen wirken. Man kann auch einfach sein „sicheres Leben“ aufgeben, studieren, was einem gefällt und sich dann an den Kopf werfen lassen, ob man eventuell total bescheuert ist. Vielleicht bin ich auch ein Stückchen mehr ich selbst, wenn ich meinem Herzen folge? Ja, aber vielleicht bin ich auch total daneben, die wissen es, nur ich noch nicht. Das ist wohl die einzige Gefahr, wenn man das wir hinter sich lässt. Dass das ich auf einmal ein ganz anderes Gesicht bekommt, eines, dass man selber gerne sehen möchte und eines, dass sich auch ganz gut anfühlt, obwohl einem das wir die Tränen in die Augen treibt.
Aber man darf mit dem wir auch nicht mit Vorurteilen verfahren, so wie die das machen. Das wir hat natürlich auch ganz viele schöne Seiten. Und das wir hat auch ein ganz bezauberndes Lächeln, mit dem zwar der Hass versteckt mitgrinst, aber wer schaut heutzutage noch so weit hinter die Kulissen, dass er das erkennen würde? Ich schätze ja den Teufel nicht so grausam ein, wie den Menschen. Aber ist ja nur so eine Überlegung, wird euch ja egal sein. Luzifer ist auch ein viel schönerer Name, als … Tja, jetzt kommt es natürlich darauf an, wen du hier einsetzen und du hier wie benennen willst. Jetzt bist du gefragt und kannst dir ja denken, was ich einfügen würde. Nämlich würde und natürlich nicht mache. Oder hast du schon vergessen, dass man unbemerkter durchs Leben kommt, wenn man die Klappe hält?
Leise sein, ist natürlich nicht immer gut. Was wäre denn die Welt, wenn nicht ab und an jemand dabei wäre, der sie besser zu machen versucht? Aber wenn man selber nicht die richtigen Worte findet und nicht weiß, wie man hinsehen soll, ohne, dass man sich besagte Schrotflinte ausborgt, dann ist es besser, man dreht sich um, macht sich unsichtbar und versucht seine eigene kleine Welt besser zu machen. Manche Leute sagen nämlich ernsthaft zu mir, dass ich ein Loch reinreißen würde, das man nicht mehr flicken kann, wenn ich gehen würde. Nett, oder? Ja, es gibt auch Menschen, denen man gerne die Hand gibt, weil sie einen daran erinnern, dass man doch nicht alleine ist. Leute, die mich kennen, wissen ja nun, dass sie gemeint sind. Man muss ja nicht immer reden, um sich zu verstehen. Manchmal genügt auch ein Lächeln oder ein Blick oder sowas. Jetzt aber nicht zu sentimental werden, hinter meiner Mauer hat beim besten Willen nicht jeder was verloren.
Aber alles was seine guten Seiten hat, will ja auch unbedingt einen schlechten Gegenpart haben. Jaja, den hab ich genauso wie ihr. Mein persönliches, kleines und sehr hartnäckiges Gegenstück sitzt manchmal rechts, aber oft auch links auf meiner Schulter. Man sollte nie darauf vergessen, wo es grade sitzt, dann kann man es wunderbar umgehen. Ich könnte ja auch einfach sagen, wie klasse die Welt ist. Könnte ich. Ich könnte auch einfach schlafen gehen und nicht mehr aufwachen. Könnte ich. Ich könnte auch darüber nachdenken, wieso das alles so passiert. Könnte ich. Sollte ich aber nicht, weil mich das wieder zum wir führt und dort ist kein gutes Viertel für mich.
Müsst ihr aber selber wissen, wo ihr hingeführt werden wollt. Ja, ihr habt das selber in der Hand, wenn ihr wollt. Ihr könnt auch die Augen zumachen und euch vom wir leiten lassen. Schon nett vom wir, dass wir das selber entscheiden können, oder? Aber keine Sorge, egal für was du dich entscheidest, das wir bleibt sowieso immer da. Immer an deiner Seite; wird es dir auch schon immer sympathischer, so wie mir? Ach komm schon, das muss dir doch gefallen, dass du immer von etwas abhängig bist, es nie loswirst und es ständig in deinem Kopf rumschwirrt. Manche beschreiben ihre Beziehung so. Schön, oder? Nicht vergessen, es ist ein Nebeneinander und kein Miteinander.
Ich für meinen Teil hätte ja gerne ein Miteinander, versuche nicht zur Schrotkugel zu werden und einfach statt an das wir, an mich zu denken.
Neben dem wir, steht so viel ich in diesem Text. Ob die wohl damit einverstanden sind? Ob ihr das versteht? Ob wir das wollen? Und als ob ich nicht mit einem Lächeln dastehen würde, hinter dem sich mein eigener kleiner Dämon versteckt, der mir ständig ins Ohr flüstert: Wenn du das ich weitererhalten willst, dann geh deinen Weg. Wenn du aber von dem wir die Schnauze voll hast und keinen Ausweg mehr siehst, dann sei doch so frei und borg dir von denen ihre Schrotflinte. Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich mir deren Meinung ins Hirn blase. Mein kleiner persönlicher Aufpasser meint dazu aber, dass wir – nämlich er und ich – sehr wohl was dagegen haben. Wie man sieht, ist im wir und ihr auch ein ich und du möglich, wenn das ich sich sein eigenes wir schafft. Seine eigene kleine Welt, die zwar wesentlich zerbrechlicher aber doch beständiger ist.
Und immer wieder frage ich mich, ob es etwas gibt, das keinen Widerspruch fordert.
Eva Wimmer
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freiTEXT | Matthias Engels
An: http://www.murphy@hotmail.de
Betreff: Jeder Mensch ist eine Insel
Lieber Murphy,
entschuldige, wenn ich störe, aber ich möchte kurz etwas festhalten. - Es fehlen ja immer Dinge zum Festhalten. Alles schwankt, alles schaukelt, wirft einen hin und her. Wo ist der letzte Punkt, an dem man unzweifelhaft noch auf dem richtigen Weg war? Ein Pfeiler, ein Pfosten, ein Stecken, ein Stab, der fest in der eigenen Geschichte steckt und nicht nachgibt, wenn man sich an ihm festhält. Wo ist man falsch abgebogen und warum? Warum hat man kein Brot gestreut, keine Schnur abgewickelt?
Ach komm, der ganze Rückweg ist anstrengend und ohnehin umsonst, denn man kann nicht zurück hinter eine Entscheidung! Aber ich rede immer nur von mir!
Dabei sollte man sich nicht so wichtig nehmen; nicht ständig ICH sagen. Der Unterschied zwischen wichtig und nichtig ist marginal. Ich kann ja jeder sagen und mit Ich fängt jede Geschichte erst an. Wer Ich sagt, hat ja bekanntlich noch nichts gesagt.
Ich und Du hat man nur erfunden, weil sich auf MENSCH nichts reimt und das ist schlecht für Liebeslieder. Auf Ich reimt sich dann Dich und das ist gut. 1 und 1 das macht 2 und 2 sind ja bekanntlich zu viel, um frei zu sein.
Im binären Code können Informationen von nur zwei verschiedenen Symbolen dargestellt werden. 1 entspricht logisch wahr, 0 entspricht logisch falsch. Kein Platz für 2/3/4 in dieser Wahrheit. -Überhaupt Wahrheit! Letzten Endes gilt doch, was die Mehrheit abnickt. Was nur zwei von 6 Milliarden schwören bleibt ungehört und Wahrheit letztendlich Statistik! Überhaupt Statistik: ein Pferd hat statistisch zwei vordere, zwei hintere, zwei linke und zwei rechte Beine, also hat ein Pferd acht Beine! Statistik: eine der Errungenschaften der Neuzeit! Was bleibt eigentlich von der sogenannten Zivilisation?- Aufrecht gehen, Zentralperspektive, die Umrisslinie: alles schon so lange erfunden und viel weiter sind wir eigentlich bis jetzt nicht gekommen. Danach hat kaum noch was unbestreitbare Gültigkeit: alles kann man zerreden, zerpflücken, widerlegen und in Zweifel ziehen. (Fichtes dialektischer Dreischritt)
John Donne hat ja bekanntlich gesagt: Kein Mensch ist eine Insel. Matthew Arnold, ein englischer Dichter und Kulturkritiker, widersprach ihm und behauptete, vielmehr sei es genau so: Jeder Mensch sei tatsächlich eine Insel. Damit kann gemeint sein, dass jeder Mensch am Ende alleine ist.
Nach Arnold kann ich mich anderen Inseln zwar nähern, aber sie nie betreten, weil ich nicht deren Gene, Erziehung, Erfahrungen – sprich ‘Feintuning’ des Gehirns habe. Militärisch gesehen ist eine Insel ein Sonderfall. Sie ist zwar einerseits durch das Meer an allen Seiten eingezäunt und schwer einzunehmen, bietet aber andererseits ihren Bewohnern keinerlei Fluchtmöglichkeiten, wenn sie einmal erobert ist.
Wenn ICH nun eine Insel bin, dann bin ich wohl eingenommen, ohne Fluchtweg. SIE hat einen Hafen in meine zerklüftete Küste gesprengt und einen Steg oder eine Pontonbrücke zur nächstgelegenen Insel angelegt, die niemand anders als SIE selbst ist. Wir haben dem Meer um uns herum zusätzlich Land abgerungen. Wenn jeder Mensch eine Insel ist, dann sind wir vielleicht eine kleine Inselgruppe, ein Atoll in der Südsee, offensichtlicher Garten Eden in Blüte, aber der erste, den die Klimakatastrophe schlucken wird.
Man müsste ganz einfach heute seine Unabhängigkeit erklären; sich lossagen von aller staatlichen und auch sonstigen Bindung an irgendein Gefüge oder Konstrukt. Den Paß höflich im Amt zurückgeben. Der Gedanke fasziniert mich schon lange. Alle Waffen niederlegen, die Tarnkappen und Masken abstreifen und die Texte sämtlicher Rollen von einem Tag auf den anderen vergessen. Sein eigenes Land sein; das Einzige ohne Grenzen, ohne Armee oder Verfassung. Ein eigenes Hoheitsgebiet: Wo ich bin, ist Territorium von Meinland und die Welt um mich herum wäre immer nur auf Staatsbesuch.
Bitte entschuldige wirklich diese absurde Störung.
Es wird nicht wieder vorkommen. Versprochen!
Herzlichst,
dein
J.
Matthias Engels
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