freiTEXT | Lina Mairinger

eiserne Kälte

Begonnen hat es in der Medizin. Die Ärzte hatten zusammen mit den schlausten aller Schlausten eine große Entdeckung gemacht. Eine Entdeckung, die die Welt für immer verändern sollte, hieß es, eine Entdeckung, die den Menschen aus seinem ewigen Evolutionsverhalten stoßen würde und ihn zum Übersein befördern würde.

Ich weiß noch, anfangs flüsterten die Leute darüber, es waren ja bloß Gerüchte, man hatte noch keinen Beweis bekommen. Ich war damals noch ein Kind und durfte von all dem nichts wissen.

Einen Monat später war die Welt wieder wie gewohnt, das heimliche Geflüster hatte sich aufgehört und die Leute schienen wieder ihren gewöhnlichen Nachbarchaftstratsch zu verbreiten. Draußen regnete es in Strömen, mein kleiner Bruder, der schon seit seiner Geburt Asthma hatte, hatte sich zusätzlich eine Erkältung zugezogen, wodurch wir schon früher als normal Fernsehen durften. Meine Eltern setzten sich zu uns um Nachrichten zu schauen und diskutierten über unseren unfähigen Finanzminister, als sie plötzlich verstummten und wie erstarrt auf den Fernseher blickten. Die Nachrichtensprecherin sprach von einem medizinischen Wunder. Ich schaute nochmal zu meinen Eltern, die noch immer wie gebannt auf den Fernseher blickten. So schlimm kann es nicht sein, dachte ich, wenn etwas schlimmes ist schicken Sie uns immer weg. So war es zumindest als Opa starb.

Mit weit aufgerissen Augen folgten wir den Nachrichten und sahen das erste Mal das eiserne Herz.

Verblüffend nicht wahr, ein Herz aus Eisen etwas hartes, etwas kaltes, übernimmt die Funktion von einem der wichtigsten Muskeln in unserem Körper, dem Organ das uns warm hält. Die Regierung beschloss im Sommer darauf ein neues Gesetzt zu verabschieden, das KSP - Körperschutzprinzip, es sollte dazu dienen die Sterberate bei Säuglingen und Kindern zu verringern, indem man gesetzlich festlegt wie sich um einen Körper zu kümmern ist um ihn gesund zu halten, bei Regelverstößen wurde ersetzt.

Ich war damals gerade 11 geworden und kümmerte mich wenig um Gesetze und noch weniger um die, die die Regierung vorgab. Als es jedoch einige Jahre später an unserer Tür klopfte, änderte sich alles. Es waren 2 Herren in weiß, sie bräuchten meinen Bruder, er müsse mitkommen. Mein Vater erstarrte, meine Mutter brach in Tränen aus. Sie flehte die Männer an, sagte, sie hätte doch aufgepasst während der Schwangerschaft und dass es angeboren sei, doch die Herren blickten kalt an ihr vorbei, legten meinem Bruder Handschellen an und gingen ab.

Ein Jahr lang sah ich meinen Bruder nicht, als er eines Tages vor der Haustür stand, war mir klar, dass er nicht mehr er war. Er redete wenig und lachte kaum. Er sagte, es wäre schwer. Die neuen Lungen wären schwer, die seien kalt und schwer. Wenn die Luft draußen kalt ist und eisiger Wind weht spürt er es nicht. Wenn der warme Sommerduft durch die Straßen weht spürt er es nicht. Es ist nichts außer fremd, sagte er.

Aus meiner Schulklasse verschwanden ebenfalls die Schüler. Jene, die Brillen hatten oder einen Plattfuß und vor allem jene, die arm waren. Die Armen waren schlimm dran, denn wer arm ist kann sich keine teuren Lebensmittel und Behandlungen leisten um die Gesundheit zu unterstützen und auch für Sport haben sie weniger Zeit da sie viel arbeiten müssen.

Im Alter bekam ich Krebs. Ich wusste, dass ich es hatte und versteckte ihn lange vor den Ärzten. Mir war klar, dass mir nicht viel Zeit bleiben würde, ehe sie ihn finden würden. Geld war der beste Weg, ich suchte einen Arzt der unter den Reichen für seine Korruption bekannt war. Er solle mir die Befunde fälschen, bat ich. Es kostete viel, nicht gesund sein zu dürfen. Ich hatte extra keine Kinder bekommen, damit ich Ihnen den Schmerz nicht antun müsste. Meine Eltern hatten es psychisch nicht verkraftet was mit meinem Bruder passiert war. Sie wurden krank, seelisch krank, also wurden auch eines Tages sie von den weißen Herren weggeführt. Beschuldigt der Gesetzesmissachtung bezüglich der KSP. Die Leute nennen es die Seelenchirugie, ein Verfahren bei dem alles was einem ausgemacht hat, chirurgisch entfernt wird. Der Sitz der psychischen Erkrankung muss entfernt werden, so sagen es die Mediziner. Meine Eltern bekamen ein eisernes Gehirn um sie zu heilen.

Es schreckte mich nicht, natürlich war ich erschüttert, aber das war die neue Welt, der neue Mensch.

Lina Mairinger

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freiTEXT | blume (michael johann bauer)

Das Meer

Scheppernd wellen sich wabernde Wolken, der Himmel kreischt, nachtschwarze Herrlichkeit glüht zerfurcht in blitzendem Sekundenbrand und unter dem bedingt zuverlässigen Schutzdach einer semipermeablen Blätterhaube drängen sich zwei Ratlose aneinander, befühlen, vielleicht nervös, die konkrete Hysterie ihrer rasenden Herzen durch klebrig feuchten Stoff, und taumeln schweigend – stehend, lauernd – über lechzend züngelnde Abgründe einer traumatisierenden Flut unverhofft greller Eindrücke, hier, in der relativen Verlassenheit eines schroff gezeichneten, felsenüberwuchernden Waldes, fernab von ihrem Zuhause, dem sie entflohen sind, gierend nach Freiheit, nach Glück. Furchtsam wispern abgewetzte Stimmen wie geborstenes Glas, unnatürlich das Trommelfell scheuernd, ätzende und ätherisch flüchtige Spuren trauernder Tropfen kondensierender Schwallwellen in den sensiblen Gehörgängen der in unmittelbarer Reichweite Lauschenden – welche im Prinzip auf die direkt Involvierten reduzierbar sind – hinterlassend und vergehen, letztendlich, nachdem der jeweils angesprochene Rezipient die, in ihren Modulationen ruhenden Botschaften dechiffriert hat, im kühlen Nirgendwo einer wüst plätschernden Regenhöhle. „Wir haben das Richtige getan.“ „Wir hatten keine Wahl.“ „Die Unerträglichkeit des Alltags hat unsere Flucht unvermeidlich gemacht.“ „Wir dürfen keinen einzigen Schritt bereuen, nachdem der Weg zurück einem waghalsig idiotischen Sturz in ein Meer aus dornigen Augen gleichzusetzen ist.“ „Unsere Lungen keuchen in Atemnot, doch ist der Preis nicht hoch genug, um auch nur eine zaghafte Melodie tosender Reue durch das Gerippe unserer Entscheidungen galoppieren zu lassen, während wir, stumm betend, die Endlosigkeit lebendiger Schmerzen inhalieren.“ „Was ist schon die Bürde sengender Angst verglichen mit dem berauschenden Jubel lustig würgender Selbstständigkeit in den gewaltig pulsierenden Armen einer archaisch anmutenden Natur!“

Der Vorhang lüftet sich und eine sympathisch wärmende Morgensonne induziert, fröhlich strahlend, golden gelassen Zuversicht, beendet die Notwendigkeit, eine Maske verbaler Stärke über einen bitter stachelnden Kern aus sinnlos explodierenden Selbstzweifeln zu ziehen, beleuchtet das pittoreske Panorama einer bergig unterlegten, bildgewordenen Symphonie chronischer Veränderung und die beiden verharren, staunend, im köstlich lieblichen Widerhall eines heilig scheinenden Augenblicks. Erleichterung zaubert mit weit ausgebreitetem Gefieder schillernde Regenbogen sinnlicher Ekstase auf die jugendlich frischen Gesichter der sich angenehm Entspannenden, sodass schließlich, klirrend die finalen Ketten apathischen Erduldens zerspringen und sie sich, engumschlungen die Harmonie ihrer Zärtlichkeiten großzügig und gerne nicht bloß miteinander teilend, mit ungestümem Lächeln und seligem Lachen auf den magisch unschuldigen Lippen, aufmachen, die ihnen noch würzig fremde Schönheit einer sich tänzelnd vor ihnen entfaltenden Sommerlandschaft für sich zu gewinnen und diese, kunstfertig transformiert in einen süßlich flirrenden Reigen luftig schwebender Gemälde, in die empfänglichen Schalen ihrer zukünftigen Erinnerungen zu träufeln. Ausgelassenes Vogelgezwitscher und ein aus der geheimnisvollen Verborgenheit der mit Laub gefütterten Behausungen obskurer kleiner Tiere dringendes Rascheln begleitet den sanften Fluss ihrer Bewegungen akustisch, indes sie sich unaufhaltsam, ohne sich dieser verhältnismäßigen Tatsache bewusst zu sein, dem nahezu vollkommen von wild gedeihenden Ranken bedeckten Eingang eines teilweise verfallenen Steingartens, in dessen Zentrum eine einzigartige Herausforderung ihre baldige Ankunft erwartet, nähern.
Einst, als die Essenz absoluter Einheit alle Dinge durchdrang – eine fundamentale Gegebenheit, die, selbstverständlich, eine unveränderliche, jenseits von Raum und Zeit bestehende Konstante darstellt – und auch der Mensch, an sich, ihre sogar an der Oberfläche und in den verwinkeltsten Ausläufern der Materie erkennbare Omnipräsenz – mithilfe geistiger Leere – noch zu erfassen in der Lage war, lebte hier das erleuchtete Volk der Täler, welches keinen speziellen Namen für sich in Anspruch nehmen musste – kein Klammern an den Wahn einer von wirren Vorstellungen determinierten Identität –, um, ohne es wissen zu müssen, zu wissen, wer es war. Was aus ihm geworden ist, ist ohne Bedeutung, lediglich wenige sporadische, vom Lauf unzähliger Jahre entstellte Relikte eines gelegentlich erschaffenden Daseins bezeugen vage seinen Ruhm auf dem Gebiet bescheidener Weisheit ohne Zweck und ohne Ziel. Der Ort nimmt hierbei die Rolle einer beliebigen Hilfestellung ein, er ist unwesentlich, eine simple Zugangsoption, ein durch das Zusammentreffen gewisser gegenständlicher Umstände – Transkriptionen von Wahrheit in ein diskret anthropogenes Vokabular – zündender Funke, das vermeintlich erloschene Flammenmeer im Inneren der eigenen Verästelungen erneut zu entfachen – das Feuer vollendeter Klarheit spürbar zu machen –, das zu entdecken, was, immer und überall, ist.

Und schon ist sie überschritten, jene imaginäre Grenze, die sich, trotzig, zusammensetzt aus Glaube und Phantasie – und plötzlich ist alles – wie – verwandelt – in der verblendeten Welt der Perzeption. Ein filigran geschuppter Reptilienboden saugt lüstern an den nackten Füßen der sich in ihrer spontan einsetzenden Orientierungslosigkeit verwirrt Ergänzenden, wölbt sich manisch auf, erbricht dunkle Stöße panisch exkrementöser Lava exzentrisch fragwürdiger Konsistenz, höhnisch die Beine der zu wehrlosen Opfern Auserkorenen mit der dumpfen Widerwärtigkeit seines abstoßenden Auswurfs besudelnd – und steht still, ganz so, als wäre nichts geschehen, überlässt die Zwei, in ihrer Vereinigung, dem frivol verzerrten Labyrinth makabrer Assoziationen, eine dämonisch blinzelnde Furcht, die – einen lächerlich stupiden Vergleich aufs Papier schleudernd – weitaus tiefer sitzt als das, in manchen Situationen, schier übermächtige Beben fleischlicher Lust, aus dem eiskalten Refugium ihrer Epilepsie lockend. Zitterndes, hilflos winselndes Elend – kaum haben sie sich von der zynisch durch die heimlichsten Nischen ihrer Psyche echoenden Erschütterung des ersten Schocks erholt, zur Linderung die honiggleiche Idylle des anbrechenden Tages auf ihren zerrüttet gereizten Synapsen verteilt, zerfetzt der gnadenlose Dolch unvorhergesehener Ereignisse die trügerisch behagliche Leinwand harmlosen Schlenderns durch eine milchig satte Köstlichkeit friedlich summender Momente und reißt die empfindlichen Gemüter unserer leidlich unerfahrenen Protagonisten ins blechern schallende Verderben giftig schäumender Poren ominöser Unbeständigkeit. Ehe es ihnen gelingt, auch nur tendenziell zur Ruhe zu kommen und die unangenehm knisternden, ihre zarten Leiber grob malträtierenden Wogen schrecklich intensiver Stimulanzien zu verdauen, sind sie bereits angelangt, im Reich des mystischen Jaguars, der, wie ein behutsam funkelnder Opal, grollend flüsternd, zu ihnen spricht. „Der Pfad der Mysterien ähnelt einer blutroten Orchidee – verziert mit der opulenten Erhabenheit flüssigen Rubins geleitet er die Suchenden hinab in eine Schatzkammer bizarr flatternder Euphorie! Betörende Düfte verbreitend, erblüht ein Mosaik aus adoleszenten Rosen über den kristallenen Kelchen taubenetzter Schläfen! Hinter dem Schleier der Wahrnehmung, jedoch, in der stoisch prahlenden Kluft fremdartiger Unerreichbarkeit, stagniert spröde das Wort, wartet flehend darauf, vernichtet zu werden, den Marmor, den es zornig durchwurzelt hat, zu zersprengen, um in amorpher Vergänglichkeit seine Bestimmung zu erfüllen – und wir, wir lesen, gebannt, im Buch seiner ewigen Manifestationen, aufgewühlt erahnend, dass alles längst ist. Düster, wie Zimt, tobt ein eitriger Scharlachsturm durch die Nichtigkeit unserer Existenz und gebiert wundervoll obszöne Anomalien – möge das Ritual der Trennung und Melange beginnen!“ Nichts. Kein verträumt splitternder Laut tönt fruchtbar hinein in die klebrig exzessiven Ergüsse fanatisch zirkulierender Obsessionen, keine exorbitant wallende, phänomenal farbenprächtige, von aufrichtig stolzen Initiierten flott inszenierte Zeremonie befleckt die keusche Jungfräulichkeit des ins Aberwitzige abgleitenden Szenarios mit dem geradezu göttlichen Ejakulat einer alle Anwesenden aufheiternden Offenbarung - nein, ganz und gar nicht – stattdessen martert eine subtil quälende Atmosphäre schwül erdrückender Erwartung, die, langsam aber sicher, in peinigende Ungeduld umschlägt, die blank liegenden Nerven der partiell unfreiwillig Beteiligten, bis sich, zu guter Letzt, sichtlich verlegen, der Jaguar, wieder, zu Wort meldet. „Eventuell ...“ „Schluss mit dem Rechtfertigungsgejammer, wir gehen jetzt ans Meer!“ Gesagt, getan!

blume (michael johann bauer)

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freiTEXT | Claudia Wallner

Verschiedene Welten

Es war warm in der Stube. Die Mutter hatte ihre gepunktete Kochschürze umgebunden und fing langsam an das Abendmahl auf dem Gasherd zuzubereiten. Vater war draußen, um Holz zu hacken, während unser Hund „Schorsch“ vergnügt den Hühnern nachjagte und bellte. Ich war gerade mit Hausübungen beschäftigt, als meine Schwester mit einem Geschenk vor mir stand: „Alles Gute mein lieber Bruder! Ich weiß du hast erst morgen deinen Ehrentag, aber ich möchte dich heute schon beschenken!“ Ich war sehr erstaunt und öffnete das Päckchen neugierig. Es war ein Schlüssel. Meine große Schwester Anna hatte mir also ihr Moped vermacht! Ich war selig vor Freude. Endlich konnte ich überall in der Stadt hinfahren, welch‘ neu gewonnene Freiheit! Ich war glücklich und genoss die Atmosphäre der warmen Stube, eingehüllt von köstlichem Essensgeruch. Ich fühlte mich so wohl im Kreise meiner Lieben und lächelte zufrieden.
Abdul schlug das Buch zu. Um sich sah er nur Zerstörung, Armut und Tod. Er war hungrig und allein. Mithilfe des Lesens flüchtete er sich regelmäßig in Fantasiewelten, die ihn wenigstens kurzzeitig von diesem Elend ablenkten. Ein ausländischer Soldat hatte ihm dieses Buch geschenkt. Es gefiel ihm, aber komisch fand er nur, dass es auf einem anderen Planeten spielte.

Claudia Wallner

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freiTEXT | Gregor Eistert

Das Kunstprojekt

Auf einmal stand er da, der Container. Mitten auf dem Stadtplatz. Im Laufe des Vormittags hatte sich dann schon eine beträchtliche Menschentraube gebildet aber obwohl viel geredet wurde, wusste keiner so recht, was hier eigentlich geschah. Der Container war kein normaler Baucontainer. Also an drei Seiten schon: Dieses in hellem Grau gestrichene Metall, dass zur Sicherung der Stabilität leicht gewellt war. Die der Kirche abgewandte Seite war jedoch aus Glas. Das ließ dann wieder an einen Zoo, vielleicht an ein Affenhaus denken. Diejenigen, die sich näher herangewagt hatten, sahen, dass der Container keinesfalls leer war. Auf dem Boden lagen einige alte Decken, die allesamt so aussahen, als wären sie von einem Laster auf der A8 abgeworfen und einigen Wochen später von irgendwem wieder eingesammelt worden. An einer der Metallseiten hatte der Container auch einen kleinen Anbau, in den man aber auch von der Glasseite aus nicht hineinschauen konnte, da er mit einem fetzenartigen Vorhang vom Rest des Raumes abgetrennt war. Der Container stand auf mehreren Holzpaletten, so dass sich der Boden des Innenraumes ziemlich genau auf Kniehöhe eines durchschnittlich großen Mannes befand.

Während sich bis zur Mittagszeit immer mehr Menschen am Stadtplatz versammelten, zerstreute sich die Menge während des Nachmittags wieder. Einige Neugierige kamen zwar noch vorbei um sich den Container aus der Nähe anzusehen, aber da sich davor weder ein Schild, noch irgendetwas besonderes darin befand, ließ das Interesse der Passanten bald nach.

Das änderte sich am nächsten Morgen.

„Ist ja unerhört!“ „Das ist wieder irgend so ein moderner Kunst Schaß, den sie von unseren Steuergeldern finanzieren. Wie damals der Hubschrauber.“ „Eine Frechheit ist das!“ „Das geht ja nicht. Das kann man ja nicht machen. Irgendwer muss da was dagegen tun.“ „Ist das überhaupt erlaubt?“

Im Container befand sich jetzt eine syrische Flüchtlingsfamilie.

Das stand jedenfalls auf dem Schild, das jetzt an einer der Außenwände befestigt war. Das Schild war klar und strukturiert designet und gab Informationen über den Inhalt des Containers, über die Herkunft der sich darin befindenden, ihre durchschnittliche Lebenserwartung, die Zahl der Kinder, die sie durchschnittlich zur Welt bringen und ihre größte, natürliche Bedrohung: Der Mensch.

Doch das Schild interessierte die meisten anfangs nicht besonders. Aller Augen waren auf das Kleinkind gerichtet, dass gerade weinend auf die Glaswand zu gekrabbelt kam und mit seinen speichelverschmierten Händen tollpatschig dagegen schlug. Eine dunkelhäutige Frau mit Kopftuch, offensichtlich die Mutter des Kindes, hob es vom Boden auf, wischte das Glas so gut es ging mit dem Ärmel ihres Gewandes sauber und sah sich dann verzweifelt im Container um. Das Kind wurde währenddessen immer unruhiger. Heftige Weinkrämpfe brachen aus ihm heraus. Schließlich ließ sich die Mutter mit dem Rücken zur Glasfront nieder und begann ihr Kind zu stillen. Das war ihr sichtlich unangenehm. Immer wieder warf sie einen verschämten Blick über die Schulter während die Leute draußen ihre Nasen gegen die Scheiben drückten.

Im Container befand sich auch ein Mann, der bis dahin auf dem Haufen dreckiger Decken geschlafen hatte. Jetzt stand er allerdings auf, nahm eine der Decken und versuchte sie schützend vor seine Frau zu halten. Augenblicklich ertönte ein lautes, schrilles Hupen im Container und an der Decke angebrachte Sprinkler ließen es regnen. Verzweifelt versuchte der Mann, seine Frau, das Kind und sich selbst mit der Decke zu schützen, doch der künstliche Regen wurde immer stärker. Erst als er den Stofffetzen entmutigt sinken lies, hörten die Sprinkler auf Wasser zu vergießen. Das versammelte Publikum, das ob des plötzlichen Wolkenbruchs kurz zurückgeschreckt war, drückte jetzt wieder seine Gesichter gegen die Scheiben und versuchten nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, was drinnen vor sich ging. Geräusche drangen nämlich keine aus dem Inneren.

Am frühen Abend, wahrscheinlich so, dass es sich eben für die Nachrichten noch ausgehen würde, war dann auch das Fernsehen zur Stelle.

Kunst. Der Container samt Flüchtlingsfamilie war eine Installation irgendeines belgisch-afghanischen Künstlerpaares. Damit war der Sachverhalt für die Zivilbevölkerung geklärt: Moderne Kunst muss man nicht verstehen. Moderne Kunst ist einfach. Man muss sie nicht mögen oder schönfinden und man muss sie vor allem nicht mit der Realität in Beziehung setzen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sie zu akzeptieren. Weil finanziert wird das ganze ja sowieso immer von Menschen, die einfach zu viel Geld haben oder, noch besser, vom Staat, der zwar kein Geld hat aber zumindest so tut als ob. Nein, leid tun, müssen einem die Gestalten in diesem Container jetzt nicht mehr, letztendlich haben sie sich ihre Situation selbst ausgesucht. Genauso wie Millionen syrischer Flüchtlinge. Hätten ja nicht herkommen müssen. Keiner hat sie darum gebeten. Sollen sich jetzt nicht aufregen, weil sie in Zelten schlafen müssen.

In irgend einer Late-Night-Talk-Show, so spät, dass sowieso fast keiner mehr zusah, gab dann das belgisch-afghanische Künstlerpaar ein Statement zu seiner Installation ab: „Wir tun uns manchmal sehr leicht damit, etwas so sehr zu abstrahieren, dass wir den Menschen dahinter vergessen. Wenn Menschen fliehen, ist das nicht wie Lotto spielen. Man steht nicht aus seinem bequemen Wohnzimmersessel auf, kauft ein Ticket und hofft das große Los zu erwischen. Menschen fliehen, weil sie müssen. Weil, wenn sich wer zwischen dem sicheren Tod in der Heimat und dem wahrscheinlichen Tod auf einem Schlepperschiff entscheiden muss, wählt er zumeist doch diese klitzekleine Chance, diesen Lichtblick den ihm Europa bietet“.

Gregor Eistert

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17 | Sophie Stroux

eMMa

Die Bäckerei, vor der ich stehe, ist klein, hellgrün und in ihr windet sich die Schlange durch die wenigen speckigen Holztische, durch die Glastür und vor dem Geschäft um eine Ecke. Von oben sehen wir wohl aus wie eine Kreuzotter, die sich ihren Weg durch ein Labyrinth sucht, denke ich, eine Kreuzotter und ich bin nur ein kleiner Punkt auf ihrer Haut, die sie bald abwerfen wird. Ich mag es, zu warten, denn dabei verwandele ich mich von diesem kleinen schwarzen Punkt zu einem Chamäleon, das hier und da den Gesprächen lauscht, die Gedanken anderer mitdenkt und unsichtbar wird zwischen ihnen.
Hinter der Glasscheibe erkenne ich den alten Mann mit seiner Zeitung von gestern und seinem halben Croissant. Schon letzte Woche saß er an dem Tisch vorm Fenster. Ich beobachte die Katze, die sich normalerweise auf den Motorhauben der geparkten Autos wärmt, aber heute die Menschen, die vor der Tür anstehen, misstrauisch beäugt. Hinter mir diskutiert jemand über Blues und vor mir über den Dozenten, der ständig an seiner Brille kaut, wenn er nachdenkt – also immer – und ich merke, wie ich anfange mich einzublenden, Chamäleonfarben annehme, als mich ein Lichtreflex wieder aus der Starre holt.
Es sieht aus wie die Spiegelung der orangen Katze, aber als ich mein linkes Auge zusammenkneife, wird die Katze zu Haaren. Haare?, denke ich kurz verdutzt, und dann gewöhnen sich meine Augen an den Blick durch die Glasscheibe und ich erkenne ein Mädchen.
Ihre rottanzenden Haare sind es, die aus der Schlange hervorleuchten. Das Mädchen ist groß, größer als der Mann hinter ihr mit seinem gelben Polunder. Und sie tritt nervös von einem großen Fuß auf den anderen, zupft an ihrem T-Shirt herum und blickt sich immer wieder um. Platzangst, denke ich im ersten Moment. Aber das passt irgendwie nicht. Vielleicht ist sie eine von denen, die Warten nicht ausstehen können? Vielleicht kann sie einfach nicht stillstehen?
Wir sitzen in einer Wohnung mit grüner Tür an einem speckigen Holztisch, in den sich Holzwürmer verkrochen haben. „Meine Liebe,“ sage ich über die Erdbeeren mit Milch hinweg und sie lächelt ein dreiviertel Lächeln, ein bisschen schräg und auf keinen Fall ein ganzes Lächeln, sitzt halb auf der Stuhlkante und halb in der Luft. Dass sie nicht runterfällt, wundere ich mich plötzlich, nicke aber zu ihrer stillen Frage und gucke ihr beim Verschwinden hinterher, freue mich, dass sie unterwegs ist und irgendwo zu sein hat, während ich meine Milch mit aufgegessenen Erdbeeren trinke.
-

Sie sitzt auf dem Fensterbrett mit grünem Rahmen und malt mit schnellen, weiten Strichen auf Papier. Ihre Hände sind schon schwarz und ein paar Punkte haben sich auf ihr Gesicht verirrt. Ihr rotes Haar steht wirr ab, ihr grüner Blick rennt den Pinselschwüngen hinterher. Sie sieht schön aus in dem bunten Licht mit ihren leuchtenden Haaren und mit dieser Ruhe.

Ich sitze ihr gegenüber und bewundere ihre spitze Nase und die Haare, die immer noch ein wenig nach einer Katzenspiegelung aussehen. Der Moment ist fast ein Bild, vielleicht von Rembrandt, schnelle Pinselstriche und trotzdem ruhig.

„Sind wir bald da?“, fragt sie auf dem Weg zu einer Party und ich blicke ihr hinterher wie sie vor mir verschwindet.

„Wir sind zu früh.“, sage ich langsam, aber sie hört nicht. Ich will mich nicht hetzen lassen, will den Moment genießen, bleibe vor einem Schaufenster voller Bücher, die Neuerscheinungen dieses Monats, betrachte, wie sie farblich sortiert zu einer Pyramide aufgestellt sind, verliere mich in dem Bild, und finde mich auf der Spitze der Pyramide wieder wie ich mich bereit mache, auf ihr herunter zu rutschen.

„Emma!“, rufe ich und drehe mich in ihre Richtung, aber sie ist weg und sie antwortet mit einem „Komm doch!“ zwei Straßen weiter, sie wartet nicht.
(Sie will so schnell wie möglich da sein, wo auch immer)
Ich bleibe noch einen Moment vor dem Schaufenster stehen, blicke auf die Buchrücken und erkenne einen meiner alten Freunde, der sich irgendwie zwischen all die neuen Bücher geschlichen hat.
„Sofern sie Emma hießen…“, sage ich leise zu den Buchdeckeln, vielleicht verstehen sie mich ja. Vermutlich wissen sie mehr über Emmas als ich.
Ich wende mich ab und folge mit einem leisen Seufzen Emma, die schon lange um zwei Ecken verschwunden ist.
-
"Emma“, sage ich und sie blickt auf, sucht aber mit ihren Händen weiter hektisch nach Schlüssel oder Handy oder was auch immer sie sucht.
„Emma“, sage ich, „Wir haben noch Zeit. Lass uns doch einen Tee trinken.“
Sie schüttelt nur den Kopf und richtet ihren grünen Blick wieder auf die Kommode. „Wir sollten pünktlich sein, man weiß ja nie.“
„Aber Emma…“, setze ich an, sie aber hebt ihre Sonnenbrille hoch und sagt: „Ich hab sie, wir können los!“
-
Sie ist nie da.
(Bald da sein, heißt nur, nirgendwo jetzt zu sein.)
-
„Emma“, sage ich, „Emma, weißt du, dass du bei Morgenstern eine Möwe bist?“
Und sie blickt zu mir, während sie sich schminkt.
„Eine Möwe? Findest du?“
Ich betrachte sie, diesen dünnen Menschen, der immer rennt, mit seinen wilden roten Haaren und diesem selten eingefangenen, so grünen Blick. Sie lächelt nie ganz, nur dreiviertel, aber in ihren Bewegungen liegt trotz der Ruhe unserer Wohnung eine Ungeduld, die selbst die Schminke nicht verbergen kann. Ich schüttele den Kopf.
Sie lacht und verschwindet mit einem Augenaufschlag durch unsere Tür mit der abblätternden grünen Farbe und ein paar Flecken fallen auf den Boden als sie zuschlägt, fast wie der Regen unter Tannenbäumen. Ich betrachte Emmas Abwesenheit in dem Raum und die grünen Schuppen auf der Fußmatte.
„Nein, du bist keine Möwe“, sage ich in die Leere der Wohnung und die Wohnung hört zu. „Dich gibt es so nicht bei Morgenstern.“
-
Wir laufen eine gepflasterte, sich wellende Straße entlang. Ich suche irgendein Museum oder eine Galerie, von der ich zuvor gelesen habe, bin euphorisiert vom Pulsschlag der Stadt und ihren grellen Farben und freue mich über jeden Grashalm.
Emma geht vor mir, obwohl sie nicht weiß, wohin ich will, läuft in falsche Straßen und um falsche Ecken. Ich versuche, mich nicht aufzuregen, warum rennt sie nur weg, ich habe doch eine Karte dabei, klein, besser als nichts, aber so wirklich gelingt es mir nicht, denn ihr stummes „Sind wir bald da?“ dröhnt in meinem Hinterkopf als säße es in meinem Ohr.
Ich sage nichts, sie sagt ja auch nichts, aber als ich das Museum dann endlich finde, hat sie nach paar Minuten alles gesehen und wartet ungeduldig im Cafe.
Ich bleibe lange bei den Bildern von diesem Amerikaner stehen, Rosen, betrachte sie mit Emmas Ungeduld, die ich nicht abschütteln kann, und ärgere mich.
„Emma,“ flüstere ich dem Rosenzyklus zu, „Emma ist schuld.“
Aber die Rosen aus Amerika schweigen und Emma schweigt auch.
-
In der Bibliothek mit den zu großen Tischen und dem braunen Teppich, in der man sich nicht einmal traut zu husten, weil alles so leise und trocken ist und man fast an der Stille ersticken kann, lese ich in einem Gedicht von der „Koexistenz des Widersprüchlichen“ und denke sofort an uns, Emma.
(Das ist unser Problem.)
Und die Frage, ob wir bald da sind, so oft du sie auch stellst, könnte ich dir erst beantworten, wenn ich dieses Meer sehe. Aber Emma, dahin wirst du mit mir nie gehen, denn du wirst vorher um eine andere Ecke biegen, Morgenstern nicht sehen und nicht warten, ich kenne dich, du wirst wegrennen, nur um anzukommen, egal wo, aber nicht am Meer, nicht mit mir, nicht bei mir.
Und du bist einfach nicht aus Morgenstern, eMMa, so sehr ich mir das wünsche. Dort wirst du nie sein. Du wirst immer eine anwesende Abwesenheit bleiben.
Und du bist keine Emma wie sie in Büchern steht. Du bist eine eMMa und nie da.
-
„Bitte?!“
„Was?“ Ich schrecke auf.
„Was Sie wollen?“, fragt der Verkäufer mit der Pastellschürze.
„Ich,“, das Chamäleon löst sich auf, „Ein Croissant bitte. Und ein Pain au Chocolat.“ Und das eine Auge sieht das Mädchen plötzlich wieder, meine Emma für ein paar Minuten, wie sie bezahlt, ihre Tüte nimmt und aus dem Cafe hastet.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.

13 | Simone Scharbert

Nachts III

und stocken einen satz nach dem anderen stecken im
neonguss der straßenlampen haben seltsame größen für einen
moment und werden so ein nervöses wechselspiel aus konkav
und konvex lachen uns angst zu im dünnlicht der röhren

führen wir unsere silhouetten an leinen und staunen über ihr
stilles miteinander und ob sie einander kennen fragen wir uns
während wir schulter an schulter gehen klappen unsere
schatten wie tintenbilder auf mittig geknicktes papier

unser brustbein die achse im jetzt lehnen wir schulter an
schulter die mauer im rücken und sehen unsere schatten
verblassen die nacht während neonröhren flimmern und wir
nur einen augenblick lang fenster und türen geöffnet halten

Simone Scharbert

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.


11 | Matthias Engels

Mann vor Winter

Ein Mann steht vor seinem Winter.
Er steigt aus dem Schlaf und geht ins Haus.
Aus den Briefen fischt er einen heraus. Er ist von ihm. Ein alter Plan steckt darin und er stellt fest, er kann ihn nicht mehr lesen.
Er fragt seinen Schatten, aber der ist das Stillstehen leid und winkt ihm wortlos zum Abschied. Ein Mann sieht eine Wand an, sieht aus dem Dunkel. Vor dem Haus steht eine Hoffnung. Man sieht es nicht, aber eine Ahnung frisst an ihr, ganz langsam, von unter der Rinde.
Ein Mann sieht in einen alten Spiegel, aber der Junge darin ist verschwunden. Ein Mann setzt sich zu seinen Zweifeln. Sie rücken auf und machen Platz. Er blättert in Bildern, merkt, dass er nicht darin vorkommt und schaltet sie ab.
Er isst noch etwas von seiner Gewohnheit, trinkt den Tag aus, rückt die Ängste in den Regalen zurecht. Er tastet nach seinem Gesicht, daß er unter das Kissen gelegt hat, in der Hoffnung, sich so vielleicht diesen Morgen daran zu erinnern. Er horcht auf das Rauschen. Die Maschine verrichtet ihre sinnlose Arbeit. Er achtet nicht weiter darauf, schneidet sich die Wünsche, kämmt seine Gedanken streng, legt eine Vorsicht auf und schlüpft in eine Erscheinung.
In der Bahn schwitzen links und rechts Geheimnisse, deren Geruch er schwer ertragen kann, dampft Dummheit, drängen Hormone zum Botenstoff, dösen Dramen träge vor sich hin.
Auf der Arbeit konfrontiert man ihn mit Leben, mit lauter MENSCH. Er erträgt es und denkt dabei an sein Spiel.
Er sucht überall einen Horizont, eine Null-Linie ohne Ausschlag, eine millimetergenaue Eichung; ertappt sich, wie er mit der Schuhspitze Krater scharrt in die Grasnarbe des Parks, auf der Suche nach Kabeln und Kupferrohren. Mit dem Finger versucht er Löcher zu bohren in brüchige blaue Stellen am Himmel, er vermutet dahinter ein Drahtgeflecht.
Er kauft ein Tuch. Den Zweck kann er der Verkäuferin nicht nennen, er braucht es weder für Tisch, noch Hals, noch Bett und es fällt ihm schwer, sich zu besinnen:
Was war noch Tisch, was Hals, was Bett? Die Verkäuferin kassiert seine Würde und legt sie in die Kasse.
Er braucht das Tuch für die Nacht. Ob die Welt schläft wie der schwatzhafte Vogel, wenn es sich schwärzt um sie herum?
Ein Mann schüttelt den Kopf. Immer schwirrt ihm das Staunen genau ins Auge! Er nimmt seine Maske ab, wischt es fort und setzt sie wieder auf. Ein Mann fährt heim. Unterwegs sieht er flackernde Vergnügen und wie Feuerwerkskörper verglühende Versprechen. Er steigt aus, seine Haltung lässt er im Wagen. Unter seinen Schuhen splittern die Minuten wie Murmeln.
Am Zaun lehnt sein Schatten und friert. Im Nachbarhaus wohnen Wort, Hunger und Armut und werfen Blicke von hinter den Vorhängen. Sicher hat er Morgen wieder eine Häme an die Hauswand geschmiert.
Ein Mann steht vor seinem Winter. Er kommt ins Schwitzen und nimmt den Mut ab, entledigt sich seines Gewissens. Er liest ein paar Minuten auf und rollt sie hinüber zum Zaun. Er war nie gut darin und der unbekannte Junge am Zaun schmunzelt.
Ein Mann atmet einen Abend. Von drinnen rufen die Dinge, rufen die Bilder, ruft die Angst. Er hört die Hast laut klingeln.
Ein Mann steht am Zaun und streckt die Spitze der Zunge heraus, ganz langsam und nicht sehr weit. Ein Mann schmeckt seine Zeit, sie schmeckt salzig und leicht nach Eisen.
Ein Mann steht im Winter und fühlt, wie sein Bedauern taut. Er hat den Haufen Verzicht unter dem Baum im Herbst nicht aufgekehrt, täglich fiel Blatt auf Blatt. Er wollte die Wut nicht wecken, die darunter schläft wie ein kleiner Nager.
Er fühlt wieder sein Gesicht und versucht einen Ausdruck. Im Zimmer spürt er seine Hände und denkt:
Eine Tat wäre ein Gedanke.
In der Besteckschublade findet er einige kleine Möglichkeiten, zusammen mit Büroklammern, Reißnägeln und Schlüsseln, für die es kein Schloss mehr gibt.
Ein Mann findet einen Faden und den kläglichen Stummel eines Stifts. Er sieht kleine Partikel Graphit in kleinen Scharten eines Gewebes aus Fasern zurückbleiben und ein Staunen schwirrt wieder direkt in seine Augen. Er lässt es dort und freut sich am Prinzip der Reibung.
Reibung erzeugt Wärme, sagt sein Schatten und schaut ihm interessiert über die Schulter.
Ein Mann denkt einen Weg, ein Mann denkt einen Wald.
In einer Ecke spinnt etwas einen Faden. Ein Mann schreibt sein Leben. Das Papier bleibt winterweiss, aber die Reibung der Schreibhand erwärmt es langsam.
Ein Mann setzt zögernd Zeichen auf ein fragwürdiges und irgendwann zerfallendes poröses Material und irgendwo tief unten, im staubigen Bauch eines dunklen Möbels, antwortet etwas mit leisem Pochen, was der Mann jetzt noch nicht hören kann.

Matthias Engels

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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09 | Simone Lettner

Ein kleiner Adventspaziergang

Gestern Abend ging ich spät noch spazieren. Ich ging unbedachten Schrittes meines Weges, in wirre Gedanken versponnen, das dumpfe Tönen der Autobahn vernehmend. Ich fühlte keinen Weihnachtsfrieden in mir. Die nächtliche Stille war nicht friedlich, sondern bedrohlich. Die Kälte kroch in mich, und ich hieß sie willkommen.

Ich kam bei meinem Spaziergang zum Gemeindehaus. An dessen Wand waren ein paar Worte gemalt: „Zünde ein Licht an“ stand da zu lesen. Ich ging daran vorbei, und noch während die hellen Worte vor meinem geistigen Auge aufflammten, schaltete der automatische Bewegungsmelder vor der Eingangstür des Gebäudes eine oberhalb angebrachte Neonlampe ein.

Da überkam mich als mit zusammengekniffenen Augen hilflos Blinzelnde der Gedanke, wie überflüssig es in der heutigen Welt scheint, als Mensch selber ein Licht anzuzünden, wenn doch überall automatische Bewegungsmelder sind. Und auch andere künstliche, scharfe Lichter begleiten uns schließlich stets, Werbeplaketten, Firmenzüge, Leuchtaufschriften, Weihnachtsketten und Warnleuchten. Ganze Gebäudekomplexe sind nachts ausgeleuchtet. Nicht einmal abstellen kann man diese Lichter. Sie verfolgen einen, und sie lassen einen nicht in Frieden.

Wir befinden uns in einer Welt der Zwangsbeleuchtung, vielleicht auch der Zwangsverblendung. Manches Mal möchte ich gerne auf das Licht verzichten, zöge es vor, mich im stillen Dunkeln einzuhüllen – doch dann kommt man an einem automatischen Bewegungsmelder vorbei, und der taucht einen gnadenlos ins grelle Helle.

Das Künstliche an diesem Licht ist verklärend. Es überblendet jeden natürlichen, ehrlichen, aufrichtigen, unscheinbaren Lichtfunken, der noch am dunklen Horizont zu schimmern vermag.

Diese Lichter, über die man keine Verfügung hat – die sich von selbst einschalten und leuchten, ohne dass man sie ausschalten könnte, sind mir unangenehm, wie würde ich denn noch selbst ein Licht anzünden, wenn mich stets so grelles Industrielicht umgibt?

Was  bedeuten heute vier Kerzen auf einem Kranz?

Was bedeutet heute ein aufrichtiges Licht, das aus mir kommt, aus meinem Inneren, das Wärme erzeugt und Geborgenheit, und nicht Kälte und Ausgesetztheit wie die Neonlampe? Welchen Wert hat es und welcher Anstrengung bedarf es? – Vermutlich einer größeren als ich bisher je gefühlt habe.

Das künstliche Licht mit seiner selbstverständlichen Vorhandenheit soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wahres Leuchten ein Geschenk ist – das grelle Fabrikprodukt soll uns nicht blind machen für die viel kleineren, viel ehrlicheren Lichtstrahlen mit viel wesentlicherer Wirkung, die Menschlichkeit verkünden. Wir brauchen nicht so sehr Städte, die die ganze Nacht auf elektrische Art zum hellen Tag erstrahlen lassen – wir brauchen viel eher Meere an Herzen, die mit menschlicher Wärme das hereingebrochene Eis zum Schmelzen bringen, durch die Dunkelheit strahlen und ein Zeichen setzen.

Simone Lettner 

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05 | Luka Leben

Alle Jahre wieder

Die Welt dreht sich vom aufzeichnenden Auge unbemerkt, wie die Felgen eines Sportwagens am Großbildfernseher. Je mehr Zeit man sich nimmt, um zu schauen, umso mehr fällt auf, dass sich nichts tut. Und doch ist irgendwann wieder ein Jahr vorbei und noch eines und die Lichterketten ranken sich an den Geschäften und Boutiquen empor wie die Rosen des Dornröschenschlosses seit Jahrhunderten Abend um Abend in den Gutenachtgeschichten der westlichen Kultur, nur dass dahinter nicht die unendliche Ruhe des (Winter)schlafs einkehrt, sondern ein alptraumhafter Mahlstrom an Geschäftigkeit.

Das hübsch anzusehende Überwuchern kann man auch in zeitgerafften Dokumentationen des Zerfallsprozesses beispielsweise eines Weihnachts-Apfels beobachten: Der Schimmel sprießt und zuckt tänzerisch mit seinen feinsten Härchen, manchmal springt etwas ganz unerwartet hervor und erweckt im Betrachter ein süßes Erschrecken und insgesamt sammelt sich alles zur samtenen Geborgenheit eines Pelzes, wie von einem kleinen wichen Tier, man möchte schon die Wärme eines pochenden Herzschlags darin vermuten, aber bald! – zeigt sich das verfaulte schwarze Fleisch im Inneren, dass immer mehr verkümmert und schließlich gottseidank verschwindet!

Auch in den Geschäften tummelt sich das überschäumende Leben: Die Augen der ausgezehrten, burnout-gefährdeten Beamten, Betriebswirte und Babysitter glänzen im Fieber der Selbstüberwindung – sie spüren weder Hitze noch Kälte, keinen Durst und nicht die schmerzenden Füße – alle Körperfunktionen fallen dem übermächtigen Treiben des Gehirns, dass nur noch seiner Fixierung auf ein Ziel folgt, zum Opfer: Weihnachten! Rauschende Feste, Gemütlichkeit, Beisammensein, Intimität, Besinnung – all dies muss durch größte Entäußerung und Disziplin vorbereitet werden! Es liegt in der Natur der Sache, dass die Erleichterung des Einbruchs nur auf die äußerste Belastung folgt:

Wenn man mit Schultern, die verspannt sind, wie die eines Langzeit-Gefängnisinsassen im höchsten Sicherheitstrakt, nach der Bescherung im Bett liegt und zum ersten Mal bemerkt, dass man Schmerzen hat und, wenn man dann den geliebten Partner bittet, den Schmerz durch zärtliches Betasten zu lindern und dieser murrend reklamiert, dass man überhaupt die ganze Zeit schon so angespannt sei und damit allen die Freude verderbe und, wenn man daraufhin in Tränen und Rotz ausbricht und all den Glühwein und die Gänsesuppe aus sich heraus weint, und wenn man dann den Partner aus den verbliebenen Leibeskräften anbrüllt und sieht, wie er aufrichtig erschrickt, wie in ihm das staunende Kind wieder zum Vorschein kommt, und man in sich einen Funken Zärtlichkeit diesem Kind, das er einmal gewesen sein muss, gegenüber aufkeimen spürt, dann, ja dann ist Weihnachten.

Luka Leben 

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freiTEXT | Katharina Korbach

Minuten bis Sieben

Es gibt nichts mehr zu tun, außer dem Regen dabei zuzusehen, wie er vor ihr auf das Pflaster prasselt, ausufert, zu Pfützen wird. Über dem Platz hängt der Himmel in einem Grau, das gerade dabei ist, schwarz zu werden. Ein paar Frauen in dunklen Regenjacken laufen vorbei, unterhalten sich leise, lachen. Vielleicht Touristen, denkt sie. Sie wartet darauf, dass es sieben wird und sie den Wagen abschließen kann.

In der letzten halben Stunde kommt immer noch jemand. Sie stellt sich das gerne vor, wie dieser jemand vorher in seinem Büro vor dem Bildschirm sitzt. Gleich hab ich Feierabend, denkt er und sein Magen knurrt. Wenn ich mich beeile schaff ich es sogar noch, mir an dem Stand am Platz eine Wurst zu holen. Die Leute, die zu ihr kommen, haben keinen Appetit, haben nicht einfach Lust auf einen schnellen Imbiss oder einen Snack. Die Leute, die zu ihr kommen, haben Hunger. Weil sie den ganzen Tag noch keine freie Minute zum Essen hatten. Weil es niemanden gibt, der zuhause für sie gekocht hat. Für diese Leute steht sie gerne in der Kälte.

"Ist noch Eintopf da?" Wie Perlen liegen die Tropfen auf der Hutkrempe des Mannes, die Brust hebt und senkt sich schnell, als wäre er gerannt. Sie nickt. "Mit oder ohne Wursteinlage?", fragt sie. "Mit, bitte." Der Mann zieht ein Handy aus der Tasche, hält es sich direkt vors Gesicht und beginnt, darauf herumzutippen, während sie die Schöpfkelle in den Topf taucht, dann eine Plastikschale bis zum Rand füllt. "Bitte sehr", sagt sie und streckt dem Mann die dampfende Schale entgegen. Ihr fällt auf, was für schöne Zähne er hat, absolut gerade, absolut weiß. Und silberne Strähnen, die ihm in die Stirn fallen. Es gibt sie also doch noch, die schönen Männer, denkt sie. Selbst hier. Selbst an so einem Abend, an dem man nicht mal einen Hund vor die Tür jagt, wie Jürgen gesagt hätte. "Ich lege die 3,50 hier hin", sagt der Mann und erst jetzt sieht sie die Münzen auf der Ablage. Sie greift danach. "Ja. Danke. Lassen Sie es sich schmecken", spult sie ab. Das sagt sie zu jedem, nicht nur zu den schönen Männern. Sie ärgert sich über sich selbst. Die Uhr schlägt zweimal. Eine halbe Stunde noch.

Sie schaltet den Grill aus, darauf das Fleisch, das sie nicht verkauft hat. Viel ist es nicht mehr, einmal Rind, zweimal Schwein. Heute Morgen hat Marcel sie gefragt, was eigentlich mit den Würsten passiert, die übrigbleiben. Sie hat es nicht geschafft, ihm die Wahrheit zu sagen. "Die verschenk ich meistens", hat sie gesagt. Sie hätte ihm alles erzählen können, er hätte genickt. Meistens isst sie die Würste selbst. Heute nimmt sie die Zange und lässt sie in eine Plastiktüte fallen, eine nach der anderen. Verschnürt sie, so fest es geht. Nein, heute nicht. Nicht, solange noch ein schöner Mann bei ihr an der Theke steht und seinen Eintopf löffelt.

Sie putzt den Rost, kippt die Asche aus dem Grill hinter den Wagen, wischt mit dem Lappen über die Ablage. Der schöne Mann schaut ihr dabei zu oder vielleicht starrt er auch einfach ins Leere. "Wiedersehen", sagt er irgendwann. Lässt klappernd seinen Plastiklöffel in die Schale fallen. "Einen schönen Abend wünsche ich." Einen schönen Abend. Sie versucht, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal so etwas wie einen schönen Abend hatte. Ihr Kopf bleibt leer. "Ebenso", sagt sie, aber da ist der schöne Mann schon weg. Ein schwarzer Rücken, den der Regen verschluckt. Einen schönen Abend. Sie denkt an ihre Wohnung. An das Treppenhaus, in dem es genauso kalt ist wie draußen. An die Stufen, die sie sich hochschleppt bis zur Wohnungstür. In der Manteltasche nach dem Schlüssel kramt. Jeden Abend muss sie eine gute Stunde mit dem Auto aus der Stadt rausfahren, durch das Industriegebiet, dann hinter der Tankstelle rechts ab, in eine Querstraße. In die Gasse, in der ihre Wohnung liegt, kommt sie mit dem Wagen nicht rein. Rechts von der Eingangstür stapelt sich der Müll in großen grünen und gelben Säcken. Am Ende des Monats wird sie manchmal von dem Gestank geweckt, aber das nimmt sie in Kauf. Sie hätte jede Wohnung genommen. Jede Wohnung ohne Jürgen.

Der Platz ist leer und, obwohl es erst zehn vor sieben ist, löscht sie das Licht. Als letztes nimmt sie die Schürze ab und fühlt sich sofort unwohl. Neben der Baustelle am Rathaus parken ein paar Taxen. Als sie aus dem Wagen steigt, kurbelt einer der Fahrer die Scheibe herunter. Guck nicht so blöd, denkt sie, hebt die Klappe an der Seite des Fahrzeugs aus den Angeln, schließt ab.

In der Spiegelung der Windschutzscheibe sieht sie ihr Gesicht. Rote Backen von der Kälte, die Haare dicht am Kopf und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Keine schöne Frau, denkt sie. Steckt die Hände zwischen die Oberschenkel, bis sie so warm sind, dass sie losfahren kann. Eine Frau wie ich verdient keinen schönen Mann.

Jürgen ist nicht schön gewesen. Seine Beine waren ein bisschen zu kurz. Sein Haar am Hinterkopf schon ganz dünn. Sie kann sich noch an den Tag erinnern, an dem sie den Wagen gekauft haben. Sie haben ihn am Autohaus abgeholt und sind damit direkt auf den Platz gefahren. Jürgen hat das Radio aufgedreht, dann Pinsel und den Eimer mit der Farbe aus dem Kofferraum geholt. Zusammen haben sie "Monis Imbiss" in grün auf die Seitenklappe geschrieben. "Moni, das klingt doch gleich ganz anders als Mona", hat Jürgen gesagt. "Irgendwie sympathischer." Beim Malen lag seine Hand auf ihrer. Ein bisschen wie Hochzeitstorte anschneiden, dachte sie damals.

Sie nimmt sich vor, neue Farbe zu kaufen. Das "i" in ein "a" zu ändern. Sie ist jetzt wieder Mona. Ganz kurz ist sie euphorisch. Mona, ja. Ein neuer Anfang. Dann sieht sie ihr rundes, grinsendes Gesicht in der Scheibe und senkt sofort den Blick. Die Moni, die war eine schöne Frau, denkt sie. Bevor sie und Jürgen den Wagen gekauft haben, ist sie noch putzen gegangen, in der Grundschule direkt an der

Ausfahrt zur Autobahn. Meistens nachmittags, an den Wochenenden auch schon mal den ganzen Tag. Mit ihrem Besen ist sie in Rekordtempo durch die Turnhalle gefegt, durch die Klassenzimmer und Flure, um früher gehen und den Abend mit Jürgen verbringen zu können. Meistens hat sie sogar noch genug Luft gehabt, um dabei zu pfeifen. Putzen hält fit.

Sie dreht den Schlüssel im Zündschloss und fährt auf die Straße, ohne den Blinker zu setzen. Hustet ein paarmal und spürt ein Kratzen im Hals. Kein Wunder bei der Kälte. Sie könnte sich Tee kochen, wenn sie zuhause ist, denkt sie. Macht sie ja sowieso nicht. Sie wird sich mit einem Buch aufs Sofa setzen, es nach ein paar Minuten wieder weglegen und den Fernseher einschalten. Der wird Bilder in den Raum werfen, die die Welt kurz ein bisschen bunter machen. Die sie kurz von der Kälte ablenken, von ihren ungewaschenen Blusen über der Stuhllehne, von den braunen Bananen im Obstkorb. Sie wird den Ton abschalten und versuchen, an irgendetwas Schönes zu denken. An den schönen Mann vielleicht. Ein schöner Mann kann einen über die Stunden retten, wenn man Glück hat. Selbst, wenn man doch genau weiß, dass man nie so einen haben wird.

Jürgen war kein schöner Mann. Er hat die Würste in die Brötchen gepackt, eine Serviette drum. Hat dabei gelächelt, sodass man seine schiefen Zähne sehen konnte. Braun an den Zahnhälsen. Es sagt viel über einen Menschen aus, wie man seine Zähne pflegt, denkt sie. Aber eine schöne Stimme hatte er. Sie kann sie jetzt hören. Ganz klar, als würde er in dem Moment neben ihr sitzen. Ketchup und Mayo sind da drüben. Darf es für die Dame vielleicht noch eine Extrawurst sein?

Sie tritt aufs Gas, obwohl sie schon sieht, wie die Ampel vor ihr auf Rot springt. Jemand hupt und sie fühlt sich gut. Im Feierabendverkehr über rote Ampeln fahren. Ein kleiner Rest Nervenkitzel, der ihr noch bleibt. Sie reißt das Lenkrad herum und biegt in die Querstraße. Hätte gerne, dass die Reifen dabei quietschen, aber natürlich tun sie das nicht. Sie findet einen Parkplatz, bleibt noch eine Weile sitzen und guckt zu, wie der Regen in großen, harten Tropfen auf die Windschutzscheibe trifft. Dann öffnet sie die Fahrertür. Atmet frische, klare Luft. Geht die paar Meter zu ihrer Wohnung und hört entfernt den Verkehr auf der Schnellstraße. Was der schöne Mann wohl gerade macht, fragt sie sich. Wahrscheinlich sitzt er mit einer schönen Frau in irgendeinem italienischen Restaurant und trinkt Rotwein. Deshalb musste er sich so beeilen. So ein schöner Mann, denkt sie, bevor sie die Haustür aufschließt. So ein schöner Mann, der mir Bier kauft, und sich abends neben mir die Zähne putzt. Dann steht sie im Treppenhaus.

Katharina Korbach

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