freiTEXT | Monique Wesemaël
Sternstunde
Er hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt. Unter sich fühlte er die feste Matratze, die ihm Halt gab. Sicherheit. Sein Blick fixierte die flimmernde Dunkelheit, die über ihm durch das Dachfenster hereinschwebte. Unzählige Sterne, alte Bekannte, leisteten ihm Gesellschaft, zwinkerten mit kaltem Licht zu ihm hinunter. In Gedanken sortierte er sie nach Namen, identifizierte Sternbilder, die er immer wieder stolz und mit Freude benannte: der Große Bär, der Kleine Bär, Orion, Andromeda, Kassiopeia. Jupiter schien außergewöhnlich hell um diese Jahreszeit.
Die Enge in seiner Brust nahm wieder zu. Verdammt, es war doch alles gut! Er war allein, in Sicherheit.
Heute Nachmittag waren sie zusammen in seinem Elternhaus, um vom Dachboden das zweite Bett zu holen. In diesen letzten Wochen und Monaten traute er sich langsam aus der Deckung, freute sich über die gemeinsame Zeit mit ihr. Wenn er bei ihr war, schliefen sie in ihrem großen Bett, mal händchenhaltend, mal aneinandergeschmiegt. Ihre Wärme, ihre weiche Haut waren nie weiter als eine Armlänge entfernt.
Bei ihm hingegen stand das schmale Bett. Neunzig Zentimeter, damit begnügte er sich seit seiner Scheidung. Seine Ex-Frau hatte nie besonderen Wert auf eine gemeinsame Schlafstatt gelegt. Warum standen ihre Betten eigentlich immer auseinander? Warum kam er sich all die Jahre vor wie ein Bittsteller, wenn er auf der Suche nach Nähe zu ihr ins Bett kroch?
Seine Freundin hatte nie ein Wort gesagt, dass er ihr die Extramatratze auf den Fußboden legte, wenn sie zum Übernachten blieb. Oft genug lag sie so lange in seinen Armen, bis sie begann wegzudämmern. Ihn machte das ganz unruhig. Er fürchtete, keinen Platz für seine Nachtruhe zu haben. Ohne zu murren rutschte sie auf sein Zeichen dann schlaftrunken auf die Matratze hinüber, die einen halben Meter neben dem Bett lag. Das wollte er nicht mehr.
Als sie nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag mit den Einzelteilen des Betts in seinem Schlafzimmer standen, hatte er schon einmal sein eigenes Bett an die andere Wand geschoben. Er wollte Platz für das zweite daneben schaffen. Aber mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch lieber den Schreibtisch an eine andere Stelle versetzen wollte. Oder das Bücherregal umbauen, das da im Weg stand. Und die große Pflanze, die vorher sein Schlafzimmer begrünt hatte, musste nun ins Wohnzimmer. Und seine Musikinstrumente auch: die zwei Posaunenkoffer, der Notenständer, die Conga.
Er blickte sich um. Dann setzte er sich auf sein Bett und überlegte. Sie setzte sich neben ihn, wortlos. Warf ihm einen forschenden Blick von der Seite zu. Dass so ein zweites Bett so viel Platz brauchte… Er atmete ganz flach. Ihm war, als schnüre ein eisernes Band seinen Brustkorb ein. Schwindel ergriff ihn, alles wurde eng. Die Wände des Zimmers wölbten sich zentimeterweise nach innen. Wie wenig Raum auf einmal da war!
Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich glaube, ich habe mich übernommen“, murmelte er.
Verstohlen linste er zu ihr.
Für einen Moment schloss sie die Augen.
„Ist nicht schlimm“, antwortete sie nach einer kurzen Pause. „Ich schlafe noch eine Weile auf der Matratze. Es muss noch nicht sein.“
Schweigend räumten sie die Möbelteile hinter die Schlafzimmertüre, in die Nische neben dem Schrank. „Da musst du sie nicht ständig sehen“, sagte sie versöhnlich.
Die Enge in seiner Brust ließ nicht nach. In seinem Kopf stürzten stattdessen die Gedanken eine Böschung hinab, verfingen sich im Dickicht dorniger und klebriger Ranken. Atemlos suchten sie einen Ausweg aus diesem beängstigenden Labyrinth. Das eiserne Band saß so fest, dass ihm übel wurde. Betretenes Schweigen brannte auf seinen Stimmbändern. Unerträgliche Beklemmung brüllte nach ihrem Recht.
„Würde es dir etwas ausmachen, heute bei dir zu schlafen?“
Sie sah ihn an. Ihr ernster Blick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube.
Statt einer Antwort drehte sie sich um, ging in den Flur und begann, ihre Schuhe anzuziehen. Er ging ihr nach, schweigend, einen Kloß von der Größe eines Tennisballs im Hals. Sie nahm ihre Tasche und ihre Jacke vom Garderobenhaken.
Geh nicht.
Sie öffnete die Wohnungstüre und wandte sich um. In ihren Augen standen Tränen.
Geh nicht. Bitte bleib.
„Na dann.. mach‘s mal gut“, stammelte er.
Kaum hörbar erwiderte sie: „Ja, mach‘s gut.“ Halt sie auf.
Dann wandte sie sich ab und zog die Türe hinter sich zu.
In den nächsten Tagen würde er endlich das Teleskop aufbauen, damit er ihr den leuchtenden Jupiter zeigen konnte. Und Saturn direkt daneben.
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freiTEXT | Felix Wünsche
Hampelmann
„Wenn du nicht versuchst, an Geld zu kommen, kannst du nichts bestimmen. Dann bist du der Hampelmann für andere, anstatt selber an der Schnur zu ziehen.“ Der Typ saß an einem der drei Fenstertische, das Mittagslicht fiel satt durch die großen Scheiben, zurückgelehnt mit geschlossenen Augen in einem der alten Sessel, die ich vereinzelt im Café stehen habe, Müdigkeit in allen Winkeln des Gesichts. Blauschwarze Designerjeans, breit umgeschlagen an den Knöcheln über den weichen, schicken Sneakern, gut sitzendes Hemd mit Manschettenknöpfen, hatte an seinem Notebook gearbeitet, ein Ciabatta mit Ziegenkäse in Honigkruste verspeist, der Stolz meiner kalten Gerichte. Auf dem Weg zurück von der Toilette hielt er an der Theke, wo ich Gläser wusch.
„Schönes Café, richtig gut gemacht. Ist das deins?“ Sonnenbräune, Dreitagebart, lächelte er mich an, gewinnend, vertraulich, setzte sich auf einen der Barstühle. Hatte er keine Angst um seinen Laptop dort alleine am Tisch?
„Danke. Ist meins, ja.“
Sein Blick wanderte nochmal durch den Raum, über die mintgrünen Wände, die großformatigen Fotos von einer Bekannten, Gebäudeporträts, Plätze, Baulücken, vielleicht fünfzehn Jahre alt die Aufnahmen. Die Rahmen hatte mein Freund aus alten Fenstern selber gebaut. Gemeinsam hatten wir renoviert, den Boden abgeschliffen, in einem heimlichen Rhythmus, der uns durch die Tage trug, ganz selbstverständlich, ganz locker. Ich hatte das Gefühl tiefer zu atmen oder mehr Luft in die Lungen zu bekommen und mich durchströmte eine Leichtigkeit, die mich hat lächeln lassen. Leichtigkeit, die wir eingearbeitet haben in die Dielen, die Wände, die Theke und die Tische aus altem Bauholz. Kleine Macken haben die Tischplatten, die Theke, mir so vertraut wie die Leberflecke meines Körpers.
„Eine tolle Komposition. Hat Charakter. So was sehe ich, ich bin in der Kreativbranche tätig. Du hast Talent. Wie kommt es, dass du so etwas machst?“ Eine lässige Armbewegung umschließt den Raum, ein anerkennendes Nicken.
So etwas. So etwas Tolles oder so etwas Banales? „War ein Traum von mir. Ich arbeite schon lange im Gastrobereich, war aber nie in einem Laden, den ich wirklich mochte. Und irgendwann dachte ich, ich muss es eben selbst machen. Außerdem wollte ich etwas Eigenes, nicht immer für andere die Arbeit machen.“ Ganz automatisch sortierten meine Hände Gläser ein.
Er ließ sich einen Grappa einschenken, drehte das Gläschen am Stil. „Ist ein relativ kleiner Laden. Wie kommt man da über die Runden?“
Im Bauch bohrte der Stich, den ich mit mir trug. Den Stich, dass es nicht reichte, nicht reichte für ein Leben, eine Wohnung hier im Zentrum. „Alles super.“
Lüge. Lüge. Lüge.
Sollte er doch die Wahrheit hören mit seinen teuren Jeans, dem Kaschmirmantel, mit seinem zehn Euro Grappa, Nonino Riserva. „Okay, wenn du's wirklich wissen willst. Ehrlich gesagt bescheiden. Kann mir im Moment nicht mal eine kleine Wohnung hier in der Nähe leisten. Es hat viel Kraft gekostet, das hier aufzubauen, und jetzt stehe ich da wie ein Idiot. Die Mietpreise sind einfach unfair.“ Ich hielt die Augen niedergeschlagen, wischte das Spritzwasser neben dem Spülbecken weg.
„Der Preis ist für alle gleich. Das ist eine gerechte Sache. Klare Kante. Die Frage ist, ob man ihn sich leisten kann. Nur wenn du richtig Schotter kriegst für die Zeit, die du arbeitest, kannst du was zu deinen Gunsten bewegen. Wohnung, Auto, Urlaub, nette Einrichtung. Ich wette, dein Stundenlohn hier sieht nicht gut aus. Hast ja noch nicht mal Leute, die für dich arbeiten, und das im Bewirtungsbereich, wo die Löhne echt nicht hoch sind. Wie viel bleibt dir nach Abzug aller Kosten? Zehn Euro? Sicher nicht mehr, richtig?“ Seine Selbstsicherheit schaute mich aus seiner ganzen Haltung an, wie er an seinem Schnaps nippte.
Erniedrigend, so zum Objekt von abstrakten Betrachtungen gemacht zu werden. Von irgendwem. Lähmend. Die Wahrheit in seinen Worten lähmte mich. Oder seine Selbstsicherheit, zu wissen, wie die Welt beschaffen war.
„Habe ich nie genau ausgerechnet, aber zehn Euro kommen schon hin.“
„Und dann stehst du hier sicher mehr als 40 Stunden pro Woche im Laden, machst noch Einkäufe, was macht das, 200 Stunden im Monat? Und was kommt dabei rum? 2000 Euro vielleicht. Nicht nichts, aber ich würde dir auch nicht unbedingt eine Wohnung vermieten. Und Rente hast du noch nicht eingezahlt und Arbeitslosenversicherung auch nicht, richtig?“
„Wie wohnst du denn?“
„Ich hab 'ne eigene Wohnung. Ein schönes Obergeschoss in einem Altbau, kleine Dachterrasse, alles in allem hundertzwanzig Quadratmeter, nichts Extravagantes, aber nett. Und, ist das unfair?“ Schaute mich herausfordernd an. „Ich will das haben. Habe viel dafür getan und tue immer noch viel. So ist das, ohne Geld kein Gestaltungsspielraum. Geld ist Macht über andere, Kontrolle, Ellenbogenfreiheit. Mit Geld kannst du dir Arbeitskraft kaufen, Lebenszeit, Ideen, dir ein gutes Stück vom Kuchen abschneiden. Schau, ich esse hier in deinem Café, genieße die Atmosphäre, du bedienst mich, wäscht mir die Gläser und Teller, putzt die Toilette. Und damit verdienst du nicht genug Geld, um in deinem eigenen Café ein Sandwich zu essen.“ Hier kam dann irgendwo der Hampelmannsatz. Hampelmann. Warum wurde ich nicht wütend? Stand da hinter dem Tresen, würde die Tische wischen, die Toilettenböden, lies mich beschimpfen als Hampelmann, wurde nicht zornig, ballte nicht die Faust, warf ihn nicht raus. Zu oft geschwiegen, zu oft Salate arrangiert, Speisen aufgetragen unter bellenden Blicken von Küchenchefs, Chefkellnern, Kneipen-Eigentümern, zu wenig Kraft, zu wenig Übung im Kämpfen, zu wenig Ressourcen, um einen Kampf zu wagen, zu viel Furcht, zu viel Glaube daran, dass schon alles irgendwie okay wäre.
Ich blickte weiter schweigend auf die Arbeitsplatte, hypnotisiert, wischte letzte Tropfen vom Rand der Spüle. War es so? War das die Wahrheit? Nicht jeder konnte alles haben. Schenkte ihm einen Grappa nach, als er mir das Glas über den Tresen schob. Er redete weiter. „Du musst ein wertvoller Dienstleister für die richtig Reichen sein, die richtig, richtig Reichen, verstehst du, ihr Geld verwalten und vermehren, ihre Firmen managen, sie juristisch gegen alle Angriffe verteidigen, ihre Krankheiten oder Zipperlein behandeln, ihre Häuser bauen und einrichten, Statussymbole für sie herstellen. Sind ja im Prinzip alles Dinge, die jeder braucht und will, wohnen, gesund sein, geachtet werden, Grundbedürfnisse eigentlich, nur durch die Macht des extremen Reichtums, ins Phantastische verzerrt. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, dass man selbst etwas aufbaut. Ein Unternehmen, wo man selbst Chef ist, sich von der Arbeit der Leute, die bei einem angestellt sind, ein kleines Stückchen abzwacken kann.“ Wieder die ausholende, den Raum umfassende Geste, „Kannst du auch machen. Du hast Talent, das ist ein Pfund. Das Café hat Potential. Mach es größer, mach ein paar andere auf, hier, in anderen Städten. Würde laufen und die Wohnung wäre dann kein Problem mehr.“ Angenehm rann der Traubenschnaps die Kehle hinab, der Adamsapfel hüpfte routiniert in stiller Zufriedenheit.
„Ich will nicht reich werden. Ich will nur eine Wohnung“, sagte mein Mund. Ich freute mich, ganz plötzlich, gluckernd, das zu hören.
„Dann darfst du dich auch nicht über zu hohe Mietpreise beschweren. Wenn du nichts aus dem hier machen willst, okay, deine Sache. Aber wer weiß, ob du mit fünfzig, sechzig noch so locker den ganzen Tag im Café stehst, wer weiß, ob der Laden dann noch läuft. Jetzt hast du ein Gespür für den Trend, aber dann? Und Rente? Zahlst du nun ein oder nicht?“ Das Grappagläschen rutschte zu mir herüber, er blickte mich an, jetzt Auge in Auge. „Mach doch was draus, aus dem, was du kannst. Ich helfe dir, wenn du willst. Ist mein Job so was, hier meine Karte“. Lag weiß, in minimalistischem Design auf dem hellen Holz der Theke, er zahlte. „Muss los, wir sehen uns“, Trinkgeld klapperte in großen Münzen in den Becher, den ich dafür neben den großen Gläsern mit Keksen und Brownies stehen habe.
Mehr Gäste in den Stunden danach, mehr Bagels, Sandwiches mit Grillgemüse, Tagessuppen, Latte macchiatos, Espressos, er würde vielleicht Espressi sagen, mehr Geld, mehr Schmutzgeschirr, mehr Kuchen, die wieder neu gebacken, Suppen, die wieder neu gekocht werden mussten.
Zwei Latte macchiato, Kirschkäse, Apfelstreusel, marinierter Salat aus Tofu, Norialgen und Pfefferminze. Abwesend schaute das Pärchen mich an, freundlich glänzte die Sonne auf ihren dunklen Brillengläsern, „Thank you, it looks wonderful.“ In mir kratzte es. Eine Hohlfigur, die Gewissheit entleert. Die Espressomaschine schredderte laut, hielt die Gedankenspirale im Zaun.
Nicht jeder kann das. Nützlich für die Reichen sein. Geld gebären. Vertraute Handgriffe, die ich genoss. Latte macchiato, Espresso auf heißer Milch, darüber Milchschaum.
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freiTEXT | Nele Ziemer
Habicht meint Sperber
Luise will eigentlich nur einen Ausreißer machen mit Paul. Christian will eigentlich nur Luise und Luise steigt dazu. Luise lässt ihrem Kater den halbvollen Napf, in the end bleibt Kater Kater, at the end fühlen sich eh beide bereits. Luises Kater wird morgen 14 und sie selbst: nicht happy.
Christian: will - wie gesagt - eigentlich nur Luise und damit meint er: sie an den Öhrchen ziehen und liebkosen, sie seinen Eltern vorstellen. Christian macht das Dach des Cabriolets auf.
Luise: Der Fahrtwind macht sie müde, flusig, es wellen sich ihr die Lippen, ganz prall gefüllte Wangenlappen links und rechts. Paul könnte seinen Fingernagel in ihren Lippenriss drücken, sie sieht sich schon mit erhobenen Armen, Gib mir all dein kriminelles Interesse, dass sich das Efeu an den Altbauten zusammenzieht, Luise will das alles.
Christian öffnet ihr jede Tür, Christian würde sie gern hinter verschlossenen Fensterläden auf sich sitzen haben. Aber Christian ist anständig und hat stattdessen wasserdichte Brotdosen und Laugengebäck dabei und Luise bleibt bloß scharf auf Radieschen. Christian macht das nichts aus, ihm fällt dazu eine Anekdote ein:
- Ich habe dieses Fable für Kaninchen und Meerschweinchen, sagt er.
- Zwölf Schlangen in deiner Umgebung sind interessiert, sagt Luise. Christian schmatzt und bevor er sich verschlucken kann, geht der Kaugummi zur Seite raus. Mehr macht Christian nicht.
Zwischendurch vergisst Luise kurz, dass es sich bei Paul und ihr um zwei verschiedene Körper handelt. Auf hoher See kratzt sie sich die Haut und wenn sie aus dem Hinterhalt die Flut überkommt, dann schluckt sie ihn gleich mit. Wenn Luise ganz ehrlich wäre: Sie würde sich mit ihm in einer Flasche drehen, er könne sie sogar platzen lassen, das wäre ihr nur recht, sie vertraut ihm da aufs Ganze. Luise würde den beiden ihren Rachen so schnell wieder schließen, Paul würde blind, so flott ginge das, das würde gar niemand mitbekommen, bevor nicht schon zu spät. Intriguing, denkt Luise da, und Christian: Der steht am nächsten Busch und über seiner Kimme Haare wie ein Büschel Gras, das Luise nicht nochmal hätte sehen wollen, hätte sie es sich nur überhaupt einmal überlegt.
Christian ist hier voll auf seiner Seite, Christian hat sogar Marshmallows für sie dabei und einen Holzanzünder, Luise hat ihr Teewasser. Christian hätte gern etwas Heißes, Luise hofft, dass er da nicht an sie denkt, Christian weiß das nicht, Luises Thermoskanne tropft. Christian detoxt, Luise auch, Luise und er halten sich an verschiedene Pläne, wenig später hat Christian eine Brandblase auf dem Handrücken. Luise merkt sich für Paul: Bin im Ernstfall so verlässlich wie dein Wasserkocher: 1 bis 2 Hände verbrühen. Christian merkt nichts.
Christian denkt darüber nach, wie Luise ihren Kater krault. Er sieht hier kein Tier, sondern eine Chance, legt seine Hand auf Luises Oberschenkel, Luise will, dass er beide Hände am Steuer lässt. In Christians Vorstellung ist Luises Kater morgen nicht 14, sondern verhungert.
Christian versucht einen weiteren Zugang, Luise würde den lieber von Paul gelegt bekommen: Christian zeigt auf einen Habicht, Christian meint einen Sperber. Eigentlich weiß Luise länger schon ausreichend, sieht zum Beispiel Tauben von Freileitungen kippen. Luise weiß nicht weiter.
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freiTEXT | Lyli Chin
Gedanken in die Hand nehmen oder was Sprache für mich bedeutet
Teil I: ein (An-)Trieb
Ich spüre wie meine Sprache sich hochziehen muss. Wie auf diesen Klettergerüsten, bei denen man sich von einer zur nächsten Stange hangeln muss, mit Steigung. Immer höher. Ich bin damals nach der Hälfte abgesprungen.
Wenn mir heute die Worte fehlen, fühlt es sich auch so an. Wie loslassen müssen. Sprache ist ein Kraftakt.
Ich sehe die nächsthöhere Sprosse, aber ich erreiche sie nicht. Ich hänge.
Dabei will ich das Wort ergreifen und fließend elegant durch das Gerüst schwingen. Leichthändig.
Ich habe ein Verlangen nach Sprache. Ich giere danach alles zu beschreiben.
Das Innerste, die Freunde, mich, die Momente dazwischen, denn
schreiben heißt sehen machen.
Der größte Genuss ist Selbstbefriedigung durch Ausdruck. Mein Höhepunkt auf Papier.
Teil II: ein Ort
Zu Hause. Es gibt hier nicht viel Sprache. Nicht viele Fragen, noch weniger Antworten.
Hast du schon gegessen?, Was?, Und Mama?
Auch auf Lao. Mein Bruder wird jeden Abend von meiner Mutter gefragt, ob er schon geduscht habe: ອາບນ້ ຳ ແລ້ວບໍ (abnaamlabaw) Schatz?
Manchmal vergesse ich, dass Laotisch gar nicht die Muttersprache meiner Mutter ist. Sie lernte Lao als Zweitsprache neben Deutsch. Jedoch im Gegensatz zu Letzterem nicht bewusst mit Lehrbuch, sondern das Gegenteil davon und ins Gesicht: Als Vietnamesin, die bei ihrer laotischen Schwiegerfamilie einzog.
Sie eröffnete mit meinem Vater ein Restaurant. Er kochte mit seinem Cousin und sie bediente mit seiner Schwester während seine Mutter, meine Oma, auf mich aufpasste.
So verständigten sich meine Eltern irgendwann auf zwei Sprachen. Lao wurde zur Geheimsprache meiner Kindheit.
Zum Beispiel wenn ich vor meinen Freunden von Mama ermahnt wurde bloß nicht in den Waschraum zu gehen, der als Abstellkammer diente. Meine Mutter schämte sich für die messiartigen Zustände zu Hause. Ich mich auch. Deshalb nickte ich gehorsam und ging mit mit den Freundinnen direkt in mein vorzeigbares Zimmer. Manchmal übersetzte ich ihnen dann was mir eben zugezischt wurde, weil sie diese Sprache vielleicht befremdlich fanden. Weil ich damals noch nicht so stolz darauf war, dass meine Eltern eine andere Sprache sprechen.
Und doch habe ich als Kind mehr Lao gesprochen. Laotische Verben mit deutschen Nomen verbunden und von meiner Mutter "ນອນ (nawn) Bauch" eingefordert. Ausdrücke wie dieser gehören uns. Sie existieren nur an diesem Ort, wo ich meinen Kopf auf ihren Bauch legen konnte. Nur dort konnte ich ohne Scham weinen, wenn sie arbeiten ging.
Es war mir peinlich, dass ich meine Eltern vermisste. Ich war mir sicher das konnten meine Freunde nicht verstehen.
So viel spielte sich nicht auf deutsch ab oder überhaupt in irgendeiner Sprache.Bis heute. Es fällt mir schwer lao-viet Wirklichkeiten bzw. den zu Hause Kosmos, den ich mit meiner Familie bewohne, meinen deutschen Freunden oder meiner englischen Liebe zu erklären.
Und umgekehrt fühle ich, dass auch meine Eltern etwas Grundlegendes vielleicht nie verstehen werden. Es hat etwas damit zu tun, dass ich weiß, sie haben ein Leben in ihrer Herkunftssprache gelebt. Eine Kindheit lang. Sie waren vietnamesische und laotische Kinder. Jetzt sind sie deutsche Staatsbürger. Doch wenn ich höre wie Mama laut mit ihren Schwestern lacht oder wie Papa mit seinem Cousin telefoniert, dann sehe ich wie frei sie sind, wenn sie ihre Sprache sprechen.
Meine Sprache ist diese Sprache, in ihr bin ich frei. Ich bin ein deutsches Kind.
Teil III: eine Wahrheit
Wir sind toxische und zugleich heilsame Wesen.
Wir verfügen über das Gift, das uns lähmt und das Gegengift, das uns bewegt.
Beides dringt tief ein. Beides ist Sprache.
freimütig liebend verbittert sondern wir sie ab
in Schrift oder Schall
treffen Worte
einen Nerv den Gedanken mein Herz
Wegen dir komme ich noch in die Klapse!
traf mich der giftige Pfeil meiner Muttersprache.
In der Fremdsprache schmeiße ich mir die lindernde Droge ein,
wenn ich in seinen Liebesbriefen lese:
I need you in my life
und heile.
Teil IV: die Freiheit
meine Gedanken in die Hand zu nehmen
sie abzuwägen zu besehen
sie zu fahren und zu steuern auf Papier
die Welt zu beschreiben
zu zeigen wie ich sie sehe
Menschen zu sagen wie ich für sie fühle
zu sehen wer ich glaube zu sein
to be a writer
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freiTEXT | Angela Ahlborn
Es war gut
„Mama, was ist das für ein Wort?“
„Oh, Jule, nicht schon wieder! Wir müssen gleich los!“
„Mama, sag‘ mir, wie das Wort heißt!“
„Jule, hör‘ auf damit! Ich hab‘ keine Zeit!“
Ich schloss das Album und legte es in eine der Kisten mit der Aufschrift „behalten“. An solche und ähnliche Dialoge hatte ich mich erinnert, als ich die Fotos aus meiner Vorschulzeit sah. Ich wollte so gerne lesen lernen, doch meine Mutter fand mich anstrengend und dieser Wunsch für ein Kind meines Alters war in ihren Augen nicht normal. Ich sollte lieber mit der Puppe spielen, in die man oben Wasser goss, das unten als Pipi wieder heraus kam oder als Tränen über die runden Wangen kullerten. Die war sehr teuer gewesen und ich war das einzige Kind in unserer Umgebung, die solch ein Spielzeug besaß. Meine Mutter hatte an der Puppe bestimmt mehr Freude als ich, schon um den Anderen zu zeigen, was sie als alleinstehende Frau ihrer Tochter bieten konnte.
„Die Anderen“ waren wichtig, das begriff ich ziemlich schnell. Sie waren die Instanz, vor der ich mit meinen Taten bzw. Nichttaten zu bestehen hatte. Meine Mutter war sehr auf Außenwirkung bedacht; schrieb ich in der Schule eine Fünf, durfte das keiner erfahren, bei einer Eins hingegen ging sie damit regelrecht hausieren, was sie in den ersten sechs Schuljahren auch ausgiebig tat; die Jahre danach muss sie oft sehr erschöpft gewesen sein von all den aberwitzigen Geschichten, die sie über mich verbreitete, um die für sie enttäuschende Realität zu vertuschen.
Schönheit war für meine Mutter das Wichtigste. Als ich schon jenseits der Vierzig war, schien es für sie das Größte, wenn jemand sie fragte, „ist deine Tochter immer noch so hübsch?“ Davon konnte sie eine sehr lange Zeit zehren und – was noch viel wichtiger war – es allen Freunden und Bekannten erzählen, ob sie es hören wollten oder nicht. Dabei störte es sie nicht im geringsten, wenn ich dabei war, im Gegenteil, im günstigsten Fall nickte sie mir aufmunternd zu, im schlechtesten tätschelte sie mir die Wange, während ich mich am liebsten aufgelöst hätte. Wenn wir unter Menschen waren, raunte sie mir manchmal zu, „guck mal, Jule, dieses arme Menschenkind da hinten mit DER Nase im Gesicht“, (wo sonst, Mama?) oder „XY ist ja hässlich wie die Nacht, aber trotzdem nett!“ Übrigens glaubte sie nur zu raunen, die Leute neben uns hörten jedes Wort.
Intelligent sollte ich natürlich auch sein, aber nicht zu sehr. Frauen durften nicht schlauer sein als ihre Männer, solche Ehen waren sehr gefährdet. Ich wollte sie immer mal fragen, ob es diesen Idealstatus zwischen ihr und meinem Vater auch gegeben hätte, aber ich traute mich nicht. Sie konnte nur begrenzt über sich selbst lachen und war zudem auch recht launenhaft; ich wusste nie genau ihre Stimmungslagen einzuschätzen. Außerdem waren in ihren Augen alle zu intelligenten Frauen graue Mäuse, die plump gekleidet und vereinsamt immerzu mit einem Buch in der Hand anzutreffen waren, der Haushalt um sie herum in einem miserablen Zustand. Somit bissen meine Lehrer in der Unterstufe bei ihr auf Granit mit ihrem Rat, mich eine Klasse überspringen zu lassen.
Und einen guten Beruf sollte ich mal haben, allerdings einen, bei dem man auch Haushalt und Garten im Topzustand halten sowie genügend Zeit für den Gatten und die Kinder aufbringen konnte. Somit war eine berufliche Karriere ausgeschlossen; die Frauen in Führungspositionen würden am Ende ihres Lebens ganz alleine da stehen.
Ich hatte somit klar gesteckte Ziele vor Augen mit diesen drei umrissenen Aufgaben. Natürlich gab es meinerseits immer mal wieder kleine aufmüpfige Revolten wie z.B. meine Punkerzeit, doch letztendlich hielten diese Phasen selten lange an, da ich sie nicht aus Überzeugung lebte, sondern nur Ausdruck meines Widerstands waren.
In meiner Studentenzeit meinte ich, alle drei Punkte erledigt zu haben: Ich hatte durch Zufall das Glück, als Model für einen berühmten Modedesigner zu laufen, sah viel von der Welt und verdiente viel Geld. Ich dachte, meine Mutter würde vor Stolz schier überschnappen, doch weit gefehlt! Ihr war der Job zu unstet und sie betete zu Gott, ich möge mich auf keinen Fall in einen Mann aus der Modewelt verlieben; die waren alle chi-chi und keine richtigen Männer. Was sie aber trotzdem nicht davon abhielt, der Welt von ihrer Tochter, dem Model zu erzählen. Als ich später einen Rechtsanwalt heiratete, war wieder alles in Ordnung.
Das war ganz nach ihrem Geschmack, denn sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Rechtsanwaltsgehilfin und verehrte ihren Chef, für den sie zusätzliche Arbeit mit nach Hause nahm, die sie abends nach den Haushaltspflichten erledigte. Ich habe mich ständig gefragt, woher sie diese unglaubliche Energie nahm, die sie bis in hohe Alter begleitete. Sie muss Ende Siebzig gewesen sein, als ich sie anrief und lange darauf warten musste, ihre Stimme zu hören. Nur so als Floskel fragte ich sie, woher ich sie denn geholt hätte. Die Antwort entsetzte mich: Sie würde die Flurwand streichen und hätte erst vom selbstgebauten Gerüst klettern müssen, das sich über die drei Etagen zog. Auf den Maler hätte sie nicht warten wollen und mich mochte sie auch nicht belästigen; die Wahrheit war, dass ich es ihr sowieso nie gut genug gemacht hätte.
Ich habe nie einen tatkräftigeren Menschen erlebt als meine Mutter. Diese Eigenschaft erwies sich gleichermaßen als störend wie auch nützlich. Bei wie vielen meiner Umzüge hatte sie geschleppt, gestrichen, genäht und geputzt! Sie hatte ein einziges Mal geschwächelt beim Tod meines Vaters, als ich noch klein war. Da hatte sie nach Aussagen meiner Tante mehrere Tage nur auf ihrem Bett gesessen und geweint. Aber die ihr angeborene Tatkraft setzte sich durch, denn eines Morgens schüttelte sie ihre Trauer ab wie ein Hund Wasser aus seinem Fell und stellte sich den veränderten Lebensumständen. Andererseits konnte sie mich mit ihrer Tatkraft gelegentlich überrollen, da ihr das Feingefühl und die Geduld fehlten, die diese Charaktereigenschaft optimiert hätten.
Sie erzählte oft und gern, wie schwer sie es damals als alleinerziehende Mutter gehabt hätte, nicht einen Deut mit heute zu vergleichen! Die jungen Frauen heutzutage hätten ja keinen blassen Schimmer! Wie sie sich hat abrackern müssen für die paar Kröten, von der gesellschaftlichen Akzeptanz mal ganz zu schweigen!
Diese Geschichte brachte sie aus zwei Gründen zu Gehör, einmal natürlich, um Bewunderung zu bekommen, in fröhlichem Ton erzählt, was auch immer zum gewünschten Ziel führte, zum zweiten, um mich demütig und dankbar zu stimmen, wenn ich sie wegen irgendetwas kritisierte, dann allerdings in jammerndem und anklagendem Singsang. Ich wollte ihre Lebensleistung auch keinesfalls kleinreden, aber ich glaubte ihr nicht. Sie hatte es aus dem einfachen Grund nicht so schwer, wie sie es gern schilderte, weil sie solch ein unglaublich kraftvoller Mensch war! Der sein Leben mit links meisterte, ob nun mit oder ohne Mann. Meine Mutter schien mir immer „unkaputtbar“.
Es gab zwei Gemütszustände in ihrem Leben, die mindestens so stark waren wie ihre Tatkraft: Ihre Liebe zu mir und ihre Angst vor Krebs. Letzteres zwang sie regelmäßig in die Knie und sie schaffte es leider nicht, diese unbegründete Furcht vor mir zu verstecken, so dass ich schon als kleines Kind davon überzeugt war, in nicht allzu weiter Ferne Vollwaise zu werden. Das war grausam und als ich alt genug war, um ihre Hypochondrie erkennen zu können, war ich einerseits unfassbar erleichtert, andererseits hasste ich sie dafür.
Ihre Liebe zu mir war wie eine Naturgewalt, ein Vulkanausbruch. Nicht selten sprang sie unvermittelt bei Tisch auf, um auf mich zuzustürzen und mich in den Arm zu nehmen, zu küssen und zu beteuern, wie lieb sie mich habe. Meist brachte ich nur ein schales „ich dich auch“ heraus, als Kind wie als Erwachsene; sie verwirrte mich damit, aber etwas in mir genoss es auch. Und sie konnte wunderbar trösten. Beispielsweise als ich mich von meinem Rechtsanwalt getrennt hatte und selbst todtraurig darüber war, stand sie vor meiner Tür und wusch mir erst mal den Kopf, wieso ich das sichere Nest verlassen hätte, es sei doch nirgends überall Sonnenschein etc. … Hatte ich die Standpauke erst einmal überstanden, begann das Paradies: Sie steckte mich ins Bett, orderte Schlaf an, bekochte mich, las mir vor und wiegte mich wie ein Baby. Nach angemessener Zeit hieß es dann, „Jule, das Leben geht weiter, pack es an!“ In solchen Momenten fand ich sie wunderbar.
Jetzt stand ich in ihrem Haus und ich hatte mich davor gefürchtet, weil ich wusste, dieses Mal würde es das letzte Mal sein. Es tat weh zu sehen, wie die Möbel verschwanden, die Räume kahler wurden, ihre Sachen in Kisten wanderten. Furcht vor den Erinnerungen, den schlechten wie den guten, Angst nicht verzeihen zu können oder zusammenzubrechen.
Bei alledem machte sich trotzdem eine Erkenntnis in mir breit: Das Leben mit meiner Mutter war gut gewesen. Es war gut, Mama. Und das hätte ich dir gerne noch sagen wollen.
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freiTEXT | Sebastian Danz
Das Wochenende
1
Die pinke Zuckerwatte ist in Mias Bauch zu einem angedauten, säuerlich riechenden Schleim geworden, der sich nur schwer aus dem groben Strick ihres Pullovers waschen lässt. Sie hatte die Zuckerwatte vor der Abfahrt heimlich aus der Schublade im Wohnzimmer genommen und die halbe Packung gegessen. Das gestand sie Hedwig zwischen zwei Brechschwällen. Im Halogenlicht einer Raststätten-Toilette irgendwo zwischen München und Innsbruck rubbelt Hedwig ihrer auf dem Rand des Waschbeckens sitzenden, fünfjährigen Tochter die letzten Reste Erbrochenes aus den Mundwinkeln. Die Zuckerwatte hatte Mia von Alexanders Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen. Als sie Mia zurück auf dem Parkplatz den Gurt umlegt, versucht Hedwig, ihrer Schwiegermutter nicht die Schuld an den Kotzflecken auf dem Rücksitz des Autos zu geben.
Noch eine Stunde, dann würden sie die Hauptstraße verlassen und sich einen schneebedeckten Berghang zum Hotel hinauf schlängeln. Alexander schnarcht im Beifahrersitz. Hedwig hasst es, wenn er bei langen Autofahrten einschläft und die ganze Verantwortung ihr überlässt. Seine Stirn, die gegen die Scheibe gedrückt bei jeder Bremsung hin- und herwischt, hinterlässt fettige Streifen auf dem Glas. Im Rückspiegel sieht Hedwig Noah, den Blick auf den Bildschirm seines Smartphones fixiert. Er trägt große schwarze Kopfhörer, die seine blonden Locken plattdrücken. Mia hatte vor zwei Wochen Noahs Smartphone in die Hände bekommen und mit einem Fingerwisch ein Pornovideo geöffnet, das ihr Bruder angeschaut haben musste, bevor er sich zur Familie an den Frühstückstisch gesetzt hat. Es folgten ein verfrühtes Aufklärungsgespräch mit Mia und ein unbefristetes Handyverbot für Noah. Heute Morgen hob Hedwig das Verbot auf. Noah hatte sich geweigert, ohne sein Smartphone ins Auto zu steigen.
2
Sie erreichen die Abfahrt und Hedwig fragt sich, wie Menschen hier ihr Leben verbringen können. Den letzten Ort mit Supermarkt und Restaurants haben sie vor gut 50 Kilometern hinter sich gelassen. Das Dorf am Fuß des Berges, durch das Hedwig jetzt das Auto die immer steiler ansteigende Straße Richtung Hotel steuert, ist nichts weiter als eine Ansammlung von Bauernhöfen, Scheunen und eingeschneiten Kruzifixen. Nirgendwo sind Leute zu sehen. Vielleicht ist das kein Dorf, sondern nur eine lieblos zusammengezimmerte Kulisse, die den ankommenden Hotelgästen das Gefühl geben soll: Sie haben die Zivilisation verlassen, ab jetzt können Sie sich entspannen.
Als sie den Parkplatz des Hotels erreichen, nach einer zehnminütigen Serpentinenfahrt, während der Hedwig jeden Moment damit rechnet, Mia würgen zu hören, kommt ein Junge mit Pickelkruste auf der Stirn, wohl kaum älter als sechzehn, in Lederhose, breit lächelnd und mit ausgestreckten Armen auf das Auto zugelaufen. Hedwig sieht, wie er seine Lippen bewegt, aber kann ihn nicht hören. Sie lässt das Fenster runter. „Wie bitte?“, fragt sie. „Griaß eich in unserem Paradies!“, sagt er. Ein hölzernes Namensschild ist in den karierten Hemdstoff auf seiner Brust gesteckt. Ein Name ist darauf eingebrannt: Heribert. Heribert beugt sich nach unten und steckt den Kopf durchs Fenster, halb ins Auto, grinst erst die Kinder und dann Alexander an, der gerade aufwacht. „Hat der Herr die Dame den verzwickten Berg heraufkraxeln lassen?“, fragt er und lacht sehr laut. „Er hat keinen Führerschein“, sagt Hedwig. Sie schnallt sich ab, Heribert tritt von der Autotür weg. Sie fasst den Türgriff, zieht, schwingt ihren Körper nach links und stößt sich die Schulter. Die Autotür klemmt.
3
„Hedwig, hast du meine Flip-Flops nicht eingepackt?“, ruft Alexander aus dem Badezimmer. „Was?“, ruft sie zurück. Sie hatte ihn verstanden. Manchmal hat sie nur keine Lust, auf seine Fragen zu antworten. Vor allem dann nicht, wenn die Antwort offensichtlich ist. Alexander hat die, wie Hedwig findet, völlig überflüssige Angewohnheit, vor jeder Reise verschiedene Packverantwortlichkeiten zwischen ihm und ihr aufzuteilen. Für den kurzen Skitrip hatte er sich selbst Ski-Ausrüstung und Verpflegung für die Autofahrt zugeteilt und ihr alles, was die Kinder brauchen könnten und die Badesachen für die ganze Familie. Alexanders Flip-Flops hatte Hedwig im Sommerschuhregal auf dem Dachboden vergessen.
Hedwig ist angespannt von der Autofahrt. Ihre Hände riechen immer noch nach Erbrochenem. Aus dem Nachbarzimmer hört sie Mia kreischen und Noah schreien. Sie spürt, wie sich bei der Aussicht auf einen Streit mit Alexander über die vergessenen Flip-Flops ihr Herzschlag beschleunigt und ihre Hände feucht werden. Sie ist in der richtigen Stimmung für einen Austausch sinnloser Vorwürfe. Doch Alexander steckt den Kopf aus dem Badezimmer und sagt: „Kein Problem, ich habe unten im Hotelshop Badelatschen gesehen und kaufe mir dann noch welche.“ Er lächelt. Wahrscheinlich will er zumindest am ersten Abend der Harmonie noch eine Chance geben. Oder er möchte nicht weiter nachbohren, weil sie diejenige ist, die das Wochenende im 5-Sterne-Spa-Hotel bezahlt. Alexander kann sich gerade nichts leisten.
Als sie sich vor 14 Jahren kennenlernten war er, 20 Jahre alt, einer der fünf jungen Schriftsteller des Jahres gewesen. Sie, 31 Jahre alt, hatte sich gerade mit ihrem Literaturmagazin selbstständig gemacht und zum ersten Mal eben jene Liste erstellt, die inzwischen mit darüber entschied, welche Autorinnen und Autoren in Deutschland als neue literarische Wunderkinder gefeiert werden. Alexander hatte sich diesen Status mit einem Roman über den slowakischen Nationalaufstand von 1944 erschrieben. Es folgten zwei weitere Romane über in Vergessenheit geratene Revolutionen in Osteuropa und eine Kurzgeschichtensammlung. Nichts davon verkaufte sich gut. Sie trafen sich zum ersten Mal beim Fotoshooting für die Nachwuchsautoren-Titelstory in ihrer Redaktion. Alexander war sehr jung und sehr attraktiv, Hedwig hatte sich gerade scheiden lassen. Ein paar Monate später war sie schwanger.
4
Am Abend sitzt Hedwig mit Alexander im Whirlpool. Der Wind weht eisig. Die letzten Sonnenstrahlen sind gerade hinter dem auf der anderen Talseite emporragenden Bergmassiv verschwunden. Das warme, blubbernde Wasser macht Hedwig müde. Noah und Mia sind in ihrem Zimmer und schlafen. Neben Hedwig wabert Alexanders Brust- und Rückenbehaarung um seinen Körper, wie sehr dünne, schwarze Meerestierchen. In der fahlen Unterwasserbeleuchtung des Beckens wirkt seine Haut noch blasser als sonst. Er sieht aus wie ein totes Korallenriff. „Wollen wir ins Zimmer gehen?“, fragt er. Hedwig nickt. „Ich komme gleich nach“, sagt sie. Alexander strauchelt durch das Wasser etwas ungelenk Richtung Treppe und zieht sich am vereisten Geländer aus dem Becken. Seine Haare hängen jetzt nass an ihm herunter. Wassertropfen haben sich in den Locken über seinem Steißbein verfangen und reflektieren das Licht des Pools.
5
Hedwig öffnet die Zimmertür und weiß, dass nun die Zeit für Sex gekommen ist. Alexander liegt nackt auf dem Bett und liest eine Biografie über den Anführer des Posener Arbeiteraufstands von 1956. Als Hedwig ihren Bademantel auszieht und an den Haken der Garderobe hängt, legt Alexander das Buch weg. „Komm mal her“, sagt er. Hedwig dreht sich zu ihm. Alexanders Körper ist unter der etwas grellen Leselampe voll ausgeleuchtet. Er macht schon länger keinen Sport mehr, Low Carb- und Paleodiät haben ihre Versprechen nicht gehalten. Die Niedergeschlagenheit, die Alexander wegen ausbleibender schriftstellerischer Erfolge empfindet, hat sein Körper in einen traurigen Männerbusenansatz und hängendes Bauchfett übersetzt.
Hedwig setzt sich neben Alexander aufs Bett. Er nimmt ihre Hand und legt sie auf seine noch feuchte, haarige Brust. Hedwig muss kurz den Impuls unterdrücken, ihre Hand wegzuziehen. Alexander scheint das zu bemerken. „Findest du mich nicht mehr attraktiv?“, fragt er sie. „Ach Quatsch“, sagt Hedwig und küsst ihn, bevor er zu einer weiteren Frage ansetzen kann. Sie legt sich auf ihn, er rutscht etwas nach unten, leckt an ihren Brüsten. Hedwig ist nicht erregt. Alexanders Handgelenk zwischen ihren Beinen drückt ihr schmerzhaft auf den Hüftknochen. Wie so oft in letzter Zeit, kommt es Hedwig vor, als würden Alexander und sie sich zum ersten Mal anfassen. Nur ist die Unbeholfenheit, mit der sie beide den Körper des anderen abtasten, nicht die aufregende, kurzatmige von Frischverliebten, sondern eine mechanisch unsichere, die sich fragt, wie es so weit hatte kommen können. Alexander scheint ähnliche Gedanken zu haben. Er ist nicht hart.
6
Um dem Hotelzimmer zu entfliehen, das Zeuge einer ihrer missglückten Sexversuche geworden war, beschließen Hedwig und Alexander, in die Après Ski-Bar ein paar Kurven oberhalb des Hotels zu fahren. Als sie durch die Hotellobby zum Parkplatz laufen, ruft ihnen Heribert hinterher, der an der Rezeption sitzt: „Führt der Herr die Dame noch auf einen Betthupferl-Drink aus?“ Er zwinkert Hedwig breit grinsend zu. Zwischen seinen beiden etwas zu groß geratenen Vorderzähnen klemmt etwas Grünes, aus der Ferne nicht Definierbares. „Nein, ich muss ja fahren“, antwortet Hedwig. Heribert grinst weiter und nickt. Seine Ausbildung hat ihn auf eine solche Situation nicht vorbereitet.
In die Bar zu fahren, war keine gute Idee. In der zweigeschossigen Holzhütte, die mehr Großraumdisko als urige Kneipe ist, röhrt ein Mann in österreichischem Dialekt ein Lied über junge Frauen aus den Lautsprechern, die nach einem Maß Bier besonders anschmiegsam werden. Im Untergeschoss neben dem DJ-Pult kämpfen Frauen und Männer mittleren Alters in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit wie Fohlen auf wackeligen Beinen gegen die Schwerkraft. Hedwig und Alexander sitzen im Obergeschoss an einem Tisch, über dem der große, wütend aussehende Kopf eines Wildschweins hängt. Jemand hat dem Tier einen goldenen Partyhut auf die borstige Stirn gesetzt. Hedwig nippt an einem Kräutertee, Alexander trinkt Grog. Beide warten darauf, dass jemand spricht.
Im Auto auf dem Weg zurück zum Hotel sieht Hedwig aus den Augenwinkeln, dass Alexander weint. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Alexander ist immer für die Kommunikation zwischen ihnen beiden zuständig gewesen. Es ist immer er gewesen, der wie ein fleischgewordener Beziehungsratgeber jeden Konflikt ansprach. Doch mit fortschreitender Zeit und Alexanders sich immer bemerkbarer machenden Depression, die beide in den seltenen Gesprächen über seine kreative Krise umschifften, war sein unbedingter Wille, jegliche Spannung zwischen ihnen zu lösen, einer passiven Gleichgültigkeit gewichen. Als Hedwig zurück vor dem Hotel das Auto in eine Parklücke steuert, steigt Alexander aus, bevor sie den Motor ausgestellt hat. Hedwig schnallt sich ab und rammt sich beim Versuch, die klemmende Autotür zu öffnen, einen zweiten blauen Fleck in die Schulter.
7
Als Hedwig, Alexander und Noah am Samstag auf der sonnigen Terrasse einer Skihütte heiße Schokolade trinken, ruft die 19-jährige Erzieherin aus dem Kinderclub des Hotels an. Mia hat Durchfall. Sie sei während des Mittagessens aufgestanden, habe sich Strumpfhose und Unterwäsche runtergezogen und auf den lila Plüschteppich gekackt. Jetzt weine sie, klage über Bauchschmerzen, Hedwig müsse sie abholen. Eine frisch ausgelernte Erzieherin müsste eigentlich mit einem kackenden Kind fertig werden, denkt Hedwig. Aber vielleicht werden Kinder in österreichischen Dörfern bei der ganzen guten Bergluft und den kräftigen Rindersuppen nicht krank.
Jetzt sitzt Hedwig mit Alexander und Noah über ihr Dessert gebeugt beim Abendessen im Hotel-Restaurant. Auf dem fünfeckigen Teller vor ihr liegt eine Marillen-Schnitte mit Vanilleeis und Nougatschaum. Mia liegt mit einer quietschbunten Feenprinzessinnen-Serie auf dem iPad und Kamillentee in der Nuckelflasche im Bett. Alexander löffelt schweigend in einer Schüssel Schokomousse. Noah stochert mit einer Hand in einem Stück Papageienkuchen vom Kinderbüffet, in der anderen hält er sein Smartphone halb unter dem Tisch und tippt darauf herum. „Leg bitte dein Handy weg, Noah“, sagt Hedwig. Er ignoriert sie.
Beim Ausschenken des den Hauptgang begleitenden Weißweins war die Kellnerin gegen den Kerzenständer auf der Mitte des Tisches gestoßen. Hedwig kratzt das verspritzte Wachs vom weichen Damast des Tischtuchs und streut es über die Reste des Nougatschaums auf dem Teller vor sich. Ihr ist übel. Das Stück Dorade mit Zitronen-Dill-Sauce hatte sich etwas zu weich in ihrem Mund angefühlt, der Geschmack etwas zu fischig. Noah ignoriert Hedwigs zweite und dritte Bitte, sein Handy wegzulegen. Vor den anderen Hotelgästen will Hedwig nicht lautstark ihre Erziehungsunfähigkeit demonstrieren und lässt ihn in Ruhe. Verloren in Gedanken über ihren Sohn, der nicht einmal den Kopf hebt, wenn sie ihn anspricht, löffelt Hedwig den letzten Klecks Nougat von ihrem Teller und wundert sich über den unerwarteten Nachgeschmack. Sie hatte das Wachs mitgegessen.
8
Zum dritten Mal muss sich Hedwig aus der Liege im Relaxraum des Spas hieven. Die Polstermatte rutscht auf dem glatten Holz immer wieder nach unten. Sie findet einfach keine bequeme Position. Wellenrauschen und Möwenkreischen beschallen die sich Entspannenden aus hinter Trockengestecken aus Schilf und Weizen versteckten Boxen. Noah und Mia hat Hedwig im Bambini-Aqualand abgegeben. Die slowakische Blonde mit den tätowierten Augenbrauen würde sich noch eine Stunde um die Töchter und Söhne der Hotelgäste kümmern. Noah blickte Hedwig nur stumm und vorwurfsvoll an, als sie seine Zimmerkarte verlangt und ihn mit Mia nach unten geschickt hatte, mit der Begründung, er solle mehr Zeit mit seiner kleinen Schwester verbringen. Alexander sitzt irgendwo in einer der drei Bars des Hotels und trinkt Fichtenlikör oder Bonsaigin oder irgendeine andere überteuerte Spirituose, von der die Hotelleitung weiß, dass die Mercedes-Van fahrenden Großstädter sie ohne auf den Preis zu schauen trinken würden, weil es sie angeblich nur in diesem einen Tal hier im österreichischen Hinterland gibt. Jetzt, endlich, ist Hedwig allein, bis auf die halbnackten bis nackten Fremden, die hier wie sie im flackernden Schein des Kaminfeuers auf ihren Liegen herumrutschen, um ihre Körper in urlaubsgerechte Stellungen zu bringen.
Hedwig driftet in einen unruhigen Halbschlaf und fängt an zu träumen. Sie steht in einem leeren Raum mit schwarzen Wänden und schwarzem Boden. Eine einzelne Glühbirne an einem Kabel, das aus dem Nichts über ihr in den Raum hineinhängt, beleuchtet eine Kehrschaufel und einen Handfeger, die vor ihren Füßen liegen. Hedwig bemerkt, dass der Boden um sie herum mit etwas bedeckt ist, das wie weißes Pulver aussieht. Sie beugt sich nach unten, hebt Schaufel und Handfeger auf und fängt an, zu kehren. Doch so viel sie auch kehrt, das weiße Pulver wird nicht weniger. Sobald sie eine Fläche freigefegt hat, rieseln von irgendwoher neue weiße Schüppchen auf den schwarzen Boden. Hedwig sieht jetzt ihre Arme, die mit roten, wund geschürft aussehenden Stellen übersät sind. Sie scheinen immer größer zu werden. Sie lässt Schaufel und Besen fallen, fasst sich mit einer Hand ins Gesicht und hält sie sich vor die Augen. An ihren Fingerspitzen klebt Blut.
9
Am Sonntagmorgen fahren Hedwig und Alexander zu einem Kiosk im Tal, um Proviant für die Rückfahrt zu kaufen. Hedwig legt gerade Haferkekse und Geleebananen in den Wagen, als sie Alexander vom anderen Ende des Gangs mit einem Sechserpack Bier und zwei Flaschen Haselnussschnaps auf sich zukommen sieht. „Wir wollten Sachen für die Fahrt kaufen“, sagt Hedwig. „Das ist für nach der Fahrt“, sagt Alexander und stellt das Bier in den Wagen auf die Geleebananen. „Pass doch auf“, zischt Hedwig und zieht die zerdrückte Packung unter den Flaschen hervor. „Hast du mal bei uns zu Hause in den Keller geschaut?“, fragt Hedwig. „Wer soll das alles trinken?“ Eine ältere Dame in schlammbrauner Daunenjacke, die nur wenige Meter entfernt steht, in ihrer linken Hand ein mit eingeschweißter Wurst und Tütensuppen gefüllter Weidenkorb und in der rechten eine rote Leine, an deren Ende ein meerschweinchengroßer Hund befestigt ist, dreht ihren Kopf interessiert in Richtung Hedwigs lauter werdender Stimme. Als Hedwig zu ihr hinüberblickt, zuckt sie zusammen und lässt die Leine fallen. Sofort setzt sich der Hund tippelnd in Bewegung. „Rudi“, ruft die Frau und rennt ihm hinterher.
„Ich hätte dich letztes Jahr verlassen sollen“, sagt Alexander. Im Kofferraum klappern seine Bierflaschen bei jeder Unebenheit der Straße. Hedwig schließt für einen Moment die Augen und sucht nach einer möglichst gelassenen Erwiderung. Es gelingt ihr nicht. „Ja, genau, vielleicht hättest du dann ja mehr Energie fürs Schreiben gehabt, anstatt sie darauf zu verschwenden, sauer auf mich zu sein“, sagt sie. Alexander schaut sie von der Seite an, schüttelt den Kopf und lacht. „Was?“, fragt Hedwig. „Hättest du mich nicht so verletzt, wäre mein Kopf vielleicht frei gewesen fürs Schreiben“, antwortet Alexander leise, dreht sich von ihr weg und schaut aus dem Fenster. „Ach, ist es jetzt meine Schuld, dass dein Talent nach einem Buch schon aufgebraucht war?“ „Hedwig!“ Alexander schreit jetzt fast. „Wegen dir hat mein Schwanz monatelang gebrannt.“
Vor gut einem Jahr hatte Hedwig Sex mit einem jungen Dichter aus dem Allgäu, den sie für ein Interview für die Reihe „Provinzpoeten“ ihres Magazins getroffen hatte. Sie taten es im Pferdestall auf dem Hof seiner Eltern. Aus den nüchtern-professionellen E-Mails, die Hedwig und er sich für die Vorbereitung des Interviews hin- und hergeschickt hatten, wurde schnell offensives Flirten. Er schien darin geübt zu sein. Hedwig fing sich einen Tripper bei ihm ein. Alexander steckte sich bei ihr an. „Das kannst du mir nicht ewig vorhalten, Alexander“, sagt Hedwig. „Dass sich die große Frau Chefredakteurin von einem 19-jährigen untalentierten Bauern ficken lassen hat?“ fragt Alexander. Sie erreichen das Hotel. Hedwig fährt etwas zu schnell in eine freie Parklücke und stößt mit dem Auto gegen den massiven Holzzaun, der das Hotelgelände umgibt. „Ich fasse es nicht, dass du mir diese Scheiße bei jeder Gelegenheit vor den Kopf knallst“, sagt sie. Sie schnallt sich ab, zieht am Türgriff und wirft sich mit ihrem ganzen Körpergewicht gegen die klemmende Autotür. Doch diesmal gleitet sie ohne Probleme auf. Hedwig fällt aus dem Auto kopfüber in den Schneematsch. Hedwigs untere Körperhälfte hängt noch im Fahrerraum. Sie winkelt ihre Beine an, stützt sich mit ihren Händen im eisigen Brei ab, geht neben dem Auto in die Hocke und versucht, nicht laut loszuschreien. Alexander taucht neben ihr auf und streckt ihr seine Hand entgegen. „Hast du dir wehgetan?“, fragt er. „Lass mich“, sagt Hedwig. Sie steht auf, klopft sich den Schnee von ihrem Mantel und läuft vom Auto weg.
10
Nach ein paar Minuten bemerkt Hedwig, dass sie völlig ziellos geradeaus läuft und der Schnee immer tiefer wird. Sie steht auf einem Feld. Vor ihr sieht sie die kurvige Straße, die ins Tal führt. Hinter ihr sieht sie in der Ferne Alexander, der noch immer neben der offenen Autotür steht und sie beobachtet. Am Himmel über Hedwig fliegen zwei Krähen, die sich in der Luft attackieren, auseinanderfliegen, um dann wieder mit einem dumpfen Rascheln gegeneinanderzustoßen. Ein paar schwarze Federn schießen aus dem Vogelknäuel und landen auf dem zugeschneiten Feld. Hedwig ist plötzlich sehr übel. Der pinke Grapefruitsaft vom Frühstücksbuffet schießt in einem dampfenden Strahl aus ihrem Mund in den Schnee.
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freiTEXT | Lisa Neumann
Lotte
Wir sitzen auf einer Bank im Park und genießen die Sonne. Lotte sitzt neben mir, Bella, ihre Hündin, liegt im Gras und hechelt in der Hitze.
„Ganz schön heiß, heute“, sagt Lotte und nippt an ihrem Milchshake, den ich ihr vorn an der Eisdiele gekauft habe.
Ihre dunklen, kinnlangen Haare umspielen ihr Gesicht. Ihr roter Lippenstift ist ein wenig zu grell, aber Lotte möchte gern erwachsener sein, als sie ist. Erwachsener als Valentina. Dabei hat sie meine Schwester noch nie wirklich gesehen.
„Schmeckt der?“ Ich zeige auf ihren Milchshake.
„Nach Schokolade.“
Sie grinst. Der Shake hat ihren Mund etwas dunkel gefärbt. Sie leckt sich über die Lippen, verschmiert den Lippenstift, lacht.
„Hast du mal mit ihm geredet?“
„Was?“
„Ob du mit ihm geredet hast, Süße.“
Sie ist die Einzige, die mich so nennen darf.
„Mit Jonathan?“
„Nein, mit dem lieben Gott.“ Sie rollt mit den Augen.
Ich boxe sie gegen den Oberarm. „Aua.“ Sie zieht eine Schnute.
„Hast du?“
„Nein.“
Wir sitzen in einer abgelegenen Ecke vom Park. Gut, dass uns niemand hören kann.
„Mensch, Klara. Wie soll man dich bloß verkuppeln?“
Sie seufzt, dann lacht sie. „Morgen rede ich mit ihm.“
„Nein, das wirst du nicht.“
„Werde ich.“
„Nein.“
„Doch. Hast du Schiss?“
„Ich will nicht, dass du mit ihm redest. Du kannst nicht frei machen, nur um auf unseren Schulhof zu kommen.“
Fast habe ich geschrien.
„Dann musst du mit ihm reden.“
„Ich…“
„Was?“
„Er findet mich bestimmt komisch.“
Blödsinn. Lotte grinst. Ihr Modellächeln, nennt sie das. „So müsst du wirken, im Friseursalon. Lächeln und mit den Wimpern klimpern“, hat sie mal gesagt.
Auf dem Heimweg halte ich Bella an der Leine. Sie zieht ganz schön. An der Ecke meiner Straße verabschieden wir uns. Küsschen, Küsschen. Dann geht Lotte weiter.
Als ich nach Hause komme, steht Mama in der Küche und kocht.
„Wie war die Schule?“
„Okay.“ Ich zucke mit den Schultern. Gut, dass Lotte schon arbeitet. Sonst würden wir uns die Unterrichtszeit mit spannenden Geschichten vertreiben. Lotte kennt die besten Geschichten. Unglaublich, was die Leute einem im Friseursalon so alles erzählen.
„War noch mit Lotte im Park.“
„Wann lernen wir sie denn endlich mal kennen, deine Lotte?“
„Sie arbeitet, Mama.“
„Auch am Wochenende?“
„Meistens.“
Das ist nicht wahr. Eigentlich will ich nur nicht, dass Lotte meine Eltern kennenlernt. Wer weiß, wie sie dann über mich denken würde. Das brave Mädchen von nebenan. Nee, bloß nicht!
Am nächsten Tag stehe ich lange im Flur vor dem Klassenraum, dabei bin ich bereits fünf Minuten zu spät. Ich will nicht darein gehen. Er sitzt da drin. Und wenn mich Lotte nachher fragt, ob ich Jonathan endlich angesprochen habe, muss ich schon wieder eine Ausrede erfinden. Schließlich gehe ich doch hinein. Frau Reinhardt stellt mich zur Rede.
„Hab verschlafen, sorry.“
„Habt ihr keine Wecker zu Hause?“
„Nein.“ Die Klasse lacht. Ich setze mich an meinen Platz.
Wann wohl der nächste Elternbrief kommen wird?
Ich schwänze die sechste. Lotte wartet auf mich bei unserer Bank im Park. Sie raucht.
„Hey.“ Ich setze mich neben sie.
„Schlechter Tag?“
„Jep.“
Sie reicht mir die Kippe. Ich schüttele den Kopf.
„Meine Eltern wollen dich mal kennenlernen.“ Ich weiß selbst nicht, wieso ich dies sage.
„Das geht doch nicht, Klara.“
„Okay.“ Ich zucke mit den Schultern. Ich habe sie noch nie nach dem Grund gefragt. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mal, wo genau sie wohnt. Wir treffen uns immer im Park.
„Willst du mit zu mir nach Hause kommen? Meine Schwester kommt erst um drei und meine Eltern arbeiten.“
„Sturmfrei?“
Ich nicke. Sie grinst. Wenn sie lächelt kann man ihre Zahnlücke sehen.
„Meinetwegen. Aber nur wegen dir, Klara.“
Auf dem Heimweg bin ich nervös. Ob es eine richtige Idee war, Lotte mitzunehmen? Was wird sie zu meinem Zimmer sagen? Mein Zimmer, das vollgekleistert ist mit peinlichen Kindheitsfotos und High School Musical Postern. Ich schiebe den Gedanken beiseite.
„Habt ihr Alkohol da?“
„Was?“
„Schnaps? Bier? Wodka? Champagner? Irgendwas?“
Ich schweige.
„Jetzt guck doch nicht so entsetzt, Klara.“ Sie lacht, hustet.
Lotte raucht zu viel. Aber das habe ich ihr schon viel zu oft gesagt.
„Weiß nicht“, sage ich und öffne das Gartentor.
„Bam!“, schreit Lotte und lässt den Sektkorken knallen.
„Auf uns!“ Sie dreht sich mit der Flasche und erhobenen Armen im Kreis.
„Ach was! Auf deine große Liebe? Wie heißt der noch?“
„Jonathan“, murmele ich.
„Auf Jonathan“, schreit sie und schenkt mir ein. Manchmal finde ich ihre Energie nahezu unheimlich. Dabei hat sie erst ein Bier getrunken.
Ich nippe am Glas, fühle mich schlecht. Lotte dreht die Musik auf.
„Lass uns tanzen, Baby.“ Sie zieht mich ins Wohnzimmer.
Der Bass wummert in den Wänden, pocht in meinem Schädel.
Lotte kann gut tanzen. Viel zu gut. Neben ihr komme ich mir unbeholfen vor.
„Pirouette!“, schreit sie und dreht mich im Kreis.
Ich muss lachen. Sie dreht mich. Immer weiter und weiter.
„Nein, Lotte.“ Ich schließe die Augen. „Lass das, mir wird schlecht. Mir wird…“
„Klara?“
Die Musik ist abrupt verstummt. Meine Schwester steht im Zimmer. Valentina trägt braune Lederstiefel, eine enge, schwarze Jeans und einen knallroten, knielangen Mantel. Vermutlich ahnt sie nicht einmal, wie hübsch sie in diesem Outfit ist.
Ich bleibe stehen. Lotte hält mich, damit ich nicht umkippe. Ich lehne mich etwas an sie.
„Die Musik war ja draußen zu hören“, sagt Valentina.
„Hast du schon wieder geschwänzt? Und mit wem redest du überhaupt die ganze Zeit? Wer ist diese Lotte? Sag mal, bist du betrunken?“
Ich kichere.
„Das ist nicht witzig.“ Sie bleibt vor mir stehen.
„Ich mache mir Sorgen um dich, Klara.“
Ich drehe mich um, starre in Lottes Gesicht. Sie rollt mit den Augen.
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freiTEXT | Fernand Muller-Hornick
Amtliche Filzstifte
Der Umstand, dass dem Beamten innerhalb von sechs Minuten und achtundvierzig Sekunden fünf Filzstifte der Marke "Sauberschrift" den Dienst versagten, führte dazu, dass der nun schreibunfähig gewordene Beamte ernsthafte Gedanken darüber anstellte, ob er selbst oder die Firma "Sauberschrift GmbH Germany" für das Versagen der Filzstifte verantwortlich zu machen sei, ohne auf eine einigermaßen befriedigende Lösung zu kommen, so dass er sich genötigt sah, bei dem für Filzstifte zuständigen Beamten der unteren Laufbahn, um genau zu sein, dem Saaldiener, vorzusprechen und ihm von der Mangelhaftigkeit dieser vor acht Monaten kistenweiseerworbenen Filzstifte Mitteilung zu machen, was allerdings dadurch erschwert wurde, dass er, der Beamte, an jenem Tag bereits dreimal bei dem für Filzstifte Zuständigen wegen besagter Filzstifte vorgesprochen und demnach jedes Mal neue Filzstifte erhalten hatte, so dass, würde er nun ein viertes Mal vorsprechen, unweigerlich der Eindruck entstehen müsste, dass er sich eine Sammlung Filzstifte anlege, sie eventuell mit nach Hause nehme, oder noch schlimmer, sie andernorts verkaufe, was laut Beamtendienstgesetz Artikel 5, Absatz II, Strich c, f und g strengstens verboten und laut Artikel 5, Absatz h/ j, Zeile 26 mit einem Disziplinarverfahren und einer darauf folgenden Strafe, bestehend aus der Halbierung des monatlichen Gehaltes bis zu der Sperrung eines ganzen Monatsgehaltes führen konnte, so dass der Beamte nach reiflicher Überlegung und unter Hinzuziehung aller gegen und für ihn sprechenden Argumente erwog, nicht bei dem für die Filzstifte zuständigen Saaldiener vorzusprechen, sondern vielmehr in das erste Geschäft an der Ecke zu gehen und sich aus eigener Tasche neue Filzstifte zu kaufen, um dann die quittierte Rechnung in je drei Durchschlägen an das zuständige Rechnungsamt einzureichen, welches, einige Tage später, an den die Rechnung eingereichten Beamten zurückschreiben würde, er, der Beamte, dürfe keine Rechnung für zum persönlichen Gebrauch benötigte Filzstifte einreichen und folglich sehe sich das Rechnungsamt nicht genötigt, diese Rechnung zu begleichen, worauf der Beamte das für den Erwerb der Filzstifte vorgestreckte Geld nicht zurückerhaltend, sich letzten Endes gezwungen sehen würde, beim für die Filzstifte zuständigen Saaldiener vorzusprechen, um andere Filzstifte zu erhalten, worauf er, der Saaldiener, sagen würde, er, der vorsprechende Beamte habe in den letzten Tagen bereits sechsmal vorgesprochen, um neue Filzstifte zu erwerben, unmöglich könne er, der Saaldiener, dauernd neue Filzstifte ausgeben, immerhin müsse er, immer noch der Saaldiener, bei einem derartigen Verschleiß an Filzstiften, einen Rechenschaftsbericht abliefern, andernfalls er in den Verdacht geriete, die Filzstifte andernorts zu verkaufen, weshalb er dem Beamten mit größtem Bedauern keine weiteren Filzstifte aushändigen könne, was wiederum zur Folge haben würde, dass der Beamte, nicht gewillt, seine von ihm persönlich erworbenen und aus eigener Tasche bezahlten Filzstifte für eine für den Staat zu leistende Arbeit zu vergeuden, arg ins Hintertreffen geraten und bereits nach drei Tagen einen beachtlichen und kaum noch aufzuholenden Rückstand an den ihm zugeteilten Schreibarbeiten aufweisen würde, was schließlich nach einem Monat unerledigter Arbeit, einer Zeit, in der der Beamte ohne Filzstifte sein Amt versehen musste, zu einer Disziplinarstrafe und laut Beamtendienstgesetz Artikel 3, Absatz a und b, gleichfalls zu berücksichtigenden Artikel 3, Absatz c/d, Zeile 39, zu einer Kürzung von zwei Dritteln des dem Beamten gebührenden Gehalts führen müsste, wozu es dann auch am Ende tatsächlich kam.
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freiTEXT | Lilith Tiefenbacher
Bahnhöfe
Bahnhöfe, sagt man, seien Sackgassen, die so tun, als seien sie Plattformen. Am Bahnhof von Utrecht ziehe ich eine Nummer, im Schatten eines schrill leuchtenden Automaten, der beziehungslos meine Zukunft ausspuckt. Kann mich leider kaum dazu bewegen, den Zettel zu lesen. Also klaube ich Münzen aus einer Tasche, klaue den erstbesten Strauß im Geschäft nebenan, durch die Blume sprechen, sagt man. Ich persönlich mache alles Mögliche durch die Blume. Rauchen über den Dornen der Strauchrose, schlummern im Bett der Hortensie, grübeln in der Einöde der Orchidee, exzessiv, destruktiv, warum fällt über Anthurien nie ein Schnee, mein Kopf wird heiß, ich verstehe. Aber ich spreche nicht.
Vor einem Kiosk öffne ich eine Banane. Rechts und links von historischen Rissen suche ich heimlich klein wenig Gegenwart, folge den Abdrücken andrer Passanten, zerzauste, übriggebliebene, mit dem falschen Namen getaufte, die warten. Vor dem Abschied eine Erinnerung tanken, oder so ähnlich. Ich zerreise Brot. Trage es über der Schulter in Tüten, achso, ich bin übrigens wütend, allein zwischen Typen, zweifellos Tiere aller Art.
Meine Zeitgenossen konkurrieren mit Modernisten, Faschisten, Tauben, das auch. Der Zoo ist eine uralte Futurologie. Ob morgen Trost, ob Lüge trügt? Mangels freundlicher Alternativen vertraust du der Landschaft in meinem Kopf heut noch dein Knopfloch an. Vertieft in einen Haufen Schwere-Schein-Papier verträgt der Passagier fast jede Last, verspürt kein Spüren. Aber das Blicke-Versenken kannst du dir schenken, unter den Rädern trennt sich eins vom anderen von allein, wishing you a journey. Ich hasse Hast, halte sie fest an ihrer Tasche, taste, taste. Eine Stimme im Lautsprecher verklärt die verschiedenen Klassen, sind Sie noch etikettiert oder schon aussortiert? Ich bin auf der Suche.
Doch vor meinem Fenster finde ich nur einen Stein, Punkt, Punkt, Komma, Strich, misstrauen Sie dem Gesicht! Das schwebt und fällt da wie ein sinkendes Schiff, mittellos im Hafen. In meiner Hand verrutscht ein Stück Papier, die Zukunft, lese ich, hat einen urigen Hunger. Ich zieh die Gardinen vor. Doch als es losgeht, stopf ich ihr Maul nolens volens mit Fragen, fürchte, in der erstbesten Kurve habe ich den Salat. Und während Planeten, Raketen, Sonne und Regen vorüberziehen, kletterst du rückwärts durchs Loch, ohne den Kopf einzuziehen. Die Hand ausgestreckt, zwinkernd. Dieses Land, faucht durch das Brüllen der Lokomotiven die Blume in deiner linken, ist zu verlassen, goodbye, saw you soon, oder so ähnlich.
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freiTEXT | Anna-Pia Jordan-Bertinelli
Ganz Normal
Ich habe eine Kugel im Kopf. Wie genau sie dorthin gekommen ist, weiß ich nicht mehr, es war diese komische Zeit, in der Kinder auf offener Straße erstochen wurden und auch Schießereien keine Seltenheit waren.
Was ich noch weiß ist, dass ich spazieren gegangen bin und mich plötzlich etwas am Hinterkopf getroffen hat. Ich dachte noch, wer bewirft mich hier mit einem Schuh?! Dann lag ich plötzlich auf dem Boden und jemand meinte: „Sie bluten da aber ganz schön”. Ich muss ohnmächtig geworden sein und jemand muss den Krankenwagen gerufen haben. Als ich wieder aufwachte, beugte sich ein Arzt über mich und meinte „Herr M., schön, dass Sie wieder bei uns sind. Sie haben eine Kugel im Kopf, aber das ist kein Grund zur Panik. Zumindest nicht in Ihrem Fall. Keine Sorge, Sie sind nicht im Himmel, ich bin nicht Gott und auch keine Jungfrau oder so.”
Er zwinkerte. Ich glotzte.
„Jedenfalls, Spaß beiseite”, fuhr er fort, „die Kugel steckt genau zwischen ihren beiden Hirnhälften fest. Wir werden sie vorerst nicht entfernen können, das ist zu gefährlich und könnte Sie unter Umständen wirklich zu Gemüse machen. In ein paar Jahrzehnten ist die Laserchirurgie sicherlich soweit. Aber bis dahin sind Sie nicht der erste und auch nicht der Letzte, der mit einer Kugel im Hirn rumläuft, also Kopf hoch! Können Sie sprechen?” Ich nickte, der Arzt lachte. „Sehr gut, dann schaue ich später noch einmal nach Ihnen.”
Natürlich wurde über den Vorfall berichtet. Ich selbst bekam nicht so viel davon mit, aber meine Nichten und Neffen zeigten mir, was im Internet über die ganze Sache geschrieben wurde und meinten „Onkel, jetzt bist du voll berühmt.” Es gab einen längeren Bericht auf der Titelseite der Lokalzeitung, den meine Frau in eine Klarsichthülle steckte. Dann kam der nächste Vorfall und zack gab es neue Schlagzeilen.
Vor der Entlassung hatte ich ein Gespräch mit der Krankenhauspsychologin. Sie fragte mich, ob ich wütend oder traurig sei, ob ich das Bedürfnis hätte, mir oder anderen wehzutun, oder ob ich mich emotional irgendwie taub fühlen würde. Ich sagte zu allem Nein. Es ging mir eigentlich ganz gut, ich freute mich auf zu Hause, auf meine Frau und meinen Kiosk.
Die Psychologin war noch recht jung. „In Ordnung, Herr M.”, sagte sie, „schön, dass es Ihnen soweit gut geht. Meistens dauert es Monate und manchmal sogar Jahrzehnte, bis man eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Falls Sie eine solche Störung entwickeln sollten, merken Sie das zum Beispiel daran, dass Sie schlecht schlafen, Flashbacks haben, also plötzliche Erinnerungen an die traumatische Situation, und insgesamt sehr erschöpft sind. Sollten diese oder andere Symptome bei Ihnen auftreten, melden Sie sich bei uns.“
Der Kiosk lief zunächst ganz gut. Meine Stammkunden schmissen eine Willkommen-zurück-Party, bei der ich ein bisschen Pipi in den Augen hatte. Alle wollten Fotos von der Schusswunde machen. Auch die Lokalpresse kam vorbei. Natürlich wollten sie wissen, wie es war, angeschossen zu werden, und ob ich eine Idee hatte, wer die Täter gewesen sein könnten. Die Ermittlungen der Polizei waren erfolglos geblieben. Eigentlich hätte ich sie am liebsten rausgeschmissen, aber ich wusste, dass ich durch die Berichterstattung ein paar Kunden mehr bekommen würde. Ich sagte also: „Ich habe keine Ahnung, wer die Täter sind, aber ich würde es ganz gerne wissen. Nicht um mich zu rächen. Aber um mir den ganzen Papierkram zu sparen, den ich jetzt wegen dem Schmerzensgeld am Hals habe. Ist ganz schön Kacke, wenn einem durch sowas der Umsatz von mehreren Monaten flöten geht.”
Ich wusste es tatsächlich nicht. Mein Kiosk lag in der Feiermeile. Im Laufe der Zeit hatten nach und nach alle Mafias, Banden, Clans und Sekten angeklopft und mir Waffen, Drogen, Kinderpornos und natürlich ‚Schutz‘ angeboten. Ich habe jedes Mal dankend abgelehnt, wie es mir ein befreundeter Tätowierer geraten hatte: Sei freundlich, halt dich raus, verkaufe nichts unter der Theke und sie lassen dich in Ruhe. Hatte bisher erstaunlich gut funktioniert. Aber vielleicht war ich aus Versehen jemandem auf den Schlips getreten, oder sie wollten meinen Laden haben und hatten keine Lust, ihn zu kaufen. Vielleicht war es auch ein reiner Zufall gewesen, irgendein Psychopath, der einfach Lust hatte, ein bisschen durch die Gegend zu ballern.
Meine Frau ist die ersten Monate, in denen ich wieder arbeiten gegangen bin, vor Sorge fast durchgedreht. Deshalb habe ich mir einen Dobermann besorgt. Ansonsten ist nicht viel passiert. Die Nachkontrollen im Krankenhaus sind abgeschlossen, die Ärzte haben mir alles Gute gewünscht, und „melden Sie sich, wenn etwas ist.”
Es ist nur eine Sache: Ich habe schon den Eindruck, dass die Menschen weniger rausgehen oder zumindest seltener in meinen Kiosk kommen. Manchmal unterhalte ich mich mit dem Besitzer der Kneipe von gegenüber. Er meint, ihm sei nichts aufgefallen, aber vielleicht müsse ich mal was tun, neues Sortiment oder einfach mal den Laden umräumen, neuen Schwung reinbringen, ich wisse schon. Ich nicke und weiß, dass er einer von denen ist, die ihren Laden eh nur für Geldwäsche nutzen. Von daher kann es ihm egal sein, wie viel Kundschaft kommt. Trotzdem habe ich versucht, mein Schaufenster umzudekorieren. Das heißt, ich habe darüber nachgedacht, aber wirklich weit bin ich nicht gekommen. Ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen, auch nur eine der Bierkisten, die seit Ewigkeiten dort stehen, wegzuräumen. Schließlich habe ich meine Frau um Hilfe gebeten. Sie hat die Kästen aus dem Schaufenster geräumt und sie dann mitten im Laden stehengelassen, weil sie ihr zu schwer waren. Jetzt stehen sie jedem im Weg, der in den Kiosk will. Trotzdem schaffe ich es nicht, sie wegzuräumen. Es macht eigentlich auch nichts, es kommt eh kaum noch jemand in den Laden, und wenn, dann sind es Obdachlose, die ich sofort wieder rausschmeiße.
Vielleicht ist das jetzt die posttraumatische Belastungsstörung? Der Vorfall ist immerhin schon ein paar Monate her. Ich kontaktiere das Krankenhaus. Die alte Psychologin arbeitet nicht mehr dort, die Neue ist nochmal ein ganzes Stück jünger. Ich erzähle ihr von allem und von der Sache mit den Kisten. Sie arbeitet mit mir eine Checkliste ab.
„Haben Sie Schlafstörungen?” Nein.
„Sind Sie in letzter Zeit besonders schreckhaft?” Nein.
„Haben Sie neuerdings Wutanfälle, die Sie früher nicht hatten?” Nein. „Konzentrationsschwierigkeiten?” Nein. Ich verbringe mittlerweile Stunden damit, Kreuzworträtsel und Sudoku zu lösen, während ich auf Kundschaft warte.
„Haben Sie manchmal Erinnerungen an den Vorfall, die Ihnen ganz plötzlich in den Kopf kommen?” Nein. Ich kann mich mittlerweile kaum noch daran erinnern.
„Und sonst ist auch nichts Auffälliges passiert?” Nein. Nur eben das mit den Kisten. Und dass die Kundschaft ausbleibt und ich das Gefühl habe, kaum mehr Menschen auf der Straße zu sehen, wenn ich mit dem Hund Gassi gehe.
„Wann gehen Sie denn mit Ihrem Hund spazieren?” Meistens morgens früh und abends spät, wenn ich den Kiosk zumache. Selbst am Wochenende ist da nicht mehr viel los. Das war früher ganz anders.
„Vielleicht müssen Sie einfach mal mittags rausgehen, da sind bestimmt mehr Leute auf den Straßen. Oder gehen Sie in ein anderes Viertel, ein bisschen weg aus der Innenstadt. Das tut bestimmt gut, eine neue Perspektive. Vielleicht können Sie ja am Wochenende auch mal wegfahren, mit Ihrer Frau – wie ist eigentlich die Beziehung zu Ihrer Frau? Was sagt die zu den Kisten?” Dass sie ihr zu schwer sind und ich sie selber wegräumen soll.
„Nein, das meine ich nicht. Was sagt sie zu ihrer gesamten Situation im Moment, dass Sie die Kisten nicht wegräumen können, und dass die Kundschaft ausbleibt?”
Nicht so viel. Wir reden nicht so viel.
„War das schon immer so oder reden Sie erst seit Neustem nicht mehr so viel miteinander?”
Das war schon immer so.
Die Psychologin legt die Blätter beiseite und sieht mich an: „Also, Herr M., so wie ich das sehe, haben Sie eine leichte oder vielleicht auch mittelgradige depressive Episode. Keine posttraumatische Belastungsstörung, dafür erfüllen Sie nicht die zutreffenden Kriterien. Ich empfehle Ihnen erstmal, mehr rauszugehen, vielleicht wirklich mal übers Wochenende wegzufahren. Und reden Sie mit ihrer Frau. Darüber, wie es Ihnen geht. Dass Sie es vermissen, unter Menschen zu sein. Und vielleicht können Sie die Kisten ja einfach zu zweit wegräumen. Dann sind sie auch nicht so schwer.”
Ich sage Okay und wir vereinbaren den nächsten Termin.
Als ich das nächste Mal ins Krankenhaus komme, ist kaum jemand auf den Gängen unterwegs. Ich setze mich vor die Tür der Psychologin und warte. Als sie mich eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht hereingebeten hat, klopfe ich an. Es kommt keine Antwort, ich drücke vorsichtig die Klinke herunter. Der Raum ist abgeschlossen. Ich gehe zur Information und frage die Schwester dort, was hier eigentlich los ist, wo die ganzen Leute sind und warum meine Psychologin nicht da ist. „Wir haben den Betrieb auf dieser Station zurzeit etwas runtergefahren“, sagt sie. „Ist doch auch mal ganz angenehm, finden Sie nicht? Wie heißt denn ihre Therapeutin? Sind Sie sicher, dass der Termin heute war?“.
Ich sage Ja und gebe ihr den Namen der Psychologin. Sie runzelt die Stirn. „Komisch, also, den Namen habe ich noch nie gehört. Sind Sie sicher, dass Sie auf der richtigen Station sind?“ Ja. Sie tippt in ihrem Computer herum, schaut mich dann an. „Also, leider kann ich Ihre Therapeutin hier nicht finden. Kann sein, dass sie kurzfristig gekündigt hat, das kriegt man hier manchmal gar nicht mit. Am besten melden Sie sich mal unter dieser Nummer bei unserer zentralen Terminvergabestelle, da müssten Sie dann eine neue Therapeutin zugeteilt bekommen.“ Sie schiebt mir ein Kärtchen hin, die Nummer ist mit Kuli umkringelt.
Die Bahn ist menschenleer, obwohl es gerade erst vier Uhr nachmittags ist, also eigentlich Feierabendverkehr. Auf den Straßen sind kaum Autos zu sehen. Eigentlich will ich zurück in den Kiosk, aber dann fahre ich doch nachhause. Vielleicht sollte ich wirklich mal mit meiner Frau reden, denke ich, ob sie in letzter Zeit auch so wenige Menschen sieht wie ich.
Die Wohnung ist leer. Ich rufe meine Frau an und sehe sofort, dass sie ihr Handy auf dem Küchentisch liegengelassen hat. Ich warte zwei Stunden, mache Kreuzworträtsel. Dann rufe ich ihre Freundinnen, ihre Schwestern, ihre Cousinen, am Ende sogar ihre Eltern an. Niemand geht dran. Ich hole den Hund aus dem Kiosk und laufe eine Runde um den Block. Ich probiere es noch einmal bei allen Verwandten, keiner nimmt ab. Irgendwann nach Mitternacht rufe ich bei der Polizei an. Die Leitung ist tot. Genauso bei Feuerwehr und Krankenwagen. Ich gehe zum Fenster. Als ich hinausschaue, sehe ich, dass der Häuserblock gegenüber nicht mehr da ist.
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