freiTEXT | Moritz Hildt
Mein Vater
Noch lange nachdem mein Vater aufgehört hatte zu arbeiten, trat er jeden Morgen um acht Uhr ans Gartentor und sah die Straße hinab. Er stand dann für eine Weile so da und tat nichts weiter.
Meine Eltern hatten das alte Haus mit dem steinernen Treppenaufgang noch vor meiner Geburt gekauft. Damals war es am Ende einer schlecht geteerten Straße gestanden. Seit die Stadt Mitte der Neunziger die Gegend als Neubaugebiet ausgelobt hat, ist der Straßenbelag erneuert worden. Heute stehen dort Einfamilienhäuser dicht an dicht, mit weißem Rauputz, Doppelgaragen und flach geschnittenen Buchsbaum- und Ligusterhecken.
Doch ich vermute, dass die Augen meines Vaters, wenn er morgens ans Gartentor trat, all das nicht sahen. Ich stelle mir vor, wie er dastand, eine seiner schwieligen Hände auf die Säule aus Ziegelsteinen gestützt, in der das Gartentor verankert war. Schon seit ich denken kann, hielt er seine Augen immer zusammengekniffen. Wie jemand, der sein Leben lang gegen das Licht schauen musste. Ich stelle mir vor, dass sie in jenen Momenten noch kleiner wurden, bis sie nurmehr Schlitze waren.
Wenn wir telefonierten, was wir nicht oft taten, sagte meine Mutter häufig, der Vater hätte heute morgen wieder der Zeit beim Vorbeigehen zugeschaut.
Jeden Tag trat mein Vater so ans Gartentor.
Bis er irgendwann losging.
Meine Mutter erzählte mir später, dass sie durch das gekippte Küchenfenster das leise Quietschen des Gartentors gehört hatte. Als sie hinausging, stand das Tor weit offen und mein Vater war fort.
Niemand von uns hat ihn je wiedergesehen.
Lange Zeit habe ich gedacht, dass er an jenem Morgen, an dem er durchs Gartentor trat und verschwand, etwas Grundsätzliches verstanden haben muss. Etwas, das ihn dazu brachte, loszugehen. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Manchmal braucht es keine Vorstellung davon, wohin man will, um loszugehen. Manchmal ist es wohl genug, von etwas wegzuwollen.
Ich muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, als mein Vater an einem Sommermorgen zu mir sagte:
„Du und ich, wir haben heute etwas vor.“
Sein langes Gesicht, das die tiefsten Falten zwischen Nase und Mundwinkeln hatte, die ich je bei einem Menschen gesehen habe, war wie immer hart und verschlossen. Seine bodenlosen, wasserblauen Augen ruhten mit derselben Schwere auf mir, mit der seine Hand die Türklinke herabgedrückt hielt, die er eben, ohne zu klopfen, geöffnet hatte. Die Klinke sah klein aus unter seinen langen Fingern, an denen noch Reste von Motoröl klebten und die filigran waren wie die eines Musikers. Der scharfe Zitronenduft des Reinigungsmittels, mit dem er immer, wenn er am Auto gearbeitet hatte, seine Hände wusch, drang zu mir ins Zimmer. Ich ging zum Schrank, um mir eine Jacke zu holen.
„Wirst du nicht brauchen“, sagte er. „Es wird ein heißer Tag. Trocken und heiß.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber das Licht wird wieder wärmer. Es ist halt August.“
Meine Mutter stand schweigend in der Küchentüre. Als wir an ihr vorbeigingen, drückte sie jedem von uns zwei in Papier eingeschlagene Brote in die Hand.
Wir fuhren mit dem alten Mercedes. Ich saß auf der Rückbank und drückte meine Finger in abwechselnder Reihenfolge in das weiche, cremefarbene Leder. Die Sonne brannte aufs Autodach. Ich drehte an der kleinen Kurbel und ließ das Fenster herab. Durch den Spalt zwischen den beiden Vordersitzen sah ich die rechte Hand meines Vaters, die den Schaltknüppel bediente. Die langen Finger ruhten auf dem Knopf, der unter ihnen metallisch hervorglänzte. Sie schlossen sich um den langen Schaft mit einer Behutsamkeit, als würde er etwas Zerbrechliches greifen.
Ich musste auf der Fahrt eingeschlafen sein, denn als der Wagen zum Stehen kam, schreckte ich hoch. Ich spürte etwas feucht an meinem Mundwinkel und wischte mit dem Handrücken darüber. Ich öffnete die Türe und die Mittagshitze schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht.
Wir standen vor einem heruntergekommenen Gehöft. Vor dem Haupthaus, dessen Fensterscheiben bis auf eine alle zersplittert waren, stand eine alte Linde. Ich wäre gern hingegangen und hätte mich in ihren Schatten gestellt. Aber mein Vater bewegte sich nicht, und so blieb auch ich am Wagen stehen.
Neben dem Haus öffnete sich der Hof, an dessen anderem Ende eine langgezogene Holzscheune stand. Ich konnte die gemauerte Jauchegrube sehen, die offenbar seit langem trocken lag. Das Ziegeldach der Scheune war an mehreren Stellen tief eingesunken, und immer wieder fehlten einzelne Ziegel. Das Scheunentor stand einen Spalt offen, als wäre eben noch jemand hindurchgegangen. Die Luft roch metallisch-schwer und nach Ozon, als hätte es irgendwo in der Nähe vor kurzem geregnet.
Mein Vater sagte noch immer nichts und schaute nur auf den vor uns liegenden Hof. Mir schien, dass die Falten zwischen seiner Nase und den Mundwinkeln noch tiefer wurden. Soweit ich mich erinnern kann – und ich habe später viel darüber nachgedacht –, habe ich meinen Vater nie über seine Eltern sprechen hören. Sie waren gestorben, lange bevor ich geboren wurde. Und dennoch war mir in jenem Moment, als wir beide am Auto standen und zu dem verlassenen Hof hinüberblickten, klar, dass das der Ort sein musste, von dem er kam.
„Ist das deine Heimat?“, fragte ich ihn.
Die Luft zwischen uns und dem Haus flirrte. Ich dachte daran, wie gerne ich mal eine echte Fata Morgana sehen würde.
Mein Vater nickte schwer. Dann passierte etwas in seinem Gesicht, das ich nicht zuordnen konnte. Ich fürchtete, einen Fehler gemacht zu haben.
„Ich wollte, dass du das mal siehst“, sagte er. Seine Augen blickten starr geradeaus. Wir standen eine Weile so da, schweigend, und ich begann mich zu fragen, womit meine Mutter wohl die Brote belegt hatte.
Da begann mein Vater, sich in Bewegung zu setzen. Er ging einige Schritte zur Linde hin, und ich dachte schon, wir würden nun in ihrem Schatten unsere Brote essen. Aber auf halbem Weg bückte er sich und hob einen Ziegelsteinbrocken auf. Rostfarbener Staub stieg auf, als mein Vater ihn hochnahm und in der Hand wog. Der Staub tanzte über der Straße und schien weit und breit das einzige zu sein, das sich bewegte.
Ich sah zu, wie mein Vater weit ausholte und den Stein in das letzte noch heile Fenster des Haupthauses warf. Das Glas zersprang mit einem merkwürdig hellen Klirren. Ich schaute ich mich um.
„Komm, wir fahren“, sagte mein Vater, als er mit langen Schritten zum Auto zurückkam. „Hier gibt es nichts. Ich vergesse das nur manchmal.“
Er öffnete die Wagentüre und also stieg auch ich wieder ein. Das Leder brannte jetzt heiß an meinen nackten Waden. Mein Vater wendete den Wagen. Seine rechte Hand schlug den Schaltknüppel hart in den ersten Gang.
Als wir die Straße hinabfuhren, drehte ich mich noch einmal um. Ich hatte das Gefühl, dass es wichtig war, dass ich mich gut an das Haus und den Hof erinnern würde. Aber wir waren schon zu weit entfernt und ich sah nur noch die Linde, deren Blätter im leichten Wind wippten, der inzwischen aufgekommen war.
Damals wusste ich nicht, was mein Vater mit diesem Ausflug bezwecken wollte. Ich wusste auch nicht, dass es der letzte sein würde, den wir zu zweit unternahmen. Mit jedem Jahr, das ich älter wurde, schien sich mein Vater weniger und weniger für mich zu interessieren. Als ich ihm mit neunzehn erzählte, dass ich an der Universität angenommen war und zum Herbst ausziehen würde, nickte er nur. Das ölige Wasser spritzte im Waschbecken, während er seine Hände mit dem Zitronenreinigungsmittel schrubbte. Acht Jahre später trat er, wie jeden Morgen, ans Gartentor, um die Straße hinabzuschauen. Dann öffnete er es und ging hindurch.
Ich habe nicht aufgehört, mich zu fragen, wohin mein Vater an diesem Tag gegangen ist. Ich frage mich, ob ihn sein Weg an der großen Linde vorbeigeführt hat, ob er sich in ihrem Schatten wohl kurz ausgeruht hat, oder ob er nochmals einen Stein aufgehoben hat. Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn immer dort stehen, unter der Linde, mit einem Ziegelstein in der Hand, von dem etwas Staub zwischen seinen Fingern hindurchrinnt und still über der Straße tanzt. Er ist zwölf Jahre alt – genau so alt, wie ich war, als er mit mir dorthin gefahren ist – und doch sind die tiefen Furchen, ganz besonders die zwischen Nase und Mundwinkeln, bereits in seinem Gesicht. Es ist das Gesicht eines alten Mannes.
Und er schaut mich an.
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