freiTEXT | Mario Schemmerl

Wo ich hin muss, damit du nicht verschwindest

Im Bett, vor dem Einschlafen meine Hand in ihre zu legen ist beruhigend. M. fühlt sich warm an und meine Einsamkeit verschwindet ein wenig. Vor ihr gab es keine Person, mit der ich das konnte. Jede Nacht verbrachte ich alleine in meinem Bett. Bücher waren meine Gesellschaft. Am Nachtkästchen lagen ein paar und manchmal auch neben mir im Bett. Ich habe Romane über Liebe und Krieg gelesen. Wenn ich nicht imstande war das Brennen in meiner Brust mit Literatur zu besänftigten, oder die Glut zwischen den Seiten beheimaten konnte, hielt ich es nicht mehr in meiner Wohnung aus und stieg zu späten Uhrzeiten in das Auto. Fuhr ohne ein Ziel über Landstraßen in die Dunkelheit der Nacht. Es war mir egal wohin, ich fuhr Schleifen über die Dörfer, bis ich einen Knoten zog und wieder zuhause ankam. In derlei Stimmung verfallen mied ich die Stadt. Dort zogen mich die Lichter zu sehr an. Damals hatte ich schon genug Nächte an Bars oder in Diskotheken hinter mich gebracht, um zu wissen, wie es am nächsten Morgen mit mir aussah und vor allem, wozu ich im Stande war. Am Land gab es nur ab und an einen Baum, einen schönen großen alten Stamm, von dem ich mir ausmalte, wie es wäre in ihn zu krachen. Diese Ausfahrten liegen eine Zeit zurück und M. jede Nacht neben mir.

Zwillinge kennen keine Grenzen, der Tod ist nur ein weiterer Verbindungsstrang. Und alles hängt an deinem Verlust, und die Angst, immer weniger damit zu tun zu haben, gefühlt nicht mehr an dich gekettet zu sein. Versuche ich gerade dir ein Denkmal zu erschreiben? Ein normales Leben wäre schön, aber das existiert nur mit dir, und jetzt, Jahre nach deinem Ableben, ohne dich, fühlt sich nach wie vor wenig normal an. Wir waren 15. Der Aufbruch des Lebens startete und plötzlich stirbst du einfach. In diesem Augenblick ließ ich von der Jugend ab und rutschte wie ein fetter Erwachsener, die Badehose in die Arschritze geklemmt, an der Kindheit vorbei.

Ich habe wieder neue Kollegen. Ein paar von ihnen habe ich von dir erzählt. Du liegst mir eben auf der Zunge und dein Name auf meinem linken Unterarm ist auch noch da. Meistens geht es um die Zeit ohne dich und nicht um das, was du erlebt hast. Meist schauen mich die Menschen, denen ich von meinem toten Zwillingsbruder erzähle, betroffen an, werden still oder sagen sowas wie: jeder hat sein Packerl zu tragen. Ja das stimmt, jeder hat seine Geschichte, sag ich dann. Ich werde schweigsamer, was dich betrifft. Gebe weniger von dir preis, dadurch weniger von mir. In der alten Firma war ich irgendwann sehr offen zu einigen Menschen. Hatte aber bald das Gefühl, dass sie nichts verstanden von dem, was ich sagte. Ich setze mich lieber hin und schreibe ein verdammtes Buch, auf das jeder Zugriff hat. Über alles zu schreiben ist mir während des Schreibens nicht peinlich. Aber danach, wenn ich es lese, frage ich mich, ob ich dir gerecht geworden bin. Meine Gedanken sind schwer, bis jemand wie H., mein Sitznachbar in der Literatur-Akademie sagt: „Wie geil ist es jung zu sein.“ Er gehört zu den ältesten in der Runde, ist introvertiert und überraschte mich mit einem Instagram-Video, in dem Jugendliche wie aufgedreht zu Techno-Musik tanzen. H. wiederholt den Satz und ich sage, ja, du hast recht. Ich denke an all die jungen Menschen, die so missverstanden werden von Leuten wie mir, die vergessen haben, wie es ist, einfach nur jung zu sein, geil zu sein auf Spaß und das Leben.

Fortgehen ist für mich ein Graus geworden. Nach der ersten Weihnachtsfeier mit meinen neuen Kollegen war wieder so ein Abend. Anscheinend bin ich einer von den Typen, die man nach dem Essen fix mit einrechnet. Ab dem zweiten Bier geht’s, obwohl ich kaum noch Bier trinke, weil es mich aufbläht und mir am nächsten Tag davon übel wird. Die Zeiten, in denen ich stolz mit den besten Trinkern mitgehalten habe, sind vorüber. Ich muss mich zwingen nicht um 20 Uhr einen lautlosen Abgang anzutreten und rutsche mit den Leuten mit. Zugegeben, es war ganz lustig, bis dann wieder dieses Lied einsetzt. Mit dieser Melodie endet etwas von dem, was ich gerade bin. Sofort bin ich in der Jugend. In der Zeit, die ich großteils ohne dich verbracht habe. Mit 15 wuchs in uns eine Hoffnung, die uns verhieß, dass es nun endlich losgehen wird, dass sich endlich etwas anbahnt. Und dann bist du weg, einfach so. Verdammt nochmal, wo befindet sich meine Seele, während mein Körper übertrieben und tollpatschig auf der Tanzfläche dazu tanzt. Bei deinem Begräbnis hat G. den CD-Player bedient, die Techno-Musik abgespielt, und genau dieses Lied war eines davon. Bei Gigi D’Agostino hat er so viel geweint, und alle meinten später, dass er das großartig gemacht hat. Ich habe keine Träne vergossen bis wir, die Familie, dein Begräbnis als erster verlassen haben. Dieses Lied wird heute noch todsicher immer gespielt, wenn ich in einer Disko wie dieser lande.

Unsere Erwartungshaltung an die bescheuerten Tage waren niedrig, aber mit dem Einbruch der Nacht und den Techno-Sounds, die wir in unserem Zimmer abspielten, wummerte die Fassade der Ödnis von uns ab. Obwohl du wegen deiner Erkrankung keinen Alkohol trinken sollst, hast du das Fortgehen geliebt. Unsere Eltern meinten, ich muss auf dich aufpassen, das hat unsere Mutter auch zu G. gesagt, weil ihr beiden bald nur noch zu zweit unterwegs wart. Ich bin mir sicher, dass er das gut gemacht hat, weil er dasselbe wollte wie du, jung sein. Tanzen und trinken ohne Rücksicht auf Verluste. Unsere ersten Erfahrungen haben wir im Wohnzimmer gemacht. Gerade einmal 14 Jahre waren wir, als wir gemeinsam mit Leuten von unserer Klasse herausfinden wollten, ob das auch stimmt, was man sich erzählt. Der Kellner hat wirklich nicht nach unseren Ausweisen gefragt und uns unsere ersten Getränke in einem Lokal serviert. Wir tranken Flügerl, die einfach nur süß waren und dachten, das ist es also. Immer öfter schafften wir es an Alkopops wie Eristoff Ice zu kommen. Bald auch zu den stärkeren Eristoff Black oder Red. Wir haben uns gestylt um gemeinsam im Hof oder im Park mit unseren Schulkollegen zu trinken. Gel in die Haare geschmiert, die Spitzen aufgestellt. Du hast sogar deine Vordersträhnen blondiert und G. hat einen draufgesetzt, indem er sich einen Kranz machte und spitz aufstellte. Wenn er sie nicht hochgelte, sah er wie ein Streifenhörnchen aus. Bald erfuhren wir vom Eastside in der Stadt. Du hast zu mir gesagt, sag einfach, dass du 1985 geboren bist, dann geht das schon. Ich hatte irrsinnige Angst, dass ich der einzige bin, der nicht reinkommt, weil ich so jung aussah und keine Strähnen hatte. Aber alles war, wie du prophezeit hast. Eigentlich waren wir ziemliche Proleten, eben Jugendliche unserer Gegend, wir trugen, was angesagt war. Smog- und Fishbone-Kleidung, eine Eastpak-Gürteltasche. Ziemlich heftig aus heutiger Sicht, aber wir hatten Spaß. Man wird dem, was man gut findet, ähnlich, es ist eine aufregende Zeit, man strebt nach vorne, aber nicht zu sehr, weil man im Augenblick leben möchte. Ich habe mich unwohl gefühlt, und du hast dein Element gefunden. Ein paar Mal hattest du noch die Gelegenheit, Party zu machen, meist mit G., weniger mit mir. Ich war dir irgendwie hinterher, obwohl ich vier Minuten älter bin als du. Im Bett, in unserem Zimmer, hast du mir erzählt, wie es ist ein Mädchen zu küssen, es zwischen den Beinen zu berühren und ich konnte nicht fassen, dass du das alles weißt. Ich war so weit weg davon und du schon so mittendrin.

Jetzt kann ich von meinem ersten Zungenkuss erzählen. Er war mit Alice. Sie zog mich aus einer Dorfdiskothek raus. Ich glaube, G. und J. waren dabei und sie hatte noch eine Freundin bei sich. Alice war die Schüchterne und die andere, ich habe ihren Namen vergessen, die Wilde, auf die es J. abgesehen hatte und nichts daraus wurde. Alice hatte ein Piercing zwischen Unterlippe und Kinn, obwohl sie erst 16 war, genauso alt wie ich. Ich weiß noch, wie süß ich sie fand. Sie hatte blonde Haare und lebte in Neuseeland. Sie verbrachte ihre Ferien in Österreich bei ihrer Oma, die sie an diesem Abend auch bald abholen würde, was wohl auch der Grund war, warum sie reagierte und mich aus der Disko zog. Sie reagierte, weil sie spürte, dass ich die Chance nicht erkannte, absolut nicht mit der Gunst des Augenblicks umgehen konnte. Wiedermal spielten sie diesen Gigi D’Agostino und da bin ich einfach nur traurig und böse auf die Welt. Im Freien, in einem dunklen Winkel, waren meine Hände in ihrer Hose, auf ihren Pobacken gelandet und dort vereist. Ihre Haut zu spüren, ihre Zunge in meinem Mund und meine in ihrem, zu fühlen, wie sehr sie es wollte, hat Gigi gekillt. Wir verabredeten uns ein paar Mal zum Kinogehen. Wir waren immer schüchtern, und immer war ich nervös, ob sie auch so schön aussehe, wie ich sie in Erinnerung habe, und ich fragte mich immer, ob wir uns wieder küssen und ob ich sie wieder halten darf. Wenn uns keine Zeit mehr blieb, ihre Oma sie bald abholte, dann fanden wir einen Platz, an dem wir uns küssen und streicheln konnten. Einmal hatte sie eine Freundin mit und ich G. Sie hat überhaupt nicht zu ihm gepasst, wenigstens konnte ich ihm Alice noch einmal zeigen – dass es jemanden gibt, den ich küssen kann. Bald musste sie nach Hause fliegen. Ich habe mich nicht mal ordentlich von ihr verabschiedet. Wir haben uns E-Mails geschrieben, sie hat mir Fotos gesendet. Einmal hat mich sogar ihre große Schwester angerufen, mit der ich mich auf Englisch unterhalten musste. Ich malte mir aus, wie es mit Alice sein kann, dort in Neuseeland, das ist ein gutes Land, das sagen alle. Ein paar Mails später erschien immer öfter ein Junge neben ihr. Er war sportlicher und reifer als ich. Bald ein schwarzweißes Bild mit einem Böhnchen, schlafend in einer Wolke. Ich sagte, ich freue mich für sie, und unser Kontakt endete damit. Wohin hätte es mich im Leben getragen, wäre ich nicht so kaputt gewesen und du da um mir Ratschläge zu geben.

Es gab keine Mädchen mehr, die mich rauszogen, mich auswählten. Die Leichtigkeit wich wie die Aufbruchstimmung. Mein erstes Mal war eine Peinlichkeit, nicht weil ich versagte, sondern weil es sich wie Selbstmissbrauch anfühlte und ich ein paar Scheine auf ein Nachtkästchen legte. Ich sehe sie vor mir, und möchte kein weiteres Wort darüber verlieren. Ich habe an dieser Tür geläutet. Und alles war anders, als ich mir es vorstellte. Ich war 17, und zu jung dafür, hatte aber das Geld parat. Ich wusste nicht, was geschieht, ich zog mit und war schlussendlich froh erfahren zu haben, wie das läuft. Ich hatte keinerlei Anziehung verspürt, es war völlig automatisiert und ich konnte jahrelang nicht den Weg zu einem gesunden körperlichen Austausch finden. Meine Einsamkeit war ab einem gewissen Zeitpunkt von mir gewählt. Ich wollte nichts Schönes erleben, nichts was du nicht auch konntest. Niemand kann verstehen, was Gigi D’Agostino mit mir anrichtet. Wenn man das Lied hört, alle tanzen, alle sind jung, und ich denke an dein Begräbnis und G. Vater hat uns eine schwarze CD gebrannt. Am Cover ist dein Gesicht in blauen Farben. Ich weiß nicht, was er dabei empfand, aber ich habe von Joan Didion Blaue Stunden gelesen, und erkenne die Symbole der Traurigkeit darin. Vielleicht hat er auf ein Gefühl gehört, das du ihm gegeben hast. Ließ sich davon leiten und damit etwas von Bedeutung entstehen. Ich spüre dich auch, und ich glaube, dass es ok ist von dir zu schreiben und auf diese Weise über unser Leben zu berichten. Es ist gut zu wissen, was einen kaputtmacht, welcher Schicksalsschlag einem das Leben erschwert, denke ich.

An einem Tiefpunkt angekommen, habe ich mir fest vorgenommen kein Tastenwichser zu bleiben. Nicht so eine Person, die nur ein fiktives Sexualleben hat, keine echte leidenschaftliche Beziehung kennt. Als ich so einsam war, mich nicht berühren lassen konnte, chattete ich viel und fand unter anderem eine Frau in meinem Alter, die ähnlich veranlagt war wie ich. Wir unterhielten uns nicht über unsere Seelenzustände, wir hatten Cybersex und Telefonsex. Sie hat damit angefangen und wir hatten an freien Tagen mehrmals am Tag etwas gemacht. Wir schickten uns auch obszöne Bilder und Videos. Sie meinte, sie stehe auf Körperflüssigkeiten und vor allem auf Sperma in ihrem Mund, sie wäre ein Succubus, ein weiblicher lüsterner Dämon, der sich einen Mann sucht um alles aus ihm rauszusaugen, ich werde schon sehen. Auf ihren Fotos war ihre Neigung zum Dunklen gut erkennbar, sie gefiel mir sehr gut. Ihre Worte waren bald meine Gedanken. Sie schockierte mich damit, und ich dachte nur, hurra, jetzt gehöre ich endgültig zu den Perversen. Irgendwann werde ich sie besuchen, habe ich gesagt, sie richtig rannehmen. Wir hatten schon einen Tag ausgemacht, sie meinte nur, endlich, sie rasiere sich gleich überall und hat auch schon ihrem homosexuellen Bruder von mir erzählt, der sich für sie freut endlich einen gescheiten Typen kennengelernt zu haben. Ich fühlte mich geschmeichelt, hatte aber bis zur Abfahrt eindeutig zu viel gewichst, so dass ich absolut keine Lust mehr dazu hatte und die Verbindung abbrach. Außerdem wären es mindestens zwei Stunden Fahrt gewesen. Ich wollte kein Tastenwichser sein, aber am schlimmsten war für mich die Realität der Berührung, der ich mich auf keinen Fall aussetzen wollte. Ich habe ihre Nummer blockiert und gelöscht, damit ich nicht auf blöde Gedanke komme. Ich denke heute an sie und finde es schade, dass wir uns nie im echten Leben begegnet sind.
Gestern habe ich am Abend M. einiges erzählt, was sie nicht von mir wusste, weil ich es ihr nicht zumuten wollte, weil ich es mir nicht zumuten wollte. Sie meinte, wir sollten über unser Sexualleben sprechen, da es zurzeit sehr stockt. Schweigsam hörte sie zu, wie ich ihr erzählte, dass ich oft dafür bezahlt habe mit einer Frau zu schlafen, und wenn nicht, ich es nur im Rausch konnte und dann sehr exzessiv. Dass mir alles, was mit Berührung zu tun hat sehr schwer fällt, ich keinen normalen Werdegang, wenn man es so nennen will, durchlaufen bin. Manchmal hatte ich monatelang keine Berührung, frönte einzig der Selbstbefriedigung, bis der Penis zu sehr schmerzte und ich die Abgründe des Internets satt hatte. Jetzt zögere ich weiter zu denken, den alten Tagen und was darin liegt zu folgen. So schlimm es erscheinen mag – oder vielleicht ist es für manche gar nicht so schlimm – ich muss dorthin, sonst verschwindet etwas von mir, was auch dich beheimatet, denn es wäre nie geschehen. Vielleicht verforme ich sogar mein Leben, würde ich alles dem Vergessen hingeben. Auf eine Weise, die dich ungeboren macht. Wenn ich es nicht tue, nicht darüber schreibe, dann bin ich nichts mehr und selbst nicht auf die Welt gekommen. An manchen Tagen ist das eine verlockende Vorstellung, aber was wäre die Konsequenz einer solchen Auslöschung? Dein Tod und deine Erlebnisse wären sinnlos, wie auch meine Scham und ihre urheberische Kraft der Schande. Ich muss weiter vordringen in die Erinnerungen, sonst gäbe es Alice und M. nicht. Das ist meine Identitätsfrage. Wer bin ich? Ein Zwilling? Noch immer? Darf ich leben? Oder bin ich sogar verpflichtet dazu, es so intensiv wie möglich zu gestalten? Aber, ich fühle mich doch am wohlsten, wenn nichts oder wenig geschieht. Dabei kann ich mich auch am besten hinwenden und schreiben. Habe ich ein Loch gestopft, reißt auch schon das nächste auf. Das ist wie mit den Unterhosen und Socken, die werden alle kaputt, ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber die haben früher länger gehalten.

M. und ich finden es beide schön auf der Couch einzuschlafen, während die Sonne durch die halbaufgedrehten Jalousien in die Wohnung strahlt. Meist brauchen wir einen zweiten Versuch um richtig zu liegen. Ihr schmerzt entweder eine Schulter oder das Genick, und ich bin ungelenk und mag es nicht, wenn mir was auf der Hüfte liegt, besonders auf dem rechten Hüftknochen. Wir fühlen uns manchmal alt, obwohl wir erst über 30 sind. Ein Singer-Songwriter-Lied baut eine gefühlvolle Stimmung auf, in der wir halb einschlafen, halb wachen, uns mit den Klängen in einen Frieden fallen lassen können. Meine Hand ist auf ihrem Gesäß oder auf ihrem Bauch, oder unter ihrem Leibchen auf einer Brust. Ich kann sie von der Seite ansehen, wenn ich die Augen aufmache, sehen, wie schön sie ist, oder an ihrem Hals riechen, wie ich es am liebsten tue. Oder einfach in ihre dichten schwarzen Haare sehen, die einem die Luft rauben können, wenn sie über einen baumeln. Ich habe eine halbe Erektion, spüre die Begierde, die mich durchdringt. Denke an unsere Zeit, in der wir jeden Tag nackt aneinander geschmiegt waren, es wie wild trieben, andauernd die schweißgetränkte Bettdecke wechseln mussten. Denke an die Waschmaschine, die Dusche, die Küchenzeile, den Esstisch, den Boden, ihren Ellbogen, ihre Achseln, ihr Geschlecht vor meinem Gesicht und ihren Gesichtsausdruck, wenn ich in ihr war. In diesen Augenblicken habe ich kein Verlangen nach Sex, noch bin ich bedürftig, ich fühle mich ihr ganz hingegeben und ich fühle sie mir hingegeben, aus freien Stücken, auf liebevolle und zärtliche Weise.
Das wollte ich dir erzählen.

 

Mario Schemmerl

 

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13 | Mario Schemmerl

Alles Frisch

Vor wenigen Wochen hast du dabei geholfen die Wände der Wohnung deines Vaters für Nachmieter zu weißeln. In einem der Zimmer hast du ein paar Jahre gewohnt. Eine Spanne wie ein Strich, abgehakt kurz. Während der Ausmalarbeiten hast du ein zwei Sätze darüber gesagt und gleich bemerkt, dass dein Vater keine Erinnerung daran besitzt wie schwer er dir damals dein Leben gemacht hat. Vor einiger Zeit hast du einmal damit angefangen, einfach losgeredet, weil du dir sicher warst, dass es für euch beide wichtig ist. Er sah auf selbstschuldige Weise betroffen aus, sagte nichts und wechselte bald das Thema. Du warst immer nachsichtig mit ihm. Immerhin hat er ein Kind verloren, deinen Zwillingsbruder. Und du wusstest ja auch nicht wie das geht, ohne Zwillingsbruder zu leben. Mit einem Vater in dessen Versteck, in dessen Höhle zu vegetieren, dass weißt du, das hast du gelernt. Mit deinem Auszug stand dein Zimmer für ein paar Jahre beinah ungenützt leer. Seine einzige Funktion war es als eine Art Wäschekammer zu dienen. Von den meisten Dingen hatte er zu wenig, aber zwei aufgeklappte Wäscheständer hatte er. Immer waren sie aufgestellt und immer hängte was auf ihnen. Beim Ausmalen machte ein dunkler Abdruck auf der Wand Probleme. Der Fleck stammt aus dir. Er ist das Werk deiner Einsamkeit. Dein Abdruck liegt wie einer der Schatten von Pompeji im Zimmer. Dort bist du gewesen. An dieser Wand gelehnt, nicht in Pompeji. Dort warst du nie. Das ganze Zeugs was tief in deiner Brust existierte, pulsierte und raus wollte, schlief immer wieder ein, wachte immer wieder auf und endete dann dort an der Wand. Nach dem Auszug hast du lange gelitten ohne zu wissen wie es anders geht als sich dabei wegzusperren. Vater wollte mit der Pension eine Veränderung. Fand sie mit einer neuen, kleineren Wohnung. An seiner Art des Verbergens hat sich nichts geändert. Es ist wie damals, nur ohne diesem Zimmer an dem dein Abdruck klebt.

Gestern. Eine Freundin befindet sich zurzeit in einer Rehabilitationsklinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Es war dir und deiner Freundin wichtig sie zu sehen, mit ihr zu sprechen, ihr zu zeigen, dass sie ein paar Stunden Fahrt wert ist. Am Hinweg, auf der Autobahn, wart ihr plötzlich in den Totenwinkel eines anderen Autos gerutscht um gleich wieder daraus zu entgleiten. Deine Freundin wachte aufgrund des kleinen Lenkmanövers auf. Du hast nur gesagt: ‚Kein Problem. Ich sah das Kommen.‘  Und  ‚Ich werde sehr alt werden. Ich weiß nicht warum, aber das spüre ich schon lange.‘

Du wohnst mit dieser Frau zusammen. Zuhause musst du sie immer wieder darauf hinweisen, sie solle die Kerzen auspusten wenn sie den Raum verlässt. Sie vergisst das oft. Was die beiden Katzen betrifft glaubst du, dass sie euch ansehen als würdet ihr ihnen was bedeuten. Dabei habt ihr sie von ihren Müttern getrennt. Eiskalt sind wir.

Was wird dich begleiten, was wird man vergessen, was macht dich glücklich?

Du weißt gar nicht was du heute tun sollst. Einfach weiter machen, denkst du. Niemand weiß wie das geht. Bis sich die Sache mit dem Glücklich-Sein wieder einstellt. Für einen Moment. Das reicht.

Mit aller Frische denkst du dann, ja so war es.

Abends. Fast in der Badewanne ausgerutscht.

Dein Herz schlägt wie wild.

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Mario Schemmerl

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freiTEXT | Mario Schemmerl

Sehen

Draußen herrscht bestes Spiegelwetter. Entlang des Fugengummis taut Nachtschweiß vor sich hin. Zwei Männer absolvieren die letzten Schritte ihrer morgendlichen Gartenrunde. Vor wenigen Minuten flanierten sie an jener Frau vorüber, die wie gewöhnlich auf der Ablegefläche ihres Rollators sitzend, mehr über die Seerosen sah als in das Wasser hinein. Einer der Männer ist ein Greis, der jüngere befindet sich im Enkelsalter. Wie ihnen das ungleiche Paar aus der Spiegelung der Terassentür näher kommt, blickt der alte Mann im Kreuz. Unterdessen verläuft im Hintergrund das Wetter, die Wiese und der Asphaltweg zu einem Aquarell.

Leicht nervös, aber nicht unbehaglich nervös, gesellt sich eine zweite Welt zu ihnen. Herr Adam kann sich sein Lachen nicht verkneifen, als er sagt: „Du bist alt“. Von Gesicht zu Gesicht, gleich einem Stein über Wasser, gleitet sein Blick über die Spiegelfläche. Augenblicklich fühlt Herr Adam wie es ist nach dem tauglichsten Stein zu suchen. Horcht in das Knirschen hinein, das es beim Wühlen nach einem würdigen Wurfgeschoß macht. Für einen Moment gelingt es ihm, die Knabengefühle zu halten. Der Name des Sees bleibt ein Geist, aber den schwingenden Wurf empfindet er vom Becken bis zum Zeigefinger. Ein paar beruhigende Sprünge bleibt der Stein über Wasser.

Mit der empörenden Botschaft, er, Herr Adam, sei der alte Mann, trifft ihn ein entsetzlicher Schlag. Er starrt auf die direkt vor ihm stehenden Person, die er noch nie zuvor gesehen hat. Der weißhaarige Greis ist ein Unbekannter, ein zwischen den Spiegeln Geborener. Kurz flammt eine ihm die Wangen errötende Wut auf. Doch auch sie zerbröckelt und geht im Vergessen unter. Seine Gegenwart schirmt sich in einem ihm bleibenden Kern ab und legt die Orientierung in Trümmer. Um Selbstsicherheit bemüht, hebt er sein Kinn. Instinktiv hantelt er mit der abrupten Anmeldung von Gebrechlichkeit nach Halt und findet eine junge Hand. Die Beziehung zu diesem Burschen kann er nicht zuordnen, doch die Gewissheit, die nächsten Schritte nicht alleine suchen zu müssen, erleichtert die Lage.

Die Spiegelung zeigt ein heilloses Durcheinander. Schnaufend reißt er die Augen auf. Die Erinnerung an den Spaziergang treiben wie Wellen, die ein hüpfender Stein hinterließ, auseinander. Herr Adam drückt an die Scheibe und verliert sich in der Maske des Unbekannten. Mit verblüffender Geschwindigkeit, wie die Fingertapser, die die Reinigungsdame mit Fensterputzmittel verschwinden lassen wird, verschwindet auch Herr Adam immer mehr aus dem Garten. Verlustig geworden, fährt er sich über das Gesicht bis ins schüttere Haar hinauf. Auf der anderen Seite der Tür offenbart sich ihm ein bekannt anmutender Fleck. Jemand stellt einen Saft, blasser als seine Wangen, auf den Tisch ab. Rückt einen Sessel hinaus und deutet darauf. Der junge Mann führt ihn bis zu diesem Platz. Herr Adam beginnt sich zu setzen.

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Mario Schemmerl

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