6 | blumenleere

in memoriam auf repeat

jahr fuer jahr ruecken wir ihm ferner
jenem griswald-weihnachts-slapstick-
horror den wir einst ja als blaupause
unserer eigenen festtage betrachteten
unsere winterbaeuche zum erbrechen
mit plaetzchen gefuellt quasi auf hold
sozusagen abruf erwarteten wir dann
die action den trubel eines aufgeregt
irren familienfestes voller ereignisse
bis in die knochen rein tragikomisch
genug irritationen um uns nachhaltig
stoff fuer gespraeche & alptraeume
zu bescheren nun ein sehr sonderbar
anmutendes relikt aus einer fremden
aera weil wenn wir jetzt vernetzter
feiern konzentrieren wir uns gleich
von anfang an aufs kommunizieren
eines sorgsam aufgearbeiteten plots
mit snapshots & comments garniert
unsre faden existenzen meliorierend
statt uns hilflos & ziemlich isoliert
kategorischer auf uns allein gestellt
dem monstrum perfider traditionen
ausgeliefert zu sehen & es dennoch
letzten endes heldenhaft zu besiegen
da uns was andres nicht uebrig blieb

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blumenleere

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4 | Yvonne Koval

winterschlaf

heute geht's mir nicht so gut
die nabelschnur zieht an mir
zieht mich runter, macht mich
rund & unerträglich, ewig
bis der winter vorrüber

also sag wenn du alleine
wenn du unter menschen
punsch & geschenke
& spaß haben willst

dann können wir mich einpacken
mir ein kleines nest bauen
wo ich winterschlaf halte
während deiner freude
& drei jahreszeiten lang

so warte ich, & kann die zeit
an zwei händen abzählen
bis du zurückkehrst
& mich auspackst
als ob ich zerbrechlich
& all das da drinnen

nach einem winterschlaf
das sagt die forschung
geht es tieren gar nicht gut
ihre hirnaktivität
sei dann gleichsam der
nach tagelangem schlafentzug
(ich hoffe, es geht schnell zum schluss)

nur dazwischen ganz unscheinbar ein widerspruch
mein winterschlaf : ein schlafentzug
(ich dachte, eines folgt dem anderen)
hauptsache ist wohl, dir geht's gut

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Yvonne Koval

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2 | Georg Großmann

Mühlviertler Nacht

ich befinde mich in den
gestapelten, fest
verzahnten
polyedern, bin
im haus, draußen;
der dreikant-hof, huf-
schläge, leere, die weite,
der wald, der den hof nachts
belauert

drinnen; das wasser, der
saugmund der
abwasch, das
spülkasten-rauschen

draußen; das gluckern der jauche
im hochbehälter, die sprache des blasenschlagenden
dunkels

draußen läuft mein drinnen
mein kochwasser
mein zahnpastaschaum
meine ausscheidung in
den gärenden teich
während sich jemand daneben
versteckt hält und atmet und
hört und weiß, dass ich
da bin, im haus und mich sieht
in den fenstern
und lächelt

und hechelt
und herschleicht
und blicke von draußen
nach drinnen wirft
aus dem weiten
dunkel heraus in die aus-
geleuchteten polyeder

auf mein bildschirm-
beflimmertes
gesicht

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Georg Großmann

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freiVERS | Chris Lauer

Paternoster

Glück im Unglück,
Wenn nur der Vater
Und nicht die Mutter,
Sagt sie
Und zieht
Das Ginstergelb fest,
Das vorhin im Briefkasten lag.
Doppelt kann man sie binden
Um den Mädchenarm,
Fast dreifach
Am Ende von allem,
Die Horizontebene,
Die sie teilt

In Himmel und Erde
In Himmel und Erde.

Dein Reich komme.

Sie kocht und wäscht
Für ihre Geschwister;
Das Kleinste schieben sie und ihr Bruder
Wie Jungelterngewordene
In einem Holzwägelchen
Vor sich her.

Es schreit nie.

Manchmal denkt sie Unerhörtes,
An Opulenz, im Einschlagpapier eingewickelt:
Eine Vollkornstulle mit Butter,
Und ihr Mund wundet
Von den ausgespuckten Aprikosenenkernen,
Die sie aufsammelt, wenn niemand hinsieht:

Wie Taler blinken sie zu ihr herauf,
Wie braune Paukanten,
Die mit ihrem eingeritztem Spalt
Zeigen wollen,
Dass sie, ganz anders als Frauen,

Keine Schönheit brauchen; dass man sie
Ja nicht mit Frauen verwechseln sollte,
Dass sie sich vielleicht auch wünschen,
Frauen zu sein, weil sie denken,
Als Frau müsse man, ja ja, gespalten sein.

Sie überkaut die Ahnung von Sommer,
Während sie unweit
Das Blechern von Medaillen hört:
Ein Windspielstapeln,
Das schon an der nächsten Straßenecke
Einknickt.

Für Nelly Kerngut

 

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Chris Lauer

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freiVERS | Samuel Kramer

Ein Vakuum ist unveränderlich ein Vakuum,
es sei denn, es würden Zugänge geschaffen.
Das Gedicht (d. i. das Vakuum) kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, es vor Publikum wiederzugeben,
würde daraus die Zerstörung des Publikums resultieren.

Das Gedicht kann nicht vor Publikum wiedergegeben werden.
Wäre es möglich, wäre das Gedicht nicht entstanden.
Wenn es möglich wird, wird das Gedicht unmöglich.

Ich wünsche mir die Zerstörung des Publikums.
Zerteilt, ionisiert, verstreut, auf der Suche nach Notausgängen
bildeten sich heilsame Verweise und Klumpen kohäsiver Expertise.

Das Gedicht kann, nachher, nicht vom Publikum wiedergegeben werden.

Wäre das Publikum möglich, würde daraus ein Gedicht resultieren.
Bitte greifen Sie bei Druckabfall nach der Luft. Halten Sie mich nicht
auf. Und bleiben Sie unter keinen Umständen ruhig.

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Samuel Kramer

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freiVERS | Enno Ahrens

Erdig

vom Angsthasenpfad
durchs Tal der Erlkönige
ins lichte Leben erscheint mir
alles im Blick meine
Füße so käseschmelzig wie
der Leib eines Neugeborenen

die Nase noch verpfropft rieche
ich mich selbst an kalter Quelle
eine Gehirnwäsche
wandle nun auf
ausgelatschten Wegen

Das Brenneisen der Zeit
prägt mir seinen Stempel
durch die Haut

Mein Erkundungsflugzeug
steht im Hangar eingemottet
Die Atmosphäre ist so verletzbar
geworden wie meine Haut
ein allergisches Schlachtfeld

Ich schreite zu Fuß die Fronten ab
versteckt hinter einer Schuldzuschiebemaske
und mit Moralabwehrgranate gewappnet

Mein Körper ist Lebewesen
zwischen Leben gewesen
wiederholt geraten
zwischen Panzerhaubitzen
und Atomwaffenbedrohung

will er ein Gemütskaninchen sein
nur noch Geist
Unverletzlichkeit der
Körperlosen

bis in alle Ewigkeit
tugendhaft in Tugendhaft
fraglos

in ungezählten Himmeln
steht die Zeit Kopf

 

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Enno Ahrens

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freiVERS | Jonah Rausch

volt

klick.

und mein körper auf hochspannung
da tropft strom von nabel zu finger zu herz
fließt durch die venen, pocht durch die haut
habe kabelenden, die keine anfänge finden
nur lücken.
von kabel zu stecker zu körper
reizstromhaut, ein druck der
narben hinterlässt und verbrennungen
und mein körper auf hochspannung
die energie zirkuliert kann mich jemand ausschalten
und jederzeit die kurzschlussreaktion

klick.

ich spüre energie hinter meiner stirn
so viel volt das die glieder schmerzen
wenn du versuchst dich aufzuladen
wenn du mich berührst
sei bereit zu explodieren

klick.

wie es pocht, wie alles in mir pocht
stromschlag
ich überhitze
alle kabel brennen
auch, wenn jetzt licht angeht
ich sehe mich nicht
auch wenn alles heller wird
ich sehe mich nicht

 

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Jonah Rausch

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freiVERS | Lilli Gebhard

ein neuer morgen
und ich suche den horizont
mit meinen augen ab
ob da menschen kämen
und backe brot
und kaufe salz

und denke an die vielen
geschichten die ich
gelesen habe und gehört
von den fluchten

und denke:
das ist mein erbe
das ich verwalte
ein heimatloses herz
und die kunst
heimat zu schaffen
wo ich will

im herzschlag europas:
dass wir heimat schaffen
bauen und teilen miteinander
und brot backen
und salz kaufen
und eine decke anbieten

und endlich endlich die
argumentationsmuster
der macht
durchschauen
und zerschlagen

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Lilli Gebhard

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erschienen in: Lilli Gebhard: Wie Schatten werden. Manuela Kinzel Verlag 2021.

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freiVERS | Jutta Schüttelhöfer

Herr Gräber

es riecht muffig, abgestanden
frische Luft – kein Gegner für
diesen Dunst das Zimmer darin
eingehüllt wie in einen alten
Mantel gekleidet ihn stört es nicht

er bemerkt es wohl nicht einmal
um ihn herum passiert der Alltag
Jalousien hoch Fenster geöffnet
Frühstück gebracht die Tür geöffnet
die Tür geschlossen er reagiert nicht

„Herr Gräber…“

wie Regentropfen an einer Scheibe
perlen die Buchstaben an ihm herab
die Augen stumpf zwei Fenster in
sein leeres Inneres sein Körper ein
beinahe verlassenes Gebäude

„Ich soll Sie von Rosalie grüßen!“
Rosalie!

hinter den Fenstern taucht seine Seele
auf der Blick flackert ein feiner
Schimmer darin eine einsame Träne
löst sich, rollt hinab über die runzelige
Pergamenthaut tropft lautlos zu Boden
„Rosalie“, flüstert er mit krächzender Stimme

Nie
habe ich mehr Liebe in einem
einzigen Wort gehört!

 

 

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Jutta Schüttelhöfer

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freiVERS | Katja Schraml

kRummer

wir wachsen
<dickschädel>
(wenn) über_haupt
auf schmalem stamm gen sonnenaufgang
+ beugen <leugnen> uns nicht
in uns ist die neigung
zum hang angelegt

 

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Katja Schraml

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