freiTEXT | Carolin Wiechert

Projektionen

*

Ich bin ewig nicht mehr in dieser Gegend gewesen.

Langsam rolle ich mit dem Fahrrad die Straße entlang und betrachte die Umgebung. An einigen Stellen stehen neue Häuser, an anderen Stellen sind Lücken entstanden, die darauf warten, mit neuen Häusern gefüllt zu werden. Bäume, die ich zum letzten Mal als kleine Winzlinge gesehen habe, überragen mittlerweile die Dächer.

Der Spielplatz auf dem wir früher unsere Freistunden verbracht haben, hat neue Spielgeräte, die die alten ersetzt haben. Das Karussell auf dem wir immer saßen, hat einem Fußballtor Platz gemacht. Einige Kinder wuseln kreischend und lachend über den Platz, um den Ball zu ergattern.

Es ist komisch, diese Mischung aus Vertrautem und Fremdem zu spüren. Ich hatte damit gerechnet, dass ich in den letzten zehn Jahren mehr Distanz zwischen diese Stadt und mich gebracht hätte. Schon als ich hier noch gelebt habe, hatte ich immer irgendwie das Gefühl, von diesem Ort entfernt zu sein und nicht richtig hier reinzupassen. Es war kein markantes Gefühl, es war mehr wie ein Haar auf der Wange, das sich nicht wegwischen ließ, egal wie viel ich daran gerieben habe. Ich war nicht auffällig, ich bin mit meinem Anderssein nicht hervorgestochen, ich habe mich gut angepasst. Ich wusste nur, dass ich hier nicht für immer bleiben würde und dass ich nach meinem Ort noch suchen musste.

Ich lächle, als das Schulgebäude vor mir auftaucht. Es ist Mitte Mai, die längsten Tage des Jahres lassen noch auf sich warten und die Sonne sitzt gerade auf dem Dach der Sporthalle. Ich erinnere mich, wie wir zusammen entdeckt haben, dass sich die Sonne zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Sporthalle ausruht und das Licht in einer merkwürdigen Art fächert, die ich sonst noch nie gesehen hatte. Es war ein Abend in der zwölften Klasse. Tobias, Lena und ich haben uns nach einer Schulveranstaltung verquatscht und standen bei den Fahrradständern. Wir hatten damals viele dieser Abende, die plötzlich länger wurden, als es beabsichtigt war, weil wir das Zusammensein genossen haben.

Seit dem Ende der Schulzeit haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich glaube nicht, dass das absichtlich passiert ist, sondern dass wir einfach auseinandergedriftet sind. Ich war erst für ein Jahr im Ausland, danach bin ich nach Hamburg gezogen, um zu studieren. Mir war nicht klar, dass ich so schlecht darin bin, den Kontakt zu halten. Lena hat sich einige Male gemeldet, mir E-Mails geschrieben, auf die ich immer antworten wollte, es dann aufgeschoben habe, bis es irgendwann zu spät war. An Tobias habe ich manchmal gedacht, ein kurzer Anflug des Gedankens, dass ich ihn anrufen könnte oder ihm schreiben, der dann schnell wieder weg war.

Ich weiß nicht, ob die beiden heute auch da sein werden.

Es ist das erste Jahrgangstreffen nach zehn Jahren. Ich weiß noch, dass wir uns damals darüber lustig gemacht haben und dass wir niemals zu so einem Treffen gehen würden. Ich hätte nicht gedacht, dass es die einzige Möglichkeit werden würde, um die beiden wiederzusehen.

Irgendwann fühlt es sich nicht mehr angemessen an, sich bei jemandem zu melden, wenn zu viel Zeit vergangen ist.

Ich stelle das Fahrrad in den Fahrradständer, an dieselbe Stelle, an die ich es früher immer gestellt habe. ‚Fremde Vertrautheit‘, denke ich, während ich auf den Eingang zugehe. Jahrelang hatte der Anblick des fünfstöckigen Gebäudes Zeit, sich in mein Gedächtnis einzubrennen und auch jetzt sind die Veränderungen nicht markant genug, um die Vertrautheit auszulöschen.

Ich habe das Gefühl, in einen Pool von Erinnerungen geworfen zu werden, ohne eine Konkrete greifen zu können. Sie prasseln in Bildern und Gefühlen auf mich ein.

Langsam trete ich durch den Haupteingang und sehe die Erinnerungen an Wänden und Lampen hängen, an den Treppen, den Türen. Sie stehen in der Luft und wispern leise, durchwoben mit Lachen und Wut.

Ich bin alleine in der Eingangshalle. Aus der Aula, die zur linken Seite abgeht, kann ich Musik und Stimmen hören. Ich bleibe kurz stehen und blicke mich um. Greife willkürlich eine von den Erinnerungen, sehe Tobias, Lena und mich in meinen Händen liegen. Ich drehe uns, um uns von allen Seiten zu betrachten, uns zuzuhören, wie wir über die gerade geschriebene Physikklausur reden. Wie Tobias unsere Antworten nicht glauben will, weil sie sich nicht mit seinen decken. Wie er anfängt zu überschlagen, wie viele Punkte er erreicht haben könnte und ob er vielleicht doch bestanden hat.

Leicht stoße ich die anderen Erinnerungen mit den Fingerspitzen an, bringe sie zum Schwingen, lasse mich kurz in diesem Gefühl treiben, bevor ich durch die Tür in die Aula trete.

*

Ich stehe in der offenen Tür zu dem Klassenzimmer, in dem wir früher Deutschunterricht hatten. Der Raum ist dunkel, die Musik aus der Aula ist nur schwach zu hören. Lena sitzt auf der Fensterbank, lehnt die Stirn gegen die Fensterscheibe und streicht mit dem Daumen über die Bierflasche. Sie hat mich bis jetzt noch nicht bemerkt und ich betrachte sie einige Augenblicke. Zumindest äußerlich hat sie sich nicht viel verändert. Auf den ersten Blick. Ich stelle mir vor, wie sie an die vielen Stunden denkt, die wir in diesem Klassenzimmer verbracht haben und wie gut sich das angefühlt hat.

Ich räuspere mich. „Hey.“

Lena blickt in meine Richtung. „Hi.“

„Du bist schnell verschwunden.“ Ich trete langsam in den Raum und setze mich an einen der Tische am Fenster. Wir haben damals immer in der ersten Reihe gesessen, aber direkt an der Tür.

„Es hat mich nicht richtig interessiert, was alle von ihren Leben erzählt haben. War irgendwie alles dasselbe.“ Sie zuckt mit den Schultern.

„Du hättest dich mit mir und Tobias unterhalten können.“ Lena hat sich schon damals nicht besonders für unsere Klassenkameraden und Klassenkameradinnen interessiert. Sie waren ihr zu oberflächlich, zu langweilig, zu berechenbar.

„Ich habe auf euch gewartet und dann wusste ich nicht, wie ich das Gespräch anfangen soll.“ Sie grinst leicht.

„Also flüchten?“, sage ich und ziehe mit den Füßen einen zweiten Stuhl heran, um meine Beine darauf zu legen.

Auf dem Flur geht Licht an und wir schweigen beide. Die Schritte bleiben vor der Tür stehen. Im Gegenlicht steht Tobias und blickt uns an. „War klar, dass ich euch hier finde.“ Er betritt den Raum, schließt die Tür hinter sich und setzt sich zwei Stühle neben mich, auf den Platz, an dem er früher saß. Sein Blick wandert die Wände entlang und bleibt an der Tafel hängen, die nicht gereinigt wurde. Matrizen ziehen sich über die gesamte Fläche. Ich erinnere mich wie mein Mathelehrer damals kreideverschmiert die Zahlen auf die Tafel gesetzt hat.

Die Stille hängt schwer zwischen uns. Etwas, das wir früher nie hatten. Früher war es leichter, diese Lücken zu füllen, früher gab es immer etwas zum Austauschen.

„Ihr seid schnell verschwunden“, sagt Tobias schließlich.

„Lena ist geflüchtet.“

Er grinst.

Ich warte darauf, dass irgendjemand von uns eine Erinnerung von früher heraus kramt, wir darüber lachen und sich die Situation entspannt. Vielleicht ist es schwieriger Worte bei Menschen zu finden, die man zu einem Punkt im Leben sehr gut gekannt hat. Man glaubt, sie immer noch zu kennen, aber ist sich nicht sicher, welche Worte noch Waffen sind oder welche zu Waffen geworden sind. Man glaubt, die Menschen bedeuten einem immer noch was und möchte keine Wunden schlagen. Vielleicht ist es darum mit fremden Menschen einfacher.

„Ich hätte damals nicht gedacht, dass sich unsere Freundschaft so schnell verläuft“, sagt Lena leise. Sie stellt die leere Bierflasche neben sich auf die Fensterbank und blickt auf ihre Hände. „Nachdem Charlotte nach Amerika geflogen ist, habe ich nichts mehr von euch gehört und jetzt sitzen wir hier, als ob das in Ordnung wäre.“

Ich beiße mir auf die Lippen und weiß nicht, was ich sagen soll. Meine Erklärungen würden wie lahme Ausreden klingen, die Lena nicht gelten lassen würde. Zu Recht.

„Ich hatte nicht das Gefühl, als ob sie aufrecht erhalten werden sollte. Viele Freundschaften hängen doch sowieso von einer bestimmten Grundlage ab. Unsere war die Schule, die Schule war vorbei, also gab es keinen Grund mehr“, sagt Tobias nüchtern.

Lena sieht ihn fassungslos an und ich greife ein, bevor die Situation eskaliert.

„Was machst du jetzt eigentlich?“, frage ich Tobias. Wir hatten vorhin noch nicht Gelegenheit miteinander zu reden.

„Ich habe letztes Jahr mein eigenes Unternehmen gegründet. Davor habe ich als Abteilungsleiter gearbeitet, habe dann aber gemerkt, dass ich mehr will, wusste aber nicht genau was. Also bin ich erst mal für ein Jahr um die Welt gereist, um herauszufinden, was das ist.“

„Klingt ein wenig wie aus einem Katalog“, sagt Lena mit leisem Spott in der Stimme. „Wie eine der Geschichten, die ich von fast jedem hier hören kann.“

„Es macht mir Spaß und ich bin gut darin.“ Tobias verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich kann nichts dafür, wenn andere dieselben Sachen machen.“

Lena zuckt abwertend die Schultern. „Es ist trotzdem untypisch für dich.“

Es liegt wieder eine Schwere in dem Schweigen, die Sekunden springen zäh von einer zur nächsten.

„Wer entscheidet denn, was ein typisches Verhalten für mich ist? Ich meine, wir haben uns seit zehn Jahren nicht gesehen.“

Lena blickt ihn an. „Ich kenne dich, ich weiß, dass du nicht so bist.“

„Dass ich wie nicht bin?“

„Oberflächlich.“

Tobias seufzt und schüttelt leicht den Kopf. Dann lässt er die Schultern sinken. „Weißt du, ich habe erwartet, dass du genauso reagierst, weil das nämlich dein typisches Verhalten ist. Schon immer. Ich hatte trotzdem gehofft, dass es anders sein würde.“

Er wartet nicht auf eine Erwiderung. Die Tür fällt leise hinter ihm ins Schloss und ich kann hören, wie die Schritte langsam im Flur verklingen.

Die Stille hängt im Raum wie aufgewirbelter Staub.

Schließlich räuspert Lena sich. „Ich hatte erwartet, dass es wieder wie früher ist, wenn wir uns wiedersehen. Dass es nur ein Fehler war, dass wir uns so lange nicht gesehen haben und dass, wenn wir uns treffen, alles wieder in die richtigen Bahnen springt. Dass es irgendwie wieder Sinn ergibt.“

Ich blicke Lena nicht an, aber ich kann den Schmerz in ihren Worten hören. Und die Dramatik.

„Du denkst bestimmt wieder, dass ich dramatisch bin.“ Sie wischt sich mit der Hand über die Augen. „Es ist nicht so, dass ich die letzten Jahre hier saß und auf euch gewartet habe. Ich habe neue Freundschaften geschlossen, ich habe mit meinem Leben weitergemacht und es ist okay.“ Sie legt die Hände in den Schoß. „Es ist nur so, dass diese eine Sache fehlt. Dieses Gefühl, das ich damals mit euch beiden hatte.“ Sie schweigt wieder. Ich glaube, dass die Worte schon gut sortiert sind, dass sie sie schon viele Male durchdacht hat, dass sie aber nie ausgesprochen wurden und dass Lena Angst vor ihrem Klang hat. „Wirkliche Zugehörigkeit. So sein zu können, wie ich bin und Menschen um mich zu haben, die mich genauso nehmen. Bei den Menschen, die mich jetzt umgeben, habe ich immer das Gefühl, mich anzupassen und eine Rolle zu spielen.“

Sie nimmt die Bierflasche wieder in die Hand und spielt an dem Etikett.

„Weißt du noch, wie wir früher fast jeden Tag miteinander verbracht haben? Wie wir einfach nur zusammen waren, ohne einen großen Plan zu haben?“

Ich nicke und denke an die vielen Abende, die wir einfach nur in dem Dachbodenzimmer von Lenas Bruder saßen und Musik gehört haben.

„Wenn ich mich jetzt mit Freunden und Freundinnen treffe, dann muss es immer irgendeinen Zweck haben: Essen gehen, Theater, Poetry-Slam. Wir sehen uns vielleicht einmal die Woche, weil alle so beschäftigt sind, ihr Leben richtig zu leben, alles in die richtigen Bahnen zu lenken, um glücklich zu sein. Sie arbeiten viel, weil das erwartet wird. Sie gehen in ihrem Job auf und haben noch Projekte nebenher, um sich selbst zu verwirklichen. Sie sparen, um sich ein Haus kaufen und später eine Familie gründen zu können, sie achten auf ihre Ernährung, sie arbeiten an ihren Beziehungen. Alles ist so gut durchdacht. Alles ist so, wie die Gesellschaft es vorschreibt.“

„Alles ist so oberflächlich?“, grinse ich sie an. Lena hat Oberflächlichkeit immer gehasst, weil sie glaubt, dass Menschen zu feige sind, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Lena nickt. „Manchmal habe ich es satt, über dieses Zeug zu reden. Ich frage mich, ob Menschen ab einem gewissen Alter noch dazu fähig sind, Tiefe zu besitzen oder ob sie so fokussiert auf diese anderen Sachen sind, dass einfach kein Platz für mehr ist. Vielleicht sind sie einfach zu festgefahren in ihren Leben.“

„Vielleicht ist da aber auch Tiefe und sie haben zu viel Angst, verletzt zu werden und lassen darum niemanden an sich heran. Vielleicht haben sie zu viel erlebt, vielleicht haben sie zu viele Wunden.“

„Ja, vielleicht.“ Lena schweigt einen Moment. „Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht habe, aber ich bin mir nicht sicher, ob da einfach nicht mehr ist oder ob die Mauern zu dick sind.“

Sie hat die Flasche wieder abgestellt und reibt jetzt mit dem Daumen über die Fensterscheiben. „Ich war irgendwann mal so genervt davon, dass meine Freundschaften alle so oberflächlich sind, dass ich bei einer meiner Freundinnen mein Herz ausgeschüttet und ihr alles erzählt habe, was mir so durch den Kopf geht, von meinen Träumen, von meinen Schmerzen. Ich habe angenommen, dass die Oberflächlichkeit durchbrochen werden kann, wenn eine den ersten Schritt macht. Dass, wenn ich mich öffne, sie sieht, dass sie sich auch öffnen kann.“

Ich grinse. „Das hat vermutlich gut geklappt?“

Lena muss ebenfalls grinsen und zieht die Beine auf die Fensterbank. „Danach ist sie auf Distanz gegangen. Irgendwann war sie ganz verschwunden. Als ob sie sich langsam zum Notausgang geschlichen hat, um zu türmen, wenn ich nicht hinschaue.“

„Ich glaube, dass Dynamiken von Freundschaften nicht so einfach sind. Ich glaube, dass für jede Beziehung zwischen zwei Menschen andere Regeln gelten und dass diese Regeln im Laufe der Zeit verhandelt werden. Manchmal hast du von Anfang an, das Gefühl, dass alles passt und manchmal auch nach drei Jahren noch nicht. Ich glaube, dass davon abhängig ist, wie viel Tiefe eine Freundschaft bekommen kann. Manche Freundschaften bleiben immer oberflächlich, aber es ist okay, weil es genau das ist, was du von dieser Freundschaft brauchst.“ Ich nehme die Beine wieder von dem Stuhl und setze die Füße nebeneinander auf den Boden. „Und manchmal bekommen Freundschaften, die immer oberflächlich waren eine weitere Ebene, wenn das Leben aus den Fugen gerät, wenn es diesen Moment des Strauchelns gibt.“

„Du hast mir gefehlt,“ sagt Lena leise.

Die Musik hat in den letzten Minuten an Lautstärke gewonnen. Wenn wir aus dem Fenster blicken, können wir sehen, wie das Licht aus der Aula den Innenhof erleuchtet.

„Du hast versprochen, dass du dich meldest, wenn du aus den USA zurück bist.“ Lenas Stimme klingt vorwurfsvoll.

Ich ziehe die Unterlippe zwischen die Zähne. „Ich wollte wirklich, aber da war so viel anderes und die Zeit ist so schnell vergangen. Das Studium hat angefangen, ich musste alles für den Umzug organisieren. Dann war es irgendwann zu spät und ich wusste, dass du sauer sein würdest.“

„Und dann hast du dich gar nicht erst mit mir auseinandergesetzt?“ Lena sieht mich jetzt direkt an.

Ich beiße mir auf die Lippen. „Ich wusste nicht wie.“

„Vielleicht waren wir doch nicht so gute Freunde, wie ich geglaubt habe.“

Ich merke, wie ich langsam genervt werde. „Vielleicht ist es einfach nur nicht möglich dem Bild zu entsprechen, das du von Freundschaft hast.“

Lena blickt mich kurz an, dann wieder auf die Bierflasche und dreht sie in den Händen. „Glaubst du, es ist möglich, Beziehungen wieder hinzubekommen?“, fragt sie nach einer Weile.

Ich schweige einige Momente und denke über ihre Frage nach. „Ich glaube, dass es nicht möglich ist, wiederzubekommen, was wir mal hatten. Wir haben uns beide verändert. Ich glaube, dass die Gefahr besteht, zu erwarten, dass es genauso sein müsste wie früher und dass dadurch das Potential von etwas Neuem kaputt gemacht werden kann.“

„Und was ist, wenn man sich über diese Gefahr im Klaren ist?“

*

Ich sitze vor dem Schulgebäude auf der Steinmauer. Die Nacht ist warm und ich genieße, wie mir der Wind ins Gesicht weht. Es ist ruhig hier. Die Musik wurde vor einiger Zeit ausgestellt, die meisten sind schon nach Hause gegangen. Ab und zu läuft noch jemand an mir vorbei, hebt die Hand zum Abschied und verschwindet dann in Richtung Parkplatz. Der Himmel ist fast klar, vereinzelt kriecht eine Wolke über den glatten Untergrund.

Lena und ich haben noch kurz im Klassenzimmer weitergeredet, bevor sie nach Hause gefahren ist. Ich habe ihr von meinem Leben in Hamburg erzählt, sie hat erzählt. dass sie noch immer im Finanzamt arbeitet, in dem sie damals die Ausbildung gemacht hat. Sie lebt in einer Wohnung in der Innenstadt und hat sich ein Zimmer zum Musik hören eingerichtet, ähnlich wie das von ihrem Bruder damals. Ich denke daran, was sie über Freundschaften gesagt hat. Ich weiß, was sie meint, auch wenn es für mich nicht dieselbe Problematik hat. Vielleicht liegt es daran, dass ich meinen Freundeskreis damals im Studium aufgebaut habe und vielleicht hat sie recht damit, dass die Menschen offener sind, wenn sie jünger sind.

Ich frage mich, ob Lena recht hat und ich mich nicht gemeldet habe, weil ich mich nicht mit ihr auseinandersetzen wollte. Unsere Freundschaft war immer ambivalent. Wir hatten viele leichte Momente, in denen wir gut harmoniert haben, wir hatten aber auch viele Streitigkeiten und Konflikte. Diese Seite hat irgendwann so viel schwerer gewogen, als die guten Zeiten. Sie war so präsent, dass alles andere darunter verschwunden ist.

Als wir uns vorhin unterhalten haben, war da wieder dieses Gefühl auf irgendeine Art miteinander verbunden zu sein und dass das der Grund dafür war, warum wir all diese Konflikte durchgestanden haben. Ich ziehe mein Zopfgummi wieder fest.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Gefühl mit meinen jetzigen Freunden und Freundinnen habe. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Konflikte wir überstehen würden oder ob beim kleinsten Anflug eines Problems, jemand die Flucht ergreifen würde. Wir sind gut darin, solche Situation zu vermeiden. Unsere Diskussionen finden auf einer fairen Ebene statt. Sie sind überlegt und rational. Selbst, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, werden wir nie verletzend. Es ist anders, als das, was Lena mit ihren Freunden und Freundinnen beschrieben hat. Ich habe das Gefühl, dass ich so sein kann, wie ich bin, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich alle Gedanken mit ihnen teilen würde. Trotz allem weiß ich, was sie meint, wenn sie davon spricht. dass sich die Zeit mit mir und Tobias anders angefühlt hat.

Tobias taucht neben mir auf. „Hey.“ Er setzt sich auf die Mauer. „Ich schätze, Lena ist schon gegangen?“

Ich nicke.

Wir sitzen schweigend nebeneinander und starren auf die Bäume, die die Begrenzung zum Parkplatz bilden. Ich frage mich, woran er denkt. Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass ich früher gewusst hätte, was in ihm vorgeht.

„Ich weiß, dass Lena mir das nicht glauben würde, aber ich mag mein Leben so wie es ist.“ Er schiebt sein Smartphone in die Hosentasche. „Ich weiß, dass es nicht das ist, was sie für mich gewollt hat. Sie hat erwartet, dass ich einen anderen Weg gehe. Wir hatten in den letzten Jahren keinen Kontakt, auch wenn sie am Anfang noch E-Mails geschrieben hat, aber ich habe mich nie gemeldet. Ich wusste nicht wie. Ich hatte immer das Gefühl, das ich mich dafür rechtfertigen muss, wie ich bin. Dass ich ihr erklären muss, warum ich nicht ihren Erwartungen entspreche.“

„Ja, ich weiß, was du meinst.“ Als ich damals in die USA gegangen bin, hatte ich das Gefühl, frei von Erwartungen der anderen zu sein, weil mich dort niemand kannte. Zum ersten Mal wurde mir klar, wie sehr mich die Erwartungen limitiert haben, wie sehr sie meine Handlungen beeinflusst haben. Auf der anderen Seite habe ich mich feige gefühlt, weil es sich mit meinem Weggang angefühlt hat, als ob ich einen leichten Ausweg gefunden hatte. Es wäre so viel schwieriger gewesen zu bleiben und mit den ganzen Geräuschen um mich herum herauszufinden, was ich wirklich will.

„Du machst jetzt also das dicke Geld“, grinse ich ihn an.

Er lacht. „Das dauert noch ein bisschen.“ Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und wirft einen Blick darauf. „Ich muss jetzt los. Bis irgendwann.“

Ich blicke Tobias hinterher als er Richtung Parkplatz geht. Ich wünschte, dass ich das Gefühl hätte, dass er sich nur selbst belügt und dass er noch immer die Person ist, die Lena, die ich in ihm gesehen haben. Die Wahrheit ist aber, dass es nicht so ist. Vielleicht war er noch nie diese Person. Vielleicht war er immer anders und wir wollten es nicht sehen, weil es so einfach war, unsere Vorstellungen von ihm auf ihn zu projizieren.

Ich glaube nicht, dass er irgendwann einen Selbstfindungstrip machen muss, ich glaube, dass er sich genau auf dem Weg befindet, auf dem er sein möchte. Ich weiß nicht, ob sein Leben wirklich oberflächlich ist oder ob es nur das ist, was wir gesehen haben. Wie sollte es anders möglich sein, in den fünf Minuten, die wir miteinander gesprochen haben? Vielleicht spielt es auch einfach keine Rolle, weil auch das ein glückliches Leben sein kann. Ohne das Wissen um die Tiefen und die damit verbundenen Untiefen.

Ich lasse mich von der Mauer gleiten und gehe um das Gebäude herum. Auch hier ist wieder diese fremde Vertrautheit. An einigen Stellen fühlt es sich an, als ob ich einen Zeitsprung mache und wieder 18 bin. Ich fühle mich genauso wie zu dem Zeitpunkt einer bestimmten Begebenheit, die Erinnerung ist so nahe an mir dran, als ob sie gerade erst passiert ist.

Lena hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, wieder hierherzuziehen, aber ich weiß, dass das hier kein Platz für mich ist. So wie ich weiß, dass eine andere Stadt nicht der richtige Ort für Lena wäre. Sie braucht die Übersichtlichkeit, sie braucht die Vertrautheit und die Wurzeln zu dem, was sie früher war, um jetzt sein zu können, wer sie ist. Früher hätte ich vielleicht geglaubt, dass das feige ist. Ich habe immer hart über Menschen geurteilt, die in ihrer Heimatstadt geblieben sind. Jetzt weiß ich, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss, welche Umgebung und welches Leben ihm gut tut. Alle Leben haben ihre Vorteile.

Ein Klischee sind wir sowieso alle.

Während ich mein Fahrrad aufschließe, stelle ich mir vor, wie Lena zu Hause sitzt und die Musik laufen lässt, die wir früher zusammen gehört haben, als wir stundenlang vor der Stereoanlage ihres Bruders saßen. Wie sie in den alten Fotos von uns kramt und über die ganzen Erinnerungen lächelt.

Als ich auf mein Fahrrad steige, muss ich an den Songtext von Kettcar denken. ‚Wie die Dinge sich wohl anfühlen, wenn sie denn noch ganz wären‘.

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Carolin Wiechert

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10 | Carolin Wiechert

Nachklang

*

Die meisten Kinder sind mit Märchen großgeworden. Cinderella, Dornröschen und Rumpelstilzchen saßen auf ihren Bettkanten und haben ihre Geschichten in die Köpfe der kleinen Jungen und Mädchen gewoben.

Mein Kindheit war bestimmt von Kurt Cobain, Eddie Vedder und Chris Cornell. Anstatt mir aus Märchenbüchern vorzulesen, saß mein Vater abends an meinem Bett und hat mir die Geschichten der großen Rockmusiker erzählt. Der Start ihrer Karrieren, der Einfluss auf die Menschen und bei einigen auch von ihrem Niedergang. Ich kenne alle Alben von Nirvana, Mother Love Bone, Soundgarden, Pearl Jam, Temple of the Dog. Ich kenne die Geschichten zu den Lieder und die persönlichen Geschichten, die mein Vater mit ihnen verbindet. Wie er meine Mutter auf einem Pearl-Jam-Konzert kennengelernt hat, wie er versucht hat in einem Jahr jeden Auftritt von Soundgarden zu besuchen. Mein Vater liebt die Musik. Er liebt sie in einem Maße, wie ich es bei keinem anderen Menschen erlebt habe.

Vielleicht nicht einmal bei mir selbst.

Die meisten Menschen verstehen mein Verhältnis zur Musik nicht. Sie haben sie irgendwie in ihr Leben eingebaut. Als Begleitung zum Autofahren, als Hintergrundmusik bei der Arbeit. Sie können aber nicht verstehen, wie sehr es schmerzen kann, wenn die Musik nicht da ist, wie sich die Seele zusammenzieht, wenn die Musik zwischen zwei Liedern verstummt. Ich sehe meine Welt immer in Musik, meine Welt besteht immer aus Tönen. Selbst die größten Musikfans, die mir begegnet sind, sind an irgendeinem Punkt ausgestiegen, selbst ihnen war das irgendwann zu viel.

Manchmal kann Musik sehr einsam machen.

*

Die Wohnungstür fällt ins Schloss, ich höre die Schritte, dann steht meine Schwester im Wohnzimmer. Felicia und ich sind zusammengezogen, als sie mit ihrem Studium begonnen hat. Das war ein Jahr nach mir.

„Hey, alles klar?“ Sie streift ihre Tasche ab und wirft sie in die Ecke.

Ich grinse sie an. „Ich habe heute die Zusage bekommen, dass ich bei Music-In anfangen kann.“ Music-In ist ein Musiklabel in Portland in Oregon, bei dem ich mich vor einigen Monaten um einen Job beworben habe.

„Geil. Das ist super“, Felicia kommt rüber und umarmt mich. „Hast du es schon Mama und Papa gesagt?“

„Ja. Die kochen Sonntag für uns.“ Ich rolle die Augen. Wenn es in unserer Familie irgendetwas zu feiern gibt, kochen meine Eltern immer gemeinsam.

Felicia grinst, kickt ihre Schuhe unter den Couchtisch und lässt sich neben mich auf das Sofa fallen. „Du wirst mir fehlen.“ Eigentlich ist meine Schwester selten sentimental.

„Ach, du kannst jederzeit zu Besuch kommen und wir telefonieren und schreiben.“

„Du weißt, dass das nicht dasselbe ist.“

Ich nicke und lasse meine Gedanken einige Momente streifen.

„Eigentlich werde ich nur euch drei vermissen. Mama, Papa und dich“, sage ich schließlich.

„Dann hat deine Unfähigkeit zu tiefen Bindungen zumindest etwas Gutes“, spöttelt Felicia.

Ich denke an die Menschen, die durch mein Leben gestolpert sind. Viele sind verschwommene Punkte, von denen ich nicht mal mehr den Namen kenne. Einige stechen hervor, nur wenige sind klar im Detail zu erkennen.

„Erinnerst du dich noch an Meike? Meine Freundin aus der Grundschule?“, frage ich.

„Das war die mit diesen mega Locken, oder?“

Ich nicke. „Und dieser Besessenheit von Rolf Zuckowski.“

Felicia lacht. „Ich erinnere mich, wie sie mit einem Koffer voller Kassetten und ihrem Kassettenrekorder vor unserer Tür stand und du vollkommen irritiert davon warst. Du kanntest keine Kassetten, Papa hatte ja alles nur auf Vinyl.“

„Bis zu diesem Zeitpunkt hat Musik zwischen Meike und mir keine Rolle gespielt. Für uns alleine schon, aber nicht als eine gemeinsame Sache. Wenn wir zusammen waren, haben wir uns immer mit anderen Dingen beschäftigt.“

Das war zu der Zeit, als ich mit meinem Vater zusammen seine Platten gehört habe. Wir saßen jeden Sonntagmorgen in seinem Musikzimmer und haben erst die neuen Platten, die er sich in der Woche davor gekauft hatte und dann eine alte, die ich mir aussuchen durfte, angehört. Das erste Hören einer neuen Platte folgte immer einem genauen Muster: Mein Vater setzte sich in seinen Sessel, blickte über die Regale voller Platten, ließ seinen Blick über die bunten Rücken gleiten, bis er schließlich auf die neue vor sich fiel. Dann strich er vorsichtig an allen vier Seiten entlang und öffnete die Hülle. Langsam zog er die Platte heraus, legte sie auf den Teller und setzte die Nadel auf die Oberfläche. Kurz bevor sie die schwarze Scheibe berührte, hat er immer hoch geschaut und gesagt: „Pass jetzt auf, Laura. Die ersten Töne sind die wichtigen. In den ersten Tönen entscheidet sich dein Weg in diese Musik.“ Ich wurde dann immer ganz still und faltete die Hände in meinem Schoß auf meinem Platz auf dem Boden neben dem Plattenspieler. Gespannt habe ich auf die ersten Klänge gewartet, habe kurz den Atem angehalten, weil ich Angst hatte, die Geräusche des Luftholens würden die Töne überdecken. Dann: Das stille Knistern der Vinylplatte, das in die Musik übergeht. Es war jedes Mal ein anderes Erlebnis.

Bei den alten Platten war es anders. Ich habe sie nach den Coverbildern ausgewählt, bis ich später angefangen habe, anhand der Musik, die mir wirklich gefällt, auszusuchen. Mein Vater hat jedes Mal gelächelt, wenn ich konzentriert durch die Plattenhüllen geblättert habe und gespannt gewartet, wofür ich mich entscheide.

Es gab eine Ecke mit einem halben Dutzend Platten einer Band, die Raw hieß, die wir nie aufgelegt haben. Immer wenn ich sie vorgeschlagen habe, hat mein Vater abweisend reagiert und ich musste mir eine andere Platte aussuchen. Ich habe nie weiter gedrängt, weil ich irgendwie gespürt habe, dass ich diese Grenze nicht überschreiten sollte.

Meine Mutter war nie begeistert davon, dass mein Vater mir Lieder vorgespielt hat, die nicht für mein Alter geeignet waren. Vielleicht hat sie aber gewusst, dass es ihm gut tat, diese Leidenschaft mit mir zu teilen und es darum nie verboten.

„Ich weiß noch, dass es ein merkwürdiger Augenblick war, als wir in meinem Zimmer saßen und den Kassetten gelauscht haben. Meike hat glücklich gestrahlt und ich konnte die Musik nicht verstehen, ich konnte sie nicht begreifen.“

Nachdenklich streiche ich über das Sofakissen. „Wir haben uns angesehen und ich glaube, wir haben beide gemerkt, wie in diesem Moment etwas zwischen uns zerbrochen ist. Nicht so richtig bewusst, sondern mehr als ein Gefühl, dass es da etwas gibt, das uns auseinander bringt und in dem wir uns so massiv unterscheiden. Und gleichzeitig zu wissen, dass das etwas ist, das wir nicht ignorieren können, weil wir vielleicht beide schon über die Bedeutung von Musik in unserem Leben entschieden hatten.“

Felicia sieht mich an. „Das klingt ziemlich endgültig.“

Ich nicke. „Ich weiß nicht, ob es anders gelaufen wäre, wenn wir älter gewesen wären. Wie viel kann eine Freundschaft aushalten? Wie viel kann sie akzeptieren? Sollte sie nicht erkennen, was dem anderen wichtig ist und es entsprechend wertschätzen und damit umgehen?“

„Findest du nicht, dass das nur eine idealisierte Vorstellung von Freundschaft ist?“

„Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist das trotzdem ein Ideal, an dem sie sich orientieren sollte.“

Wir schweigen einige Augenblicke. Aus der Wohnung über uns ist Lachen zu hören.

„Meike und du, ihr habt euch weiterhin getroffen?“, hakt Felicia nach.

"Ja, aber es war nicht mehr wie vorher. Wir haben weiter die Dinge gemacht wie früher, aber es war anders. Wir haben nur noch die eingebrannten Abläufe abgespult. Über Musik haben wir nie wieder gesprochen. Dann kam das Ende der Grundschule und wir sind auf dem Gymnasium in unterschiedliche Klassen gekommen. Damit war unsere letzte Gemeinsamkeit weg und wir haben keine Zeit mehr miteinander verbracht.“ Ich kaue auf meiner Oberlippe und denke, dass ich weiß, dass wir beide keine Schuld daran hatten. Manchmal zerbrechen Beziehungen einfach.

Felicia drückt meine Hand. „Ich hole eben Bier“, sagt sie und verschwindet in der Küche. Ich blicke ihr hinterher und denke über meine erste Zeit auf dem Gymnasium nach. Ich war mit meinen Klassenkameradinnen locker befreundet. Ich habe mich mit ihnen getroffen, sie zu Geburtstagen eingeladen, aber keine hat hervorgestochen und zu keiner hat sich eine tiefere Freundschaft entwickelt. Mir ist es schon damals nie schwer gefallen, Bekanntschaften zu schließen. Das war nie das Problem.

Felicia hält mir eine Flasche hin. „Ich erinnere mich noch an Lotta und Maggie“, sagt sie. „Was ist da eigentlich passiert?“

Lotta und Maggie habe ich in der Musik-AG in der achten Klasse kennengelernt. Beide waren schon länger dabei – Lotta als Sängerin, Maggie als Schlagzeugerin – und ich wollte ausprobieren, ob Musik machen etwas für mich ist. Was den Musikgeschmack anging, hatten wir sehr unterschiedliche Meinungen, was wirklich gute Musik ist. Wir haben von den drei Standpunkten Mädchenpop, Motown-Musik und Rock diskutiert, gefeixt, geschrien und gelacht. Ich lächle bei der Erinnerung an unsere heftigen Auseinandersetzungen, die immer kurz davor endeten, dass wir kein Wort mehr miteinander gesprochen hätten. Vielleicht haben wir irgendwie gewusst, dass die Leidenschaft für die Musik eine viel wichtigere Verbindung war, als der gleiche Musikgeschmack es jemals hätte sein können.

Ich zucke die Schultern. „Jungs. Die Prioritäten haben sich für die beiden verschoben.“

Lotta, Maggie und ich haben einige Monate mit Diskussionen und Musik verbracht. Dann hatte Maggie ihren ersten festen Freund und weniger Zeit für uns. Lotta und ich haben noch einige Zeit zu zweit weitergemacht, aber ohne Maggie war die Dynamik raus. Wir brauchten unsere drei Ecken, nur so haben wir funktioniert. Schließlich hat auch Lotta jemanden kennengelernt und wir haben uns irgendwann gar nicht mehr getroffen.

„Das muss bitter gewesen sein“, sagt Felicia. „Ich erinnere mich, dass ihr ziemlich viel zusammen wart.“

Ich streiche mir durchs Haar. „Ich war wahnsinnig enttäuscht und verletzt. Ich hatte etwas anderes erwartet, weil ich nicht so reagiert hätte. Ich hätte das, was wir hatten, nicht einfach aufgegeben.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Doch. Da bin ich mir sicher.“

Felicia sieht mich nachdenklich an. „Wirklich? Auch wenn du damals schon Dan kennengelernt hättest?“

Ich erwidere ihren Blick. Meine Schwester liebt es auszuprobieren, wie weit sie bei Menschen gehen kann, wann die Schmerzgrenze nicht nur erreicht, sondern überschritten ist. Bei mir hat sie das schon zu oft versucht. Ich bin abgehärtet.

„Auch dann nicht.“

Dan habe ich einige Jahre nach Lotta und Maggie getroffen. Dazwischen habe ich viel Zeit damit verbracht, mich durch die Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte zu hören. Nicht nur Rock, sondern auch Punk, Pop, Hip-Hop. Ich habe viele Sachen entdeckt, die mein Vater nicht gehört hat und vieles, was ich nie wieder hören werde. Aber auch Unmengen an hervorragenden Stücken. Raw gehörte dazu. Es war nicht nur die Musik, sondern auch die Geschichten, die hinter den Liedern und Alben steckten, die mich faszinierten. In der Zeit hat sich meine CD-Sammlung fast täglich erweitert. Ich weiß noch, wie mein Vater fassungslos darüber war, dass ich mich für CDs und nicht Vinylplatten als Medium entschieden hatte. Vielleicht war das meine Art mich von ihm abzugrenzen.

Felicia blickt konzentriert vor sich hin. „Mir fällt sonst keiner mehr ein. Nur noch Dan.“

Dan hat in einer Bar gearbeitet, in der zweimal in der Woche Live-Musik gespielt wurde. Er hat mir irgendwann erzählt, dass der freie Eintritt zu den Konzerten der Grund war, warum er dort angefangen hat zu arbeiten. Dan kam aus einer Kleinstadt im Westen Deutschlands und wir haben uns kennengelernt, als er sein erstes Jahr an der Uni studiert hat.

Dan war der erste Mensch, den ich getroffen habe, der eine mit meiner vergleichbaren Musiksammlung hatte. Sie war eine bunte Mischung aus CDs, Platten, Kassetten und mp3s und bestand zum größten Teil aus Punk. Er hat mir manchmal davon erzählt, wie fehl am Platz er sich in seiner Heimatstadt gefühlt hat, weil die Leute ihn für einen Freak gehalten haben. „Sobald deine Leidenschaft ein wenig ausgeufert ist, wurdest du schräg angeschaut. Alles nur in Maßen, alles nur in einem abgesteckten Rahmen, sonst ist das nicht mehr normal“, hat er dann immer gesagt und dass ihn diese neue Stadt frei macht, weil es hier okay ist, seine ganze Wohnung voller Musik zu haben. Ich war mir damals schon nicht sicher, ob ich diese Ansicht teilte. Ich habe mich auch hier wenig verstanden gefühlt.

„Was hat euch auseinandergebracht“, fragt Felicia.

„Unüberbrückbare Differenzen.“

„Das sagst du jedes Mal.“

„Und du lässt es jedes Mal gelten“, grinse ich.

„Heute nicht.“ Felicia zieht ihre Beine unter den Körper und nimmt noch einen Schluck aus der Flasche.

Ich seufze leise und reibe mein T-Shirt zwischen den Fingern.

„Unsere Beziehung war immer von Musik geprägt.“

Die Welt hält erwartungsvoll inne, richtet ihren Blick auf uns, als ob sie spürt, dass jemand gerade ein Stück Wahrheit erzählt, aufrichtige Wahrheit.

„Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber irgendwann habe ich an Dan eine leichte Gereiztheit bemerkt, wenn wir uns mit Musik beschäftigt haben. Wenn ich Diskussionen angefangen habe, hat er sie nur lieblos geführt und später dann abgewürgt. Irgendwann habe ich ihn darauf angesprochen und er meinte, dass er der Musik überdrüssig wird. Und ich habe ihn angesehen und in diesem Moment gemerkt, wie groß die Bedeutung von Musik in meinem Leben ist. Wie sie sich in den ganzen Jahren in mir ausgebreitet und wie wenig Platz sie für andere Dinge gelassen hat. Ich bin nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren.“

Vor einigen Minuten hat es angefangen zu regnen. Ich stehe auf, um das Fenster zu schließen. Auf dem Fußboden haben sich die ersten Tropfen verteilt. Ich wische mit meinen Socken über die feuchten Flecken und hinterlasse Schlieren. Mir war immer klar, dass das die richtige Entscheidung war. Ein bitteres Gefühl ist trotzdem geblieben. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich daran liegt, weil ich diesen speziellen Menschen verloren habe.

Ich ziehe die Schultern hoch und drehe mich wieder zu Felicia.

„Weißt du noch, wie ich mich mit dieser Gruppe Festivalgänger angefreundet habe?“

„Ja. Du hast mir damals erzählt, dass du sie unendlich viel ausgefragt hast, um herauszufinden, ob sich der Aufwand lohnt. Wie ein Job-Interview.“ Sie grinst.

„Das sah auch ganz gut aus. Als wir zum Festival gefahren sind, hat sich gezeigt, dass das alles nur heiße Luft war. Zu einigen Konzerten sind sie gegangen, die meiste Zeit haben sie aber auf dem Campingplatz verbracht, um das 'Festival-Flair' zu erleben.“ Ich schwanke immer zwischen amüsiert und fassungslos, wenn ich daran denke.

Felicia drückt sich von der Couch hoch und schiebt die leeren Flaschen auf dem Tisch zusammen. „Ich gehe schlafen.“ Sie drückt den Rücken durch und streckt die Arme in die Luft. „Schlaf gut.“

Ich nicke. „Bis morgen.“

Nachdem die Tür hinter Felicia zugefallen ist, drehe ich mich wieder zum Fenster und blicke in den dunklen Regen. Ich denke an Portland und muss lächeln.

*

Die letzten Töne sind verklungen, der Plattenspieler hat sich ausgestellt. Wir schweigen.

„Er hat sich kurz vor deiner Geburt das Leben genommen. Ich war wahnsinnig erschüttert. Ich war wahnsinnig wütend.“ Mein Vater blickt auf das Plattencover von Raw. Er räuspert sich. „Es ist sehr krass, dass Menschen, denen du nie so richtig begegnet bist, mit denen du noch nie ein Wort gewechselt hast, so dermaßen in deinem Leben verankert sein können. Es war, als ob gerade ein guter Freund gestorben ist.“ Ich sehe, wie mein Vater seine Gedanken sortiert. Da ist wieder dieses Gefühl, das mich schon früher immer gestreift hat, wenn ich nach den Platten gefragt habe. Jetzt wird mir klar, dass es dieser stille Schmerz ist, der ihn umgibt.

„Ich habe einige Wochen gebraucht, bis die Wut verflogen ist, weil ich begriffen – nicht nur verstanden, sondern begriffen habe – dass genauso schlimm wie das Nachgeben des Körpers aufgrund einer Krankheit das Nachgeben der Psyche ist.“

Mein Vater lässt den Blick zu den Platten von Raw wandern.

„Er hatte schon vorher viele Jahre viele verschiedene Probleme. Depressionen, Alkohol, Drogen. Irgendwie hat er es immer geschafft und all diese Schwierigkeiten haben seine Musik zu dem gemacht, was sie war und was sie mir bedeutet hat. Ich habe geglaubt, dass jemand, der weiß, wie es ist, am Abgrund entlang zu tänzeln, besser damit klar kommt und den Dreh raus hat. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass dort der Sturz schneller geht, dass nur ein kleiner Schubser ausreicht.“

Er seufzt.

„Manchmal kann man so viel schreiben, schreien, komponieren und der Schmerz bleibt trotzdem in dir drin. Egal, was du versucht, er sitzt fest. Du bist exzessiv dabei, Lied um Lied zu schreiben, aber er wird nicht weniger. Selbstverwirklichung heilt nicht immer eine zerrissene Seele.“

Langsam blättere ich durch den Stapel mit den Vinylplatten von Raw. Die Hüllen sind abgegriffen, die Seiten leicht eingerissen. Mein Vater muss sie unzählige Male aufgelegt haben. Ich glaube, ich kann verstehen, warum er sie nie mit mir zusammen gehört hat. Es gibt Schmerzen, die so groß sind, dass sie nur alleine ertragen werden, die nicht geteilt werden können, weil man sonst zerspringen würde.

„Vielleicht hat deine Geburt ein wenig davon geheilt, auch wenn das vermutlich jeder Vater sagen würde.“ Mein Vater lächelt leicht. „Aber er war trotzdem noch da und auch jetzt nach über zwanzig Jahren gibt es Momente, in denen ich immer noch tief von seinem Tod erschüttert bin.“

Die Momente verstreichen während wir schweigend dasitzen. Schließlich beuge ich mich zum Plattenspieler und setze die Nadel wieder auf den Anfang.

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Carolin Wiechert

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