18 | Chili Tomasson
Die Brücke am Ostufer
Die Kinder spielen Fußball. Sie spielen ohne schreiende Väter neben dem Platz. Sie spielen ohne weiße Markierungen am Spielfeld. Sie spielen mit einem Plastikball auf einer Wiese.
Ich öffne das Fenster in der Küche.
Das Wetter am Wochenende bleibt beständig. Montags fällt die Temperatur unter 20°, aber die Stromleitungen sind intakt.
Wir wohnen in einem Einfamilienhaus am Stadtrand. Die Solarpanele wurden staatlich gefördert und vergangenen Sommer auf dem Dach montiert. Die Einfahrt ist mit hellgrauen Steinen gepflastert und eine schmale Mauer trennt sie an beiden Seiten vom Rasen. Das Gras ist kurz geschnitten und jeden Frühling freue ich mich über die ersten Triebe der Stockrosen.
Seitdem die Brücke gesperrt ist, brauche ich jeden Tag mehr als eine Stunde, um in die Arbeit zu kommen. Der Ausbau der Straßen wurde bereits vor Jahren versprochen, aber die Bauarbeiten haben erst vergangenen Mai begonnen. Ich denke, dass es noch mehrere Jahre dauern wird, bis die Umfahrungsstraße fertiggestellt sein wird.
Im Sommer erscheint mir der Berufsverkehr lauter als sonst. Es ist schon hell, wenn ich auf die Hauptstraße einbiege und ich bemerke, wie sich die Hitze allmählich über den Asphalt legt. Die Luft entfaltet sich langsam und schwer. Im Rückspiegel erkenne ich das Ausmaß der äußeren Bezirke. Sie wachsen stetig und orientieren sich an den Büros im Zentrum und den Fabriken im Süden der Stadt.
Im Sommer habe ich, wie alle anderen, die Fenster unten, während ich an der Ampel warte.
Der Regen zieht nach Südosten ab, von Norden her lockern die Wolken allmählich auf. Mäßiger bis lebhafter Westwind. Die Temperaturen erreichen 17° bis 22°.
Arbeitszeiterfassung:
Arbeitsbeginn: 09.00
Kaffeepause: 11.15
Arbeit: 11.30
Mittagspause: 13.00
Arbeit: 13.30
Kaffeepause: 16.00
Arbeit: 16.15
Arbeitsende: 18.00
Seit vermehrt über Einbrüche berichtet wurde, versperre ich das Garagentor und die Eingangstür hinter mir, wenn ich zu Hause ankomme. Es verursacht keinen Mehraufwand und verschafft Sicherheit.
Ich weiß, dass alle hören, wenn ich nach Hause komme. Trotzdem rufe ich immer nach ihnen, während ich mir die Schuhe ausziehe.
Vom Küchenfenster aus kann ich den ganzen Garten überblicken. Kommendes Wochenende werde ich den Rasen mähen und die Hecke schneiden. Die Stockrosen haben bereits zu blühen begonnen und die Tage sind lang.
Abends erzähle ich von der Arbeit. Wir sprechen über die Prognosen der bevorstehenden Wahlen. Ich schneide das Gemüse und wasche den Salat. Dann essen wir alle gemeinsam zu Abend.
Kühl, trüb, unbeständig. Im Süden sind leichte Regenschauer zu erwarten. Die Schneefallgrenze sinkt hier gegen 2000m Höhe. Ansonsten bleibt es größtenteils trocken. Leichter bis mäßiger Nordwestwind. 13° bis 18°. In 1500m Höhe um 5°.
Bevor ich schlafen gehe, sitze ich noch eine Weile im Wohnzimmer und lese in den Fachmagazinen.
In der darauffolgenden Nacht träume ich erneut:
Vom Ostufer aus sehe ich die Abschussrampen und Raketenfelder. Das Einfamilienhaus steht am Stadtrand.
Die Luftwaffe hat nach eigenen Angaben gestern drei Kampfflugzeuge im Süden des Landes abgeschossen;
oder
Drei Kampfflugzeuge seien mittags in der südlichen Einsatzzone abgeschossen worden.
Die Behörden machten bislang keine weiteren Angaben zu dem Vorfall. Die Zahlen können nicht unabhängig überprüft werden. Die Streitkräfte wehrten zuletzt weitere Angriffe im Süden ab. Dort spielen die Kinder Fußball. Sie spielen ohne schreiende Väter neben dem Platz. Sie spielen ohne weiße Markierungen am Spielfeld. Sie spielen mit einem Plastikball auf einer Wiese.
Das Advent-mosaik begleitet dich mit ausgewählt schönen Texten durch die Vorweihnachtszeit.
Jeden Tag kannst du ein neues Türchen öffnen:
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mosaik22 – alles ist abgekaut
mosaik22 – alles ist abgekaut
Intro
„Wir sitzen in der Sonne, trinken Kaffee und gucken vor uns hin. Es stinkt ein bisschen, weil jemand die staubige Elektroheizung für draußen angemacht hat, damit es warm wird. Warm war es schon vorher und es hat gut gerochen, jetzt nicht mehr.“
Matrosenhunde machen den Anfang einer ungewöhnlichen mosaik. Einer Ausgabe im Zwischenstadium. Im Aufbruch begriffen. Wir fragen uns – mehr als je zuvor: Was kann Literatur leisten? Was ist die Zukunft des geschriebenen Wortes? Wohin führt die Tradition des gedruckten und gebundenen Textes? „alles ist abgekaut hier.“ – Ronya Othmann spricht uns aus der Seele: „hol die wäsche rein, sonst wird sie alt.“
Das mosaik ist in einem Übergangsstadium. Die Redaktion wurde vergrößert, das Programm um Lesereihen, Workshops, Bücher und Online-Veröffentlichungen erweitert. Die Sensibilität für neue Ansätze ist da und eure Qualität in den Texten ist Ansporn für uns, qualitativ ebenbürtig zu arbeiten. Doch wo führt das alles hin?
Das wird unter anderem in der ersten Konferenz zeitgenössischer Literaturzeitschriften – klein & laut – im Mai in Salzburg diskutiert. Wie bei Idealismus und Kulturpräkariat, der Studie zeitgenössischer Literaturprojekte, bereits herausgearbeitet wurde, führt auch hier der Weg hin zu mehr Zusammenarbeit, Vernetzung, gemeinsamer Aktionen.
„Literatur ist ein Raumschiff, das uns hilft, den trivialen Erscheinungen unserer Gesellschaft zu entkommen.“ – Pola Oloixarac
Der Blick nach außen wird wichtiger: BABEL holt diesmal Stimmen aus Slowenien und Estland in die uns bekannte Sprache und schickt vertraute Stimmen ins Italienische. Kai Hilbert holt im Gespräch mit der argentinischen Autorin Pola Oloixarac eine digitale Zukunft in ein analoges Jetzt. Und in den Texten der Autor*innen der fünften Geburtstagsfeier des mosaik wird die Fragilität der Worte der Gegenwart deutlich.
Doch was das alles zu bedeuten hat, das weiß Tibor Schneider:
„das magische. lyroplyrodon
hat gesprochen:
its all about. Porn“
.
mit:
Renate Aichinger, Carolyn Amann, Veronia Aschenbrenner, Petra Feigl, Sara Hauser, Alexander Kerber, Daniel Ketteler, Luca Kieser, Sascha Kokot, Cornel Köppel, Jonas Linnebank, Matrosenhunde, Ronya Othmann, Jessica Sabasch, Tibor Schneider, Sabine Schönfellner, Simon Stuhler, Chili Tomasson, Vasilis Varvaridis und Matthias Weglage
Übersetzungen von Texten von:
- Uros Prah (aus dem Slowenischen)
- Vesna Liponik (aus dem Slowenischen)
- Margit Lohmus (aus dem Estnischen)
- Asmus Trautsch (in das Italienische)
Mit Auszügen aus:
- KulturKeule XXII – 5 Jahre mosaik
Buchbesprechung:
- Alke Stachler: Chronographe Chronologien I (hochroth) von Kenhah Cusanit
Interview:
- Kai Hilbert mit Pola Oloixarac über ihren Roman „Kryptozän“
Kolumne
- Peter.W. – Hanuschplatz