Von der Bedeutung des Sterbens

 

Der Mann ist auf YouTube. Im Hintergrund sieht man eine wilde Landschaft aus Bergketten und dichten Wäldern. Der Mann zupft an seinem olivgrünen Wollpullover. Der Mann trägt einen langen Bart, das blonde Haar ist zerzaust. Er sieht aus, als wäre er gerade aufgestanden. Seine Stimme ist kratzig. Der Mann sagt, er sei in dieser Gegend aufgewachsen. Die Kamera zoomt näher an ihn heran. Er zeigt die Straße herunter und meint, es gäbe keinen besseren Ort als diesen. Man folgt dem Mann mit der Kamera. Der Mann berührt die Leitplanke. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blassweiß. Man hört das Rauschen eines Flusses, ohne ihn sehen zu können. Der Mann bleibt stehen und zeigt auf den Boden. Seit Jahren würde er die Kadaver von der Straße sammeln. Hauptsächlich kleinere Tiere. Er holt einen Plastikbeutel und einen Spachtel aus dem Rucksack. Der Mann verdeutlicht, er liebe die Tiere. Er könne nicht ertragen, sie dort liegen zu lassen. Kurz wird der Großteil eines Satzes durch ein vorbeifahrendes Auto verschluckt. Letztendlich versteht man nur das Wort unwürdig. Der Mann geht in die Hocke, kratzt energisch den Klumpen aus Fell und getrocknetem Blut von der Fahrbahn. Wichtig ist, dass sie noch frisch sind. An heißen Sommertagen werden die Tiere so schnell von Insekten befallen, dass er kaum fündig wird. Angezogen vom Zersetzungsgeruch würden Schmeißfliegen bei günstiger Witterung bereits nach wenigen Minuten ihre Eier ins abgestorbene Gewebe legen. Genau bei Minute 3:41 schaut er auf, die Kamera fängt seine tiefblauen Augen ein, die schwungvollen Wimpern, die gekringelten Haare auf der Nasenwurzel. Er hätte angefangen, sich nur noch von diesen Tieren zu ernähren. »Man würde«, nun pausiert er, in seinen Augen verfängt sich ein dramatisches Zittern, »leider Gottes viel zu viele von ihnen erwischen.« Am häufigsten wären es Katzen und Hasen, manchmal Waschbären, Eichhörnchen, Vögel. Auch wenn sie schnell sind, so ist es doch ihre Unvorsichtigkeit, die sie leicht zu Opfern macht. Man nimmt einfach keine Rücksicht mehr. Auf nichts. Deswegen hätte er alles hinter sich gelassen. Der Mann sagt, er liebt es, in der Natur zu leben. Nur dort wäre er unabhängig. Das letzte Mal hätte er als Jugendlicher eine Zeitung gelesen. Er bräuchte nicht zu wissen, wo Krieg ist. Das würde nichts ändern. Auch nicht, ob Menschen den Mond besiedeln oder nicht. Der Mann zieht das bis zur Unkenntlichkeit plattgefahrene Tier von der Straße ab, zeigt es in die Kamera und steckt es dann fast schon liebevoll in den Beutel. Sich von ihrer anzunehmen zeugt von Respekt. Sie nicht bloß dem Stadium der Verwesung zu überlassen. Ihrem Tod einen Nutzen zu geben. Das Video hat 99.476 Klicks und 6.377 Likes. Nach sechs Minuten bricht es plötzlich ab.

 

 

.

Ferenc Liebig

.

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>