Provisorium

K., der gerade ins Taxi gestiegen ist, sieht einen Mann auf sich zukommen und dann mit den Fingerknöcheln gegen die Autoscheibe klopfen. Er fragt ungläubig: „Ist er das?“, und noch ehe K. antworten kann, brüllt er lauter: „Ja, das ist er! Das ist er!“ K. starrt regungslos in das entsetzte Gesicht, starrt in zwei stecknadelgroße Pupillen und einen weit aufgerissenen Mund. Er zählt drei Plomben, ehe das Taxi losbraust.

K. dreht sich um und ist überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Zwischenfall verursacht hat. Passanten halten ihre Handys in seine Richtung, als würden sie Fotos machen, während der Mann, der ihn angeschrien hat, aufgeregt telefoniert.

Als das Taxi abbiegt, richtet K. den Blick wieder nach vorn und lässt sich tiefer in den Sitz fallen. Nimmt der Tag gar kein Ende?, fragt er sich genervt. Immer kommt mir was in die Quere. Erst die Flugverspätung und dann noch Schienenersatzverkehr am Bundesplatz. Zwei Busse für eine rappelvolle S-Bahn und das im Hochsommer, na geht’s noch?!? „Ja, aber ist gut für unser Geschäft“, antwortet der Taxifahrer, was K. irritiert. Habe ich laut gesprochen?

„Außer die Spinner steigen zu uns ins Taxi. Genau wegen denen hab‘ ich meine Schicht gewechselt. Nachts ist es nicht mehr auszuhalten in Berlin. Zu viele Verrückte“, flucht der Taxifahrer und fügt mit weicherer Stimme hinzu, „auch zu viel Elend.“ „Kommt das oft vor?“, fragt K. und erhofft sich Ablenkung. „Inzwischen jede Nacht. Früher is so ne Type mal am Wochenende aufjetaucht, hat nen bisschen Radau jemacht und war dann wieder wech. Kenn‘ mich da aus, weeß wovon ick rede. Bin Urberliner. Vor 56 Jahren hier jeeborn, aufjeewachsn und nie rausjehkommn, wie ick zusagen pflege.“ K. grinst und denkt, ich ja, ich bin rausgekommen und habe die weite Welt gesehen.

Wegen Sanierungsarbeiten verengt sich die Fahrbahn auf eine Spur. Der Verkehr stockt. Die Stille setzt K. zu. Er bittet, das Radio einzuschalten. Mit überdrehter Stimme kündigt der Moderator den nächsten Song an: A horse with no name von America. Die Musik erfüllt ihren Zweck und bildet ein angenehmes Hintergrundrauschen. Während K. im Viervierteltakt auf die Knie trommelt, beobachtet er, wie eine Walze langsam den aufgetragenen Asphalt der Fahrbahn verdichtet und zwei Bauerarbeiter mit Besen hinterher fegen. Mit diesem beruhigenden Bild vor Augen möchte er am liebsten einschlafen und den Tag vergessen.

Die Musik wird jäh unterbrochen: »Der aus der psychiatrischen Anstalt Entlaufende wurde zuletzt in einem Taxi auf der Bundesallee Richtung Friedrich-Wilhelm-Platz gesehen. Die flüchtige Person ist ca. 1,85m groß und schlank. Die Haare sind schwarz und kurz geschnitten. Er hat inzwischen seine Kleidung gewechselt. Er trägt ein dunkelblaues Jackett und eine schwarze Hose. Wie er sich aus dem gesicherten Bereich der Psychiatrie befreien konnte, ist weiterhin ungeklärt …«

K. weiß, er ist gemeint. Die aufkommende Panik versucht er mit rationalen Argumenten kleinzuhalten. Die Personenbeschreibung trifft auf jeden x-beliebigen Mann zu, denkt er angestrengt, der 1,85m groß ist, bei C&A einkaufen geht und Sport treibt. Vor anderthalb Stunden bin ich erst in Tegel gelandet. Das lässt sich leicht nachprüfen und – verdammt, ich sitze hier nur wegen diesem blöden Schienenersatzverkehr. Der Rollkoffer!, fällt ihm schlagartig ein, niemand flieht mit einem Rollkoffer! Die Vorstellung, wie er den Polizisten verschwitzte Hemden und seinen Kulturbeutel vorführt, belustigt ihn. Sein Grinsen erstarrt aber zur Grimasse, als sich sein Blick mit dem des Taxifahrers im Rückspiegel trifft. K. will die Sache klarstellen, aber dann glaubt er, eine Bewegung des Fahrers zum Handschuhfach auszumachen. Er brüllt „STOPP!“, reißt im nächsten Moment die Tür auf und springt hinaus. Dann läuft er in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ich muss auf die Nebenstraßen ausweichen, überlegt K. verzweifelt, bevor mich der Mob fängt und massakriert. Er versucht langsamer zu laufen, aber sobald er mehr als zwei Personen auf sich zukommen sieht, macht er kehrt und zieht das Tempo an. Unterwegs wirft er sein Jackett achtlos fort.

Er flieht in die Kleingartenkolonie „Sonnenbad“, rennt die verschlungenen Pfade entlang, solange bis er sich hinter einer dichten Hecke wiederfindet. Er hört sich laut atmen und presst beide Hände auf seinen Mund.

Nach einigen Minuten steht K. vorsichtig auf, blickt sich um. Er ist auf einem verlassenen Grundstück. Der Rasen ist stellenweise verbrannt. Dahlien, Nesseln, Zinnien und Sonnenhüte säumen den Weg zum Bungalow – ein in L-Form gehaltener Flachbau mit Holzverkleidung und überdachter Steinterrasse. Im Hintergrund stehen zwei Apfelbäume, groß und mächtig, deren Äste die Außenfassade der Gartenlaube streifen. Ein verwunschener Ort, denkt K., bis ihm der Geruch von Grillfleisch und Brennspiritus in die Nase steigt und ihn an die Wirklichkeit erinnert.

Er geht zum Bungalow und rüttelt an der Tür. Verschlossen. Unter der Gartenbank entdeckt er neben Wassereimern und angerosteten Gießkannen einen halbvollen Bierkasten. Die Flaschen sind alle leicht staubig. K. pfeift. Irgendwo findet sich bestimmt ein Zweitschlüssel, denkt er, und ich komme rein.

K. füllt einen Eimer mit kaltem Wasser und legt einige Bierflaschen hinein. Dann schlendert er durch den Garten, inspiziert die Gemüsebeete und macht aus einer Laune heraus den Rasensprenger an. Gebannt verfolgt er, wie die Düsen um ihre eigene Achse rotieren und Sprühwasser im hohen Bogen ausstoßen. Das rhythmische Klicken der Automatik vermischt sich mit Kindergeschrei in der Ferne.

Dann zieht er seine Kleidung aus. Ganz selbstverständlich erst Schuhe und Socken, dann Hose und Hemd.

Während K. im selbst geschaffenen Sommerregen steht, wird ihm klar, dass die Geschehnisse, die zu seiner Verwechslung geführt haben, problemlos rekonstruiert werden können. Ich weiß, wer ich bin, denkt er und die Anderen werden es auch.

Trotzdem stellt er sich vor, wie es wäre, sich hier eine Zeit lang zu verstecken. Ich würde die reifen Tomaten und Auberginen vom Schneckenbefall befreien und ernten. Ich würde mir den Bungalow gemütlich einrichten und jeden Abend ein Lagerfeuer machen. Ja, das würde ich. Vielleicht wäre es nur ein Leben im Provisorium, denkt er, aber dieses Leben täte mir zur Abwechslung gut.

Auf diese Aussicht gönnt sich K. das erste gekühlte Bier.

Markus Streichardt

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